ra-2W. JamesC. GüttlerE. AdickesM. Reischle    
 
GOTTFRIED SPERL
Das Wesen der Werturteile
[und ihre Bedeutung für die Theologie]

"Unser eigenes Wesen lernen wir erst verstehen im Licht des sittlichen Gefühls, welches uns das eigentliche Gesetz dessen, was uns als Lust oder Unlust zu gelten hat, offenbart. So kommt es, daß wir im Wert das Allerrealste erkennen, das einzige, was der zersetzenden Kritik der Erkenntnistheorie endgültig Widerstand leistet."

"Der Ausdruck Wert,  nach Kluges etymologischem Wörterbuch am wahrscheinlichsten abzuleiten von der Wurzel wor = ansehen, dessen partizipiale Ableitung dann zunächst das Adjektivum wert = angesehen wäre, besagt zunächst nur, daß eine Sache in den Augen des Menschen vor anderen bevorzugt wird. Diese Bevorzugung kann eine rein persönliche sein, daher wert = lieb, sie kann aber auch eine allgemeine sein und beruth dann auf gewissen Eigenschaften des Objekts, welche dasselbe allen wichtig, bzw. seinen Besitz allen erwünscht machen."

"Sind jene Realitäten eine auf unser Gefühl wirkende Ursache, oder sind sie es nicht? ist unser Gefühl da, wo es postuliert und antizipiert, auf dem Weg einer Erkenntnis des Heiligen oder auf dem der Jllusion? Die letztere Annahme hat man dann in der Stille schon gemacht, wenn man bei der Beziehung zwischen der Vorstellung einerseits und dem Gefühl und Wunsch andererseits stehen bleiben will. Von hier aus kann man nicht mehr anders als zuzugeben, daß der Glaube nur eine subjektive, wenn auch noch so schöne und unter Umständen unvermeidliche Vorstellung, daß er eine Jllusion ist. Denn was sind Gedanken, deren Vater der Wunsch und deren Mutter die Furcht ist, anderes? Am konsequentesten wird man dann gleich mit Feuerbach die Religion als eine Form der Narrheit ansehen, die am besten ausgerottet wird.

"Das religiöse Erkennen verläuft in Werturteilen", unter diesem Schlagwort hat sich eine Theologie gebildet, welche auf der einen Seite die triumphierende Zuversicht erzeugt hat, daß nun das Evangelium endgültig gereinigt und sichergestellt ist, auf der anderen Seite aber das schwere Bedenken, daß man die Heilswahrheit verkürzt, und trübe Sorgen um die kirchliche Zukunft entstehen. So viel oder so wenig man nun immer bei diesem tiefgreifenden Zwiespalt von Versuchen wissenschaftlicher Verständigung erwarten mag, in keinem Fall wird man eine eingehende Durcharbeitung des Grundbegriffs für überflüssig halten dürfen. Ob bei einer solchen Arbeit für die Berichtigung bekenntniswidriger Theologumene und vielleicht auch für die Bereicherung der bekenntnismäßigen Theologie etwas herauskommt, wird der nachfolgende Aufsatz selbst zu zeigen haben.

Zum Nachweis, daß die unternommene Arbeit nicht anderwärts bereits zur Genüge geleistet worden ist, und zugleich zur Orientierung für jeden Leser soll der sachlichen Darlegung eine Übersicht über den bisherigen Gang der einschlägigen wissenschaftlichen Debatte vorangehen. Selbstverständlich kann sich diese Übersicht nicht auf den gesamten Streit über die theologische Erkenntnislehre beziehen, sondern sie richtet sich nur auf den einen Punkt: wie wird der Begriff des Wertes und des Werturteils gefaßt und welche etwaigen Modifikationen und Weiterbildungen hat er durch die bisherige Diskussion erfahren?


I.
Der Begriff des Wertes und die
theologische Systematik der Gegenwart

Der maßgebende Anstoß zu einer Unterscheidung von "Werturteilen" und "Seinsurteilen" in der Theologie ist von der Philosophie LOTZEs ausgegangen. Wenn man sich gleichzeitig auf KANTs erkenntnistheoretischen Dualismus beruft, so geschieht das nur mit sehr relativem Recht. Schon die Stellung, welche für all die Theologen, die sich jener Unterscheidung bedienen, dem Gefühl zukommt, bezeugt zur Genüge, daß wir uns der Hauptsache nach nicht auf dem Boden KANTs, sondern auf dem LOTZEs befinden.

Hat nun LOTZE einen völlig deutlichen, konsequenz durchgeführten Begriff vom Werturteil gebildet, und welches ist dieser? - Wert besitzt nach LOTZE zunächst dasjenige, was Lust erregt. Nur im Licht der Lust gibt es überhaupt einen Wert. Trotzdem aber unterscheidet der Philosoph zwischen einem  Wert für uns  und einen  Wert ansich.  Was nach diesem Kanon das Prädikat eines Werts für uns besagt, ist ohne weiteres klar. Schwieriger ist die Frage, wie ein Wert ansich daneben noch anerkannt werden kann. Im absoluten Sinn ist jene Anerkennung auch gar nicht gemeint. Absoluter Wert ist nach LOTZE "ein Gedanke, der sich selbst überfliegt". Trotzdem aber soll die Wertbeurteilung über die Enge der individuellen Lust und Unlust hinausgeführt werden. Die Vermittlung wird der sympathisierenden Phantasie zugewiesen. Wir sind dazu angelegt, daß wir nicht nur uns unmittelbar berührende Annehmlichkeit und Unannehmlichkeit empfinden, sondern unsere Phantasie erzeugt in uns in feinsten Schwingungen auch Nachbilder fremder Empfindungen. Auf diese Art entsteht eine Weltbetrachtung, welche nicht nur am Belebten, sondern sogar am Leblosen einen eigentümlichen Anteil nimmt, welche auf ihre Art das Universum umspannt. Und gerade in diesem Mitempfinden liegt die feinste Blüte des Daseins überhaupt. Es sind Vortrefflichkeiten der Dinge selbst, die wir ihnen abfühlen: der Besitz eigenen Wohlbefindens und die Fähigkeit, außerhalb seiner selbst Lust zu erzeugen. Es ist der tiefste Sinn, das innerste Wesen der Dinge, das sich uns so auf dem Weg einer wundersamen Ahnung aufschließt. Auch der Grund aller Dinge, die absolute Substanz, wird von uns auf diesem Weg viel vollkommener erfaßt als das Ideal der höchsten Liebe; auch unser eigenes Wesen lernen wir erst verstehen im Licht des sittlichen Gefühls, welches uns das eigentliche Gesetz dessen, was uns als Lust oder Unlust zu gelten hat, offenbart. So kommt es, daß wir im Wert das Allerrealste erkennen, das einzige, was der zersetzenden Kritik der Erkenntnistheorie endgültig Widerstand leistet.

Sucht man in diesem Gedankengebäude den Begriff des Werturteils in deutlichen Merkmalen zu fixieren, so stößte man auf verschiedene Dunkelheiten. Solange das Gefühl als solches die Quelle der Werturteile zu bilden hat, ist die Sache erkenntnistheoretisch vorläufig glatt. Wir haben eine eigentümliche, nicht näher zu untersuchende Grundfähigkeit des Menschen, aus welcher eine eigentümliche Beurteilung fließt. Eine Einengung bedeuet es bereits, wenn die Polarisierung des Gefühls in Lust und Unlust in den Vordergrund tritt, als ob in ihr das ganze Wesen des Gefühlslebens beschlossen wäre. (1) Zudem bleibt aber auch das Gefühl für Lust und Unlust nicht als ein letztes Element auf sich beruhen, sondern es findet seinerseits eine Art von physiologischer Erklärung in der Hypothese, daß in ihm das Beseelte die Übereinstimmung oder den Widerstreit seiner Zustände mit den Entwicklungsbedingungen seines Lebens perzipiert. Jene Theorie setzt sich nun weiterhin an die Stelle des Erkenntnisprinzips und tritt in dessen Rechte ein. Damit ist der erkenntnistheoretische Dualismus im Grunde aufgehoben und das Prinzip der Werte mündet in einen einfachen Realismus. Diese Konsequenz hat sich auch bei LOTZE tatsächlich vollzogen. Die letzte Bedeutung des Wertes liegt ihm in einem zweckvollen Eingeordnetsein in das Universum, und nicht unser persönliches Wohlbefinden erfaßt in diesem Sinne die höchsten Werte, sondern der "allgemeine Geist in uns".

Man sieht leicht, daß aus LOTZE ein einheitlicher und konsequenter Grundbegriff in unserer Frage nicht zu schöpfen ist. Hat sich in der Behandlung der Theologen ein solcher gebildet? Daß dies bei ALBRECHT RITSCHL nicht der Fall war und daß er LOTZEs Gedanken mehr mit anscheinend unabsichtlichen Modifikationen herübergenommen, als sie klarer ausgebildet hat, hat LEONHARD STÄHLIN dargetan, nachdem schon LIPSIUS früher darauf hingewiesen hatte. Es ist hier nur hervorzuheben, daß RITSCHL die Kluft zwischen metaphysischer und ethischer Erkenntnis gegenüber LOTZE ganz gewaltig erweitert hat. Ist es für jenen immer noch ein Ideal - wenn auch ein für uns Menschen unerreichbares -, daß die Ahnungen des Gemüts und die Erklärungen des Verstandes sich zu einer dann erst wahrhaft vollen Erkenntnis zusammenschließen, beziehen sich für ihn Substanz und höchstes Gut aufeinander, so kann RITSCHL als Christ "keine metaphysische Erkenntnis des Gottes zugestehen, an den er ums seine Seligkeit glaubt". Das theologische Interesse an einem gänzlich selbständigen Erkenntnisprinzip der Religion mag für jene Stellung maßgebend gewesen sein.

Die nächste Aufgabe, klar Schiff zu machen, hätte HERRMANN gehabt, welcher in dem Buch "Die Religion in ihrem Verhältnis zum Welterkennen und zur Sittlichkeit" die von RITSCHL geltend gemachten erkenntnistheoretischen Grundsätze in einer systematischen Geschlossenheit ausgeführt hat. Um zu beurteilen, was er in der Sache getan hat, bedarf es einer etwas genaueren Wiedergabe der in jener Schrift entwickelten Prinzipien theologischen Erkennens. Ganz im Fahrwasser LOTZEs bewegt sich HERRMANN, indem er zuerst in einer förmlichen Erkenntnistheorie ausführt, daß jedes Unternehmen einer zusammenhängenden Welterklärung, ja auch die Anwendung unserer Denkgesetze selbst, im Grund auf einem Werurteil der Person beruth, welche in der Welt nach einheitlichen Zwecken handeln will und darum eine Welt fordert, in der man handeln kann, d. h. eine zusammenhängende Welt. Von hier aus schlägt aber die Welterklärung eine vom Gefühl unabhängige Bahn ein, inden sie "nur in Anwendung der Beziehungsbegriffe fortschreitet"; das Gefühl aber bringt nebenher auch die anderweitigen Urteilsnormen des sittlichen und religiösen Lebens hervor. Diese beiden stehen in gegenseitiger Wechselwirkung und haben das Gemeinsame, daß sie einzig auf Werturteilen beruhen. Auch damit steht HERRMANN noch auf dem Boden LOTZEs. Aber gerade da, wo die Darstellung auf die Persönlichkeit und ihr sittliches Wertbewußtsein kommt, nimmt sie eine wesentlich abweichende Wendung ein. KANT hatte den Begriff des Wertes abgeleitet durch die Beziehung auf einen Zweck. Wertvoll ist nach ihm der Person das, was ihren Zweck fördert; die Person selbst aber ist ihrer Natur nach Endzweck und hat deshalb im Unterschied von den Dingen nicht einen Wert, sondern eine Würde. In den  Zwecken  des Personlebens sucht nun im Anklang hieran HERRMANNN das wertgebende Moment. Wie aber dieses Moment näher zu fixieren ist, auf welche Weise die Vorstellung des  höchsten  Wertes sich in der Person vollzieht und wie die in Betracht kommenden Faktoren sich zueinander ordnen, darüber bliebe bei HERRMANN eine eingehendere Auseinandersetzung zu wünschen, als er sie trotz seiner weit ausgeführten Abhandlung gibt. Wir hören, daß die religiöse Gewißheit wesentlich normiert ist durch die Selbstbeurteilung. Die Überzeugung vom Wert des eigenen persönlichen Lebens ist die Grundlage der gläubigen Zuversicht. Eine unbedingte Überzeugung von diesem letzteren Wert aber kann man nur haben, wenn man seinen Selbstzweck in das "unbedingt Wertvolle", in das höchste Gut, gesetzt weiß. - Notwendig erhebt sich hier die Frage, was denn dann der letzte Maßstab aller Werte ist. Ist die Person selbst einem Werturteil unterworfen und rechtfertigt sie ihren Wert durch ihre Ziele, so kann sie offenbar nicht hinwiederum das Ziel sein, nach welchem sich letztlich Werte bemessen. Ist es aber nicht die Person, was dann? HERRMANN zieht sich in ein kantisches Dunkel zurück, indem er von der empirischen Person weg auf einen intelligiblen persönlichen Charakter verweist und einerseits die Unerklärbarkeit des kategorischen Imperativs mit KANT anerkennt, andererseits aber doch im Zusammenhang des unbedingten Gesetzes mit dem Postulat der Freiheit über dem Weltlauf eine gewisse Erklärung oder zumindest Rechtfertigung für das Sittengesetz sucht. - Das Zurückgehen auf das Gefühl als die einheitliche Quelle der Werturteile hat auf diesem Standpunkt, obwohl HERRMANN es festzuhalten sucht, nur mehr wenig Bedeutung und ein zweifelhaftes Recht. Ebenso lassen die auf jene Weise konstruierten Werturteile eine direkte Anwendung auf die Religion genauerweise nicht mehr zu. Soll, wie HERRMANN des Standpunkt RITSCHLs auf die Spitze treibt, die im Werturteil ausgesagte Realität eine ganz andere seine, als die im erkennenden Denken gesetzte, so gibt es doch alsdann nur ein Objekt, dem jene andersartige Realität zukommen kann, nämlich jenes Etwas, das hinter dem Sittengesetz steht oder in ihm real ist. Alles andere kann Gegenstand eines moralischen Urteils nur werden, sofern es zum Sittengesetz in Beziehung steht. Speziell bei der Religion, mag man nun auf den verborgenen Willen sehen, welcher die Welt im tiefsten Grund leitet, oder auf die geschichtliche Offenbarung in  Christo,  kann es sich nur um Seinsurteile handeln, welche zwar mit Werturteilen auf das Engse zusammenhängen, sich auf sie stützen, deren Objekt sich aber doch aus dem Bereich des objektiven Seins nicht herausrücken läßt.

Nach all dem kann man auch von HERRMANN nicht sagen, daß er die Unklarheiten, welche vor ihm bestanden, konsequent ausgetragen hätte. Er hat die Einseitigkeit RITSCHLs auf das Höchste ausgebildet, und den Nutzen der Verdeutlichung hat das ja; er hat den Boden des Eudämonismus verlassen und sich dem kategorischen Imperativ zugewendet und darin kann ich nur einen notwendigen und heilsamen Schritt sehen. Aber daß die Rechnung nunmehr abgeschlossen wäre, davon fehlt so viel, daß sie vielmehr jetzt aufs Neue erst recht in Verwirrung geraten ist.

Nur in einem Punkt mag man aus der durch HERRMANN angeregten Debatte den Eindruck eines Resultats gewinnen. Dies ist die Ablehnung der vollen Trennung zwischen der Realität der Werte und derjenigen des sonstigen Seins. Hierüber befinden sich FRANK und BENDER, KAFTAN und BIEDERMANN, LUTHARDT und LIPSIUS in seltener Übereinstimmung. Angesichts dessen darf man sich wohl eine Wiedergabe der von den verschiedenen Seiten erhobenen Argumente versagen.

Andererseits aber hat die ganze Fülle von Gegensätzen, welche auf dem Gebiet der Moralspekulation bestehen, sich in die Auseinandersetzung über das Wesen und die Bedeutung der "Werturteile" hineingezogen und auch die Fassung des Begriffs selbst nach verschiedenen Seiten hin beeinflußt. Am wenigsten entwickelt sich dieser naturgemäß bei denjenigen Theologen, welche von der Unterscheidung einer zweifachen Beurteilungsweise überhaupt keinen Gebrauch machen wollen. So lassen BIEDERMANN, FRANK und STÄHLIN die auf gegnerischer Seite verbreitetste Ableitung aus einem durch das Gefühl ins Bewußtsein tretenden Zusammenhang zwischen gewissen Objekten und den Bedingungen und Zielen unseres Lebens im allgemeinen unbeanstandet, aber nur, um desto entschiedener die Selbständigkeit einer so bestimmten Urteilsklasse zu leugnen. Wo man hingegen auf die fragliche Scheidung mehr oder weniger eingeht, stehen sich der idealistische und der empiristische Standpunkt gegenüber.

Vom empiristischen Standpunkt aus sucht namentlich KAFTAN sich von allen philosophischen Voraussetzungen frei zu machen und in der Sprache des gemeinen Bewußtseins sich über das, was Werturteile sind und was in der Theologie mit ihnen ausgerichtet wird, zu verständigen. In der Anlehnung an die kantische Philosophie findet er bei HERRMANN den schwächsten Punkt. Als ein auch dem naiven Bewußtsein gegebenes Grunddatum sieht er hingegen an, daß wir in theoretischen Urteilen einen Tatbestand ausdrücken, in Werturteilen aber "unsere Stellung zu einem solchen". Das heißt also: Werturteile haben ihr direktes Objekt nur innerhalb unserer Subjektivität, beziehen sich aber auch auf Objekte außerhalb von uns, sofern diese für das Subjekt von Bedeutung sind. daß trotzdem die auf diese Weise subjektiv bestimmten Urteile nicht in eine partikulare Stellung zurückgedrängt werden, ermöglicht sich bei KAFTAN dadurch, daß er dem Erkennen überhaupt keine selbständige Bedeutung und keine Autonomie zugesteht, sondern dasselbe durchaus in einem dienenden Verhältnis zu dem in Gefühl und Willen sich konzentrierendem Gesamtleben der Person stehend denkt. - Allerdings auch eine Philosophie, und zwar eine gewagte. - Nach den hier gegebenen Maßstäben bildet sich im Unterschied vom bloßen Wissen die Weisheit, von welcher die christliche Religionserkenntnis eine bestimmte, und zwar die höchste Ausgestaltung ist. - Die genauere Frage nach den verschiedenen Arten der Wertbeurteilung bezeichnet KAFTAN als "einen der wichtigsten wie auch schwierigsten Punkte, auf welche ein methodisches Nachdenken über das religiöse und sittliche Leben der Menschheit führt". Er selbs beschränkt sich jedoch in dieser Sache wesentlich darauf, seinen Standpunkt darzulegen, ohne eine allseitige Erörterung zu unternehmen. Er greift, seinen methodischen Grundsätzen gemäß, die Unterschiede auf, wie sie sich empirisch vorfinden, und konstatiert drei Grundarten von Werturteilen, nämlich "natürliche" (d. h. solche, die durch das einfache Wohl und Weh bestimmt werden), ästhetische und moralische. Während er den erstgenannten als Motiv das einfache "Verlangen nach Leben" zuteilt, führt er die beiden letzteren, von denen er jedoch nur das moralische näher behandelt, auf eine "Idee vollkommenen Lebens" zurück. Im einzelnen macht sich mehrfach ein Mangel an zusammenhängender und eingehender Darstellung fühlbar. Eine Undeutlichkeit liegt schon darin, daß bald das "Verlangen" nach Leben und das "Ideal" eines vollkommenen Lebens als der ein Werturteil bestimmende Faktor bezeichnet wird, also ein in der Person liegendes Streben, welches sich geltend macht, abgesehen von seiner tatsächlichen Befriedigung; bald wiederum das Gefühl von Lust und Unlust, welches doch wohl durch faktische Förderungen oder Störungen verursacht zu denken ist. Im ersteren Fall kann man von einem "Tatbestand", zu dem unser Ich Stellung nimmt", gar nicht reden, man hat also kein "Werturteil", sondern eine aus dem Wunsch geborene Vorstellung vor sich. Gerade wo, wie bei KAFTAN, die Religion ausschließlich auf das "Verlangen nach Leben" zurückgeführt wird, ist auf die Unterscheidung von legitimen und illegitimen religiösen Urteilen das größte Gewicht zu legen. - Bei der Frage nach dem Verhältnis des natürlichen Werturteils zum moralischen treten wie mit Geflissentlichkeit Sätze nebeneinander, über deren Vereinbarkeit man seine starken Zweifel haben kann. Aufgrund des geschichtlichen Tatbestandes wird mit aller Entschiedenheit behauptet: "Wer die bestimmte Unterscheidung zwischen Pflicht und allem was Neigung heißt, als Vorurteil beiseite schiebt, setzt sich mit den Tatsachen in Widerspruch." Wir lesen, "daß das Gewissen, das Gefühl des Sollens, sich niemals auf den natürlichen Trieb, Güter zu suchen und Übel zu fliehen, reduzieren läßt". Trotzdem wird andererseits die Forderung aufgestellt, es müssen, da das Leben nicht einheitslos auseinanderfällt, auch die sittlichen Ideale, weil sie nur in einem konkreten Verlauf existieren, erklärbar sein. "Unter einer solchen Erklärung ist aber eine Ableitung aus natürlichen Gütern zu verstehen." Die Lösung des Gegensatzes soll "in einem korrelaten Verhältnis von sittlichen Idealen einerseits und sittlichen Gütern andererseits" liegen. Alles läge nun offenbar daran, über dieses "korrelate" Verhältnis zu einer recht bestimmten Klarheit zu kommen, insbesondere zu finden, ob und wie das sittliche Ideal etwas vom sittlichen Gut noch wesentlich unterscheidbares ist, ob es in ihm ein Moment gibt, welches bei der Ableitung des sittlichen Gutes noch ausgeschlossen bleibt, so daß man genau sagen müßte, das sittliche Gut läßt sich erklären, nicht aber das sittliche Ideal. Auf eine solche Unterscheidung läßt sich aber KAFTAN nicht ein, er spricht vielmehr  promiscue  [vieldeutig - wp] auch von einer "Erklärung des sittlichen Ideals". Man kann deshalb nur konstatieren, daß er das natürliche Werturteil zum tragenden macht, dabei aber die unbedingte Gültigkeit der idealen Urteile festhalten zu können glaubt.

In ganz entgegengesetzter Richtung bewegt sich LIPSIUS, dessen Ansicht vom Wesen der Werturteile (2) derjenigen HERRMANNs am nächsten steht. LIPSIUS gibt KAFTAN darin recht, daß der Antrieb zur Religion in einem unbefriedigten Anspruch auf Leben liegt, aber klarer als jener unterscheidet er von diesem Impuls als zweites Moment "die im religiösen Verhältnis gemachte innere Erfahrung". Erst diese letztere führt nach ihm zu Werturteilen, und zwar beruhen diese Urteile auf demjenigen Wesensgrund des menschlichen Geistes, der nicht mehr untersucht werden kann, dem "intelligiblen Charakter" der Freiheit über die Natur und dem noch tiefer liegenden Gefühl der unbedingten Abhängigkeit von Gott. Beide tragende Faktoren verhalten sich so zueinander, daß nicht die intelligible Freiheit das letzte Unbedingte ist, sondern die Abhängigkeit von Gott. Erst in dieser wird die Freiheit selbst wirklich. Zu wahren Werturteilen kommt es nur innerhalb der "ethischen Religion". "In der transzendentalen Abhängigkeit von Gott erlebt der persönliche Geist seine intelligible Freiheit und  befriedigt dadurch  jenen Anspruch auf Leben, der den Antrieb zu aller religiösen Erhebung bildet." Die religiöse Erhebung, welche zuerst Mittel zur Erhaltung des persönlichen Lebens war, wird jetzt Zweck, und das persönliche Leben selbst wird zum Mittel herabgesetzt.

LIPSIUS geht somit deutlich über den Bannkreis einer allein vom Subjekt aus normierten Wertbeurteilung hinaus. Treffend formuliert er die zwischen ihm und HERRMANN bestehende Differenz dahin, es handle sich darum, "ob die Gemeinschaft mit Gott sich darin bewährt, daß der Mensch seinen Selbstzweck in einem göttlichen Zweck wiederfindet, oder ob er umgekehrt den göttlichen Zweck zu seinem persönlichen Selbstzweck macht".

Eine andere Frage ist es auf diesem Standpunkt, wie es nunmehr um einen einheitlichen Begriff von den Werturteilen bestellt ist. LIPSIUS formuliert ihn so: "bewußte oder unbewußte Reflexionen über den Zusammenhang des um eines gefühlten Wertes willen als wirklich oder doch als realisierbar gesetzten mit dem persönlichen Leben des urteilenden Subjekts sind sie alle". Hieran fügt er eine Grundunterscheidung zwischen "notwendigen" und "zufälligen" Werturteilen, von welchen erstere in einem unzertrennlichen Zusammenhang stehen mit der Selbstgewißheit unserer persönlichen Existenz, während die zufälligen nur den besonderen Zwecken und Wünschen des naturbestimmten Individuums dienen. - Wo wir das Individuum anders als naturbestimmt vorfinden, sowie ob die aufgestellte Einheit zu den sonstigen Ausführungen paßt, soll hier nicht gefragt werden. Abnorm ist jedenfalls, daß die zu erklärende Größe in die Erklärung selbst hineinverflochten ist.

Nicht ohne Einfluß für weitere Auseinandersetzungen dürften endlich zwei Darlegungen vom  physiologischen  Standpunkt bleiben. Die erste ist die Reproduktion der Erkenntnisgrundsätze LOTZEs von Dr. KARL THIEME, (3) aus welcher wir besonders den wichtigen gegen KAFTAN gerichteten Satz hervorheben, daß das Werturteil nach LOTZE "auch vom Nichtich Kunde gibt". Die andere gibt PAULSEN in seinem System der Ethik, welches im Ganzen in den Wegen LOTZEs geht, aber dem hedonistischen Standpunkt einen utilitaristischen entgegensetzt. Er glaubt "ohne großen Fehler" sagen zu können, daß der letzte Maßstab des Wertes die Wohlfahrt der Gesamtheit ist. Dasjenige "Werturteil" aber, in welchem PAULSEN mit den Theologen RITSCHLscher Richtung das Wesen der religiösen Weltanschauung sucht, ist nicht sowohl eine einen solchen "Wert" prädizierende Aussage, als vielmehr eine "Deutung" - d. h. eine Hypothese über einen  faktischen Zusammenhang -, welche aufgrund der Wertschätzung des eigenen sittlichen Lebens für die Welt aufgestellt wird, sofern diese mit jenem sittlichen Leben in Sachzusammenhängen steht.

Im Ganzen läßt sich unsere Übersicht dahin resümieren, daß eine allgemeine, unbestimmte Vorstellung, Werturteile seien durch eine Geltendmachung des persönlichen Subjekts produziert, im herrschenden Ansehen steht, daß aber eine genauere Bestimmung über das Wesen der so erklärten Urteilsnormen weder in einzelnen theologischen Kreisen zu allgemeiner Anerkennung zu gelangen vermochten, noch auch in irgendeinem System mit voller Präzision und Konsequenz durchgeführt worden sind. Man hat den Begriff des Wertes mehr zu weiteren Operationen benutzt, als ihn selbst zum Gegenstand einer ernsteren Untersuchung zu machen. 

Ein auf das letztere Ziel gerichteter Versuch ist damit gerechtfertigt.


II.
Der Begriff des Wertes
und das Wesen der Werturteile
Vor dem Eintritt in eine eigene Behandlung überblicken wir nochmals die Punkte, welche in der bisherigen Diskussion als wesentlich hervorgetreten sind. Es sind kurz folgende Fragen: Besteht der Unterschied einer doppelten Beurteilungsweise überhaupt? Ist der Unterschied ein solcher, daß die Bildung der einen Art von Urteilen auch keine formale Analogie mit denen der andern zuläßt, oder kann bei aller materialen Verschiedenheit eine solche Analogie doch noch festgehalten werden? Führen die Werturteile auch auf Realität und ist diese mit derjenigen der sonstigen Erkenntnisobjekte identisch oder ist es eine andere? Verläuft das religiöse Erkennen ausschließlich in Werturteilen, und wenn nicht, welche Urteile anderer Art spielen sonst noch mit, und welches Verhältnis nehmen die verschiedenen Elemente der religiösen Erkenntnis zueinander ein?

Keine dieser Fragen bildet jedoch für uns den nächsten Gegenstand, auf den wir zusteuern, sondern wir fragen nur: was hat man sich überhaupt unter einem Werturteil zu denken? Ist man darüber völlig klar, so erwarten wir, daß alles andere von selbst von hier aus eine nicht unwichtige Beleuchtung erfahren wird.

Der Ausdruck "Wert", nach KLUGEs etymologischem Wörterbuch am wahrscheinlichsten abzuleiten von der Wurzel  wor = ansehen,  dessen partizipiale Ableitung dann zunächst das Adjektivum  wert = angesehen  wäre, besagt zunächst nur, daß eine Sache in den Augen des Menschen vor anderen bevorzugt wird. Diese Bevorzugung kann eine rein persönliche sein, daher  wert = lieb,  sie kann aber auch eine allgemeine sein und beruth dann auf gewissen Eigenschaften des Objekts, welche dasselbe allen wichtig, bzw. seinen Besitz allen erwünscht machen. Im letzteren Sinn hat sich besonders die Bedeutung einer gradweisen allgemein gültigen Schätzung ausgebildet, welche für Handel und Wandel maßgebend ist und diese Bedeutung ist für das Substantivum die überwiegende geworden. Die Etymologie wird hier ganz gleichgültig, es handelt sich um einen Begriff, welchen alle Sprachen bilden, egal woher sie die Worte dafür nehmen.

Wenn nun die philosophische und theologische Prinzipienlehre sich des gleichen Ausdrucks bedient, so ist so viel klar, daß er nicht ohne weiteres als genügend geprägt hingenommen werden kann. Schon die Mehrdeutigkeit und das Schwanken zwischen einem subjektiven und einem objektiven Sinn ist mißlich; zudem hat der Ausdruck ansich nur einen positiven Sinn, während die Erkenntnistheorie sofort von "negativen Werten" zu reden genötigt ist; schließlich setzt die Benennung das ganze konkrete Leben mit dem Zusammenwirken all unserer Erkenntniskräfte und Affekte bereits voraus, sie kann nur ein Erkenntnis produkt  bzw. -Objekt bezeichnen: soll sie nun mit einem Mal als ein Erkenntnis'prinzip dienen, so ist es ganz unvermeidlich, daß eine gewisse begriffliche Unreinheit entsteht, sobald man die Benennung irgendwie preßt.

Wir müssen deshalb vorerst den Namen als etwas verhältnismäßig Zufälliges auf sich beruhen lassen und uns mit unserer Begriffsarbeit der Sache zuwenden, auf welche derselbe gemeinhin bezogen wird. - Diese hinwiederum können wir nicht voraussetzungslos durch alle möglichen Alternativen zurückverfolgen, sondern wir behandeln sie unter der Voraussetzung, daß dasjenige Ethos, welches in seinen allgemeinen Zügen unserer gesamten Kulturwelt ein unveräußerlicher Besitz geworden ist, mag man es nun ein christliches nennen oder ein natürliches, zu Recht besteht.

Was besagt es  umfänglich,  wenn man behauptet, das religiöse Erkennen verläuft in Werturteilen? KAFTAN gibt darauf in Anlehnung an LOTZE eine Antwort, gegen welche wohl von keiner Seite ein Einwand besteht. Es handelt sich um "Wohl und Wehe", "Schön und Häßlich", "Gut und Böse". Man kann also konkret sagen: die religiöse Erkenntnis verläuft in Aussagen über Wohl und Wehe, Schön und Häßlich, Gut und Böse, und zwar, setzen wir hinzu, direkt und ausschließlich in solchen Aussagen. Bei dieser Formulierung wird die Behauptung, zu welcher man Stellung nehmen soll, schon deutlicher, sie wird es sogar für den, der sich noch so sehr mit ihr befreundet und in sie eingelebt haben mag. Denn bei einem generellen Gesamtausdruck ist es üblich geworden, sofort wieder über die empirisch gegebenen Gefühlsformen hinauszugehen und ein Moment von Theorie aufzunehmen, welches notwendig sowohl die Deutlichkeit der Erörterung wie auch die Zuverlässigkeit der Resultate beeinträchtigen muß. Ob das Nützliche, das Schöne, das Gute und ihre Gegensätze uns in einer gemeinsamen Perzeptionsform zu Bewußtsein kommen und worin der Charakter jener Form liegt, das ist ja eben die große Frage, über welche sich wahrlich im voraus nichts Ausreichendes festsetzen läßt. Es ist zwar unverfänglich, wenn man im allgemeinen von "Gefühlen" redet, aber damit ist eben nicht viel gesagt. Sobald man aber mehr sagt, ist leicht auch schon zuviel gesagt. So auch mit der allgemeinsten Bestimmung, es handle sich um eine "Stellungnahme der Person zu Tatbeständen". Zweifellos ist eine solche Stellungnahme der Person überall mit vorhanden, aber ist sie auch überall das Wesentliche und Konstituierende? Sobald man dies annimmt, fußt man statt auf eigenartigen Grundformen unseres Urteilens auf einer Hypothese, welche aus dieser Eigenart hinausführt; statt den Rechtfertigungsprozeß unserer Erkenntnis, so weit er sich überhaupt führen läßt, einzuleiten, zwingt man ihr eine problematische Generalkapitulation auf, man konstatiert in immer weiteren Verlauf nach dem vorgefaßten Kanon "Werturteile", welche mit der Empfindung für das Nützliche, Schöne und Gute nur noch in einem sehr indirekten Zusammenhang stehen, für welche aber trotzdem die für jene aufgestellten Bestimmungen in Geltung bleiben, und schließlich geht es der in eine großartige  petitio principii [es wird vorausgesetzt, was erst zu beweisen ist - wp] eingeschraubten Wahrheit ähnlich wie jener unglücklichen Königin, die klagen muß:
    "Ich zweifle nicht, daß ein Gesetz, ausdrücklich
    Auf mich gemacht, verfaßt, mich zu verderben,
    Sich gegen mich wird brauchen lassen."
Um sicher zu gehen, gibt es keinen anderen Weg, als den ruhiger Induktion. Wir haben die einzelnen Arten der Urteile, von denen wir nicht anders zu sagen wissen, als daß sie durch ein "Gefühl" in uns erzeugt sind, für sich auf ihre formale Beschaffenheit und ihre Tragweite anzusehen, dann erst kann sich fragen, wie und inwieweit sie unter sich zusammengehören und was sie in ihrer Zusammengehörigkeit für die Theologie bedeuten.

Daß im Selbsterhaltungstrieb des Individuums, in Wohl und Wehe, Furcht und Hoffnung, Begierde und Abscheu ein wesentlich einheitlicher Erscheinungskomplex vorliegt, darf man wohl unbeschadet aller geltend gemachten Scheidungen ohne weiteres behaupten. Wie steht es nun um die auf diesem Boden erwachsenden Urteile? Man mag sie der Kürze wegen mit KAFTAN "natürliche Werturteile" nennen. Will man sich streng auf die Eigenart des natürlichen Lebensaffekts beschränken, so ist ihr Gebiet ein sehr enges. Es umfaßt nichts weiter als identische Aussagen über erlebte Zustände des Wohlbefindens oder Übelbefindens, von denen man aber eigentlich auch die Aussageform hinwegdenken muß, wenn man streng jedes "theoretische Urteil" ausscheiden will. Dieses wäre die einzig mögliche Form eines  reinen natürlichen Werturteils,  bei welchem es sich um Wohl und Wehe  direkt und ausschließlich  handelt. Wie weit damit zu kommen ist, das kann nicht klassischer gesagt werden, als es PLATO im  Philebus,  Kap. 10 sagt:
     Sokrates:  Möchtest dur wohl so leben, o Protarchus, daß du dein ganzes Leben hindurch an allen größten Vergnügungen dich vergnügtest?

     Protarchus:  Warum nicht?

     Sokrates:  Würdest du wohl noch etwas dazu zu bedürfen glauben, wenn due dies ganz vollkommen hättest?

     Protarchus:  Keineswegs.

     Sokrates:  Sieh doch zu! von Einsehen und Wissen und gehörigem Zusammenstellen, möchtest du davon nichts auch nur sehen?

     Protarchus:  Und wozu? denn ich hätte ja alles, weil ich das Vergnügtsein hätte.

     Sokrates:  Auf diese Art also lebend würdest du zwar immer an jeglicher größten Lust dich vergnügen?

     Protarchus:  Freilich.

     Sokrates:  Ohne aber von Vernunft und Erinnerung, Erkenntnis und Vorstellung auch nur das mindeste zu haben?

     Protarchus:  Richtig.

     Sokrates:  Zuerst also mußt du doch schon dieses, ob du vergnügt bist, offenbar nicht wissen, da du ja aller Einsicht leer bist.

     Protarchus:  Notwendig.

     Sokrates:  Und ebenso, da du ja gar kein Gedächtnis besitzt, kannst du offenbar weder dessen, daß du einst vergnügt warst, dich erinnern, noch kann dir von der Lust, die dir jetzt eben zufällt, auch nur das mindeste Andenken zurückbleiben. Wiederum, da du auch keine richtige Vorstellung hast, kannst du nicht einmal, indem du dich freust, dir vorstellen, daß du dich freust. Und da du alles richtigen Zusammenstellens in Gedanken beraubt bist, wirst du auch nicht einmal, daß du in Zukunft noch vergnügt sein wirst, berechnen können, und so nicht ein menschliches Leben leben, sondern das irgendeines Polypen oder eines Schalentiers, wie man sie im Meer findet. Oder können wir irgendwie anders von der Sache denken?

     Protarchus:  Wie nur?

     Sokrates:  Und ist uns wohl ein solches Leben zu wählen?

     Protarchus:  Ganz zum Verstummen hat mich diese deine Rede gebracht. (4)
Direkt, aber nicht ausschließlich handelt es sich um die Empfindung des Wohl- oder Übelbefindens, wenn man einen Schritt weiter geht zur Vorstellung der Objekte und Tatbestände, von welchen jene verschiedenen Gefühlseindrücke herzurühren scheinen. Man verbindet mit jenen Objekten, egal wie man sie sich sonst denken mag, den Gedanken, daß sie nicht nur bisher uns so oder so affiziert haben, sondern auch in Zukunft desgleichen tun werden, man leitet diese Erwartung ab von Tatbeständen, welche unabhängig von unserem Gefühl an den Objekten vorhanden sind, und dadurch bildet sich in uns gegen die Objekte selbst eine Art von Affekt. Sofern auf dem letzteren der Nachdruck der Aussage liegt, kann man auch so beschaffene Urteile noch legitimermaßen zu den "natürlichen Werturteilen" zählen, doch muß man sich gegenwärtig halten, daß sie bereits nicht mehr einer aus einer reinen, sondern einer komplizierten Natur sind. Aber auch sie sind für das höhere Leben der Person ziemlich interesselos.

Das Interesse sitzt vielmehr gerade da, wo wir nicht einen Affekt aussagen wollen, sondern einen Tatbestand, wie wir ihn uns denken und wie er sein müßte, wenn unser Affekt nicht enttäuscht werden soll. Wenn man auch hier noch von "Werturteilen" spricht, so geschieht dies  per abusum  [als Mißbrauch - wp]. Es sind hypothetische "Seinsurteile", welche aus "Werturteilen" fließen. Sie ließen sich vielleicht kurz als Affektionsurteile benennen. Wenn wir trotzdem auf sie den anderwärts geübten Sprachgebrauch anwenden, so geschieht dies nur in Akkomodation [Anpassung - wp] und unter dem bereits ausgesprochenen Vorbehalt. Nach der Art, wie der Affekt unser sonstiges Denken beeinflußt, teilen sich die Affektionsurteile in drei charakteristische Klassen, welche wir als  divinatorische, illusorische  und  antizipiernde  natürliche Werturteile bezeichnen. Bei  divinatorischen  natürlichen Werturteilen erweist sich der Lebenstrieb als unersetzlicher Führer durch die unser Leben am meisten bedingenden Zusammenhänge der objektiven Wirklichkeit, wie sich hierfür als niederstes und handgreiflichstes Beispiel die Instinkte des animalischen Lebens darbieten. Bei der  Jllusion  hat dieser Führer über die ihm zugeteilten Wege hinausgegriffen und hat auf Irrwege geleitet, von denen eine möglichst baldige Rückkehr das einzig Vernünftige ist. Zwischen beiden bewegt sich die  Antizipation,  wo das subjektive Gefühl und die objektive Wirklichkeit sich auf halbem Weg begegnen; keins von beiden wäre für sich stark genug eine feste Bahn einzuschlagen, aber in der Koinzidenz erzeugen sie Urteile von bestimmter Richtung, welche keinerlei Garantie in sich tragen, ob sie sich schließlich als Divinationen [Erkenntnis des Heiligen - wp] oder als Jllusionen erweisen werden. Die Annahme überlieferter Religionslehren fällt, solange nicht noch andere Faktoren als mitwirkend in Betracht kommen, unter diesen Gesichtspunkt. Doch ist zu bemerken, daß mehr noch als der so vielfach betonte Wunsch sein Widerspiel, die Furcht, als mächtige Triebfeder in Anschlag zu bringen sein dürfte.

Erst in der Verbindung des eigentlichen Werturteils mit dem Affektionsurteil gewinnt das Wohl und Wehe jene Bedeutung auch für die höchsten Angelegenheiten des persönlichen Lebens, welche eine gesonderte Betrachtung gestattet und fordert.

Was in dieser Beziehung als unbedingt richtig gelten darf, kann man nicht schöner aussprechen, als es LOTZE getan hat mit den Worten: "Die Lust ist das Licht, in welchem jede objektive Schönheit und Vortrefflichkeit erst wahrhaft zu leuchten beginnt." Man möchte etwa noch hinszusetzen: und das Wehe ist der Schatten, welcher uns die dunkle Natur des Bösen erst wahrhaft anschaulich macht. Damit ist aber nicht mehr ausgesprochen, als daß Lust und Schmerz unentbehrliche Koeffizienten auch des höheren idealen Lebens sind, durchaus nicht, daß in ihnen der ausreichende Erklärungsgrund für jenes Leben läge. Daß man die Wichtigkeit des eudämonistischen Gesichtspunktes in unserer Zeit wieder mehr würdigt, hat die moderne Betrachtung psychologischer Fragen dem kraftvollen Realismus der Bibel näher gebracht. Etwas Neues kann man in dieser Hinsicht gegenüber der Bibel überhaupt nicht sagen, wenn man nicht zu dem Extrem fortgehen will, daß der Eudämonismus, und zwar der diesseitige, das allein bestimmende Prinzip des sittlichen Lebens sein soll. Auch dieses Extrem ist nichts weniger als neu. Es ist samt seinem geschichtsphilosophischen Ideenbeiwerk schon niedergelegt im Ausspruch des HORAZ:
    "Jura inventa metu iniusti fateare necesse est,
    Tempora si fastosque velis evolvere mundi."
    [Das Recht wurde erfunden aus Furcht vor Unrecht, musst du zugeben,
    wenn du die Geschichte und Zeiten der Welt auswälzen willst.]
Daß dieses Thema sich in gewisser Weise durchführen läßt, haben seine zahlreichen Variationen bis in die Gegenwart bewiesen. Sind die Grundzüge des öffentlichen Rechts aus Existenzbedingungen der Gesamtheit erklärbar, so ist auch für die Forderung eines persönlichen sittlichen Verhaltens die allgemeine Grundlage gegeben. Die Energie des individuellen sittlichen Bewußtseins bietet für jenen Standpunkt allerdings gewisse rätselhafte Phänomene dar, die er nur als eigentümliche Übertreibungen beurteilen kann, welche der wuchtige Druck des Ganzen hervorgebracht hätte. Auch über die praktische Funktionsfähigkeit so fundierter Moralprinzipien mag man seine eigenen Gedanken haben. Aber das Ganze ist ein System, in welchem Logik ist, und welches noch viel leichter als über das sittliche Gebiet seine Herrschaft über das religiöse Leben auszudehnen vermag, da ja hier zugestandenermaßen die Frage nach der Glückseligkeit viel direkter im Spiel ist.

Was aus der Annahme dieses Systems, zu dem wir erst später eine definitive Stellung zu nehmen haben werden, sich für die wissenschaftliche Betrachtung der Religion ergibt, verdient umso mehr, gesondert überblickt zu werden, als ja der Fall einer eudämonistisch und utilitaristisch begründeten Theologie kein fingierter ist.

Die erste und allgemeinste Konsequenz ist die, daß eine Trennung von Metaphysik und Theologie ausgeschlossen ist. So sehr man die Begriffe von Lust, Wohlfahrt und dgl. sublimiert, sie bleiben doch immer natürliche Dinge, die ihre Ursache haben müssen, und bei denen alles darauf ankommt, ob diese Ursache eine dauernde oder eine nur vorübergehende ist, ob sie außer uns liegt in einem Zusammenhang von Dingen, die unser irdisches Dasein überdauern, oder ob sie nur in uns vorhanden ist und deshalb auch mit uns vergehen wird. Überdies hat die religiöse Erhebung ihrer speziellen Natur nach stets ein Ziel, welches zumindest als wirklich vorgestellt wird. Ob mit Recht oder mit Unrecht, das ist gerade die große Frage. Nach beiden Seiten sind wir auf das, was ist und gedacht werden kann, angewiesen. Mit anderen Worten, es ist das theoretische Erkennen, mit dessen Maß wir messen und mit dessen Mitteln wir uns der Wirklichkeit zu gut wie möglich versichern müssen. Das Gebiet der Wirklichkeit aber, auf welches dann nach der Natur der Religion der Hauptakzent fällt, kann kein anderes sein, als das der Metaphysik.  Wer daher die Religion irgendwie auf der Grundlage der natürlichen Werturteile beruhend denkt, der hat notwendig eine theologische Metaphysik, sei es nun eine bejahende oder eine verneinende,  und wie diese Metaphysik, so ist im Grunde die Stellung zur Religion selbst. Jene Stellung kann man verwischen. Man kann das religiöse Leben auf diejenigen Ursachen und Objekte hin verfolgen, welche der diesseitigen Welterkenntnis angehören; man kann auf das religiöse Leben, wie es in der Kirche, in der Schrift und in einzelnen Persönlichkeiten vorhanden ist, seine Betrachtung eine Zeitlang gewaltsam bornieren; man kann sich den entgegenkommenden Eindrücken hingeben, die zulänglichen Lebensquellen aufsuchen und in der hier zuströmenden Befriedigung ruhen wollen. Aber schließlich wird es sich doch unerbittlich geltend machen, daß all jene Medien ansich das religiöse Bedürfnis weder befriedigen noch befriedigen wollen, daß sie vielmehr auf hinter ihnen stehende Realitäten zurückweisen, und mit einem unaufhaltsamen Gewicht wird die große Frage alle Zwischengerüste durchbrechen: sind jene größeren Realitäten eine auf unser Gefühl wirkende Ursache, oder sind sie es nicht? ist unser Gefühl da, wo es postuliert und antizipiert, auf dem Weg der  Divination  oder auf dem der  Jllusion?  Die letztere Annahme hat man dann in der Stille schon gemacht, wenn man bei der Beziehung zwischen der Vorstellung einerseits und dem Gefühl und Wunsch andererseits stehen bleiben will. Von hier aus kann man nicht mehr anders als BENDER zuzugeben, daß der Glaube nur eine subjektive, wenn auch noch so schöne und unter Umständen unvermeidliche Vorstellung, daß er eine Jllusion ist. Denn was sind Gedanken, deren Vater der Wunsch und deren Mutter die Furcht ist, anderes? Am konsequentesten wird man dann gleich mit <em class=cap>FEUERBACH
die Religion als eine Form der Narrheit ansehen, die am besten ausgerottet wird.

Steckt dagegen hinter den Erscheinungsformen religiösen Lebens wirklich eine tiefer liegende Realität, welche ein kongeniales Empfindungsvermögen richtig aus ihnen herausfühlt, so mag man immerhin behutsam und umständlich zu Werke gehen, die Richtung, in der man sich bewegt, ist und bleibt doch die der Metaphysik, und der Weg, der dorthin führt, ist und bleibt -  die Mystik

Dies ist die Alternative, auf welche man hinauskommt, wenn das "natürliche Werturteil" als Hauptschlüssel dienen soll, mittels dessen alle mit unserem religiösen Leben gegebenen Aussagen ihren Sinn eröffnen. Dieselbe ist nach keiner Seite hin eine günstige. Auf der einen Seite bietet sich in durchsichtiger Klarheit das leere Nichts dar; nach der anderen Richtung geht der Blick allerdings auf eine Fülle unendlicher Realität, aber diese Fülle wohnt in einem Dunkel, aus welchem nur die Mystik uns tausend Arme entgegenstreckt, ohne daß wir doch eines zureichenden Grundes sicher wären, welcher uns  bestimmen müßte  und  berechtigen dürfte,  einen derselben zu ergreifen oder uns ihm hinzugehen.

Zu einer Kontroverse über diese beiden Möglichkeiten haben wir keinen Anlaß, solange nicht die zwei anderen Arten der aus Gefühlen fließenden Urteile für sich betrachtet und nach ihrer besonderen Art zur Geltung gebracht sind. Die Frage nach ihrem Zusammenhang mit der ersten Klasse bildet dabei nicht den Ausgangspunkt, sondern sie wird erst nach der Anerkennung des positiv Gegebenen zur Erwägung kommen.

Zunächst darf ein formaler Unterschied nicht übergangen werden, der schon das ästhetische und noch mehr das moralische "Gefühl" von den primitiven Affekten der Selbsterhaltung trennt.

Was auch immer sonst um das Schöne sein mag, gewiß ist, daß der darin ausgesprochene Eindruck überhaupt nicht als bloßes Gefühl existiert, sondern immer nur in einer Verbindung von Gefühl und Vorstellung; und zwar besteht hier diese Verbindung nicht bloß aufgrund einer allgemeinen Forderung des Kausalnexus, sondern sie liegt im spezifischen Wesen des Eindrucks selbst. Es ist gleichgültig, ob die Vorstellung wahr ist oder nicht, auch ein Traumbild kann schön sein, aber niemand kann den Eindruck des Schönen, etwa in Form eines nachwirkenden Wohlgefühls, festhalten, ohne das Bild selbst zu erneuern. Es liegt also hier die reine Eigentümlichkeit nicht, wie bei der ersten Form der Gefühlsurteile, in einem Gefühlsvorgang für sich, sondern sie fängt erst an zu existieren in einem Zusammenwirken des Gefühls mit einem weiteren Faktor. - Dieses abweichende Verhältnis steigert sich bei den Urteilen moralischer Art. Zu Gefühl und Anschauung kommt hier der Wille hinzu und dem entspricht es, daß nun auch die positive Wirklichkeit zu einer Bedingung wird, ohne welche das volle Wesen des Sittlichen sich nicht enthalten kann.

Tiefer greift eine weitere Eigentümlichkeit, welche man schon dem ästhetischen und noch mehr dem moralischen Urteil nicht ableugnen darf, wenn man ihnen nicht das Beste ihrer Geltung entziehen will. Diese Eigentümlichkeit läßt sich in den drei Bestimmungen ausdrücken, daß durch das ästhetische wie durch das moralische Urteil ein Zug des  Objektiven,  des  Synthetischen  und des  Kategorischen  geht.

Ästhetische Fragen sind für die Religion verhältnismäßig belanglos, wir bringen sie daher füglich nicht weiter ins Spiel, als dies für die Vollständigkeit des Gedankens unerläßlich ist. Den Schwerpunkt auf das Moralische zu legen, ist umso mehr erlaubt, als die von uns hervorzuhebenden Merkmale hier wie dort vorhanden sind, dabei aber durch das moralische Bewußtsein in der entschiedeneren, kräftigeren Gestalt repräsentiert werden.

Selbst das ästhetische Urteil kann, wo es einmal zu einer gewissen Höhe gekommen ist, unmöglich beim subjektiven Eindruck stehen bleiben. Die der wahren Kunst eigentümliche Hingabe und Begeisterung setzt voraus, daß es eine Schönheit gibt, die verstanden sein will, nicht nur genossen, in die man sich hineindenken und -fühlen muß, nicht die man nur auf sich wirken läßt, um ein Lustgefühl zu erleben. Vollends aber ist die sittliche Beurteilung von vornherein schief, wo sie dem Eindruck als solchem irgendeine selbständige Bedeutung beilegen will. So gewiß sie im letzten Grund durch ein Gefühl vollzogen wird, so gewiß gehört es zu ihrem Wesen, Dinge und Personen zu beurteilen wie sie sind, und den ausgesprochenen Wert nicht nur von unserem Belieben, sondern auch von unserem Empfinden unabhängig zu denken.

Sprechen wir aber nun aufgrund unseres Gefühls für das Schöne und Gute von einem Wert, so ist darin die Ahnung ausgedrückt, daß uns in jenen Gefühlen nicht nur eine Qualität der Objekte nahe getreten ist, sondern daß diese Qualität noch nach irgendeiner anderen Seite hin in Beziehung steht und eben von jener Seite aus ein Maß empfängt. Denn der Ausdruck  Wert  setzt immer irgendein Stehen in Beziehungen voraus. Wir reflektieren nicht weiter, welches das bei unserem Urteil noch mitwirkende Moment ist, vielleicht sind wir zu einer solchen Reflexion gar nicht imstande; aber dessen sind wir uns bewußt, es ist nicht ein analytisches, nicht ein identisches Urteil, sondern ein  synthetisches,  ein Urteil, welches vom empirischen Objekt etwas Neues, Selbständiges aussagt.

Jeder Gedanke aber, daß diese Synthesis jemals aufgehoben oder geändert werden könnte, ist uns durch das ideale Gefühl selbst verboten. Seine Urteile treten auf als  kategorische,  deren Gültigkeit eine ebenso unbedingte wie allgemeine ist. Muß schon der geförderte Schönheitssinn sich die Herrschaft des Satzes  de gustibus non est disputandum  [Über Geschmack läßt sich nicht streiten - wp] verbitten, so beharrt das moralische Bewußtsein, wenngleich es zu der Einsicht gebracht werden kann, in der Anwendung seiner Maßstäbe unvollkommen, ja unrichtig geurteilt zu haben, dennoch unerbittlich bei dem Anspruch, daß das Grundmaß ein ohne alle Bedingung gültiges, gegenüber jeder nur denkbaren empirischen Wirklichkeit im Recht verbleibendes ist.

Diese Eigentümlichkeit läßt das ästhetische und sittliche Empfinden gegenüber dem natürlichen als ein zusammengehöriges Phänomen erscheinen, welches sich von jenem als der Bereich der  idealen Wertbeurteilung  absondert. Doch schließt diese Absonderung den schon oben anerkannten und später zum Teil noch näher zu besprechenden Zusammenhang mit dem inviduellen Lebensgefühl nicht aus. Freilich kommt es darauf an, denselben auf sein richtiges Maß zu bestimmen, aber in diesem Maß bildet eben jener Zusammenhang ein weiteres Merkmal der idealen Werturteile. Der verschiedene Modus desselben begründet vielleicht wesentlich den Unterschied zwischen dem Ästhetischen und Moralischen. Aber wichtiger als die Verfolgung jenes Unterschiedes ist es für uns, die Besonderheit, welche das ideale, speziell das ethische Urteil vom natürlichen scheidet, noch nach ihren Hauptseiten abzugrenzen und sicherzustellen.

Die fundamentalste Grenzfrage, welche im Grunde ein Konflikt um die Alleinherrschaft ist, geht von dem Versuch aus, von einem empirisch-natürlichen Gebiet her den Bereich des Idealen vollständig zu erobern und botmäßig zu machen. Vergegenwärtigt man sich die Masse der geistigen Kampfmittel, welche in jenem Versuch bereits aufgeboten worden sind, so kann man sich fragen, ob es nicht eine Vermessenheit ist, auf den wenigen Blättern eines Aufsatzes irgendetwas in dieser Frage ausmachen zu wollen. Indessen war für den Schreiber dieser Zeilen stets eins der wirksamsten Mittel, jenen Schein der Vermessenheit zu zerstreuen - die Beschäftigung mit Versuchen, von rein naturalistischer Grundlage aus die volle Energie christlich sittlichen Bewußtseins zu erreichen.

Man darf getrost sagen, es geht dabei niemals ohne fundamentale Inkonsequenz ab. Man versucht etwa, die dem Naturalismus im Fleisch sitzende Selbstsucht dadurch zu überwinden, daß man darauf hinweist, wie die Einzelexistenz überhaupt nicht für sich bestehen kann, sondern ihre Wohlfahrt in engster Verflechtung mit einer Gemeinschaft findet. Aber ist hierdurch wirklich eine ausreichende Brücke zwischen Egoismus und "Altruismus" geschlagen? So wenig wie damit der ungeheure Unterschied zwischen Ich und Nicht-Ich für das Gefühl beseitigt wird; so wenig sich dadurch die Tatsache ändert, daß meine Interessen immer einen ungleich größeren Verhältnisteil meiner Gesamtexistenz betragen als fremde Interessen im Vergleich zu der Welt, auf die ich angewiesen bin, ja daß im Fall der Existenzfrage bei mir das Ganze, auf der anderen Seite aber nur ein Teil auf dem Spiel steht, also die Entscheidung notwendigerweise in einem egoistischen Sinn ausfallen müßte, solange die durch das Gefühl empfundene Wohlfahrt das legitim bestimmende Prinzip ist.

Oder hilft es über die Konflikte, in welche der berechnende Verstand führen müßte, hinweg, trägt es auf die Höhe des kategorischen Urteils, wenn man dem "Willen" und dem "praktischen Leben" das Recht zugesteht, nach seinen "Bedürfnissen" zu bestimmen, wie die der Erkenntnis gegebene Wirklichkeit zu verstehen ist, ja sogar, was als wahr und unwahr "im höchsten Sinn" zu gelten hat? Es schiebt sich dann doch wohl alles auf die Frage zurück: woher bekommt der Wille des Menschen ein solches Recht, zumal wenn der Wunsch zu leben seine innerste Triebfeder sein soll? Bedürfnisse und einen Trieb zu leben haben auch niedriger organisierte Wesen. Was hindert denn, daß nicht diese dann auf ihre Art auch "Werturteile" fällen? Was begründet den spezifischen Unterschied zwischen diesen und denen des Menschen? Die ausgedehntere Interessensphäre des Menschen bedingt doch nur eine gradweise Verschiedenheit. Die höhere Bestimmung des Menschen darf aber hier nicht geltend gemacht werden, da sie ja selbst zu den Objekten gehört, welche mittels des Apparates erst erkannt werden sollen, von dem wir ein einzelnes Glied untersuchen. So wird der Scherz der Humoristen, welcher den Heuschreckenlehrer als Verkörperung des bösen Prinzips eine Henne, als Bild des Guten aber einen Tiger an die Schultafel malen läßt, zum ernsten Problem.

Man stößt eben immer wieder an den tönernen Fuß, auf welchen utilitaristische und moralistische Moralsysteme, sofern sie in guter Meinung das Ideal sittlicher Heiligkeit zu halten suchen, stets gestellt sind. Erkennt man einmal ein kategorisches Ethos an, so sollte man in dem  einen  Punkt einig sein,  daß in unserem sittlichen Urteil auf irgendeine Weise ein über den Bereich des natürlich Empirischen hinausgehendes Moment wirksam ist.  Wie man alsdann das schwierige Verhältnis zu den anderen Faktoren zu bestimmen versuchen mag, so weit man in der Verfolgung der natürlichen Zusammenhänge von den Beobachtungen der Naturalisten glauben mag lernen zu solen, so gut man tun wird, rechtzeitig die unsinnige Forderung abzuschneiden, als hätten wir nach dem Muster des vorigen Jahrhunderts fertige Moralerkenntnisse  a priori  nachzuweisen: den überragenden Koeffizienten müssen wir einfach um der sittlichen Tatsache willen energisch festhalten. Könnten wir ihn außerdem auch noch genauer bestimmen oder gar erklären, so wäre das etwas Großes, aber lieber müssen wir darauf verzichten, als ihn selbst durch eine Bestimmung oder Erklärung preiszugeben.

Bedeutet es eine Erklärung oder eine Preisgebung, wenn man nach kantischer Methode mit HERRMANN den Gedanken eines unbedingten Gesetzes in Verbindung bringt mit dem Begriff der transzendentalen Freiheit?

Daß in jener Verbindung, abgesehen von der Frage nach ihrem philosophischen Wert, ein Grundzug des sittlichen Lebens ausgedrückt ist, verdient vollauf anerkannt zu werden. Wer die diesbezüglichen Ausführungen HERRMANNs liest, wird den Eindruck empfangen, daß er eine Erklärung des 119. Psalmes vor sich hat, wie man sie besser und tiefer nicht leicht antreffen kann. Darum erquicken die Zeugnisse Gottes die Seele, weil sie mit ihrem "du sollst" zugleich einen festen Punkt geben, welcher von der Unbeständigkeit des Naturdaseins ausgenommen ist. Aber eben weil der Punkt wahrhaft fest ist und sein soll, wird der Zweifel um so gewichtiger, ob denn letztlich die Person und ihre, zunächst doch nur im Ideal vorschwebende Freiheit es sein kann, auf welcher jener Punkt ruht; er ist es ja, der die Person tragen soll und von dem aus sie sich selbst beurteilt.

Also weder von der Erscheinungswelt noch von unserer Persönlichkeit aus verträgt sich das kategorische Moment, wie es in den idealen Werturteilen vorliegt, eine Ableitung. Dies sind aber die einzigen Möglichkeiten, welche  für die Erkenntnislehre  in Frage kommen. Sind sie ausgeschlossen, so haben wir ein erkenntnistheoretisch Letztes vor uns. Ob es darum ein sachlich Letztes ist, läßt sich auf dieser Stufe der Erörterung so wenig verneinen wie behaupten. Für sie ist es das völlig Normale, stehen zu bleiben, wo sie nicht weiter kann, nur ist es ihre Pflicht, sich auch genau zu merken, wo sie stehen geblieben ist.

Objektive synthetische Urteile kategorischer Art erkennen wir in einem ästhetischen und moralischen Gefühl an. Die eigenartige kategorische Synthesis bildet sich stes im Anschluß an und in Bezug auf Vorstellungen und Erfahrungen im gewöhnlichen Sinn des Wortes, zugleich im Zusammenhang mit natürlichen Werturteilen. Ist das über die empirische Tatsächlichkeit hinausführende Moment beim ästhetischen und moralischen Urteil ein und dasselbe, oder ist es nur ein analoges? Nur das letztere vermögen wir bis jetzt zu behaupten, obwohl ein Gefühl bestimmt empfundener Verwandtschaft deutlich auf das erstere hinweist. Vielleicht kann eine eingehende Betrachtung des Ästhetischen jene Ahnung zur Gewißheit erheben, wir müssen sie wohl dahinstehen lassen. Näher liegt uns die Frage, ob innerhalb des sittlichen Urteils selbst jenes Moment immer ein und dasselbe ist. Die Natur des Sittlichen bezeugt dies deutlich. Es ist ein einheitlicher Maßstab, welcher hier das Recht beansprucht, alle Dinge zu messen und es ist auch nur eine Grundform, in der er mißt: Seinsollen und Nichtseinsollen. Eine Nötigung, welche unser Wille erfährt, so oder so Stellung zu nehmen, scheint dabei das Nächste und Bestimmbarste zu sein. Aber diese Nötigung ist doch nur eine sehr relative, da ja der Wille auch widerstreben kann, zugleich aber vermögen wir uns aus dem Willen als solchem die Eigentümlichkeit des Sollens durchaus nicht begreiflich zu machen. Die Rede, daß ein übermächtig eingeprägter fremder Wille jene Eigentümlichkeit erzeugt, kann die Phantasie beschäftigen, aber dem Sicherheit verlangenden Nachdenken nichts klarer machen. - Auch Begriffe wie  Vollkommenheit, empfundener Wert, Seinsollen, Recht auf Dasein  und dgl. führen teils vom Problem ab, teils in einem ewigen Zirkel um dasselbe herum.

Man kann also nur sagen: es gibt einen Kanon idealer Bejahung und Verneinung des Seienden, und zwar erstreckt sich dieser Kanon nicht nur auf das menschliche Handeln, sondern er ist beispielsweise auch wirksam bei einem Urteil über  Schön  und  Häßlich,  dessen "Wert" oder "Unwert" im Grunde als ein nicht spezifisch ästhetisches, sondern als ein spezifisch ethisches Bejahen und Verneinen gemeint ist. Das selbe Hereinragen des moralischen Gesichtspunktes findet statt, wo irgendein natürliches Wohl und Wehe, also Leben ist. Lust willkürlich zu zerstören oder Unlust zwecklos zu erregen wird uns immer als Unrecht erscheinen, es hat also beides ansich eine moralische Geltung. Ja, es wird sich überhaupt schwerlich ein Sein antreffen lassen, von dem jener Gesichtspunkt gänzlich ausgeschlossen wäre. Am nächsten läge es also, auf ein in uns liegendes Gefühlsschema zurückzugehen, in welchem jeder Vorstellung von einem Sein auch eine Empfindung von einem Recht auf Sein korrespondiert, und zwar in der Art, daß beide die polar zusammengehörigen Momente jedes konkreten Urteils wären. Auf diese Art läßt sich mit Hilfe der empirisch gegebenen Proportionen des Seienden die sittliche Beurteilungsweise aus einem einheitlichen Prinzip ableiten. Ja, diese Ableitung ist, so weit es sich um das Einheitsprinzip und dessen schematische Natur handelt, zwingend. Hinter jenes Schema aber, welcher Art es auch ist, und seine objektive unverbrüchliche Geltung zurückzugehen, ist für die Erkenntnislehre unerlaubt und unmöglich.

Die nächste Konsequenz dieser Tatsache für die Theologie ist die, daß es allerdings ein theologisches Erkenntnisverfahren geben muß, welches nicht nach einerlei Methode sittliche und "natürliche" Erfahrungstatsachen behandelt, sondern vielmehr davon ausgeht, daß das Sittliche etwas in seinem Kern vollständig Eigenartiges ist, das zwar mit dem Natürlichen in einer Analogie stehen kann, aber nicht muß. Nur insoweit, als entweder der dem Idealen ebenfalls wesentliche Zusammenhang mit dem Natürlichen reicht, oder eine anderweitige Analogie zuvor nachgewiesen ist, hat eine gemeinsame Behandlung keine Bedenken. Außerdem wird es gelten, bis auf weiteres die Brücken abgebrochen sein zu lassen.

Es kann nunmehr das  begriffliche Verhältnis  der einzeln in Betracht gezogenen Hauptgruppen überblickt werden. Die anfangs zurückgestellte Theorie, daß die Werturteile durchgehend ihr Wesen in einer Stellungnahme der Person zu Tatbeständen hätten, hat sich durch die Einzelbetrachtung nicht restituiert [wiederhergestellt - wp]. Man könnte nun daran denken, sie in abgeschwächter Gestalt zugrunde zu legen und den einheitlichen Charakter aller Werturteile darin zu suchen, daß bei ihnen eine Stellungnahme der Person (und zwar im Unterschied von der auch im theoretischen Erkennen vorhandenen Spontaneität eine Stellungnahme der Gesamtperson) als Faktor mitwirkt. Allein damit wäre zuviel und zuwenig gesagt. Zuviel, denn ein solches Mitwirken des persönlichen Interesses kann sich auf dem Weg der Affektion auch in ein rein theoretisches Denken hineinziehen. Zu wenig, denn es bliebe unausgesprochen das gemeinsame Merkmal einer gefühlsartig unmittelbaren Perzeption. Wir verbinden deshalb beides und statuieren die gesuchte Einheit darin,  daß bei allen sogenannten Werturteilen in elementarer und unmittelbar gefühlsartiger Weise sich uns Urteile aufdrängen, welche über die Ergebnisse des theoretischen Erkennens hinausgehen und bei welchen eine Stellungnahme der Persönlichkeit als Faktor mitwirkt.  Ob es um dieses Einheitsbandes willen jedermann der Mühe wert finden wird, sich die fragliche Zusammenfassung anzueignen, lassen wir dahingestellt. Wir haben keinerlei Ursache, uns für dieselbe zu erhitzen, wohl lag aber Grund vor, in der gegenwärtigen Behandlung auf sie einzugehen. Vielleicht wird sich auch zeigen, daß sie nicht ganz unfruchtbar ist. Hervorzuheben aber ist, daß der Unterschied zwischen den beiden Hauptklassen ein beträchtlicher ist, sodann daß an selbständiger erkenntnistheoretischer Bedeutung sowie an Wichtigkeit für die Theologie die zweite und höhere Klasse nahmhaft überwiegt, wie auch der Gebrauch, von Werten zu sprechen, innerhalb derselben ein adäquaterer und bedeutungsvollerer ist.

Wir werden deshalb auf diese letztere Klasse des weiteren das vornehmliche Augenmerk richten und uns zu diesem Zweck ihr Verhältnis zum Gebiet des Natürlichen noch nach einigen entscheidenden Seiten hin vergegenwärtigen.

Will man das Natürliche  als Bedingung des Sittlichen  richtig in Anschlag bringen, so muß man bedenken, daß Proportionen von Wohl- und Übelbefinden den Stoff bilden, an welchem das ganze sittliche Leben seinen Verlauf nimmt. Aus diesem Stoff heraus beginnt seine Entwicklung, mittels desselben wird es erzogen - und wo hört die Erziehung auf? - in ihm gewinnt es für uns den Nachdruck, der ihm gebührt. Man verkennt dieses Verhältnis, wenn man die aus dem Guten quellende Befriedigung als das Wesentliche am Guten selbst ansieht: aber wer vermöchte das Gute selbst zu schätzen ganz ohne jene Befriedigung, ja, wem wird nicht seine Schätzung noch deutlicher, wenn es auch äußerlich die verdiente Krone empfängt? Umgekehrt wird selbst der rigoroseste Moralist bei dem Gedanken an eigene sittliche Verfehlungen ein gut Teil von ruhigem Gleichmut, d. h. Frechheit, behalten, solange nicht Angst und Schrecken des Gerichts ihm begreiflich machen, wie es um die Sünde steht. - Auf voller Nichtbeachtung des besprochenen Sachverhalts beruth auch der SCHLEIERMACHERsche Satz, der so viele bestochen hat, der Maßstab für die Person  Christi  sei  Christi  Werk. Man kann ebensogut umgekehrt sagen, das sittliche Urteil über das Werk und Leiden  Christi  empfängt sein Licht je nach der Bewandtnis, die es mit dieser Person und dem ihr zustehenden Besitz an Glückseligkeit und Handlungsfreiheit hat. Zwischen dem Verständnis einer Person und dem ihres Tuns besteht ein Wechselverhältnis.

Beim natürlichen Werturteil fand es sich, daß durch die Rücksicht auf Bedingungen für Wohl und Wehe Affektionsurteile entstehen. Man könnte ein Gleiches an der gegenwärtigen Stelle in Bezug auf das sittliche erwarten. In der Tat aber fühlt sich das moralische Bewußtsein, wenn es einmal zu genügender Ausbildung gelangt ist, gegen seine natürliche Basis zu selbständig, als daß es durch die Frage beunruhigt werden könnte, ob es auch mit den physischen Bedingungen seiner Richtigkeit hat. An die Stelle eines Affektionsurteils tritt hier ein zuversichtlicher verstandesmäßiger Rückschluß. Wohl aber entsteht die Affektion nach einer anderen Seite hin.

Es ist dem Sittlichen wesentlich, daß es zum vorhandenen Sein eine  beherrschende, normgebende Stellung  beansprucht. Je entschiedener das sittliche Gefühl geworden ist, umso energischer wird jener Anspruch. Jedem einigermaßen mächtigen sittlichen Gefühl folgt darum die Vorstellung auf dem Fuß, daß irgendein analoger positiver oder negativer Zustand sinnlichen Befindens ihm entsprechen muß. Das gute Gewissen kann nicht anders, als Hoffnung zu erzeugen, und ein starkes Schuldgefühl kann die Ahnung einer unausbleiblichen Strafe nicht los werden. Aber nicht nur in unserer Selbstbeurteilung, sondern auch in unserer Weltanschauung übt das sittliche Gefühl sein Richter- und Prophetenamt, dessen Einfluß auf die ganze Lebensanschauung überaus groß ist, dessen Berechtigung aber einer Kritik unterliegen muß. Es ist zu unterscheiden zwischen dem  sittlichen Glauben  in genere [im Allgemeinen - wp], in welchem, wenn überhaupt, die divinatorische Form eines sittlichen Affektionsurteils vorliegt, und dessen einzelnen Anwendungen, welche auch zur Jllusion führen können.

Die inhaltliche Durchdringung von Sittlichem und Natürlichem' wird in den bedeutungsvollsten Grundformen repräsentiert durch die beiden Prädikate des Edlen und des Heiligen, in welchen sich auf verschiedene Weise ausspricht, wie das Sittliche selbst einen realen Inhalt hat 

Die Natur ist in unzähligen Gestalten auf ideale Gedanken angelegt. Organisiertes Dasein, das in sich harmonisch ist und um sich her ein Wohlbefinden verbreitet, potenziert den sittlichen Grundzug, welcher in allen unseren Vorstellungen von einem Sein enthalten ist, es gewinnt sittlichen Charakter und wir nennen es  edel.  Die höchste Gestalt des Edlen ist die edle Persönlichkeit. In sich harmonische und nach außen erfreuende Beschaffenheit in sinnlicher und geistiger Beziehung gehört zu ihrem vollen Wesen. Wo sittliche Gedanken die Persönlichkeit beherrschen, da wirken sie auf die Natur veredelnd, und wo eine edle Verfassung besteht, da ist sie eine Quelle sittlichen Verhaltens; niemals kommt das Sittliche anders zur Höhe seiner Vollkommenheit als in der Gestalt des Edlen, d. h. der dem sittlichen Gedanken adäquaten Natur. So wächst also die Natur von der einen Seite her gleichsam in sittliche Gedanken hinein.

Noch weit merkwürdiger und wichtiger aber ist ein anderes Verhältnis der beiderseitigen Durchdringung, welches in dem Wort "heilig" seinen Ausdruck findet. Dieses Wort nennt uns diejenige Form des Guten, welche für die Frage der Religion von der allerausschlaggebendsten Bedeutung ist. Es war charakteristische, daß DAVID FRIEDRICH STRAUSS seinen persönlichen Standpunkt so kundgab:
    "Man soll von mir einst sagen können, daß ich, wenn auch nicht heilig, so doch ehrlich gelebt habe, und wenn nicht selig, so doch ruhig gestorben bin".
Die zweite, phrasenhafte Hälfte jenes Ausspruchs berührt uns nicht, die erste aber trifft den Punkt, in welchem das religiöse Ethos sich vom natürlichen am deutlichsten unterscheidet. So schwer es gelingen mag, den Begriff des Heiligen erschöpfend durch Worte darzustellen, so lassen sich doch immerhin als Momente, welche darin enthalten sind, bestimmt die folgenden angeben: das sittliche Gesetz besteht in der unbedingtesten Anerkennung zu Recht; der Gedanke des sittlich Höchsten wird so gedacht, daß er nicht nur eine Überbietung ausschließt, sondern zugleich das Grundwesen alles denkbaren sittlich Guten in sich befaßt; es liegt ein in sich geschlossener Kreis von Wirklichkeit vor, in welchem das höchste Gute seine vollständige Durchführung hat; das dem sittlichen Ideal kongruente Reale ist mit der jenem selbst zukommenden Würde bekleidet; zwischen der Realität und Idealität des Heiligen kann auch gedankenmäßig nicht mehr geschieden werden, sondern das sittlich Höchste selbst erscheint als Realität. - Mit dem letzten Punkt mag die Erscheinung in Verbindung stehen, daß die unbedingt verpflichtende Kraft des Sittlichen, die Heiligkeit des Sollens, immer erst dann in ihrer ganzen Schwere empfunden wird, wenn eine vollzogene Tatsache zu ihm in Beziehung tritt. Nach vollbrachter Übertretung erwacht das Gewissen, aber auch erst durch die Übung des Gehorsams wird das Gesetz so innerlich angeeignet, daß seine absolute und kategorische Geltung dem Bewußtsein unverbrüchlich wird. Dies gilt im Ganzen wie auch von jeder einzelnen sittlichen Einsicht. Eine  Antizipation,  welche an eine mit dem moralischen Gebot verbundene Realität glaubt, auch solange dasselbe noch wie ein Irreales vor uns steht, ist das Entwicklungsgesetz allen sittlichen Fortschritts. Wir antizipieren das reale Korrelat, damit das Gute, wie es ansich heilig ist, auch für uns heilig wird.

Darin, daß das sittliche Urteil so fest an das natürliche Empfindungsleben und an die objektive theoretische Erkenntnis gebunden ist, liegt die Empfehlung für den Gebrauch der Ausdrücke  Wert  und  Werturteil,  welche die verschiedenen Gefühlseindrücke zusammenfassen und die Verbindung derselben mit objektiven Realitäten nicht verleugnen können. Ob dieser Vorteil die Gefahr von Trübungen aufwiegt, bleibt dahingestellt.

Die Resultate des Bisherigen fassen sich in folgenden Sätzen zusammen:
    1. Wenn wir einen selbständigen Faktor unserer Erkenntnis neben der Sinneswahrnehmung und den Denkgesetzen aufsuchen, so haben wir nicht nach Wert urteilen,  sondern nach  Gefühlen  zu fragen.

    2. Die Gefühle unterscheiden sich, wenn man sie als Erkenntnisquellen in Betracht zieht, prinzipiell in natürliche und ideale.

    3. Ohne jegliches theoretische Moment sind nur die unmittelbaren natürlichen Gefühle; doch sind andererseits gerade diese in ihren Vollzugsbedingungen der theoretischen Betrachtung am zugänglichsten und können keine wesentlich selbständige Erkenntnismethode begründen.

    4. Die idealen Gefühle enthalten zwar stets bereits Momente der Anschauung; dagegen aber sind sie ihren konstituierenden Bedingungen nach dem verstandesmäßigen Denken tatsächlich inkommensurabel. In ihnen ist der theologischen Erkenntnis ein wesentlich selbständiger Faktor gegeben.

    5. Bildet man aus den Gefühlen Werturteile, so sind die natürlichen subjektiv, analytisch und empirisch, die idealen objektiv, synthetisch und kategorisch. Von beiden Arten der Werturteile sind Rückschlüsse und Affektionsurteile zu unterscheiden.

    6. Sollen die idealen Werturteile Geltung haben, so schließen sie jede Ableitung von einer endlichen und daher bedingten Realität aus.

    7. Trotz seiner prinzipiellen Selbständigkeit vollzieht sich jedoch das ideale Werturteil in einem lebendigen Zusammenhang nicht nur mit dem natürlichen Gefühl, sondern auch mit der unserem gemeinen Erkennen sich erschließenden Welt von Realitäten.

    8. Gerade die höchsten und entscheidensten idealen Werturteile charakterisieren sich als Produkte des Zusammenwirkens von Eindrücken sittlicher und natürlicher Art, ein Verhältnis, welches sich beim höchsten aller möglichen Werturteile, dem über das Heilige, bis zu einem völligen Zusammenfließen beider Faktoren steigert.
Verhält es sich so, wie diese Sätze besagen, so kann von der Geltendmachung der Werturteile innerhalb der Theologie weder eine niederreißende noch eine einschränkende Tendenz ausgehen, vielmehr liegt in ihnen in erster Linie eine positiv aufbauende Kraft.

III.
Die Bedeutung der Werturteile
für die Theologie

Es ist eine Forderung, welche gar nie zu stark betont werden kann, daß der Weg zu einer religiösen Erkenntnis, wenn dieselbe für die Menschheit als solche von Bedeutung sein soll, ein unmittelbarer , gerader, von der intellektuellen Bildungsstufe in der Hauptsache unabhängiger sein muß. Dies ist das Erhabene und eminent Praktische an der Verkündigung des Evangeliums, daß es sich im Gegensatz zu allen sonstigen Systemen höherer Welt- und Lebensanschauung an die Einfältigen ebenso wie an die Weisen, ja an die ersteren sogar eher mit Bevorzugung , wendet. Daraus folgt für die theologische Darstellung das unabweisbare Gesetze, daß sie einfache, für jeden auf das Gute gerichteten Menschen in gleicher Weise vorhandene Grundvorgänge muß aufzeigen können, in welchen der Glaube legitim zustande kommt.

Die theoretische und praktische Anerkennung von Werten läßt sich nun als die primitive Form bezeichnen, in welcher das christliche Prinzip beim natürlichen Menschen Eingang findet. 

Eine eingehende Durchführung dieses Satzes müßte den Raum einer Abhandlung wie der gegenwärtigen überschreiten. Nur der prinzipielle Ertrag der obigen Begriffsarbeit für die Theologie soll in kurzgefaßten Thesen niedergelegt werden. Wir haben dabei eine in der Tat zu Recht bestehende hohe Bedeutung anzuerkennen, zugleich uns aber gegen alle Überschätzungen zu wahren.
    1. Objektives Denken wird durch die von "Werten" ausgehende Methode nicht ausgeschlossen, sondern eingeschlossen; hierzu nötigt die Komplikation der natürlichen und sittlichen Werte mit objektivem Sein, auf welches von hier aus nicht nur gewichtige Rückschlüsse und zwingende Postulate hinführen, sondern welches sogar unmittelbar zugleich gegeben ist.

    2. Die Betrachtung der objektiven Wirklichkeit ist nicht mehr eine lediglich empirische, nicht auf eine endlose Detailuntersuchung angewiesen, sondern sie wird durch die Einsicht in den Wert der Erscheinungen auf sicheren und fruchtbringenden Bahnen gehalten.

    3. Das Verständnis der Heilsgeschichte in ihrem gesamten Gang wie in ihren einzelnen Charakteren, des Schriftwortes, der Person  Christi,  der christlichen Gemeinschaft nach ihrer objektiven Hoheit wie nach ihrer auf uns ausgehenden Wirkungskraft, begründet die feste Überzeugung von objektiven Tatsachen, die in ihrer Totalität sicher stehen und deren Auflösung durch gehäufte Zweifel am Detail nur die Bedeutung eines vexatorischen [quälerischen - wp] Trugschlusses hat.

    4. Absolute Wert- und Unwert-Urteile haben für das Selbstbewußtsein die oberste normierende, für das Gottesbewußtsein die oberste konstituierende Bedeutung.

    5. Es wäre jedoch eine verhängnisvolle Übertreibung, wollte man aus dem allen den Schluß ziehen, richtig verstandene Wertbeurteilung sein in der Tat Herz und Haupt alllen christlichen Glaubens. Gewiß liegt in ihr die Form, in welcher das Zustandekommen des Glaubens einsetzt und welche den Vollzug desselben durchweg begleitet. Aber ob durch diese Form ein Inhalt an uns herandringt, welchen sie nicht mehr nach ihrem Maß zu messen vermag, sondern welcher von sich aus bestimmt, wie er erfaßt sein will, das bleibt zumindest eine Frage für sich. Durch die Anerkennung einer Offenbarung ist die  Möglichkeit  hierfür bereits zugestanden. Ob die Offenbarung, wie sie wirklich ist, in der Tat für unsere Erleuchtung noch anderweitige Normen setzt, insbesondere ob die Wirksamkeit des göttlichen Geistes, auf welche als auf eine heilige Lebenspotenz die gläubige Einsicht durch Werterkenntnisse hingeführt wird, uns mehr auf die Form realer Erfahrung anweist, darüber wäre das nötige Licht von einer Betrachtung der Offenbarung zu erwarten.

LITERATUR Gottfried Sperl, Das Wesen der Werturteile und ihre Bedeutung für die Theologie, Neue kirchliche Zeitschrift, 1. Jahrgang, Erlangen und Leipzig 1890
    Anmerkungen
    1) Daß dieser Punkt nicht ohne Bedeutung ist, zeigt eine Differenz zwischen HERRMANN und LIPSIUS. Letzterer bezeichnet es (Jahrbuch für protestantische Theologie, 1885, Seite 386) als irreführend, daß HERRMANN auch die Gewißheit der eigenen Existenz zum Objekt des Werturteils macht, während sie doch "die Voraussetzung für alle besonderen Werturteile" ist. Es scheint doch wohl, daß HERRMANN das Gefühl als Prinzip der Werturteile nur in einem radikaleren Sinn faßt, als LIPSIUS es tut. - Übrigens hat auch LOTZE selbst andererseits betont, daß das Wesen der Gefühle keineswegs in einem Stufenschema von Lust und Unlust aufgeht. Gerade der Gedanke einer unendlichen spezifischen Mannigfaltigkeit hat seinem System zu einer wesentlichen Bereicherung gedient. Er wird aber in dasselbe eingeführt, ohne daß die Rückwirkung auf den Grundbegriff erörtert wurde.
    2) RICHARD ADELBERT LIPSIUS, Neue Beiträge zu einer wissenschaftlichen Grundlegung der Dogmatik, Jahrbücher für protestantische Theologie, 1885, Seite 177-288 und 369-453 und 550-671.
    3) KARL THIEME, Glaube und Wissen bei Lotze, Leipzig 1888
    4) Zitiert nach SCHLEIERMACHERs Übersetzung. - Diese Stelle trifft nicht nur den absoluten moralischen Hedonismus, auf den sie gemünzt ist, sondern auch die ihm analoge Einseitigkeit der Erkenntnislehre.