ra-2 Sollen und WertHenri Poincaré    
 
JULIUS KAFTAN
Wert der Wissenschaft

"Wo die Erfahrung mit Überzeugungen persönlicher Art zusammenhängt oder gar durch sie bedingt wird, da ist dem objektiven Erkennen und Beweisen eine feste Schranke gezogen. So gerade in der Wissenschaft von Moral und Religion - schon das Verständnis der Tatsachen läßt sich dem nicht ganz entziehen, vollends bei den abschließenden Urteilen greift es entscheidend ein. Das heißt - um es mit einem Wort zu sagen - der forschende Geist vollendet seinen Weg durch das Reich des Wirklichen nicht, ohne daß er auf den Punkt stößt, wo unabweisbar die persönliche Überzeugung in das Erkennen und Wissen, auch in die Wissenschaft eingreift."

Hochansehnliche Versammlung!
Kollegen! Kommilitonen!

Wir treten heute in ein neues Studienjahr ein. Lehrend und lernend die Wissenschaft und unsere eigene wissenschaftliche Ausbildung zu fördern, ist die gemeinsame Aufgabe, die uns auch in diesem neuen Jahr alle verbindet. Da entfernen wir uns nicht von den Gedanken, die die Stunde weckt, wenn wir jetzt die Wissenschaft, ihre Einordnung in das große Ganze der sittlichen Welt zum Gegenstand der Betrachtung machen. Ich will daher in dieser Stunde vom ethischen Wert der Wissenschaft zu Ihnen reden.

Freilich scheint es nicht vieler Worte zu bedürfen, um das Nötige darüber zu sagen. Wir alle sind vom Wert, auch vom sittlichen Wert der Wissenschaft tief durchdrungen. Was bedarf es da weiter, als dieser Gesinnung mit wenigen Worten Ausdruck zu geben? Eine längere Erörterung darüber scheint unter keinem Gesichtspunkt geboten zu sein.

Und doch - der ethische Wert der Wissenschaft läßt sich sehr verschieden bestimmen und wird von den Moralisten sehr verschieden bestimmt. So, denke ich, läßt sich der Unterschied fassen. Entweder liegt der ethische Wert in der wissenschaftlichen Leistung selbst, oder er erwächst ihr im Zusammenhang mit der Person, von der sie ausgeht. Im ersteren Fall ist die wissenschaftliche Bedeutung einer Arbeit auch das Maß ihres ethischen Wertes: je mehr dabei herauskommt, desto größer ihr Verdienst auch unter einem sittlichen Gesichtspunkt. Im anderen Fall muß dagegen z. B. eine lange hingebende Arbeit, die schließlich ohne positive Resultate blieb, ethisch höher gewertet werden als ein glänzendes Ergebnis wissenschaftlichen Scharfsinnes, das ein glücklicher Zufall dem Forscher wie spielend in den Schoß warf. Jeder spürt, daß das ein Unterschied ethischer Beurteilung ist, der nicht auf der Oberfläche liet. Ob so oder so, weist schließlich auf einen prinzipiellen Gegensatz der sittlichen Grundanschauung selber zurück. Und vielleicht stellt sich heraus, daß das wieder einer der großen, fast möchte ich sagen: der eine mögliche Hauptunterschied sittlicher Anschauung ist, den es gibt. In welchem Fall die Frage, die uns damit beschäftigt,, eine der Lebensfragen wäre, die sich jedem ernsten, tiefer denkenden Menschen einmal aufdrängen. Wohl lohnt es sich daher, die Aufmerksamkeit dafür in Anspruch zu nehmen.

Das erste wird aber sein, daß ich den Unterschied, um den es sich handelt, etwas deutlicher mache. Einer der Männer, denen unsere Hochschule den Glanz ihrer ersten Jahrzehnte verdankt, FRIEDRICH DANIEL SCHLEIERMACHER, soll hier als Vertreter der einen, und der Meister, der immer genannt wird, wenn von moralischen Dingen die Rede ist, IMMANUEL KANT, soll als Vertreter der anderen Anschauung zu uns reden.

In seinem System der philosophischen Sittenlehre nennt SCHLEIERMACHER das Handeln der Vernunft auf die Natur, das Ineinander von beiden, wie es aus diesem Handeln erwächst - kurz also die Herrschaft der Vernunft über die Natur als das Wesen des sittlichen Prozesses. In genialen Zügen entwickelt er aus diesem Gedanken das Bild der sittlichen Welt. Das Sittliche ist ihm die Gesamtbetätigung des Geistes und die Ethik deshalb die Grundwissenschaft der Geisteswissenschaften. Natürlich, er handelt dann auch von der Gemeinschaft der Menschen, von den Pflichten, die da erwachsen, von den Tugenden, die da geübt werden sollen. Es bleibt in seiner Schilderung der sittlichen Welt nichts von dem zu vermissen, woran wir gewöhnlich denken, wenn das Wort Sittlichkeit oder Moral in unseren Ohren klingt. Auch die Pflege des persönlichen Lebens kommt nicht zu kurz. Nicht zuletzt SCHLEIERMACHER hat Veranlassung dazu gegeben, daß wir von einem Kunstwerk der Persönlichkeit reden, wie wir es etwa in ihm selbst oder in GOETHE verkörpert finden. Aber der Grundgedanke des sittlichen Lebens ist und bleibt nach dieser Auffassung die Herrschaft der Vernunft, die Herrschaft des Geistes über die Natur.

Und was das nun bedeutet, mag man namentlich an folgendem ermessen. Weder der Unterschied von gut und bös noch die Freiheit wird in SCHLEIERMACHERs System der Ethik zum Gegenstand der Erörterung gemacht. Beides bleibt nicht unerwähnt. Gelegentlich werden diese Fragen genannt. Aber nur, um zu sagen, daß sie unerheblich sind, und daß es sich nicht lohnt, dabei zu verweilen. Und das ist im Sinne der Grundanschauung folgerichtig gedacht. Das Sittliche ist die Herrschaft der Vernunft über die natur. In deren unaufhaltsamem Fortschritt vollzieht sich die sittliche Entwicklung der Menschheit. Was kommt darauf an, ob der einzelne ohne Wahl seinen Beitrag zum Ganzen gibt, oder ob er es mit freiem Willen tut - wenn's nur geschieht, wenn nur die Vernunft in immer höherem Maß die Natur durchdringt, sich unterwirft. Und das Böse - was wir so nennen - es ist wie auffallende Farbflecke in einem Bild, die uns stören, wenn wir nahe davor stehen. Treten wir ein paar Schritte zurück, beginnen sie mit dem übrigen zu verschwimmen, und, aus der gehörigen Entfernung gesehen, fügen sie sich vollends der Harmonie des Ganzen ein. So verschwindet das Böse vor unseren Augen, wenn wir auf das Ganze sehen, auf den grandiosen Fortschritt der sittlichen Entwicklung, d. h. der Herrschaft der Vernunft über die Natur.

Wie kann anders dem gegenüber die Auffassung, die KANT nicht müde wird: uns einzuschärfen! Was SCHLEIERMACHER beseite schiebt, für im letzten Grunde gleichgültig und nicht in Betracht kommend erklärt, das ist nach KANT die Sache selbst. Denn worauf es in der Moral ankommt, ist die Erkenntnis des Sittengesetzes, des kategorischen Imperativs, dieses unbedingt gebietenden "Du sollst", von dem jeder weiß, der ein Menschenantlitz trägt. Wird diese Tatsache in ihrer grundlegenden Bedeutung erkannt, und werden die richtigen Folgerungen daraus gezogen, so ist damit die Moral, die eine wahre, die es allein gibt und geben soll, selber gegeben und fertig. Dagegen, wird das Gesetz verkannt, wird es nicht bei allen Fragen und Problemen der Moral zum Ausgangspunkt genommen, dann ist es von vornherein verspielt. Nur Irrwege sind dann möglich. Kein menschlicher Scharfsinn kann den damit gemachten Fehler wieder ausgleichen: eine Moral, die wirklich so zu heißen verdient, bleibt für immer unerreicht.

Es kommt also gar nicht darauf an, was geschieht, sondern nur darauf, wie es geschieht, nämlich, daß wir im Gehorsam gegen das Gesetz und um des Gehorsams willen handeln. Was man sagt, fortschreitende Herrschaft der Vernunft über die Natur, und wie diese guten Dinge sonst heißen - das ist zwar nicht an und für sich gleichgültig, es kommt für die Wohlfahrt der Menschen gar nicht viel darauf an, aber moralisch ist es einerlei. Es fällt gar nicht in die Wagschale, sobald das Gesetz und der Gehorsam gegen das Gesetz in Frage steht. Das Gesetz ist eben alles und die ganze Moral. Es verbürgt uns die Freiheit und lehrt uns sie richtig zu verstehen. Es zeigt uns, was gut und was böse ist. Es bringt uns auf den Weg zur Erkenntnis und zum Erstreben des höchsten Gutes, das wirklich das höchste ist. Es gibt uns schließlich den Gedanken aller Gedanken, in welchem sich erst die Vorstellung von Menschenwürde vollendet, den Gedanken der Persönlichkeit. Ja damit öffnet es den letzten Ausblick, den ins Reich der persönlichen Geister, das im Evangelium den Namen des Reiches Gottes führt!

So KANT! Es ist in der Regel mißlich, zu sagen, wie ein Früherer über den Späteren nachgedacht haben würde. Aber das Urteil KANTs über SCHLEIERMACHERs Ethik kann nicht zweifelhaft sein. Er hätte sie unter die Systeme gerechnet, die sich auf dem Unterschied der Güter, geistiger und sinnlicher Güter vor allem, aufbauen, die das Gute im Dienst der höheren geistigen Güter suchen. Und über Moralisten dieser Art hat er ein herbes Urteil gesprochen. Es gibt Leute, meint er, die in der Metaphysik pfuschen, die denken sich die Materie so fein, so überfein, daß ihnen selber schwindlig dabei wird, und dann meinen sie ein ausgedehntes geistiges Wesen gedacht zu haben. Nicht besser sind die Lehrer der Moral, die den Unterschied der natürlichen und moralischen Wert leugnen, verwischen. In Wahrheit ist er da, so scharf, so unüberbrückbar, wie der zwischen Geist und Materie.

In der Tat, das sind zwei sittliche Grundanschauungen, zwei Formen der Ethik, die im Gegensatz zueinander stehen. Je nachdem aber, auf welche Seite man sich stellt, muß auch das Urteil über den ethischen Wert der Wissenschaft verschieden ausfallen. Hat SCHLEIERMACHER recht, dann ist die Wissenschaft selbst ein wesentlicher, unentbehrlicher Faktor im sittlichen Prozeß. Denn welche Bedeutung kommt ihr nicht zu für die fortschreitende Unterwerfung der Natur unter die Vernunft! Ist es dagegen KANT, der die Wahrheit vertritt, dann dürfen wir den ethischen Wert der Wissenschaft nur in dem suchen, was sie immer schon für die Entwicklung und Erziehung der sittlichen Persönlichkeit bedeutet.

Allein nun erhebt sich von selbst die Frage, ob dieser Unterschied wirklich ein Gegensatz ist. Daß ein solcher zwischen KANTs und SCHLEIERMACHERs Auffassung besteht, ist zwar nicht fraglich. Wohl aber, ob er auch in der Sache vorhanden ist. Es kommt ja nicht selten vor, daß selbst große Denker in ihren Theorien einseitig werden. Oft hängt die Kraft ihrer Lehre eben mit dem zusammen, was sie einseitig macht. Vielleicht, daß es sich auch hier so verhält. KANT ist es vor allem, der mit kraftvoller Einseitigkeit alles an einen Gedanken knüpft und auf ein Prinzip gestellt wissen will. Dadurch gerät er in einen Gegensatz zu dem, was SCHLEIERMACHER vertritt. Aber muß das sein? Ist nicht eine mittlere Auffassung möglich, in der die Vorzüge der SCHLEIERMACHER'schen Ethik sich mit denen der KANT'schen vereinigen lassen? Muß es wirklich heißen, daß es sich hier um einen Gegensatz, um ein Entweder - oder handelt?

Nun, ich glaube nicht, daß wir um den Gegensatz herumkommen. Es tut sich hier ein Unterschied der Prinzipien auf, in dem man Stellung nehmen muß, so oder so. Es läßt sich zeigen, daß, wer das ablehnt, eben mit dieser Ablehnung schon Stellung genommen hat. Doch wird es notwendig sein, einige Mißverständnisse des Gegensatzes abzuwehren, und es wird sich zeigen, daß darin indirekt dann doch eine Art von Einschränkung liegt.

Was SCHLEIERMACHER uns schildert, ist die Entwicklung geistiger Kultur. So ist, was er vor Augen hat, richtiger bezeichnet als mit den Worten ethisch oder moralisch. Eben das ist seine Meinung, daß, wenn wir den Kulturprozeß als Ganzes verfolgen, sich auch ergibt, wie die im engeren Sinne sittlichen Erlebnisse und Werte sich ihm einordnen. KANT dagegen denkt ausschließlich an diese. Heißt es nun, es sei das ein Gegensatz auch der Sache nach, so kann es natürlich nicht die Meinung sein, Kultur und Sittlichkeit überhaupt in einen Gegensatz zueinander zu stellen. das äre ja ganz unmöglich. Selbstverständlich ist das auch nicht die Meinung KANTs gewesen. Auch er hat alles, was geistige Kultur heißt, aufs höchste geschätzt. Nur eben als moralische Werte hat er die Kulturwerte nicht gelten lassen. Beides steht ihm nebeneinander.

Und hier kann man nun nicht umhin, der Moral KANTs eine gewisse Einseitigkeit nachzusagen. Gerade in diesem Nebeneinander liegt es, auf as es bei ihm hinausläuft. Wir wir in unserem Leben beides verbinden, Kultur und Moral, so werden wir es auch in der Theorie miteinander verbinden müssen. Auch eine Ethik im Stile KANTs genügt den an sie zu stellenden Forderungen nicht, wenn sie nicht zeigt, wie sich die Kultur mit ihren Aufgaben der sittlichen Lebensordnung einfügt. Wird aber dieser Forderung entsprochen, so liegt darin eine Annäherung an die von SCHLEIERMACHER vertretene Auffassung. Und das wäre dann doch etwas wie eine Einschränkung des Gegensatzes, der zunächst in die Augen springt.

Dazu kommt noch ein zweites. - Es handelt sich um ethische Theorien. Die sind aber nie bloß Theorie. Ein praktische Stellungnahme liegt immer zugleich darin. Ich kann nicht für eine ethische Theorie eintreten, ohne damit zu bekennen, daß ich mich dem in ihr verkündigten sittlichen Ideal verpflichtet fühle. Ich kann nicht eine andere ablehnen, ohne im ablehneden Urteil etwas wie eine Verurteilung auszusprechen. Daran läßt sich nichts ändern. Es gibt keine exakte Moral, d. h. es gibt keine Theorie über moralische Fragen, die man als exakte Wissenschaft bezeichnen dürfte. das Denken ist auf diesem Gebiet immer zugleich ein Wert gebendes Denken und schließt eine Entscheidung des Willens ein.

So würde eigentlich folgen, daß der Gegensatz, von dem wir handeln, sich jederzeit auch als ein Gegensatz praktischer Lebenshaltung herausstellen müßte. Vielfach wird es in der Tat so sein. Allein, nebenher laufen immer Ausnahmen, in denen der Gegensatz praktisch verwischt oder ausgeglichen ist. Der einzelne kann stets für sich in Anspruch nehmen, was der Dichter sagt, er sei kein ausgeklügelt Buch, auch kein ausgeklügeltes ethisches System, sondern ein Mensch mit seinem Widerspruch. Man muß sich also vor jeder rigoristischen Anwendung selbst eines richtigen Gedankens hüten, muß nicht aus Prinzipien und Grundsätzen Urteile über Personen folgern, weil bei Beurteilung der Personen immer vieles - oft ausschlaggebend - Betracht kommt, was nur der einzelne konkrete Fall lehren, keine allgemeine Betrachtung feststellen kann.

Wie seltsam sich die Dinge in der Wirklichkeit verschieben, zeigt aufs beste gerade das Verhältnis von KANT und SCHLEIERMACHER. Unzweifelhaft ist KANTs Moral - er selber betont es überall - der des Evangeliums sehr nahe verwandt. Obwohl aus der reinen Vernunft konstruiert, ist es schließlich das geschichtlich gegebene sittliche Ideal des Christentums in seiner protestantischen Form, das er auf den Schild hebt. Wogegen es schwerfallen dürfte, im Evangelium die Ansätz zu SCHLEIERMACHERs Kulturethik nachzuweisen. Deren Ausgangspunkte liegen viel eher im klassischen Altertum. doch aber ist gerade SCHLEIERMACHER der Reformator der protestantischen Theologie, den uns das 19. Jahrhundert geschenkt hat. Wir alle gehen in seinen Spuren. Und es läßt sich nicht bestreiten, daß er, aufs Ganze gesehen, mehr vom Christentum verstanden hat als der Philosoph der reinen Vernunft. das ist, wie mir scheint, eine sehr eindringliche Bestätigung des eben Gesagten.

Aber dies alles vorbehalten, bleibt es dann doch dabei, daß es ein nicht auszugleichender Gegensatz der sittlichen Anschauung ist, den wir uns vergegenwärtigten. Er betrifft die Frage, die sittlichen Urteile und Werte etwas für sich sind, sui generis [eigener Art - wp], unableitbar und unvergleichbar. Richtiger noch: haben sie absolute Bedeutung? heben sie sich dadurch aus dem übrigen Inhalt unseres Lebens heraus? Daß es so sei, ist schließlich der die Moral KANTs beherrschende Gedanke, während Schleiermacher nichts davon sagt. Wahrscheinlich würde er die Frage danach abgelehnt haben, wie er es ja nicht für angezeigt hält, den Unterschied von gut und böse zu erörtern. Eben mit dieser Ablehnung hätte er aber Stellung genommen, ja er hat es schon damit getan, daß er nicht davon ausgeht. das schon kommt einer Verneinung gleich. Deshalb ist hier ein unausgleichbarer Gegensatz vorhanden. Die beiden Anschauungen stehen einander in dieser Kardinalfrage wie Ja und nein gegenüber, entgegen.

Namentlich eines ist es, worin dieser Gegensatz praktisch zur Geltung kommt. SCHLEIERMACHER kehrt in seinen kritischen Erörterungen über die bisherige Sittenlehre immer wieder zu der Forderung zurück: die Sittenlehre soll positiv sein. Keine negativen Gebote, nichts, was irgendwie nach Askese aussieht, keine Abkehr und Umkehr, nein, positive Entwicklung aller Kräfte, harmonische Ausgestaltung des ganzen Menschen - das muß die Losung sein, alles andere ist eine arge Verirrung. Der aber, gegen den er sich mit dieser Forderung immer wieder richtet, ist gerade KANT. Und freilich lautet dessen Spruch ganz anders, ja entgegengesetzt. Das erhabene Gesetz der Vernunft in uns führt zur Verurteilung dessen, was wir sinnlichen, nur auf die eigene Glückseligkeit bedachten Menschen von Haus aus sind. Was es fordert, ist Umkehr und neue Wege. Über dem sittlichen Werden des menschen steht nicht geschrieben: positive, harmonische Entwicklung in gerader Linie von gegebenen Ansätzen aus, sondern vielmehr: Kampf, ja Revolution und neue Anfänge.

Und das sind nun, meine ich, die beiden Grundtypen sittlicher Lebensanschauun, die es gibt. Die Moral der geraden Linie, die sowohl von Schwankungen und Irrungen und unvermeidlichen Umwegen weiß, aber keinen Bruch und keine Umkehr kennt. Ihr gegenüber die Moral der gebrochnen Linie, die das Gute im Wollen und Handeln nur von einem Umsturz, von einer Umlagerung aller Elemente des Willens erwartet. Nicht als wenn jede gegebene Moral sich restlos diesem Gegensatz einordnete. Aber der eine oder andere Typus setzt sich stets als der vorwiegene durch. Es ist der oberste aller Gegensätze sittlicher Beurteilung, der uns darin entgegentritt.

Ist es ein Gegensatz nur des Lebensideals und der moralischen Grundsätze? Fällt von hier aus nicht auch ein Licht auf den Unterschied der Weltanschauungen? Ich meine, man müsse die Frage bejahen. Wir Menschen streben freilich danach, den Zusammenhang aller Dinge erkennend zu durchschauen und mit unserem Denken das Welträtsel zu lösen. So viel Großes und Nützliches aber auch bei diesen Versuchen herausgekommen ist, so ist doch noch niemand aufgestanden, der uns einen Blick hinter den letzten Vorhang ermöglicht hätte. Vielleicht soll das auch nicht sein. Vielleicht sollen wir in der Beantwortung der letzten Fragen auf das angewiesen bleiben, was uns in unserem Inneren zugänglich wird. So etwa, daß wir die Wirklichkeit letztlich aus dem deuten, was wir hier als den höchsten Sinn des Daseins inne werden. Wie dem sei - jedenfalls hat dieses innere Moment bisher bei jeder Antwort, die man gab, auf erhebliche Weise mitgewirkt. Und es ist nicht anzunehmen, daß das jemals anders werden sollte. Deshalb hat der Gegensatz der Lebensideale, der hier besprochene, tatsächlich von jeher auch die Gestaltung der Weltanschauung beeinflußt. Wer einmal ein Auge dafür gewonnen hat, wird es leicht gewahr, auch da, wo nichts als objektive Argumentation und kunstvoll demonstriertes Wissen vorzuliegen scheint: die gerade oder die gebrochene Linie des Lebensideals schimmert oft deutlich durch. Die Frage, was hier die Wahrheit ist, ob wir uns zur einen oder anderen Moral bekennen wollen, bekennen sollen, ist eine der fundamentalen Fragen menschlicher Selbstbesinnung.

Und wie muß sie beantwortet werden? Auf welche Seite haben wir uns zu stellen? Unwillkürlich werden die meisten zunächst geneigt sein, für die Kulturethik SCHLEIERMACHERs zu entscheiden. Es liegt wie ein Zauber auf diesem Gedanken einer harmonischen Ausgestaltung des Menschenwesens. Nur so scheint uns die reiche Fülle des Geistes gewahrt zu werden, die sich uns erschlossen hat, nur so der weite Spielraum erhalten zu bleiben, dessen der Geist auf seiner Höhe, ein kühner Frager und Sucher, bedarf. Aber die Wirklichkeit widerspricht. Wir werden immer wieder darauf gestoßen, daß alles Große und Wertvolle, was wir haben, und wonach wir die Hände strecken, soll es uns wirklich bleibend zuteil werden, einen ernsten Willen und einen festen Charakter zur Voraussetzung hat. Die, nur die sind, was das Knochengerüst im schönen Körper ist. Und sie werden nur aus dem sittlichen Kampf um das Gute geboren, aus dem Kampf - es hilft nicht - den wir gerade mit uns selbst zu führen haben. Und deshalb behält doch die Moral der gebrochenen Linie, wie sie KANT vertritt, das letzte Wort und den Sieg.

Auch ist es ein bloßer Schein, als sei es ein Weg der Knechtschaft auf den uns diese Lehre verweist. Im Gegenteil, es ist der Weg der Freiheit, auf den gerade sie uns führt. Denn sie lehrt uns verstehen, daß es Werte gibt, die über allem liegen, was selbst die verfeinertste Kultur uns zu bieten hat. Das sind die Werte des persönlichen Lebens. Erst im Bruch der Linie wird der Mensch geboren, der die Hand nach dem höchsten Ziel strecken lernt, danach, selbst etwas zu sein, zu werden, die Persönlichkeit, die nur geschaffen wird, indem sie sich selber schaffen lernt. Kein Ziel aber leuchtet dem Menschen, das über diesem wäre. Denn darin erreicht er die Höhe der von Gott ihm gesetzten Bestimmung.

Freilich, sage ich das, so ist es an und für sich nicht mehr als eine Behauptung. Nicht etwas, was sich schlüssig beweisen ließe, etwas vielmehr, was als eine Zumutung an den Willen herantritt, weil es eine Einsicht ist, zu der nur ein Akt der inneren Freiheit führt. Aber das ist nicht anders möglich. Ich wiederhole: es gibt keine exakte Moral. Wir bewegen uns mit diesem Gedanken auf einem Boden, auf dem es wissenschaftliche Beweise im strikten Sinn nicht gibt und nicht geben kann. Fragen wir daher, ob so oder so, ist es das erste und muß es das erste sein, daß wir uns sagen: nötigende Beweise gibt es hier nicht. Die letzte Entscheidung, die doch wirkliche Erkenntnis einschließt, liegt hier beim Willen, eben - in einem Akt der inneren Freiheit.

Wir sind geneigt, uns darüber zu täuschen. Wir pflanzen ein Ideal des Erkennens als allgemeingültig auf, das zu erreichen nur unter bestimmten Bedingungen auf einem beschränkten Gebiet möglich ist. Wir übertragen namentlich gern die Maßstäbe des Naturerkennens auf die Erkenntnis überhaupt. In Wahrheit aber ist unser Erkennen mannigfaltig differenziert. Und zur Erkenntnis der geistig-geschichtlichen Welt gehört es, daß da der subjektive Faktor bestimmend mitwirkt. Unvermeidlich ist es so. Wir verstehen ja dieses Stück der Wirklichkeit nur, indem wir die Tatsachen fortlaufend aus unserer eigenen inneren Erfahrung deuten. Das mag dann da nicht viel auf sich haben, wo nur  die  innere Erfahrung im Spiel ist, die in uns allen als wesentlich dieselbe wiederkehrt. Wo aber die Erfahrung mit Überzeugungen persönlicher Art zusammenhängt oder gar durch sie bedingt wird, da ist dem objektiven Erkennen und Beweisen eine feste Schranke gezogen. So gerade in der Wissenschaft von Moral und Religion - schon das Verständnis der Tatsachen läßt sich dem nicht ganz entziehen, vollends bei den abschließenden Urteilen greift es entscheidend ein. Das heißt - um es mit einem Wort zu sagen - der forschende Geist vollendet seinen Weg durch das Reich des Wirklichen nicht, ohne daß er auf den Punkt stößt, wo unabweisbar die persönliche Überzeugung in das Erkennen und Wissen, auch in die Wissenschaft eingreift.

Danach ist zu beurteilen, was jetzt weiter zur Begründung der oben zunächst als Behauptung ausgesprochenen Entscheidung angeführt werden soll. Es sind gute objektive Gründe, die genannt werden. Aber die so begründete Erkenntnis wird erst vollendet durch ein Urteil der Freiheit.

Dreierlei ist es, was ich in diesem Sinn kurz erwähne.

Das erste ist ein einzelnes Konkretes, an dem sich deutlich erhellt, daß Kulturentwicklung und sittlicher Fortschritt keineswegs zusammenfallen.

Alle Kultur beruht auf der Teilung der Arbeit. Solange der einzelne Mensch oder doch jeder Haushalt alles zum Leben Notwendige sich selbst erarbeiten muß, gibt es noch keine nennenswerte Herrschaft des Menschen über die Dinge, und das heißt eben keine Kultur. Sie wächst aber im selben Verhältnis wie die Teilung der Arbeit. Die Höhe unserer heutigen Kultur beruth nicht zuletzt darauf, daß sie auf allen Gebieten in einer Weise durchgeführt ist wie nie zuvor. Diese Teilung der Arbeit aber - ist sie nicht zugleich ein große sittliche Gefahr? Droht sie nicht, viele unserer Mitmenschen, unserer Volksgenossen um eine des Menschen würdige Arbeit und damit um die Grundlage der sittlichen Existenz zu betrügen? Oder kann die eintönige Wiederholung mechanischer Handgriffe, wie sie in unseren Fabriken so häufig vorkommt, für eine solche Arbeit gelten? Ein schwerer sittlicher Notstand ist das, eine Wurzel sozialer Irrungen, ein Joch auf dem Hals unserer Arbeiterwelt, das so hart drückt wie irgendeine wirtschaftliche Sorge, mag es den davon Betroffenen zu Bewußtsein kommen oder nicht. Das sage ich nicht, um einem Rückwärts das Wort zu reden. Für lebendige Völker gibt es kein Rückwärts, sondern nur ein Vorwärts. Den hier vorhandenen Notstand in der weiteren Entwicklung zu heben oder doch zu mildern, muß uns eine heilige Sorge sein. Wohl aber sage ich es, um daran zu illustrieren, daß es irrig ist, Kultur und Sittlichkeit einander gleichzusetzen. Ebendasselbe ist eine Bedingung des Fortschritts unter dem einen und eine schwere Gefahr unter dem anderen Gesichtspunkt. Unmöglich kann beides zusammenfallen.

Freilich, man kann entgegenhalten, es sei eine  petitio principii [Unbewiesenes dient als Beweisgrund - wp] hierbei im Spiel. Es werde etwas dabei vorausgesetzt, was doch erst bewiesen werden soll, nämlich, das sittlich geboten sei, allen, auch den Geringsten, den Weg zu sittlicher Würde offen zu halten. Wer aber etwa der Herrenmoral, der sogenannten, folgt, gibt das nicht zu. Wohl! ich erkennen es unumwunden an. Eine solche unbewiesene Voraussetzung ist dabei im Spiel. Ich glaube aber mich nicht zu irren, wenn ich annehme, daß es doch wie ein objektives Argument wirkt, weil wir Bürger der christlichen Welt uns in unseren Gedanken über das Sittliche unwillkürlich an jene Voraussetzung gebunden fühlen.

Wie dem auch sei - objektiver ist das zweite, was ich nennen will, eine große Tatsache der Menschheitsgeschichte, oft von ausschlaggebender Bedeutung im Kleinen wie im Großen. Ich meine das Gewissen aller Zeiten und Völker. Um diese Tatsache kommt niemand herum. Man mag alle Theorien über das Gewissen widerlegen, die Tatsache selbst läßt sich nicht entwurzeln. Im Urteil und in der Gesetzgebung des Gewissens handelt es sich aber nie um die Beziehung des Handelns zum Objekt, um seine Geschicklichkeit oder seinen Erfolg, die für die Kultur das Wesentliche sind. Immer es vielmehr die Beziehung zum Subjekt, die den Gegenstand bildet, dies, daß ich unrecht tat wider den Nächsten oder mich einem Reiz des Augenblicks gegenüber selber vergaß. Gerechtigkeit und Liebe auf der einen Seite, Überordnung der geistigen Persönlichkeit über die Antriebe der Natur auf der anderen Seite - das ist die sittliche Gesetzgebung, für die das Gewissen der Völker zeugt. Und wie in der Selbstbeurteilung, so in der Beurteilung anderer. Es bleibt bei dem, was KANT behauptet: vor dem vornehmen Mann bückt sich mein Rücken, die geniale Leistung des anderen erkenne ich bewundernd an, aber vor dem redlichen Mann, der im schlichten Gehorsam des Sittengesetzes lebt, bückt sich mein Geist, ich mag wollen oder nicht. Damit legt aber das Gewissen ein entscheidendes Zeugnis ab wider die Kulturethik und für die Moral im Sinne KANTs.

Vollends darin kommt es zur Geltung, daß das böse Gewissen die ursprüngliche, die positive Erscheinung ist, während das gute Gewissen nichts anderes als das Fehlen des bösen Gewissens bedeutet. Denn so lehrt es die Geschichte. Das Wort selbst in seiner ethischen Sonderbedeutung weist zunächst ausschließlich auf die Vorgänge des bösen Gewissens hin. Damit entscheidet es aber unverkennbar für die Moral der gebrochenen Linie. Es zeugt wider die Kulturethik als ein Kunstprodukt der Moralisten. In der Tat, ich wüßte nicht, wie diesem Argument die objektive Bedeutung abgestritten werden könnte. Es hat eine Kraft und Wucht, die jeder Vernünftelei spottet.

Endlich noch ein drittes! Um die innere Freiheit handelt es sich im Sittlichen. Jede Theorie über die Freiheit lasse ich billig beiseite. Praktisch erkennt sie jeder an, urteilt und verhält sich, wie wenn es sie gäbe. Es ist dem Menschen ein Spielraum gelassen, so soder so, und wie er entscheidet, so wird er, und so bildet sich sein Charakter. Aber eine höhere Macht umspannt ihn auch in seinem freien Tun und Lassen, indem sie schließlich Leben oder Tod an Gehorsam oder Ungehorsam gegenüber dem Sittengesetz knüpft.

Im Leben des Einzelnen wird das nicht immer deutlich. Überhaupt genügt es nicht, in der Ethik nur den einzelnen ins Auge zu fassen, wie früher üblich war. Man muß die Geschichte heranziehen, um Resultate von objektiver Geltung zu gewinnen. Und hier, im Leben der Völker, wird ganz deutlich, was eben behauptet wurde. Ein Volk, in dem Gerechtigkeit waltet, und tätiger Gemeinsinn auf die Förderung des Ganzen bedacht ist, in dem Keuschheit und Nüchternheit als eine Ehre gilt, der man nachstrebt, ein solches Volk schreitet aufwärts in der Geschichte. Gewiß kommt es auch auf Gaben und natürliche Kräfte an. Aber die nützen nichts, wenn die Merkmale sittlicher Lebendigkeit nicht vorhanden sind. Umgekehrt, wo diese Tugenden fehlen, wo jeder das seine sucht, und ein raffiniertes Genußleben die Menschen entnervt, da geht es abwärts, rettungslos abwärts. Keine Blüte der Kultur, noch so hoch gesteigert und in noch so wertvollen Gütern leuchtend, vermag auf die Dauer dagegen zu schützen. Findet keine sittliche Erneuerung statt, wird ein solches Volk schließlich ausgelöscht auf den Tafeln der Geschichte. Dies vollendet den Beweis dafür, wo wir das Wesen des Sittlichen zu suchen haben. Die  ultima ratio  der Existenzfrage läßt keinen Zweifel darüber.

Doch wiederhole ich: ein schlüssiger wissenschaftlicher Beweis ist es nicht. Erst ein Akt der Freiheit faßt alles zu einer Überzeugung zusammen, die so gewiß ist wie das eigene Leben. Namentlich deshalb betone ich es nochmals, damit es nicht scheint, als handelt es sich um einer Erkenntnis, die auf allerlei zusammengesuchten Argumenten beruth. Sie ist für den, der sie hat, eine persönliche Überzeugung. Etwas also, was wir nur behaupten, indem wir es immer wieder erwerben, aber eben deshalb etwas, was gewisser und wertvoller ist als jedes Wissen, und wäre es dreimal gesiebt und siebenmal bewiesen.

Verhält es sich jedoch so, müssen wir von dieser sittlichen Grundanschauung ausgehen, dann ergibt sich daraus auch das entsprechende Urteil über den ethischen Wert der Wissenschaft. Zuerst negativ: die Wissenschaft ist nicht für sich schon etwas Sittliches. Sie darf nicht im Verhältnis ihrer geistigen Bedeutung auch sittlichen Wert in Anspruch nehmen. In der Kulturentwicklung nimmt sie einen so hervorragenden Platz ein wie nichts anderes. Unsere heutige Kultur hängt vor allem an den großen Erfolgen der wissenschaftlichen Forschung in den letzten Jahrhunderten. Unter einem sittlichen Gesichtspunkt tritt sie in eine Reihe mit der übrigen Arbeit des Menschengeschlechts an der Welt der Dinge. Ihr Wert für das sittliche Leben ist kein anderer als der, den die Arbeit am Stoff, die Herrschaft über ihn, die daraus entspringt, überhaupt für den Menschen hat.

Es liegt darin, daß persönliches Leben nur auf dieser Grundlage entsteht. Etwas muß es geben, was der Mensch kann, was er versteht, was er beherrscht, sonst wird er nicht sittliche Persönlichkeit. Unter dieses Gesetz sind wir gestellt, anders entstehen die natürlichen Subjekte nicht, die allererst befähigt sind, sittliche Personen zu werden. Ich brauche das nicht näher auszuführen. es leuchtet von selber ein, der Grundgedanke sowohl, daß es ohne Herrschaft über die Dinge kein persönliches Leben gibt, wie auch, daß die Wissenschaft einer von den Wegen zu einer solchen Herrschaft ist, wenn auch keineswegs der einzige.

Weiter gilt dann, daß jede Arbeit in ihrer Art einen besonderen Wert für die Erziehung des sittlichen Charakters hat. Auch ihre sittlichen Gefahren - das kann nicht anders sein - beides geht miteinander. Hier ist es die positive Seite, eben der sittliche Wert der Arbeit, und zwar der wissenschaftlichen Arbeit, worauf wir achten. Sage ich aber jetzt von den besonderen Vorzügen, die gerade der Wissenschaft unter diesem Gesichtspunkt zukommen, so ist es nicht die Meinung, kann es nicht die Meinung sein, etwas zu rühmen, was wir, die Arbeiter an der Wissenschaft, besäßen, Tugenden, die wir anderen voraushätten. Der Pharisäer, der Gott dankt, daß er anders und mehr ist als andere Leute, macht in jeder Form eine widerwärtige Figur. Nein, was ich rühme, ist die Wissenschaft selbst, die hohe Herrin, der wir dienen. Was wir in ihrer Schule werden sollen und können, worum wir uns mühen, jeder auf seine Weise, das ist es, dessen ich rühmend gedenke.

Die Wissenschaft erzieht erstens zur unbedingten Wahrhaftigkeit. Wahrheit um der Wahrheit willen ist die Regel, unter der sie steht. Wissenschaftlich forschen heißt unaufhörlich Fragen stellen an die Wirklichkeit. Aber nur der Wahrheit entsprechende Fragen finden eine Antwort. Wer auf die Dauer leichtsinnig die Frage stellt, erreicht nichts. So liegt in der Wissenschaft selbst eine sich immer wiederholende Nötigung zur Wahrhaftigkeit im Verkehr mit den Dingen.

Die Wissenschaft erzieht zweitens zur Geduld und zur Zurückhaltung. Nur selten werden hier die Festungen mit einem stürmischen Angriff genommen. Es handelt sich in der Regel darum, zu versuchen und immer wieder zu versuchen, in langer Arbeit um die Wahrheit zu werben, immer unter dem Eindruck, daß es tausend Möglichkeiten gibt, und nichts gefährlicher ist. Auch die erprobtesten Voraussetzungen müssen neuen Aufgaben gegenüber immer neu erwogen und angepaßt werden. Sonst wird nichts gewonnen, was auf die Dauer besteht. Zur Geduld erzieht die Wissenschaft und sichert jeden, der ihr ernsthaft dient, vor einem vorschnellen Urteil.

Die Wissenschaft erzieht endlich drittens, wenn ich so sagen darf, zu einem langen Denken. Wie NIETZSCHE von einem langen Willen spricht, so, meine ich, kann man auch von einem langen Denken reden. Es reicht über die Gegenwart in die Zukunft, erwägt im voraus alle möglichen Folgerungen, soweit sie sichtbar sind, und erschöpft sich nie darin, im Augenblick das Höchste zu leisten.

Ja, das sind vor allem die Früchte für unsere sittliche Erziehung, die uns am baum der Wissenschaft wachsen, uns daran wachsen sollen - Eigenschaften fürwahr, die jeden zieren, der sie erwirbt. Nicht als wenn nur die Wissenschaft dazu erzöge, es gibt andere mögliche Wege zum gleichen Ziel. Aber nichts dient so dazu sie  planmäßig  hervorzurufen wie die Schulung in wissenschaftlicher Arbeit und deren Zucht.

Eben dieselben Eigenschaften sind es jedoch, die für die führenden Stände des Volkes unentbehrlich sind. Weshalb wir in Deutschland diese Stände auf den Universitäten erziehen und ihre Glieer in der Jugend in den Bannkreis der wissenschaftlichen Arbeit stellen. Es ist der Zweck dieser Ordnung, daß jeder einmal und in irgendeinem Maß von diesem Geist der Wissenschaft bewegt wird. Nicht der Erwerb der Kenntnisse fürs Examen und für den späteren Beruf - dafür wäre wohl eine andere Form des Studiums ebensogut, ja vielleicht besser geeignet -, nein, die innere Berührung mit der Wissenschaft in irgendeinem Maß ist der eigentliche Zweck des Studiums auf hohen Schulen, wie es unsere deutschen Universitäten sind.

Ihnen, meine Herren Kommilitonen, lege ich das in dieser Stunde besonders ans Herz. Vergessen Sie es nicht, daß die Wissenschaft auf jeden akademischen Bürger unserer Universitäten ihre Hand gelegt hat, und daß, wer ihr folgt, und sich von ihr erziehen läßt, den besten Erwerb macht, auch für seinen Beruf und sein ganzes Leben.

Uns allen aber mögen die Sterne in diesem neuen Studienjahr hell und freundlich leuchten, daß wir lehrend und lernend etwas vorwärts bringen im Dienst der Wissenschaft, der unser Leben und unsere Kraft gewidmet ist. Quod Deus bene vertat! [Was Gott zum Guten wenden möge! - wp]
LITERATUR - Julius Kaftan, Drei akademische Reden, Tübingen 1908