ra-2A. LöwensteinSavignyJ. v. KirchmannJ. P. A. Feuerbach    
 
JULIUS OFNER
Die Jurisprudenz
als soziale Technik


"Mit seltenen Ausnahmen betrachtet der Einzelne die gesellschaftlichen Einrichtungen als Mittel für sein Eigenwohl. Dieses Wohl (Interesse) bestimmt auch sein Urteil über das Recht. Was ihm nützt, ist ihm recht. Das Verlangen der Einzelnen, Einrichtungen zu treffen, welchen ihnen nützen, hat vom Ursprung an die Rechtsbildung geleitet. Die Stärkeren haben stets ausgiebig für sich gesorgt, die Schwächeren so gut sie konnten. Die Ersteren haben nach Herrschaft gestrebt, die anderen nach Gleichheit."

"Geltendes Recht beruth auf einem Zweckdenken. Ob und wie weit dieses Denken und mit ihm der Rechtssatz, den es schafft, richtig ist und den angestrebten Zweck erreicht, hängt von der Einsicht und Unbefangenheit des Autors, sowie von mancherlei zufälligen Ereignissen ab. Aber sie zwingen. Sie gestatten dem Einzelnen nicht, die Zweckmäßigkeit der ihm vorgeschriebenen Handlungsweise zu prüfen und danach zu handeln. Er muß gehorchen, auch wenn das Mittel schlecht ist. Es geschieht ihm oftmals hart, zu hart, aber allein dadurch wird auch die reale Ordnung erhalten, unabhängig von der Willkür der Individuen."

"Die Rechtsübung im Rahmen eines gegebenen Gesetzes ist die niedere, weil gebundene und nur im Kleinen tätige Jurisprudenz. Die höhere, freie Jurisprudenz betätigt sich in der Aufstellung und Durchführung originärer Pläne zur Organisierung der Gesellschaft und daher praktisch vorzugsweise in der Gesetzgebung. Und welcher knechtische Sinn liegt wohl in der Ansicht, daß die wissenschaftliche Theorie nur die Bestimmung hat, gegebenes Herrenwort durchzuführen, dieses Wort selbst aber gehorsam erwarten muß?"

Die Jurisprudenz ist Technik. Sie sucht nicht das Wahre, sondern das der Gesellschaft Nützliche. Die Rechtseinrichtungen: Ehe, Eigentum, Obligation, Erbrecht etc. sind soziale Maschinen.

Ist es nicht seltsam, daß die Jurisprudenz, deren Gegenstand die größten Interessen berührt, selbst kein Interesse hervorruft; daß sich freie Geister von ihr abgestoßen fühlen und wenn die Not des Lebens sie an das Rechtsstudium weist, sich anderwärts geistige Anregung suchen? Von einiger Zeit stieß ich auf ein Büchlein, das micht der Lösung dieses Rätsels näher brachte. Es enthielt einen Vortrag, den 1848 der damalige Staatsanwalt und spätere philosophische Schriftsteller KIRCHMANN in der juristischen Gesellschaft gehalten hat, betitelt "Die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft" (Berlin 1848). Der Vortrag faßt in kurzen Zügen die Vorwürfe zusammen, die gegen die Jurisprudenz erhoben werden.

    "Die Jurisprudenz", sagt KIRCHMANN, "ist keine Wissenschaft und erreicht nicht den wahren Begriff derselben; sie entbehrt auch des Einflusses auf die Wirklichkeit und auf das Leben der Völker, wie ein solcher jeder Wissenschaft zukommt."
Das heißt mit einiger Umschreibung:  Die Jurisprudenz ist nichts und leistet nichts. 

Die Begründung ist in Kurzem folgende:

Die Jurisprudenz hat es wie jede andere Wissenschaft mit einem Gegenstand zu tun, der selbständig, frei und unabhängig in sich besteht, unbekümmert ob die Wissenschaft existiert, ob sie ihn versteht oder nicht.  Dieser Gegenstand ist das Recht, wie es im Volk lebt  und von jedem Einzelnen in seinem Kreis verwirklicht wird. Man könnte es das natürliche Recht nennen. (Seite 7)

Die Aufgabe der Jurisprudenz ist, diesen ihren Gegenstand zu verstehen, seine Gesetze zu finden, die Verwandtschaft und den Zusammenhang der einzelnen Bildungen zu erkennen und schließlich ihr Wissen in ein einfaches System zusammenzufassen. Sie ist aber seit BACONs Zeiten stationär geblieben. (Seite 10)

Die Erklärung liegt zunächst im Gegenstand. Er ist  veränderlich.  Sonne, Mond und Sterne scheinen heute wie vor Jahrtausenden, die Rose blüht heute noch so wie im Paradies, das Recht aber ist seitdem ein anderes geworden. Die Ehe, die Familie, der Staat, das Eigentum haben die mannigfachsten Bildungen durchlaufen. Für andere Wissenschaften erwächst daher aus ihrem langsamen Schritt kein Schaden. Ihre Gesetze bleiben wahr für alle Zukunft. Die Rechtswissenschaft kommt dagegen bei der fortschreitenden Entwicklung immer zu spät,  niemals kann sie die Gegenwart erreichen.  (Seite 13)

Deshalb steht die Rechtswissenschaft dem Fortschritt des Rechts stets  feindlich  entgegen und zwängt, selbst wenn sie dem Fortschritt nachgibt, die Bildungen der Gegenwart in die Kategorien verstorbener Gestalten. (Seite 15)

Sie wurde ferner dadurch verleitet, über das vergangene Recht  das der Gegenwart völlig zu vergessen  und dem verachteten Handwerk der Praktiker zu überlassen. Die geschichtliche Schule liefert hierfür genug Belege. (Seite 16)

Eine andere Eigentümlichkeit des Gegenstandes der Jurisprudenz zeigt sich darin, daß das Recht nicht bloß im Wissen, sondern auch im Fühlen ist. Die Objekte anderer Wissenschaften sind von diesem Zusatz frei. Nur die Wahrheit wird verlangt. Im Recht dagegen werden alle großen Fragen des Tages zu Parteifragen. Es muß erst die Zeit mit ihrer beruhigenden Kraft über die Frage hinweggegangen sein, ehe die Wissenschaft hervortreten und frei die Wahrheit finden kann, aber freilich dann meist zu spät. (Seite 18)

Eine weitere Eigentümlichkeit des Rechts, deren Folgen die bisher besprochenen weit überragen, ist  die Gestalt des positiven Gesetzes.  (Seite 19)

Jedes positive Gesetz ist bedingt durch den Grad der Kenntnis des natürlichen Rechts; daher enthält der Inhalt neben dem Wahren auch genug an Unwahrem. Form und Ausdruck sind vielfach mangelhaft. Das positive Gesetz ist starr, abstrakt, in seiner letzten Bestimmtheit Willkür, schließlich die allzeit bereite Waffe, wie für die Weisheit des Gesetzgebers, so auch für die Leidenschaft des Despoten. (Seite 21) Die Wissenschaft wird durch das positive Gesetz  zu einer Dienerin des Zufalls.  Soweit das Gesetz der wahre Ausdruck des natürlichen Rechts ist, bleibt ihr nur das Werk des Erklärens, das Werk des Schulmeisters. Für die Forschung bleibt ihr nur das Unwahre. Damit wird sie aber selbst zur Zufälligkeit; drei berichtigende Worte des Gesetzgebers und ganze Bibliotheken werden zur Makulatur. (Seite 23)

Die Wissenschaft äußert aber auch  selbst  durch die Aufnahme des Gegenstandes in ihre Form eine zerstörende Kraft auf den letzteren. Ein Volk muß wissen, was das Recht im einzelnen Fall fordert und es muß mit Liebe seinem Recht ergeben sein. Werden dem Recht diese Momente genommen, so ist es ein totes, kein Recht mehr. Indem die Wissenschaft an das Recht herantritt, ist die Zerstörung dieser Elemente unvermeidlich. Das Volk verliert die Kenntnis seines Rechts und seine Anhänglichkeit an dasselbe. Die wahren Prozesse, wo das Recht streitig ist, sinken durch die zerstörende Wirkung der Wissenschaft zu einer bloßen Spekulation herab.  Die Rechtspflege ist durch die Wissenschaft zum Glücksspiel geworden.  (Seite 34)

Aus diesem inneren Widerspruch zwischen Zweck und Resultat der Jurisprudenz ist auch die sonderbare Empfehlung und Begünstigung der Vergleiche hervorgegangen, das klarste  testimonium paupertatis  [Armutszeugnis - wp] (Seite 36).

Was hat die Rechtswissenschaft, fragt KIRCHMANN, für  Werkzeuge erfunden,  für Einrichtungen geschaffen, um ihren Gegenstand, das Recht, den Menschen zugänglicher zu machen, die Last, den Schmerz der Entwicklung ihnen zu mildern? Ich suche eifrig nach allen Richtungen, und was ich finde, sind Formulare zu Rechtsgeschäften und Prozeßhandlungen, eine Menge von Verwarnungen, Belehrungen, Formen und Klauseln, schließlich das Gebäude des gemeinen Prozesses voll Gründlichkeit und Gelehrsamkeit, kurz alles, nur nicht den Weg, bei seinem Leben zu seinem Recht zu kommen. Die große Masse der Nation ist im Beginn seiner Entwicklung stets besonnen; sich selbst unklar wendet sie sich fragend an die Wissenschaft nach einer Lösung der Zweifel. Aber die Wissenschaft hat sich von jeher dazu ohnmächtig erwiesen, die Gegenwart hat sie noch niemals verstanden. Man wende nicht ein, daß der gleichen Dinge nicht zur Rechtswissenschaft, sondern zur Politik und Kunst der Gesetzgebung gehören.  Dies ist eben das Klägliche der Jurisprudenz,  daß sie die Politik von sich aussondert, daß sie damit sich selbst für unfähig erklärt, den Stoff, den Gang der neuen Bildungen zu beherrschen oder auch nur zu leiten, während alle anderen Wissenschaften dies als ihren wesentlichsten Teil, als ihre höchste Aufgabe betrachten. Jene vielgerühmte Fortbildung des Rechts durch die Juristen, von der man jetzt in allen Kompendien lesen kann, läuft nur auf das Spielwerk des kleineren Details hinaus. Das Fundament legen, den neuen Bau kräftig in die Höhe führen, das können die Juristen nicht. -

Soweit KIRCHMANN. Seine Ausführungen sind ein Gemisch von Wahrheit und Irrtum. Aber der Jurist muß mit Beschämung zugestehen, daß die realen Vorwürfe, die sie enthalten, noch heute begründet sind. Handwerksmäßig und spitzfindig - so ist noch heute wie vor 200 Jahren die juristische Tätigkeit. Die großen Fortschritte der Methodik, der Denk- und Forschungsweise seit BACO sind an ihr abgeglitten. Sie steht der Aufgabe, welche ihr die großen sozialen Fragen der Gegenwart stellen, fremd gegenüber. sie ist zur Lösung nicht reif, und, was das Schlimmste ist, sie will es nicht sein. Sie wehrt sich selbst gegen ihren Beruf. Sie will nicht frei denken. Sie lehnt jede Forschung nach allgemeinen Grundsätzen ab und nennt sie verächtlich Naturrecht. Sie erklärt sich ausdrücklich stolz als bloße  Auslegungswissenschaft und die geltende Satzung allein als ihren Gegenstand. Es gibt für sie nur  bestehendes,  nur römisches, deutsches, österreichisches Recht, aber kein Recht der Gegenwart und kein der Wissenschaft genügendes Recht.

Man darf selbstverständlich aus dem Gegensatz kein Wortspiel machen wollen. Geltendes und wissenschaftlich entsprechendes Recht sind wesentlich verschieden. Es ist auch geraten, sie schon im Ausdruck derart zu trennen, daß man nicht in die Gefahr gerät, sie zu verwechseln; sowie es in der Volkswirtschaftslehre gut ist, Gebrauchs- und Tauschwert mit anderen Namen zu bezeichnen. Wenn man bloß in diesem  sprachlichen  Sinn das Wort  Recht  für geltendes Recht vorbehalten will, so ist dagegen nichts zu erinnern, obwohl es mit dem Sprachgebrauch nicht ganz übereinstimmt. Aber das, was nach wissenschaftlich durchdachter Erfahrung (nicht allerorten und allezeit, sondern jetzt und bei uns) gelten soll, wird  objektiv  als Gegenstand des juristischen Nachdenkens verworfen. Die Jurisprudenz, sagen ihre Lehrer, hat sich  grundsätzlich  nur mit positivem Recht zu beschäftigen; bevor ein Satz, der seinem Inhalt nach Rechtssatz ist, in einem Land sanktioniert wurde, gehört er nicht in ihr Gebiet.  In welches dann?  Die Frage hat den Juristen nicht zu kümmern. "Solche Fragen, sagt HÖLDER (Über den Entwurf eines deutschen bürgerlichen Gesetzbuches), lassen sich mit den Mitteln der Jurisprudenz nicht entscheiden, und würden daher für den Juristen nicht existieren, wenn er ausschließlich Jurist wäre." Der kürzlich gestorbene WINDSCHEID, das jüngste geistige Haupt der orthodoxen Schule, hat in diesem Sinne die Jurisprudenz ausdrücklich als "Magd" der Gesetzgebung bezeichnet. "Eine Magd mit einer Herrscherkrone", hat er hinzugefügt. Aber die Krone könnte nur bezeichnen, was die Magd war oder sein sollte; das Zeichen ihrer wirklichen Stellung ist die Kette.

Die Wissenschaft ist frei. Eine Doktrin, welche dient, hat auf den Gehalt der Wissenschaft verzichtet. Der Ausspruch eines Gesetzgebers kann für weiteres Denken nur eine schwankende und unzuverlässige Grundlage sein. Wenn sich der Gesetzgeber geirrt hat, ist die sogenannte Wissenschaft, die ihm folgt, nur eine Erweiterung und Vertiefung dieses Irrtums. Alle Wissenschaft, darin hat KIRCHMANN zweifellos recht, hat das Wirkliche, ansich Wahre zum Gegenstand. Wenn der Forscher richtig beobachtet und geschlossen hat, so muß auch sein Resultat richtig sein. Der Jurist, der ein Gesetz über Folter und Hexenprozeß, über Sklaverei, Schuldknechtschaft oder despotische Gewalt zum Gegenstand seiner Auslegung genommen hat, muß aber, je getreuer er ist, zu desto unrichtigeren Folgerungen gelangen. So lange die Jurisprudenz nicht den Irrweg verläßt, nur Auslegung sein zu wollen, so lange kann sie nicht wissenschaftlich sein.

Der Beweis ist auch praktisch leicht zu führen. Niemand wird bezweifeln, daß ein Gesetz auch schlecht sein kann, und die römischen Juristen -  gute Juristen  - haben es dann abgeschwächt und umgangen; nach welchem Gesichtspunkt haben sie das Gesetz beurteilt und ausgelegt?

SAVIGNY hat nicht die Herrschaft des römischen Rechts, wie es zu JUSTINIANs Zeit bestand, sondern des  heutigen  römischen Rechts verlangt; von welchem Gesichtspunkt aus wird ein Satz zum heutigen Recht gewiesen?

Die neue Zeit hat eine Reihe sozialer Erscheinungen hervorgebracht, die noch nicht gesetzlich geregelt sind und doch den Richter brauchen; nach welchem Gesichtspunkt wird er entscheiden?

Die Schlagworte: Billigkeit, Natur der Sache, Zweckmäßigkeit, Rechtsanalogie, die man anwendet, weisen alle auf ein  freies  Denken hin, welches vom Gesetz unabhängig ist und es seinen Grundsätzen unterzieht.

Mit dem bestehenden Gesetz kann diese freie, wissenschaftliche Jurisprudenz nur in einem doppelten Verband stehen. Das Gesetz muß, solange es Gesetz ist, befolgt werden. Das verlangt nicht bloß der Wille der Mächtigen, sondern auch die bewährte Erfahrung, daß eine schlechte Ordnung noch immer besser ist als gar keine. Die Jurisprudenz, soweit sie an das geltende Recht gebunden ist, muß daher die Aufhebung eines von ihr als schlecht erkannten Gesetzes verlangen, inzwischen aber ihre Aufgabe in den Grenzen, welche es ihr stellt, bestmöglich zu erreichen suchen. Außerdem ist das geltende Recht selbst Material der wissenschaftlichen Forschung. Die verschiedenen geltenden Rechte können gesammelt, verglichen und allgemeinere Tatsachen des menschlichen Verkehrs aus ihnen erkannt werden. Aber was man geltendes Recht nennt, ist unter diesem Gesichtspunkt eine verwickelte Tatsachenmasse, welche zerlegt und deren ursächlicher Zusammenhand mit den zu ihrer Zeit bestandenen Verhältnissen erforscht werden muß, bevor sie belehren und zu allgemeineren Schlüssen Anlaß geben kann. Die Gesetze Roms und der germanischen Stämme, des alten Roms und der justinianischen Zeit geben durch ihre einfache Zusammenstllung noch kein wissenschaftliches Ergebnis; die Begriffe, welche die Rechtsgelehrsamkeit des Mittelalters gebildet hat, um verschiedene Institute ohne Prüfung ihrer wirtschaftlichen Bedeutung in eine Gruppe einzuordnen, haben keinen realen Wert. Nur als Ergebnis einer kausalen Entwicklung, als Folgen veränderter sozialer Verhältnisse und als Ursachen weiterer Veränderungen sind die geltenden Gesetze wissenschaftliches Material; ihre Eigenschaft, positives Recht zu sein, tritt in den Hintergrund.

Was vom Gesetz gesagt wurde, gilt in ähnlicher Weise auch vom Gewohnheitsrecht. Die beiden Quellen des geltenden Rechts unterscheiden sich in ihrem Verhältnis zur freien Forschung nur wenig. KIRCHMANN teilt einen verbreiteten Irrtum, wenn er das gewohnheitsmäßig entstandene oder von ihm sogenannte  natürliche Recht  als Objekt der Rechtswissenschaft auffaßt. Es kommt dies von der vielfachen Bedeutung des Wortes  natürlich  her, welche schon manche Verwirrung angerichtet hat.

"Natürlich" steht zunächst einem "übernatürlich" gegenüber. Dieser Gegensatz ist für den Juristen nicht von Wert. In seiner Sphäre ist  alles  natürlich. Gesetz und Gewohnheit, Gedanke und Tat, Vertrag und Verbrechen sind ebenso natürliche Tatsachen wie Geburt und Tod.

Dann aber bedeutet das Wort einmal das  Ursprüngliche,  vom Menschen Unabhängige, im Gegensatz zu einem durch Zutun des Menschen Gewordenen, und man spricht von der Natur, die sich nicht austreiben läßt, vom Naturzustand, von natürlichen Heilquellen, natürlichen Fähigkeiten und Leidenschaften des Menschen, vom natürlichen Recht der Gewalt und dgl. Das andere Mal bedeutet es das  Logische, Vernünftige  und dadurch Selbstverständliche, und man spricht von den natürlichen Folgen einer Handlung, von natürlicher Billigkeit, man sagt, daß man mit dem Zweck natürlich auch die Mittel will, daß ein Vertrag natürlich so gelöst wie geschlossen wird und dgl.

Das Ursprüngliche wird wiederum einmal der wirklichen Kultur und Bildung, das andere Mal der Hyperkultur und Verbildung gegenübergestellt. Unter einem natürlichen Menschen stellen wir uns etwas anderes vor, als unter einem Naturmenschen; natürliche Erziehung, natürliches Benehmen, natürliche Freundlichkeit haben mit dem Naturzustand ROUSSEAUs nichts gemein. Für die Römer war das  jus naturale  der Gegensatz zum  jus civile  und bezeichnet entweder das rein tatsächliche oder animalische Verhältnis (jus quod natura animalia docet) oder das  jus gentium,  oder das vom Zivilrecht nicht anerkannt, aber doch aus Ordnungs- oder Billigkeitsrücksichten geschützte Verhältnis. Das Naturrecht des Mittelalters lehnte sich an das  jus gentium  an, betrachtete aber die Vernunft als allgemeine charakteristische Eigenschaft des Menschen und suchte deshalb aus Grundsätzen der Vernunft ein allgemeines Recht abzuleiten.

KIRCHMANN versteht unter natürlichem Recht zuerst die Ordnung der sozialen Verhältnisse, welche sich ohne Jurisprudenz und, wie es sich aus seiner weiteren Darstellung zeigt, auch ohne Gesetz entwickelt, also das Gewohnheitsrecht. Bei der Beurteilung der Gesetze aber sagt er: "Soweit das Gesetz der wahre Ausdruck des natürlichen Rechts ist, bleibt der Wissenschaft nur das Werk des Erklärens" (Seite 23), und versteht also hier natürlich als richtig oder sachgemäß. Darin aber liegt ein Irrtum.

Das Gewohnheitsrecht hat gegenüber dem Gesetz wichtige Vorzüge, es hat auch viele Nachteile. Der mächtigste Trieb des Menschen ist der Eigennutz. Eigennutz vorzugsweise hat die ursprünglichen sozialen Verhältnisse geschaffen. Eigennutz, Stolz, Trägheit und Mißtrauen stellen sich allen, auch den notwendigen Neuerungen entgegen. Ein Fortschritt, der nicht mit augenscheinlichen Vorteilen verbunden ist, findet in der seßhaften Bevölkerung oft den hartnäckigsten Widerstand. Die großen Reformen im 18. und im Anfang des 19. Jahrhunderts in Deutschland waren von erleuchteten Fürsten getragen. Auch das Gewohnheitsrecht ist ein Herr, und manchmal ein harter Herr, und die Doktrin, die ihm dienen würde, wäre keine freie Wissenschaft. Die Jurisprudenz hat nicht das von KIRCHMANN sogenannte natürliche Recht, sondern Gewohnheits- und Juristenrecht haben gemeinschaftlich  die sozialen Beziehungen und Interessen  zum Gegenstand.

Das Verhältnis zwischen Gewohnheitsrecht, Gesetz und Jurisprudenz soll durch eine Vergleichung anschaulicher gemacht werden.

In eine öde Gegend (die Vereinigten Staaten Amerikas und Polynesien bieten noch heute Beispiele genug) kommen Ansiedler. Sie bauen ihre Hütten und Häuser, jeder wie er es versteht und wünscht. Macht einer eine Verbesserung, welche sich bewährt, so ahmen ihn andere nach. Allmählich entsteht in dieser "natürlichen" Weise ein Baustil, und wenn er längere Zeit unverändert bleibt, so bietet dies die Gewähr für eine gewisse Festigkeit und Bewohnbarkeit der Häuser. Entsteht ein Dorf, werden Gassen notwendig, wohnen mehrere Familien vereint, oder wird die Festigkeit und Lichte eines Hauses von der Anlage des Nachbarhauses abhängig, so entwickelt sich eine Bauordnung, d. h. man nimmt und verlangt beim Bau Rücksicht auf die anderen. Die Bauordnung wird desto strenger und greift desto tiefer in Einzelheiten ein, je größer die Häuser werden, je enger sie aneinanderrücken und in ihrem Zustand, ihrer Zugänglichkeit und Bequemlichkeit voneinander abhängiger, Feuer-, Einsturz-, Krankheitsgefahren größer, Straßen, Kanäle, freie Plätze notwendiger werden.

Die Vergleichung der naturalen und der durch eine Bauordnung geregelten Bauweise zeigt jeder Vorzüge und Schäden. Die Bauordnung verkümmert den Einfluß der Individualität, die eigenartige Schönheit einer scheinbar ungeordneten und durch die Zweckmäßigkeit des einzelnen Baus doch geregelten Anlage; sie kann auch, soweit sie eine bestimmte Bauweise anordnet, objektiv bessere Anlagen verhindern. Dagegen bietet sie regelmäßig eine größere Sicherheit für die Ausnutzung des Raumes, gesunden, festen und die Nachbarn nicht beeinträchtigenden Bau. Naturale und durch Vorschriften geregelte Bauweise unterscheiden sich also, -  aber nicht gegenüber der Architektur.  Jeder Kundige würde über die Annahme lächeln, daß die "naturale Bauweise" Gegenstand einer Wissenschaft sein soll, deren unmittelbare Beziehung zu ihrem Gegenstand durch eine Bauordnung gestört wird, sowie es KIRCHMANN für Jurisprudenz, natürliches Recht und Gesetz behauptet.

Die Bauweise ist, weil sie Tätigkeit ist und Zwecken dient, überhaupt nicht Gegenstand einer Wissenschaft im engeren Sinn (reinen Wissenschaft), sondern einer  Kunst  oder angewandten Wissenschaft. Diese Kunst will nicht den "natürlichen", sondern einen  zweckmäßigen  und  schönen  Bau. Die von den Bewohnern ohne Anleitung hergestellten Bauten werden von ihr berücksichtigt werden, soweit sie sich objektiv als zweckmäßig und schön erweisen. In einer Gegend, wo sich eine gewisse Bauweise eingebürgert hat, mag man auch, soweit es die Zweckmäßigkeit gestattet, die Neubauten ähnlich errichten. Aber eine weitere Bedeutung hat die naturale Bauweise nicht. Soweit sie unzweckmäßig ist, wird sie verlassen, und sobald sich die Bewohner der Gegend von den Vorzügen der neuen Gebäude überzeugt haben, ahmen sie sie auch nach; ebenso wie die Bauern trotz ihres bekannten Mißtrauens gegen alles Neue die Maschinen anschaffen, von deren Nützlichkeit sie sich durch Selbsterfahrung überzeugen. Wenn eine genügende Zahl von Baumeistern vorhanden ist, werden Laien einen größeren Bau selten ausführen. Dadurch wird aber der Sinn des Volkes für einen schönen Bau nicht gestört, sondern gefördert. Selbst die Geschicklichkeit für Eigenbauten hört nicht auf, und die kleinen Häusler wissen sich bei Ausbesserungen und Umarbeiten gar wohl zu behelfen. Ein Gegensatz zwischen Volk und Baumeistern tritt nicht ein, und selbst der Befehl, bei größeren Bauten einen Baumeister zu bestellen, wird nicht als Bedrückung empfunden.

Mit der Bauordnung eines einzelnen Landes oder Ortes befaßt sich die Theorie der Baukunst nicht. Wer aber an einem Ort seine Kunst ausüben will, muß die dort geltende Bauordnung kennen und wahren. Die Bauordnung im eigenen Land wird daher auch an jeder technischen Anstalt erläutert. Ebenso werden die Bauten großer Meister und die hervorragenden Baustile erläutert - nicht zu erzwungener Nachahmung, aber als Beispiele, an denen man sich erziehen und im Zweifel an sie halten mag.

Die wissenschaftliche Grundlage der Baukunst ist die  Mechanik zu welcher einzelne Teile anderer Wissenschaften hinzutreten, die sich auf Objekte, Mittel und Zwecke des Baus beziehen.

Die Anwendung der Parallele auf Rechtsordnung, Rechtskunst (Jurisprudenz) und die ihr zugrunde liegende Wissenschaft (Rechtswissenschaft) ist leicht zu ziehen. Wie die Bauweise, so hätte auch die volkstümliche, die durch sanitäre Vorschriften angeordnete, und die wissenschaftliche Methode, Krankheiten zu verhüten und zu beseitigen, zur Vergleichung herangezogen werden können. Aber ein Beweis durch Gleichnis ist selbstverständlich mangelhaft, weil zwischen den verglichenen Gegenständen wesentliche Unterschiede bestehen können. Ein Vergleich kann die Erkenntnis nur anbahnen, nicht gewähren.

Wo Menschen leben, treten sie zusammen und bildet sich auf die verschiedenste Weise, in Krieg oder Frieden, freundschaftlich oder zwangsweise, durch bewußte und nachgeahmte Zwecktätigkeit ein Recht, d. h. eine Ordnung ihres Lebens und Verkehrs. Diese Ordnung hat bei jedem Volk eine gewisse Eigentümlichkeit, welche teils aus dem Charakter des Volkes, seiner Umgebung und Beschäftigung stammt, teils aus unauffälligen Gründen, die man Zufall nennt. Sie hat, wie man sagen könnte, Erdgeruch, sowie Tracht, Dialekt, Wohnung, Unterhaltungsweise und anderes.

Diese Eigenart kommt weder dem Recht, noch auch den Beziehungen der Menschen allein zu. Bei jedem existenten Objekt der Forschung bleibt ein individueller Rest der Tatsachenreihe zurück, der einer positiven Ausgestaltung spottet. Jede Pflanzenart hat ihre eigentümliche Bildung der Äste und Zweige, ihre eigentümliche Gestalt und Anordnung der Blätter und Blüten; und wenn wir auch überzeugt sind, daß dies alles seine vollständig erklärenden Ursachen hat, so wird die Wissenschaft kaum jemals dazu gelangen, die ursächliche Reihe mit Genauigkeit festzustellen. Auch bei Gesteinen ist an jedem Fleck der Erde eine eigenartige Mischung und Lagerung vorhanden, und wer irgendwo Anlagen errichten will, muß sich neben den allgemeinen noch besondere örtliche Kenntnisse verschaffen. Das hindert jedoch Forschung und Fortschritt nicht, hindert nicht die Auffindung von Gesetzen für die gemeinsamen Eigenschaften und Verhältnisse, die trotz der Eigenart anwendbar sind.

Dies gilt auch für das Recht. Nur ein geringer Teil in der getroffenen Ordnung ist eigenartig, der größere steht unter der Herrschaft von Zweckbestrebungen, welche den Menschen überhaupt oder auf einer gewissen Kulturstufe gemeinsam, und welche so bedeutend sind, daß z. B. die Anordnungen der alten Römer noch vielfach die Grundlage unseres Privatrechts sind. Der Mensch will sein Leben fristen und sein Geschlecht vermehren; Hunger und Liebe, wie SCHILLER sang und MARX deduzierte, sind die großen Triebfedern seines Handelns. Die Erfahrung weist ihn zur Erreichung dieser Zwecke auf die Gesellschaft mit anderen; denn seine Waffe im Kampf des Lebens ist der Geist, der sich nur in der Gesellschaft entwickeln kann, und selbst, wenn er entwickelt ist, vereinzelt im Kampf gegen die Naturmächte unterliegt. Aber wenn der Mensch durch diese Bedingungen seiner Existenz  sozial  (gesellschaftlich) wird, so wird er damit nicht  sozialisch  (moralisch, gemeinsinnig). Das bewußte Zusammenwirken Aller für Alle ist nur das Ideal der Entwicklung. In Wirklichkeit betrachtet der Einzelne mit seltenen Ausnahmen die gesellschaftlichen Einrichtungen als Mittel für sein Eigenwohl. Dieses Wohl (Interesse) bestimmt auch sein Urteil über das Recht.  Was ihm nützt, ist ihm recht.  Das Verlangen der Einzelnen, Einrichtungen zu treffen, welchen ihnen nützen, hat vom Ursprung an die Rechtsbildung geleitet. Die Stärkeren haben stets ausgiebig für sich gesorgt, die Schwächeren so gut sie konnten. Die Ersteren haben nach Herrschaft gestrebt, die anderen nach Gleichheit. Neben dem Eigeninteresse wirken im Menschen wohl auch Mitleid und Unparteilichkeit (Rechtssinn), Mißtrauen, Trägheit, Hartnäckigkeit, wobei man letztere oft mit Rechtssinn verwechselt, und andere Eigenschaften. Im Allgemeinen ruht aber alle positive Rechtsbildung auf einem Zweckdenken für das Eigeninteresse (LOCKE).

Es ist für die Beziehung des sogenannten natürlichen, d. h. durch die Gewohnheit der Interessenten zustande kommenden Rechts zur Jurisprudenz wichtig zu erkennen, daß es gleichfalls unter diesem Grundsatz steht und jederzeit stand. Auch das natürliche Recht ist nicht gewachsen wie die Blume auf dem Feld, sondern durch ein  Zweckdenken  für das Eigenwohl entstanden. Auch die ersten Rechtsgenossenschaften und die ersten Rechtseinrichtungen sollten den Mitgliedern  nützen,  sie  besser  stellen als sie sich ohne die Genossenschaft befunden hätten, wobei die Schwachen aber allerdings oft nur die Wahl zwischen der ihnen angewiesenen Stellung und dem Tod hatten. So entstanden von rechtswegen Sklaverei, Paria- und Helotentum. Sie zeigen den harten, vom Gesichtspunkt der Billigkeit aus sehr  unnatürlichen  Egoismus, der die erste Rechtsbildung, welche man "natürlich" nennt, kennzeichnet.

Eine größere Verwicklung der Verhältnisse macht überall  Gesetze  notwendig. Die Unterschiede zwischen Gewohnheitsrecht und Gesetz sind vielfach erörtert worden; sozial wichtiger ist der Unterschied zwischen Volks-, Fürsten- und Aristokratenrecht. Die Gesetze können vom Volk ausgehen, und das Gewohnheitsrecht ist wohl niemals Fürstenrecht, aber oft aristokratisch, die Zwölftafelgesetze in Rom waren von den Plebejern als Schutz gegen das Gewohnheitsrecht verlangt worden.

Gewohnheits- und Gesetzesrecht sind geltendes Recht. Sie beruhen auf einem Zweckdenken. Ob und wie weit dieses Denken und mit ihm der Rechtssatz, den es schafft,  richtig  ist und den angestrebten Zweck erreicht, hängt von der Einsicht und Unbefangenheit des Autors, sowie von mancherlei zufälligen Ereignissen ab. Aber sie zwingen. Sie gestatten dem Einzelnen nicht, die Zweckmäßigkeit der ihm vorgeschriebenen Handlungsweise zu prüfen und danach zu handeln. Er muß gehorchen, auch wenn das Mittel schlecht ist. Es geschieht ihm oftmals hart, zu hart, aber allein dadurch wird auch die reale Ordnung erhalten, unabhängig von der Willkür der Individuen.

Dem Beteiligten wie dem Gesetzgeber gegenüber ist der Jurist  der Sachverständige für die Ordnung der sozialen Verhältnisse.  Auch sein Denken ist ein Zweckdenken, das aber nach einem trefflichen Ausdruck von BRINZ nicht Potestät [Macht - wp], sondern Autorität hat, nicht zwingt, aber durch wissenschaftlich durchdachte Erfahrung geleitet vorhersieht. Der Jurist soll die nach dieser Erfahrung  objektiv zweckmäßige Einrichtung der sozialen Verhältnisse  treffen. Die Jurisprudenz ist wegen dieses konkreten Charakters wissenschaftich, aber keine Wissenschaft. Sie ist eine  Kunst,  eine Abteilung der sozialen Technik, oder nach dem hier gebräuchlicheren Ausdruck der  sozialen Politik.  Der Jurist muß können;  wissen  nach der Auffassung des SOKRATES, daß nicht der zu schwimmen weiß, der die Bewegungen der Schwimmer kennt, sondern der sie auszuführen versteht. Ein gelehrter Gesetzeskenner ist noch kein guter Jurist, sondern nur wer aufgrund seiner Kenntnis die Lebensverhältnisse der Menschen den Interessen der Beteiligten und der Gesamtheit gemäß zu gestalten weiß. Der Jurist muß  praktisch  sein, er bewährt sich in der Ausübung.

Es ist daher ganz verkehrt, wenn die gemeinrechtliche Doktrin des 19. Jahrhunderts Juristen auszubilden glaubt, indem sie (auch im Gegensatz zu SAVIGNYs Lehre vom  heutigen  römischen Recht) den Hörer mit den Einzelheiten alter Rechte erdrückt, während sie weder sein Auge für die bestehenden Verhältnisse, zu deren Ordnung er doch beitragen soll, noch sein Urteil für die konkrete Zweckmäßigkeit einer Einrichtung schärft. Nicht der Unterricht in wie vielen Abschriften eine Eingabe zu überreichen oder wie groß die für ein Geschäft zu leistende Stempelgebühr ist, macht das Praktische der Jurisprudenz aus - obwohl ein Arzt auch verstehen muß, wie man einen Finger verbindet -, sondern  die Richtung des Studiums auf das Leben der Gegenwart,  das Bewußtsein, daß aller juristischer Unterricht darauf hinzielt, den Jünger zur Ordnung der sozialen Verhältnisse seiner Mitbürger, insbesondere zur Erkenntnis drohender oder bereits vorhandener Störungen und zur Auffindung der zu ihrer Verhütung oder Beseitigung dienlichen Mittel geeignet zu machen. Wer kann dem Landwirt einen Rat für die Abgrenzung seiner Rechte gegen den Nachbarn oder für die Vereinbarung mit seinen Miterben geben, dem die Bedingungen landwirtschaftlicher Tätigkeit gänzlich unbekannt sind?

Die Erkenntnis der Jurisprudenz als Kunst beweist auch, wie fehlerhaft der Gegensatz ist, welcher noch immer zwischen ihr und einer  Gesetzgebungskunst  angenommen wird. Es ist, als ob man die Baukunst von der Kunst des Architekten lostrennen und auf die Tätigkeit derjenigen beschränkten wollte, welche den Bau ausführen. Hier könnte man die von JHERING in unrechter Art versuchte Unterscheidung zwischen  niederer  und  höherer  Jurisprudenz einstellen. Die Rechtsübung im Rahmen eines gegebenen Gesetzes ist die  niedere,  weil gebundene und nur im Kleinen tätige Jurisprudenz. Die  höhere,  freie Jurisprudenz betätigt sich in der Aufstellung und Durchführung originärer Pläne zur Organisierung der Gesellschaft und daher praktisch vorzugsweise in der Gesetzgebung. Welcher Widerspruch liegt z. B. darin, die Schaffung eines Autorenrechtsgesetzes von der Jurisprudenz auszunehmen, welche doch das fertiggestellte Gesetz durchzudenken, logisch zu erweitern und vernünftig zu begrenzen hat! Und welcher knechtische Sinn liegt in der Ansicht, daß die wissenschaftliche Theorie nur die Bestimmung hat, gegebenes Herrenwort durchzuführen, dieses Wort selbst aber gehorsam erwarten muß?

Aber selbst in der Auffassung der Tätigkeit des Juristen innerhalb des Gesetzes ist die heutige Rechtslehre beschränkt. Sie befaßt sich ausschließlich mit der Tätigkeit des urteilenden  Richters.  Das Urteil - das ist richtig - muß auf einer vernünftigen Auslegung der bestehenden Normen ruhen.  Die ganze heutige Rechtslehre ist grundsätzlich nichts anderes als eine Anleitung für die Richter eines bestimmten Landes zu gesetzmäßiger Rechtssprechung.  Das ist die Bedeutung des Lehrsatzes, daß sich die Jurisprudenz nur mit dem geltenden Recht zu befassen hat. Jurisprudenz heißt hier subjektiv  Richterstand,  prädikativ  richterliches Denken. 

Der hohe Beruf des Richters und die Wichtigkeit seiner Ausbildung ist nun gewiß außer Streit. Aber wie die Einhaltung der Bauordnung nur die Grenze der Baufreiheit ist, ebenso ist die Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften für die Staatsbürger nur die  Grenze  der freien Ordnung ihrer Lebensverhältnisse. Der Jurist, der nicht Richter ist, und auch dieser in der Verwaltung der außerstreitigen Gerichtsbarkeit, soll aber bei der freien Ordnung selbst als Sachverständiger wirken. Er soll die Formen neuer Lebensverhältnisse schaffen. Er soll deren Entwicklungsfähigkeit prüfen, die Ursachen von Störungen erkennen, und Anstalten treffen, um sie zu vermeiden oder unschädlich zu machen. Er soll, wenn Störungen eingetreten sind, sie beseitigen, ohne das Verhältnis selbst, wenn es noch lebenskräftig ist, zu zerstören Darin besteht die Kunst des Anwalts (Advokat, Notar, Kurator, Oberkurator), die  kautelarische  [vertragsgestaltende - wp] und  contentiose  [Streitfälle - wp]  Jurisprudenz.  Sie hat im unparteiischen Richterspruch ihre Stütze, aber ihre wichtigste, ihre lebendige und volkstümliche Tätigkeit hat den Zweck, den Richter unnötig zu machen.

Auch die niedere Jurisprudenz ist also nicht bloße Auslegungskunst. Die Kenntnis des Gesetzes ist ihr notwendig, aber nur damit sie nicht durch Widerstreit mit demselben ihre Zwecke verfehlt. Sie ist die Kunst, das soziale Leben der Menschen  innerhalb der Gesetze  zweckmäßig, dem Frieden und Wohlstand förderlich zu gestalten. Außer Kenntnis des Gesetzes verlangt sie Kenntnis der konkreten Lebensverhältnisse und ihrer Störungen, Kenntnis, Übung und Scharfsinn, um die allgemeinen und besonderen Mittel zu ihrer richtigen Gestaltung anzuwenden, Störungen zu verhüten und zu beseitigen. Je weiter das Gesetz in das Innere der Lebensverhältnisse eindringt, desto mehr ist wohl der Jurist an dasselbe gebunden. Aber nur in einem Kasernenstaat wäre eine rechtlich zulässige und gesetzlich vorgeschriebene Lebensweise identisch. Die heutige Doktrin, welche die Jurisprudenz nur auf die Auslegung des Gesetzes beschränkt, enthält daher nur  einen Teil der niederen Jurisprudenz.  Sie bietet nur dem Richter seinen Stoff und dies in nüchterner, kirchturmpolitischer Art; sie bietet dem Anwalt zu wenig, dem Gesetzgeber fast nichts. Ist es verwunderich, daß sich freie Geister da von ihr abwenden?

Die Doktrin dieses Charakters rührt aber erst aus dem Mittelalter her. Die römischen Juristen waren keine bloßen Gesetzesausleger. Sie schufen im prätorischen Edikt ein ewig lebendiges, anpassungsfähiges Gesetz. Sie ließen sich auch als Respondenten durch Billigkeit, Nützlichkeit und Natur der Sache leiten, und wenn das alte Gesetz dem Leben zu schroff entgegentrat, scheuten sie sich selbst nicht, ihm Zwang anzutun. Die Art, wie sie Streitfragen mit Rücksicht auf die Gesetze ihres Landes entschieden, ist mustergültig für alle Zeit. Schon die Juristen der byzantinischen Epoche waren aber nur mehr Beamte. Die Juristen des Mittelalters entbehrten vollends der produktiven Kraft, welche die römischen Klassiker aus dem steten Verband mit dem Volk geschöpft hatten. Das gemeine Recht war nicht Volksrecht. Die Jurisprudenz arbeitete vom grünen Tisch und wurde dadurch zu toter Logik. Die theologische Lehre vom Gehorsam wirkte dann mit, um das Auslegungsprinzip auszugestalten: Erklärung des Herrenwortes, ohne an ihm zu deuten.

Die Gegenbewegung begann mit der Reformation. Man fing an selbst zu denken und damit auch zu begreifen, daß das römische Recht nicht unbedingt, für alle Länder und Zeiten,  ratio scripta  [niedergeschriebene Vernunft - wp] ist. Die Form, in welcher der Gegensatz auftrat, war  das Naturrecht.  Die hervorragendsten Juristen wandten sich ihm zu. Das Naturrecht war der Sitte der Zeit gemäß logisch-abstrakt; wo es indessen zu schaffen galt, zeigten sich seine Anhänger (KREITTMAYR, SUAREZ, MARTINI) als kräftige und konkrete Denker, während die Romanistik unfruchtbar blieb und immer kleinlicher wurde. Am Ende des vorigen Jahrhunderts wurde es dann auch im Recht lichter. Auch die historisch-nationale Theorie war durch einen Naturrechtler, HUGO, begründet worden, der sich für die Fehler der bestehenden Rechtsordnung einen freien Blick bewahrt hatte und die Gewohnheit nur als Entschuldigung, nicht als Sanktion gelten ließ. Weder SAVIGNY noch PUCHTA lenkten den Blick auf das Leben der Gegenwart. Aber sie waren durch ihre Neigung zum römischen Recht, welches sie mit Gewalt als deutsches Volksrecht zu deuten suchten, nicht frei, der Anschluß an die Vergangenheit diente dem Geist der Reaktion und die historische Schule wirkte demgemäß. Zur gleichen Zeit mit ihr entstand aber die vergleichende Rechtswissenschaft, vorzüglich durch MONTESQUIEU geweckt; im Strafrecht wirkte der Humanitätsgedanke klärend, während das Staatsrecht durch die Lehre vom Gesellschaftsvertrag revolutioniert wurde. Im 19. Jahrhundert verlangte dann der moderne Verkehr eine Regelung, wofür alles alte Recht versagte. Wechsel- und Handelsrecht brachten in die Theorie des gemeinen Rechts den Zwiespalt, und ihnen, sowie dem freieren Geist, der seit der konstitutionellen Regierungsweise durch die Mitwirkung des Volkes an der Gesetzgebung geweckt wird, ist es zu danken, daß derzeit langsam, wenn auch immer noch am Grundgedanken der Auslegung festhaltend, der neuestens im ersten Entwurf des deutschen Zivilgesetzbuches einen klassischen Ausdruck gefunden hat, sich auch die gemeinrechtliche Theorie dem starren Dienst des positiven Gesetzes entwindet. DANKWARDT war durch seinen ökonomisch-psychologischen Grundgedanken der tiefste, JHERING durch seine Zwecktheorie, welche im Strafrecht durch die internationale kriminalistische Vereinigung vertreten wird, der kräftigste Vorkämpfer. Der Zweckgedanke ist alt; insbesondere haben ihn die englischen Philosophen LOCKE, HUME, BENTHAM vertreten. Nur die bisherige Lehre, daß der Jurist über das Gesetz nicht nachzudenken, sondern es anzunehmen und zu befolgen habe, macht es begreiflich, daß die Lehre JHERINGs als ein Neues, Unbekanntes bewundert und angefeindet wurde.

Die Jurisprudenz als Kunst ist das unmittelbare Objekt der Theorie. Die Hochschule hat die Aufgabe, sachverständige Männer heranzubilden, welche - frei oder im Rahmen des geltenden Rechts - die sozialen Verhältnisse ihre Mitbürger in eine gute Ordnung zu bringen und so zu erhalten: Gesetzgeber, Richter, Anwälte.

Die Kunsttheorie für Straf- und Verwaltungsrecht ist durch alte Gesetze nicht beeinflußt, aber noch zu abstrakt und zu wenig auf das Studium der Lebensgebiete, deren Ordnung sie lehren soll, bedacht. Das Strafrecht insbesondere muß auf Psychologie ruhen (DANKWARDT). Das Ausmaß der Strafe ist kein Rechenexempel; die Strafe verfolgt Zwecke und muß nach Art und Größe geeignet sein, diesen Zwecken zu dienen.

Die Kunsttheorie für das Privatrecht wird derzeit, vermengt mit Erläuterungen über altrömisches Recht, in den  Digestenvorlesungen  gelehrt. Das gemeine Recht hat zwei Eigenschaften, durch welche es eine freiere theoretische Forschung einläßt. Es ist kein geltendes Recht mehr und dadurch entfällt das Bedürfnis nach einer einheitlichen Praxis, die Rücksicht auf den Richter, welcher dem gelehrten Recht gemäß zu urteilen hat. Es ist ferner reich an dunklen und einander widersprechenden Stellen, dann an Entscheidungen einzelner Fälle, deren Inhalt sich erweitern oder einengen läßt. Es gibt daher der Deutung einen breiten Spielraum, und entgegengesetzte Anschauungen können sich gleichmäßig auf Quellen stützen. Auch ist von SAVIGNY das Stichwort des "heutigen" römischen Rechts ausgegeben worden, wodurch jedem Forscher die Möglichkeit geboten ist, einen Satz aus den Quellen als derzeit veraltet zu erklären und eine entsprechendere Bestimmung dafür einzusetzen. Auf diese Art ist z. B. die unmittelbare Stellvertretung in das System aufgenommen worden.

Durch die Ausbildung dieser freien Forschungstheorie könnte sich die Digestenlehre zu einer allgemeinen Privatrechtstheorie erheben, wenn sie nicht durch das Vorurteil gedrückt wäre, daß die Jurisprudenz ihrer Natur nach eine Auslegungswissenschaft ist, sich daher stets auf  ein  positives Recht beziehen muß, welches hier das römische ist. Institute germanischen oder modernen Ursprungs werden daher von den Digestenvorlesungen unbedingt ausgeschieden;, wesentlich geänderte Anschauungen über Rechtsmaterien, z. B. über Ehe- und Familienrecht, getraut man sich nicht zu behandeln; von Gesellschaften mit verschiedenem Recht nach innen und außen, wie dies z. B. das Handelsrecht normiert, glaubt man, weil sie nicht gemeinrechtlich sind, nicht sprechen zu dürfen usw. So hat man sich selbst an eine Kette gelegt und verhöhnt den als Naturrechtler, der die Kette Kette nennt. Wollte jemand für die Theorie der Baukunst vorschreiben, sie müsse in so viele voneinander vollständig getrennte Fächer zerfallen, als es Baustile gibt, so würde niemand zögern, dies als eine Schrulle zu bezeichnen.

Das hier gezeichnete Verhältnis der freien Jurisprudenz zur Digestentheorie genügt, um den Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit abzuwehren, den die Verteidiger des Alten gegen sie erheben. Praktisch-wissenschaftlich ist nicht eine Theorie, welche die althergebrachten, sondern welche die zweckmäßigen Mittel lehrt. So wenig das Alter die Talgkerze über das Gaslicht, den Dreschflegel über die Dreschmaschine erhebt, so wenig vermag es die Güte von Rechtsinstituten zu entscheiden.

Auch schon eine Reihe von Lehren in den heutigen Digestenvorlesungen ist nicht durch eine Auslegung der Quellen entstanden. Die Lehre SAVIGNYs von der zeitlichen und örtlichen Geltung des Rechts, PUCHTAs vom Gewohnheitsrecht, JHERING vom negativen Interesse, die Lehren vom Vertrag zugunsten Dritter, von der höheren Gewalt und andere - wenn die Autoren auch regelmäßig bemüht waren, Quellenbelege zu finden - sind Werke freieren Nachdenkens, das sich seiner Ketzerei nur nicht bewußt ist, oder sie nicht gestehen mag. Bis vor kürzester Zeit war man einverstanden, daß die Quellen die reine Schuldtheorie für Schadensersatz enthalten und verurteilte jede Abweichung von ihrer strengen Konsequenz; heute findet man schon die Lehre von der  custodia  (BARON) und vom Handeln auf eigene Gefahr (UNGER) als quellenmäßig. Ein kühner Mann wird auch die Grundlage unserer Arbeiterfürsorge in den Digesten zu finden wissen. Das Suchen nach Quellenbelegen ist hier überall nur ein Zugeständnis an die herrschende theorie, die Lehren selbst stammen nicht aus ihnen und entsprechen ihnen oft nicht. Unwissenschaftich sind sie darum gewiß nicht. Der Befehl, der im geltenden Gesetz enthalten ist und keine Kritik zuläßt, kann die Wissenschaftlichkeit nur töten, nicht begründen.

Man hat die freie Jurisprudenz auch als Naturrecht denunziert. Aber das Naturrecht, welches trotz seiner Fehler höher steht als seine Spötter, war der Richtung seiner Zeit gemäß abstrakt und glaubte reines Recht entwickeln zu können, wie man reine Mathematik und Physik betrieb. Das war sein Fehler. Die Jurisprudenz als soziale Technik hat die Pflichten der Technik. Die Grundsätze, nach welchen sie konstruiert sind, müssen aus dem Leben entstammen. Sie muß die bestehenden Verhältnisse erkennen und würdigen. Sie ist frei, aber konkret, nüchtern und berechnend.

Praktisch beginnt die Kunstlehre heute in den seminaristischen Übungen. Doch sind diese noch zu abstrakt. Die Fälle, welche bearbeitet werden,  sollen Typen der Fälle sein, welche den Jünger dereinst beschäftigen.  Stattdessen erinnern sie oft an die scharfsinnigen und doch wertlosen Streitigkeiten der Scholastiker. Sie sind noch zu sehr im Dienst der Schule; es fehlt ihnen der praktische Zug; es fehlt zu ihrer Auslese die Erkenntnis, daß die Hochschule für das Leben vorzubereiten hat. STÖLZEL ist derzeit in Berlin bestrebt, eine Besserung einzuleiten.

Die Erkenntnis der Jurispruden als eines lebendigen Wissens wirkt befreiend. Solange die Jurisprudenz nichts als Gesetzkunde und antiquarische Grübelei ist, muß sie den jugendlichen, offenen, strebenden Geist abschrecken. Die Erkenntnis ihrer wirklichen Aufgabe zeigt, daß der Jurist nicht durch Bestimmung Formalist und Pedant ist, daß seine Kunst ihn vielmehr mitten ins Leben stellt, daß sie ihm Kenntnis von Menschen und Verhältnissen als Grundlagen seiner Wirksamkeit zeigt, von ihm konkretes und modernes Denken verlangt, welches an Beispielen aus früherer Zeit reifen soll, in ihnen aber nicht sein Ziel und in ihrem Studium nicht seine Lebensaufgabe erblicken darf. Mehr als JHERING vertritt darum DANKWARDT unter den deutschen Juristen die neue Denkart, indem er Psychologie und Ökonomie als Grundlagen der Jurisprudenz lehrt. Denn das Recht ist Recht der Menschen und ruht deshalb auf Menschenkenntnis. Sein Zweck ist Ordnung und der des Privatrechts zunächst Ordnung der Wirtschaft; wie will man aber ordnen, was man nicht versteht? Die juristische Theorie lehrt derzeit, ein soziales Verhältnis in der Art zu regeln, wie dies seit alter Zeit gewesen ist. Die wissenschaftliche Untersuchung muß oft zu einem entgegengesetzten Schluß kommen. Die Ordnung entsprach den damaligen Verhältnissen und Zwecken; haben sich Verhältnisse und Zwecke geändert, so muß auch das Recht ein anderes werden. Ruht unsere Wirtschaft nicht mehr auf Sklaverei, sondern auf der Eigenarbeit der Bürger, so muß auch das Recht auf Arbeit gestellt werden.

Die freie Jurisprudenz, welche unbefangen und sachgemäß die Bedingungen für eine gute, zweckmäßige, Frieden und Wohlstand des Volkes fördernde Ordnung der Lebensverhältnisse untersucht, kann allein auch die großen sozialen Fragen der Zeit lösen. Ist Recht die Ordnung der Gesellschaft, so sind alle sozialen Fragen Rechtsfragen. Wer anders als der Jurist ist z. B. berufen, die Bedingungen für ein gedeihliches Verhältnis zwischen Unternehmer und Arbeiter, die Ursachen der Streitigkeiten zwischen ihnen und die Mittel zu deren Verhütung zu untersuchen? Wenn man sanatorische Maßregeln trifft, rät der Arzt, bei technischen der Ingenieur; wenn es aber zur Verfassung eines Zivilrechts kommt, sagt der Jurist (HÖLDER) - wohlgemerkt, nicht in abstracto, sondern angesichts eines vorgelegten Gesetzentwurfs -: "die Frage nach dem besten Inhalt von Privatrechtsnormen sei  keine juristische,  und würde für den Juristen nicht existieren": Für den Juristen heutiger Doktrin ist das leider richtig, denn er kennt nur geltende Gesetze und diese nicht als Zweckmaßregeln, sondern als etwas, was gilt und Gehorsam verlangt. Aber die freie Jurisprudenz kann gewiß kein edleres Objekt haben, als die Neugestaltung des Recht für die neue, der alten Ordnung vielfach entwachsene Gesellschaft.

Die Kunsttheorie ist von einer allgemeinen Wissenschaft im Sinne der Naturlehre nicht unbedingt abhängig. Die römischen Juristen waren große Rechtskünstler, ohne daß eine theoretische Gesellschaftswissenschaft bestanden hätte, sowie die griechischen Architekten große Künstler waren, ohne die theoretische Mechanik zu kennen. Aber ist die Wissenschaft entstanden, so greifen beide ineinander, wie Mechanik und Baukunst. Die Jurisprudenz lehrt Zwecktätigkeit. Die Zwecke, die sie anstrebt, die Mittel, die sie anwendet, die Verhältnisse, die sie ordnet, die Einrichtungen, die sie trifft, sind für den wissenschaftlichen Forscher  Tatsachen die er aufzulösen und in elementare Gesetze zu fassen bestrebt sein muß.

Die Juristische Forschung sucht wie alle Wissenschaft nur die Wahrheit. Der Zweck ist für sie eine gewollte Wirkung, das Mittel eine Ursache, welche wegen ihrer Wirkung gesetzt wird. Sie sieht bei den geltenden Einrichtungen - gesetzlichen oder gewohnheitsrechtlichen - von ihrem besonderen Charakter, von der Heiligkeit, mit der man sie praktisch umgibt, ab und faßt sie lediglich als  soziale Erscheinungen,  als Glieder inmitten einer ununterbrochenen Kette sozialer Ursachen und Wirkungen auf. Die allgemeinen Gesetze (Sozialgesetze), von denen diese Erscheinungen beherrscht werden, sind nicht gut oder schlecht, nicht lobens- oder tadelnswert, sondern wie alle Naturgesetze einfache allgemeine  tatsächliche  Beziehungen. Sie unterscheiden sich auch - was vielfach verkannt wird - von praktischen  Grundsätzen,  d. h. leitenden Gedanken für eine ausgedehnte Zwecktätigkeit. Ein Zivilprozeß mag z. B. auf dem Grundsatz der Mündlichkeit beruhen, d. h. das Gesetz  will  überall, wo nicht besondere Gründe eine Ausnahme verlangen, ein mündliches Verfahren; für den Forscher ist das mündliche Verfahren eine Anzahl tatsächlicher Vorgänge, deren Ursachen und Wirkungen er untersucht.

Der Rechtsforscher sucht Gruppenformeln, durch welche er die sozialen Vorgänge umfassen und verstehen will; der Jurist sucht Normen für das Leben bestimmter Menschen, Mittel, um in einem bestimmten Land und in bestimmter Zeit eine zufriedenstellende Ordnung zu schaffen. Ihr Denken ist also verschieden, aber es greift doch innig ineinander und trifft auch in einzelnen Personen zusammen, sowie sich in der Physik Theorie und Technik in großen Geistern einigen - in unserer Zeit öfters als jemals zuvor. Die Resultate des Forschers geben dem Juristen die Handhabe, um die Zweckmäßigkeit der Mittel, die er anwenden will, zu prüfen; die Resultate des Juristen geben dem Forscher sein Material.

Die Rechtswissenschaft ist ein Teil der Sozialwissenschaft, deren charakteristisches Merkmal, das sie von der Naturlehre sondert, in der  psychologischen  Grundlage all ihrer Untersuchungen gelegen ist. Alle Gesetze, welche sie findet, sind Gesetze des menschlichen Denkens oder ruhen auf solchen. Das Denken ist wissenschaftlich noch wenig erforscht. Die Lehren von der Göttlichkeit der Seele und von der Freiheit des Willens, die noch die jüngste Zeit beherrschen, haben die Gesetze des Denkens verfemt. Die Sozialwissenschaft ist deshalb noch sehr jung. Die Tatsachenreihen, welche sie bisher entdeckt hat, sind gering. Sie enthält kaum mehr als den Keim, Wissenschaft zu werden. Aber  sie  ist die  scientia rerum humanarum ac divinarum  [Wissen vom Menschlichen und Göttlichen - wp], welche die Römer (wohl nur als konkretes Wissen) vom Juristen verlangten.

Ein Teil der Sozialwissenschaft - man könnte ihn die soziale Mechanik oder Energetik nennen - hat die Gesetze der menschlichen  Handlungen  zum Gegenstand und kann wie die Mechanik in zwei Unterabteilungen zerlegt werden: in die soziale Dynamik, welche die Gesetze der  Tätigkeit  erforscht und Grundlage der Verwaltungskuns ist (Politologie, Verwaltungswissenschaft), und in die soziale Statik, welche die Gesetze des  Friedens d. h. jener Gegenhandlungen untersucht, durch die friedenstörende Handlungen verhütet oder im Erfolg beseitigt werden  (Rechtswissenschaft  im eigentlichen Sinne). Die Analogie mit der Mechanik reicht so weit, daß auch zwischen den beiden Unterabteilungen der Energetik kein grundsätzlicher Unterschied besteht, und der methodische, den man noch macht, mit wachsender Erkenntnis verschwinden wird.

Die Rechtswissenschaft untersucht nach Art und Größe die Handlungen (Entgelt, Ersatz, Strafe, Lohn, Preis, Zahlung u. a.), welche geeignet sind, andere Handlungen (oder Strebungen), die in irgendeiner Weise den sozialen Freiden gestört haben oder stören würden, zu paralysieren. Ist die störende Handlung und der vor ihr bestandene wiederherzustellende Zustand bekannt, so ist die Gegenhandlung  Vergeltung, Sühne;  soll ein noch nicht bekannter Zustand hergestellt werden, der zwei Handlungen oder Strebungen gegenüber Frieden schafft, so spricht man von  Ausgleichung.  Zu den Einrichtungen, deren man sich bedient, um wirtschaftlich den Frieden zu erhalten oder wieder zu schaffen, gehören insbesondere  Eigentum  und  Obligation.  Das Erstere verlangt Gleichwert zwischen dem Genommenen und dem Gegebenen, den Inhalt des Tausches (quantum-tantum); die Obligation verlangt Gleichwert zwischen dem Versprochenen und Gezahlten. Das ist aber bloß ihr  logisches  Gesetz, ihre Konsequenz. Wenn der Grundsatz des Eigentums oder der Obligation konsequent angewendet wird, muß dieser Gleichwert bestehen. Ob er aber bei Regelung eines Verhältnisses  anzuwenden  sei, ob in seiner ganzen logischen Strenge, ob und inwiefern seine Folgen durch andere Grundsätze zu beseitigen seien, das ist eine Frage, welche die  Rechtskunst  zu beantworten hat, eine Frage der Rechtsvernunft oder Gerechtigkeit.  Hier ist der Punkt, wo die Aufgabe der Jurisprudenz besonders hervortritt.  Rechtslogik und Gerechtigkeit sind nicht dasselbe. Die Rechtslogik kümmert sich nicht umd die Beschaffenheit der Folge. Sind die Prämissen vorhanden, so zieht sie den Schluß. Die Rechtsvernunft dagegen denkt praktisch, anschaulich, zielbewußt. Der Logik schwebt die Formel vor, der Vernunft die Maßregel. Die Gründe, aus denen die Rechtsvernunft handelt, lassen sich wohl gleichfalls unter Sozialgesetze bringen. Aber diese Gesetze können anderen Gebieten als dem Recht angehören, können auch noch fehlen, und das Leben wartet nicht. Die Rechtsvernunft muß daher stets die Wahrscheinlichkeitsschlüsse der konkreten Erfahrung zuhilfe nehmen, an ihrer Hand die Zweckmäßigkeit der Folge für die Gesellschaft untersuchen und sie danach zulassen oder ausschließen. Das ist dann auch die Bedeutung des  summum jus summa injuria  [die buchstabengetreue Auslegung eines Gesetzes kann im Einzelfall zu größter Ungerechtigkeit führen - wp]. Die letzte Folge eines im Großen und Ganzen richtigen, d. h. gemeinnützigen Rechtssatzes kann unrichtig sein. Nicht Konsequenz, sondern die nach Gründen des Gemeinnutzens mit konkretem Blick für die einzelne Folge urteilende  Rechtsvernunft ist Gerechtigkeit Bei einem geltenden Gesetz kann die Rechtsvernunft allerdings verlangen, daß um der Unparteilichkeit des Richters willen dessen Ermessen eingeengt und ihm die logische Anwendung des Gesetzes nach den bekannten Auslegungsregeln aufgetragen wird. Die Frage, ob Logik des Gesetzes oder Ermessen vorzuziehen sei, ist gerade in unserer Zeit sehr bestritten. Aber man muß festhalten: auch ihre Beantwortung ist nicht Sache der Logik, sondern der Vernunft und auch bei ihr kann  summum jus summa injuria  sein.

Der Unterschied zwischen Rechtslogik und Rechtsvernunft mag kurz am vorzüglichsten Institut unseres heutigen Vermögensrechtes gezeigt werden - am  Eigentum. 

Das Eigentum ist der Schutz des wirtschaftlichen Eigeninteresses, es sanktioniert und erzeugt dessen Vorzüge und Schäden. Es macht den Menschen für die Zukunft bedacht, läßt ihn um späterer Vorteile willen Entbehrungen auf sich nehmen, läßt ihn Unternehmungen ausführen, die erst in späterer Zeit lohnen, macht ihn sparsam und eifrig, und indem er für sich sorgt, vermehrt er auch den Gesamtreichtum. Es macht den Menschen auch durch Besitz selbständig und erzeugt die Tugenden, die mit Selbstgefühl verbunden sind. Andererseits ist das Eigentum überall gefährlich, wo das Interesse des gegewnwärtigen Besitzers mit den Gesamtinteressen der Gegenwart oder Zukunft in Widerspruch tritt; daher schon derzeit z. B. an Wasser und Wald kein oder doch nur sehr beschränktes Eigentum gestattet, für äußerste Fälle der Kollision die Enteignung vorbehalten wird und dgl. mehr. Es macht ferner den Besitzlosen zum Hungersklaven. Wo die Konsequenz des Eigentums herrscht, steht neben Reichtum, der sich durch die Fruchtbarkeit des im Eigentum befindlichen Objekts von selbst vermehrt, drückende hoffnungslose Armut. Daher die besondere Schädlichkeit des großen und gebundenen Eigentums, weil hier die Vorzüge des egoistischen Wirkens verschwinden und die Schäden in erhöhtem Maß hervortreten. Mit der Frage des Großeigentums fällt auch praktisch die moderne Frage des Kapitaleigentums zusammen; nicht das Eigentum an einem einzelnen Werkzeug oder Grundstück ist das Objekt des Angriffs, sondern jenes Eigentum, welches durch den Zoll, den der Arbeiter für den Gebrauch entrichten muß, den Nichtarbeit bereichert. Der Kampf der Sozialisten gegen das Kapital ist der Kampf gegen Einkommen durch fremde Arbeit.

Die Jurisprudenz hat nun Vorteile und Schäden des Eigentums zu prüfen. Sie darf sich nicht durch sein Alter abschrecken lassen; das älteste und hierdurch heiligste Institut wäre sonst die Sklaverei. Sie darf aber auch nicht soziale Poesie treiben. Sie hat nüchtern zu untersuchen, ob nach den Ergebnissen der Erfahrung der Grundsatz des Eigentums durch einen anderen ausgelöst werden kann, welcher seine Nachteile vermeidet, ohne die Vorteile aufzugeben oder größere Nachteile herbeizuführen; oder ob der Grundsatz selbst zu erhalten ist, und in welcher Weise er dann eingeschränkt oder anderen Grundsätzen untergeordnet werden kann, um arbeitsloses Einkommen zu verhüten, oder um äußerste Not des Besitzlosen zu beseitigen. Sie darf Einrichtungen nicht erhalten wollen, bloß weil sie bestehen, und darf Vorschläge ohne Versuch und Vorbild nicht einführen, bloß weil sie gefallen. Sie ist  wissenschaftliche soziale Technik. 

Ähnlich wie die Konsequenz des Eigentums kann auch die des  Vertragszwangs  schädlich sein. Der Vertragszwang schafft und erhält den Kredit; die Kette, welche die Arbeitsteilung in der heutigen Produktion um die Teilunternehmer schließt, wäre ohne ihn unmöglich. Aber er ist auch hart. Die Übereilung eines Moments kann das Leben zerstören, weshalb auch z. B. heutzutage Eheschließungen immer, Schenkung, Bürgschaft und andere Freigiebigkeitsakte oft an Formen gebunden werden, welche die ernste Überlegung sichern. Die Schuldenlast mit bestimmten Zahlungsterminen kann ein Unternehmen vernichten, das sonst lebensfähig wäre. Namentlich bei Grundeigentum, wenn Zinsen- und Kapitalzahlungen nach dem durchschnittlichen Ertrag berechtnet werden, können einige Mißjahre eine Krise erzeugen. Auch das öffentliche Interesse kann verbieten, daß ein Vertrag eingehalten wird, weshalb gewisse Arten von Verträgen als unzulässig oder unverbindlich erklärt werden. Von besonderer Bedeutung für die Entwicklung der gesellschaftlichen Zustände - eine Verewigung des einmal erworbenen Eigentums - ist ein drittes Institut: das  Erbrecht.  Es hat sich aus dem alten Familieneigentum entwickelt und ist heute zum Teil Schenkung (testamentarisches Erbrecht), zum Teil Alimentation (Pflichtteilsrecht). Rechtsvernunft hat anhand seiner erfahrungsmäßigen Folgen zu entscheiden, ob und in welchem Maß es beizubehalten oder abzuändern ist.

Sowie die zivilrechtlichen Anordnungen über Erfüllung oder Ersatz, so sind auch die  Strafverfügungen  Zweckmaßregeln. Der Grundsatz der Vergeltung trifft für sie nicht zu und wird heute allgemein verlassen. Wenn jemand einem Anderen ein Auge ausgeschlagen hat, so wäre es Vergeltung, wenn er gezwungen werden könnte, ihm das Auge wieder einzusetzen; dann wäre der alte Zustand wieder hergestellt. Wenn man ihm aber ein Auge ausschlägt, so erreicht man nur, daß anstatt eines nunmehr zwei Augen fehlen. Was die Strafe zu leisten hat, kann daher nur die Verhütung ähnlicher Handlungen in der Zukunft sein, psychischer Druck zur Herstellung eines Charakterminimums im Volk, welches ausreicht, um schuldhafte Friedensstörungen höheren Grades hintanzuhalten. Die Rechtsvernunft hat die tauglichen Maßregeln hierfür zu wählen und zu begrenzen.

Das gleiche Verhältnis wie zwischen Rechtswissenschaft und Rechtskunst gilt auch für die Politik- bzw. Verwaltungswissenschaft und die Verwaltungskunst. Rechtswissenschaft und Politologie sind selbst eng verschwistert. Politologie ist die Wissenschaft von den Gesetzen menschlicher Tätigkeit. Störende und vergeltende Tat, welche von der Rechtswissenschaft verglichen werden, sind aber beide Taten; die Gesetze der Tätigkeit sind also auf sie anwendbar; man kann sagen, Rechtstätigkeit ist Tätigkeit unter dem Einfluß gewisser Grundsätze und Einrichtungen. Auch setzt die Friedensstörung einen Friedens stand  voraus, dessen Inhalt also nicht durch das Recht bestimmt wird, sondern selbst alles Recht bestimmt. Das Recht als Wissenschaft erscheint so nur als Glied der Politologie und die Rechtsforschung nur als eine hervorragende Abteilung der politischen Forschung. Auch praktisch besteht zwischen Recht und Verwaltung ein gleiches Verhältnis. Die Rechtspflege ist nur ein Teil der Verwaltung, der durch seine Wichtigkeit und durch die Massenhaftigkeit seines Materials hervorragt, aber doch nicht wesentlich von anderen Verwaltungszweigen verschieden ist. Die Einführung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, in welcher das Richtertum sich klar als  Kontrolle  der Verwaltung erweist, hat zur Erkenntnis dieser Gleichartigkeit beigetragen; der Anwaltszwang, der z. B. in Österreich für den Verwaltungsgerichtshof und das Reichsgericht gilt, beweist, daß man auch die von ihnen beurteilte Tätigkeit als Jurisprudenz auffaßt. Die Staats wissenschaft  forscht nach den Gesetzen des menschlichen Wirkens, der es bestimmenden Neigungen und Triebe; Sache der Staats kunst  ist es, jenen Neigungen das Übergewicht zu schaffen, welche dem Interesse Aller günstig sind, jene Wege zu bahnen, auf welchen das Wohl Aller durch die Tätigkeit der Einzelnen am sichersten und dauerndsten erreicht wird. -

Die Angriffe KIRCHMANNs und Gleichgesinnter sind nunmehr leicht in ihrer Grundlage zu erkennen. Sie sind gegen die derzeitige Auffassung und Lehre der Jurisprudenz gerechtfertigt, aber nicht gegen diese selbst.

Die Jurisprudenz ist Technik. Sie sucht  nicht das Wahre,  sondern das der Gesellschaft Nützliche. Die Rechtseinrichtungen: Ehe, Eigentum, Obligation, Erbrecht etc. sind  soziale Maschinen.  Die Reformen des Rechts entsprechen den Verbesserungen physikalischer Maschinen und ihrer Anwendung, welche gleichfalls nie stillstehen; die Einzelheiten und Formen der juristischen Institute entsprechen den Teilen und Teilchen, aus denen sich jede Maschine zusammensetzt und auf deren zuverlässiger Arbeit ihr Erfolg beruth. Deshalb ist es Unrecht, wenn KIRCHMANN die Kommentare zu einem unklaren Gesetzestext als unnütz angreift. Gewiß, sie entfallen mit dem besseren Gesetz. Aber die Maschine will bedient sein. Solange man keine bessere hat, müssen die Arbeiter bedacht sein, mit der schlechten möglichst vorteilhaft zu arbeiten, und man muß sie darin unterweisen. Unrichtig wäre es nur, wenn man die Maschine als Grundlage und Ziel der Wissenschaft betrachten, oder wenn man ihre Fehler verschweigen und nicht bestrebt sein wollte, sie zu verbessern.

Die Jurisprudenz ist nicht mehr, als jede andere angewandte Wissenschaft, als Medizin oder Baukunst, auf das Studium der Alten angewiesen. Die Geschichte lehrt, aber nur durch Kritik und Vergleichung. Lehrreicher aber, und wenn sich die Verhältnisse wesentlich geändert haben, auch zur Verwertung der Geschichte notwendig ist Beobachtung und Versuch; notwendig ist das Studium der Gegenwart, ihrer Bedürfnisse und Verhältnisse, damit man für sie sorgen, ihrer Einrichtungen, damit man deren Vorteile bewahren, die Schäden vermeiden lernt. Der Gegenstand der Jurisprudenz hindert ihren Fortschritt nicht, weder das veränderliche "natürliche" Recht, noch das Gesetz. Denn das Handeln des Menschen ist ebenso stetig wie das Wachstum des Baumes, und die Jurisprudenz sucht nicht das natürliche als ursprüngliches, sondern als vernünftiges Recht. Die freie Jurisprudenz stört auch nicht das Gefühl des Volkes für das Recht, sondern leitet es. Der Kampf um das i-Tüpfelchen eines Anspruchs ist nicht der Ausdruck des höchsten Rechtsgefühls, das sich vielmehr stets der Zusammengehörigkeit mit anderen bewußt sein muß. Die ungezähmte Rachelust, welche die Strafgesetzgebung einleitete, wird durch den Zweckgedanken kultiviert, vermenschlicht. - Die juristische Maschinierie unserer Zeit arbeitet wohl noch lange nicht gut, sicher und rasch genug und verlangt eindringliche Reformen. Aber wer die Einrichtungen von heute mit denen des Mittelalters vergleicht, wird große Fortschritte zugestehen müssen; und ob die Männer, denen die Fortschritte zu danken sind, die akademische Laufbahn vollendet haben, ist für die Natur ihrer Leistungen ebenso gleichgültig, wie es für die Natur der Entdeckungen ROBERT MAYERs oder der Erfindungen EDISONs nicht entscheidend ist, ob diese Männer an einer technischen Anstalt approbiert wurden.

Die freie juristische Forschung ist auch uninteressant. was kann den Menschen mehr anregen als der Mensch, als die Untersuchung der Gesetze, welche die geordnete Tätigkeit unser selbst beherrschen?

Richtig ist, daß das Recht mit den Interessen der Menschen tief verwachsen ist und daß die Leidenschaft der Parteien sich seiner bemächtigt. Der juristische Denker muß deshalb einen besonders hohen Grad von Unbefangenheit und Pflichttreue bewähren. Umso höher ist sein Beruf. Mehr als vom Künstler gilt von ihm das Wort: "Der Menschheit Würde ist in Eure Hand gegeben."
LITERATUR Julius Ofner, Die Jurisprudenz als soziale Technik, Studien sozialer Jurisprudenz, Wien 1894