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ERNST IMMANUEL BEKKER
Was sind
geistige Realitäten?


"Geistige Realitäten wirken nur auf gleichfalls geistbegabte Wesen, die meisten nur auf Menschen, einzelne wohl auch auf die Klassen der Tiere, bei denen etwas dem menschlichen Geist Verwandtes angenommen werden kann."

"Woran wir denken, ist einem menschlichen Hirn entsprungen. In uns entsteht ein Gedanke oder ein Bild, gelegentlich auch im Traum, dessen Dasein wir empfinden, wahrnehmen, und also nicht bestreiten können."

"Geistige Realitäten sind ebenfalls die Gesetze. Die einzelnen subjektiven Rechte, die aus diesen fließen, sind zweifellos ebenso geistiger Natur, wie die sie erzeugenden Rechtssätze."

Das Recht dient zur Herstellung der Ordnung auf einem bestimmten Gebiet. Um uns über dieses, und damit zugleich über das Wesen des Rechts, seine Entstehung und Wirksamkeit zu orientieren, müssen wir nochmals ins Weltall blicken. Zwang zur Bewegung und Zwang zur Ordnung haben wir als treibende Urkräfte angenommen; was treiben sie? auf welche Objekte wirken diese Kräfte? Gewöhnt sind wir daran im All Körper und Geist, eine Körper- und eine Geisteswelt zu unterscheiden. Mit den schwierigen Fragen nach der Beschaffenheit und dem Zusammenhang dieser Urelemente hat die Jurisprudenz meist nur lose Fühlung genommen, und so würde beispielsweise aus dem was von der römischen Rechtswissenschaft auf uns gekommen ist direkt, also ohne Verfolgung der oft recht versteckt liegenden Einwirkungsspuren griechischer Philosophie, hierüber nur wenig zu ersehen sein. Aber nachdem die Gesetzgebung Dinge, die zweifellos der Körperwelt nicht angehören, zu Objekten von Rechten gemacht hat, welche mit den Rechten an körperlichen Objekten Hand in Hand gehen, und nachdem in unserem bürgerlichen Gesetzbuch eine erstaunliche Konfusion des Körperlichen und Unkörperlichen mit höchst unerquicklichen Folgen zutage getreten ist, sind wir veranlaßt, den Gegenstand auch in unseren Gesichtskreis zu ziehen.

Selbstverständlich muß jede feinere Ausarbeitung den Fachleuten überlassen bleiben; wir beschränken uns auf die laienhafte, und darum auch laienverständliche Betrachtung der Oberfläche. Körper heißen wir ein Ding, das ein Stück Raumes erfüllt, ausschließlich erfüllt, sodaß in demselben Raumstück kein anderes Ding der gleichen Art Platz finden kann. Aus Erfahrung wissen wir, daß ein solches Ding im Raum beweglich ist, und wir vermuten, daß seine Bewegung die notwendige Folge anderer gleichartiger Dinge ist, und daß sie selber ebenso weiter bewegend wirken wird. Aber nicht alle Dinge sind von dieser Beschaffenheit, ohne daß wir ihnen darum die reale Existenz absprechen dürften, z. B. einem GOETHEschen Gedicht, einer Sinfonie von BEETHOVEN, WAGNERschen Oper, Erfindung EDISONs, einer wissenschaftlichen Hypothese oder Lösung eines Problems.

Die Menge der geistigen individuell bestehenden Dinge ist vielleicht nicht kleiner als die der körperlichen, beide scheinen uns unzählbar. Desgleichen werden Arten und Unterarten hier wie dort sich wohl unterscheiden, aber kaum zählen lassen. Charakteristisch für alle Nichtkörper die uns hier interessieren, die "Geistesprodukte", ist ihr Zusammenhang mit der Körperwelt, und zwar der animalischen. Woran wir denken, ist einem menschlichen Hirn entsprungen. In uns entsteht ein Gedanke oder ein Bild, gelegentlich auch im Traum, dessen Dasein wir empfinden, wahrnehmen, und also nicht bestreiten können, das aber zugleich jeder körperlichen Messung widerstrebt, im Raum absolut nicht zu lokalisieren ist. Wir nehmen an, daß es aus unserem Körper (Hirn) hervorgegangen und von uns körperlich (wodurch?) empfunden wird, als ein Etwas ist, das ohne körperlich zu sein zwischen zwei mutmaßlich körperlichen Vorgängen schwebt, und das selber verkörpert werden kann. Diesen Verkörperungen in ihrer Wirksamkeit haben wir nachzugehen.

Der Anstoß, der die ganze Entwicklung in Gang bringt, kann von außen kommen, irgendein sinnlich wahrnehmbares Ereignis, kann aber auch dem eigenen Innern, vielleicht dem Gedächtnis entnommen sein; möglich, daß er dem Denkenden oder Träumenden selbst unbekannt bleibt. An die Entstehung des unkörperlichen Dings muß sich die Wahrnehmung unmittelbar anreihen, und diese Wahrnehmung dürfte als sinnliche, mithin der Körperwelt angehörende zu gelten haben, so wenig wir übrigens die Sinne, durch welche sie sich vollzieht anzugeben, und ihre Körperlichkeit zu ermessen vermögen. Ohne die Wahrnehmung des eigenen Erzeugers bleibt das Geisteskind ein ebenso hilf- wie nutzloses Ding; demgemäß wird man den Beginn des Lebens eines wirksamen Geistesprodukts in den Augenblick dieser Wahrnehmung zu legen haben. Beiläufig, daß dieses rein innerliche nur von der Wahrnehmung begleitete Leben bald kürzer bald länger andauern kann: der Gedanke, der wie ein Blitz aufgeschossen ist, wird sogleich in das Gedächtnis vielleicht zu späterem Gebrauch verpackt; ich kann mich aber auch mit der aufgeworfenen Frage länger, oft recht lange, rein innerlich und für jeden Andern unmerkbar beschäftigen; ununterbrochen schwebt dem Künstler das Bild des Werkes das er plant vor, und sein innerliches Sinnen bringt dieses Bild im Großen wie im Kleinen der Vollendung immer näher. Soll unser Geistesprodukt in der Welt auf Andere wirken, so erfordert dies zunächst eine weitere Körperbewegung des Produzenten, die dann regelmäßig noch eines anderen Mediums, mindestens der Schallwellen, zur Erreichung ihres Zieles bedarf. Aus der großen Fülle der hieraus je nach Absicht und Umständen hervorgehenden Folgeerscheinungen interessiert uns jetzt nur die eine Gruppe der Verkörperungen. Selbstverständlich, daß wir zu unterscheiden haben zwischen dem Verkörperten (incorporatum, Geistesprodukt) dem Akt der Verkörperung (incorporatio) und dem körperlichen Etwas, in welchem hiernach das geistige Element steckt.

Wesentlich für die vollendete Verkörperung, daß aus dem körperlichen Ding infolge sinnlicher Wahrnehmung die darin steckende geistige Realität zu erkennen ist. Das Inkorporandum kann bald in weniger, bald in mehr feste Form gepreßt, der Körper, in den es versetzt worden ist, bald Mensch bald Sache sein.

Dasselbe Geistesprodukt kann aus einer Verkörperung in eine andere übergehen, hierbei größerem oder kleineren Veränderungen unterliegen. Solange noch eine Verkörperung existiert, dürfen wir dem Verkörperten Leben zuschreiben.

Alte Rhapsoden [antike Sänger - wp] haben ihre Geisteskinder zuerst im Gesang verkörpert; dieser schlug sich im Gedächnis der Hörer nieder und schuf unter ihnen neue Sänger, denen wieder neue Hörer folgten. So lebt das Gedicht fort bis der letzte Hörer, von dem keine weitere Mitteilung ausging, verstorben war; nur ausnahmsweise hat ein Stück die schriftliche Fixierung erlebt. Anders bei den Dramatikern. Aufzeichnung und Aufführungen, zu denen viele Andere mitwirken müssen, bilden die Regel; die Hörer haben meist wenig zur Erhaltung beigetragen, aber eine schriftliche Aufzeichnung führt zur andern, schließlich zur Drucklegung. Von den etwaigen zu Gesetzen verstempelten Geistesprodukten der römischen Vorzwölftafelzeit hat sich keines verkörpert bis in unsere Gegenwart erhalten können; vom Zwölftafelrecht sind einzelne Brocken in diesem Sinne lebendig bis zu uns gelangt. Von der juristischen Literatur ist weitaus das meiste verschwunden, in der justitianischen Sammlung aber, dem GAJUS usw., ist uns aber noch ein ansehnliches Stück erhalten geblieben.

Somit schreiben wir Dingen, denen die räumliche Existenz abgeht, eine zeitliche Existenz zu; und legen diese zwischen zwei Vorgänge, die sich im Raum abspielen, von der ersten Wahrnehmung bis zum Untergang der letzten Verkörperung, oder genauer gesagt desjenigen Körpers, in den die Inkorporation die geistige Realität übertragen ist, gleichviel ob dies ein menschliches Hirn oder eine Sache ist, welche die von der der Verkörperung erforderte Gestalt angenommen hat.

Während dieser ihrer Lebenszeit kann die geistige Realität allerlei Veränderungen unterliegen. Ausgehen können diese vom Urheber selber: eine weitere Ausbildung der Gedanken, Überarbeitungen, neue Ausgaben. Noch häufiger werden sich die Änderungen bei der Überlieferung einstellen: wir Juristen erinnern uns an die Umwandlung, welche alte Gesetze durch die Auslegung von der Jurekonsulten erfahren haben, an die Interpolationen im  Corpus iuris,  Umgestaltungen von römischen zu Stücken des deutschen Gemeinen, des französischen, unseres heutigen bürgerlichen und auch des japanischen Rechts, freilich oft mit einer starken Änderung der dienenden Körper.

Hieran knüpft sich die Wahrnehmung, daß unseren geistigen Realitäten auch über die angenommene Lebenszeit eine gewisse Wirksamkeit zukommen kann. Als fortlebend durften wir nur kleine Bruchstücke der zwölf Tafeln bezeichnen; aber von dem für uns verlorenen ist doch zweifellos vieles sachlich, unter einer Aufgabe der alten Form in das aus Digesten [geordnete Gesetzessammlung - wp] und Institutionen uns bekannte Recht übergegangen. Manches Dichterwort ist verklungen, das vor seinem Verlöschen die Anregung zu neuen Dichtungen gegeben hat. Und wie in der Kunst, ebenso in der Wissenschaft und Technik: daß wir manche Aufgabe besser zu lösen geschickt sind, das verdanken wir der Vorarbeit älterer Geschlechter, von denen wir herzlich wenig wissen. Noch ist auf die Wirksamkeit der geistigen Realitäten näher einzugehen. Man möchte meinen, Körperbewegung kann nur wieder auf Körper, Geist nur auf Geist wirken. Aber wie wir bereist gesehen haben ist dieser Satz nicht ausnahmslos aufrechtzuerhalten: der Gedanke schießt aus dem Körper heraus, und jede gewollte Körperbewegung ist das Resultat eines geistigen Vorgangs. Doch abgesehen von den Ausnahmen, von denen unser wirkliches Wissen ein minimales ist, steckt in dem Satz ein gutes Stück Wahrheit, namentlich für die Wirksamkeit des Geistes. Geistige Realitäten wirken nur auf gleichfalls geistbegabte Wesen, die meisten nur auf Menschen, einzelne wohl auch auf die Klassen der Tiere, bei denen etwas dem menschlichen Geist Verwandtes angenommen werden kann. Wie nur das verkörperte Geistesprodukt nach außen wirken kann, so sind allemal zwei Arten von Folgen seines Wirkens zu unterscheiden: die körperlichen, irgendeinen Sinnenreiz hervorrufenden, und zweitens, an jene sich anschließend, geistige. Die körperlichen dürften bei allen Betroffenen im wesentlichen gleich sein; die geistigen setzen allgemein eine gewisse Kongenialität voraus, und gehen nach der geistigen Beschaffenheit des Passivums weit auseinander. Verse, wie ARNDTs
    Der Gott, der Eisen wachsen ließ,
    Der wollte keine Knechte
vermögen ihren Zauber nur auf gleichgestimmte Seelen auszuüben; und viele werden die "Braut von Korinth" einem Kirchenlied, andere das Kirchenlied der "Braut" vorziehen. Unwillkürlich erinnern wir uns hierbei an die entsprechende physikalische Erscheinung, zunächst bei den Schallwellen, wo auch der Ton nur unter gleichgestimmten Gabeln, Saiten usw. fortläuft. Und vielleicht hat auch der Dichter recht, wenn er singt:
    Wär nicht das Auge sonnenhaft,
    Die Sonne könnt es nicht erschauen.
Verwandt auch wohl der aus äußeren Gründen nicht zu erklärende gewaltige Einfluß, den hervorragende Männer jedes Berufes auf die homogenen Naturen in ihrer Umgebung ausüben.

Schließlich noch eine Erscheinung, die allbekannt und anscheinend nicht besonders schwer zu erklären ist. Die Verkörperung kann, wie wir gesehen haben, durch verschiedene Medien hindurchgehen, in manchen Fällen, wie bei Aufführungen, muß sie dies. Daher wird, wer die Einwirkung einer geistigen Realität auf sich selber als lebendige empfindet, doch den Urheber häufig nicht sehen, nicht sehen können wenn dieser bereits verstorben ist, häufig gar nicht kennen, und auch kein Bedürfnis fühlen ihn kennenzulernen. Produkt und Produzent fallen hier völlig auseinander, und als das Wirkende steht uns im Augenblick nur das Produkt gegenüber. Nicht SHAKESPEARE und MOZART, nein LEAR und HAMLET, DON JUAN und  Hochzeit  sind es, die in uns Leid und Lust erregen, nicht die Dezemvirn [Rat der zehn Männer - wp], sondern die  lex duodecim tabularum  [Zwölftafelgesetzt - wp] fordert Gehorsam vom Römer, das Testament ordnet die Verteilung des Nachlasses unter den Erben.

Der innere Vorgang, der dazu führt den Ursprung der geistigen Realität vom Produzenten in das Produkt zu verlegen, hat noch keinen festen namen; Fiktion paßt nicht. SHAKESPEARE, MOZART, ebenso wie die  Dezemvirn  stehen nicht vor uns, es ist wahr, daß sie augenblicklich nichts denken, wollen, sagen, die Energie, die tatsächlich (nicht fiktiv) auf uns wirkt, ist die ihrer Geistesprodukte, und deren Verkörperungen (corpus in quod) stehen uns sinnlich greifbar gegenüber. Auch darf man nicht meinen, daß die wirksamen Verkörperungen immer noch eines menschlichen Tuns (Aufführungen) bedürfen, um uns zu ergreifen: mancher ist noch nie aus der Darstellung des FAUST oder eines SHAKESPEARschen Stückes voll befriedigt herausgegangen, den das, was er in einem abgegriffenen Buch gelesen hat, weit mehr gepackt hatte. Also ist wirklich geistige Energie mit Druckerschwärze an das Lumpenpapier gebunden?

Manche Zweifel mögen bleiben, immerhin wird daran festzuhalten sein: es gibt geistige Realitäten, welche auf die Körperwelt zu wirken vermögen, obgleich sie selber unkörperlich sind, die aber doch zu dieser Wirksamkeit einer eigenen Verkörperung bedürfen. Ausgegangen vom Menschen wirkt das genügend verkörperte Geistesprodukt selbständig, unabhängig vom Tun und Leiden seines Urhebers. Es bedarf der Verkörperung, und sein Korpus ist dasjenige, was von den Anderen, auf welche sich die Wirkung richtet, sinnlich wahrgenommen wird; ohne diese sinnliche Wahrnehmung keine Wirkung. Gleichwohl ist das in Wahrheit wirkende nicht das sinnlich wahrgenommene Etwas, sondern erst das aus diesem zu erschließende Geistesding: "scire leges non est verba earum tenere, sed vim ac potestam" [Die Gesetze zu kennen heißt nicht, sich an ihren Wortlaut zu halten, sondern an ihren Sinn und Zweck. - wp].

Geistige Realitäten dieser Art sind einmal die nutzbaren Produkte der geistigen Tätigkeit, welche durch die Gruppe unserer Urheberrechte geschützt werden. Geistige Realitäten sind ebenfalls die Gesetze. Die einzelnen subjektiven Rechte, die aus diesen fließen, sind zweifellos ebenso geistiger Natur, wie die sie erzeugenden Rechtssätze. Ob wir sie auch geistige Realitäten zu heißen haben, kann zweifelhaft erscheinen, es fehlt meist etwas an der Verkörperung. Am meisten Anspruch auf den Namen haben sicherlich die an Papiere, umlaufende Scheine oder festliegende Bücher gebundenen.
LITERATUR Ernst Immanuel Bekker, Was sind geistige Realitäten?, Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, Bd. 1, Berlin 1907/1908