p-4p-4ra-2R. GoldscheidA. BolligerA. PfänderJ. BahnsenS. Werner    
 
ALEXANDER PFÄNDER
Motive und Motivation

"Es gibt ein Streben, etwas zu empfinden oder sinnlich wahrzunehmen, etwas zu beachten oder zu apperzipieren, etwas vorzustellen, etwas zu erkennen, zu erfahren, zu wissen, zu glauben, zu behaupten, zu folgern, zu begründen, zu beweisen, zu erklären; es gibt ebenso ein Streben, in bestimmte Stimmungen zu geraten, sie anwachsen, herabmindern oder andauern zu lassen. Ähnliche Strebungen richten sich auf das analoge bei Gefühlen aller Art und bei Gesinnungen."


Einleitung

Mit dem Wort Motiv, das in der Psychologie und in der Ethik eine so wichtige Rolle spielt, werden unbemerkt sehr verschiedene Bedeutungen verbunden. Man hat die Tatsachen, auf die man abzielt, nur aus der Ferne nach ihrer allgemeinen Ähnlichkeit erfaßt, ihre wesentlichen Unterschiede aber, die sich bei näherer Betrachtung deutlich herausstellen, völlig übersehen. Die Folge ist eine gedankliche Verwechslung und Vermischung und eine gleichnamige sprachliche Bezeichnung sehr verschiedener Gegenstände. Und dadurch ist dann in die Erörterung mancher Streitfragen, z. B. der Frage nach der Willensfreiheit und der Frage, ob nur das durch "Pficht", oder auch das durch "Neigung" bestimmte Handeln sittlich sein kann, eine fast unheilbar erscheinende Verwirrung gebracht worden, die jeden neuen Bearbeiter dieser Fragen umgarnt und vollständig zu ersticken droht.

Im Folgenden soll nun durch eine möglichst genaue Erfassung der Tatsachen und ihres Wesens dargelegt werden, daß der Willensgrund ebenso streng, wie etwa der Erkenntnisgrund, von der Ursache zu scheiden ist, daß die Begründung des Wollens etwas völlig anderes ist, als die Verursachung des Wollens, und daß man daher beides gedanklich wohl auseinander halten muß. Es ist aber zweckmäßig, das Wort Motiv ausschließlich für jenen Willensgrund zu reservieren, und für alles andere, was nicht Willensgrund ist, sondern in irgendeiner anderen Beziehung zum Wollen steht, auch andere Wörter zu gebrauchen. Welche außerordentliche Tragweite die Klärung in diesem Punkt für die Psychologie und die Ethik haben kann, soll jedoch hier nicht nachgewiesen werden. Daß sich außerdem durch die gewonnenen Erkenntnisse ein Ausblick auf eine neue Wissenschaft, nämlich auf eine der Logik analoge Lehre von den Voluntarien und ihrer zureichenden Begründung eröffnet, soll am Schluß nur kurz angedeutet werden. Nebenbei sei erwähnt, daß diese Darlegungen eine Fortführung und eine teilweise Korrektur dessen enthalten, was meine "Phänomenologie des Wollens" (1900) zu diesem Thema beigebracht hat.

Ich verdanke den eingehenden "Untersuchungen über den Begriff des Verbrechensmotivs" von ANDREAS THOMSEN (1902) manche Anregung und den Anstoß zu einer erneuten Durchforschung der Willensmotivation. Meine jetzigen Ergebnisse stimmen nicht mit den seinigen überein. Leider gestattet es aber der beschränkte Raum nicht, daß ich auf seine Untersuchungen, so wie sie es verdienen, hier Bezug nehme.

Einen Vorblick auf den Hauptgang der Darlegungen gibt folgende Überlegung.

Das Tatsachengebiet, dem man sich zuwenden muß, um über die Motive als Willensgründe die gewünschte Aufklärung zu erhalten, ist das Gebiet des Wollens. Auf diesem Gebiet lassen sich nun alle die Vorgänge, die im rein innere Willensakt, dem Akt der willentlichen Vorsetzung münden, unterscheiden von denjenigen, die zur willentlichen Ausführung des Gewollten gehören und die hier in ihrer Gesamtheit speziell als Willenshandlung bezeichnet werden sollen. Diese Unterscheidung zwischen Willensakt und Willenshandlung ist möglich auch in denjenigen Fällen, in denen auf den Willensakt ohne Zögern unmittelbar die Willenshandlung folgt. Die in der Willenshandlung auftretenden Willensimpulse sind zwar in gewissem Sinne auch Willensakte, aber sie sind doch verschieden vom Akt der willentlichen Vorsetzung, dem sie zugleich untergeordnet sind: auf den Fest- und durchgehaltenen Vorsatz hinzielend und darauf gestützt führt das Ich sukzessiv die Willensimpulse aus.

Gründe gibt es nun sowohl für den Willensakt, als auch für die Willensimpulse und die Willenshandlung. Im Folgenden soll jedoch die Untersuchung beschränkt werden auf die Gründe des Willensaktes. Die Frage, ob ein Willensakt, als ein wirkliches Wollen, ohne eine unmittelbar oder überhaupt darauf folgende Willenshandlung stattfinden kann, ist zwar zu bejahen, wie in der psychologischen Literatur genügend nachgewiesen ist. In einem Fall, wo die Willenshandlung nicht folgt, den Willensakt ein bloßes Wünschen zu nennen, ist weder sachlich noch sprachlich gerechtfertigt, da das Wünschen sich vom Wollen nicht wesentlich durch das Fehlen der unmittelbar darauf folgenden Handlung, sondern durch ganz andere Momente unterscheidet. Doch wie es sich auch damit verhalten mag: auf jeden Fall kan und muß man den Willensakt und seine Begründung zunächst für sich behandeln. Die Ergebnisse, die hierbei gewonnen werden, machen es dann leicht, die entsprechenden Fragen nach der Begründung der Willenshandlung und der Willensimpulse ebenfalls der Lösung entgegen zu führen, während umgekehrt, wenn man versucht, diese letzteren Fragen zuerst zu behandeln, man notwendig auf die Frage nach der Begrüundung des Willensaktes zurückgeführt wird.

Das Wesen der Willensgründe kann nun nicht geklärt werden, ohne daß vorher das Eigenartige des Willensaktes selbst erkannt und festgehalten wird. Um dies zu erreichen, führt die Untersuchung zunächst in die psychischen Tatbestände des Strebens hinein, gegen die dann der Willensakt abgehoben und in seiner Eigenart charakterisiert wird. Hierauf werden die Beziehungen des Willensaktes zu dem, was ihm in verschiedenem Sinne "vorausgeht", aufgesucht, aus ihnen die spezifische Motivationsbeziehung herausgelöst und ihrem Wesen nach bestimmt.


I. Das Gebiet der Strebungen
1. Allgemeine Analyse des Tatbestandes des Strebens.

Bestimmte Gegenstände oder Sachverhalte oder Geschehnisse, die von einem menschlichen Individuum empfunden, bzw. wahrgenommen, erinnert, vorgestellt oder bloß gedacht werden, erwecken in ihm bestimmte Strebungen oder Widerstrebungen. Diese Strebungen sind durchaus nicht immer, sondern nur äußerst selten auf oder gegen das Erleben von Lust- oder Unlustgefühlen gerichtet. Es gibt ein Streben, etwas zu empfinden oder sinnlich wahrzunehmen, etwas zu beachten oder zu apperzipieren, etwas vorzustellen, etwas zu erkennen, zu erfahren, zu wissen, zu glauben, zu behaupten, zu folgern, zu begründen, zu beweisen, zu erklären; es gibt ebenso ein Streben, in bestimtme Stimmungen zu geraten, sie anwachsen, herabmindern oder andauern zu lassen. Ähnliche Strebungen richten sich auf das analoge bei Gefühlen aller Art und bei Gesinnungen. Und endlich kann sich das Streben auch auf die Verwirklichung oder Nichtverwirklichung von äußeren Gegenständen, Sachverhalten und Geschehnissen richten.

In einem gegebenen Fall soll nun ein Gegenstand bewußt sein, der auf ihn selbst bezügliches Streben erregt; eine Orange wird wahrgenommen und erregt das Streben, sie zu essen. Dann liegt als erkennbarer Tatbestand zunächst ein bestimmtes Gegenstandsbewußtsein vor. Dieses enthält jedenfalls ein bestimmtes Gegenüber, in welchem einem Ich als Subjekt ein Gegenstand als Objekt zunächst nur einfach bewußt gegenübersteht. Von einem Ich als Zentrum können dann aber verschiedene zentrifugale "Bewegungen" zum gegenüberstehenden Gegenstand gehen. Unter diesen zentrifugalen "Bewegungen" ist das Aufmerken, bildlich gesprochen: das zentrifugale Hinstrahlen des Bewußtseinslichtes, verschieden vom Apperzipieren, d. h. vom geistigen Hingreifen, Ergreifen, Herausgreifen, Abheben, Trennen und Zusammennehmen. Un zu beidem tritt, ebenfalls zentrifugal gerichtet, aber von beidem verschieden, unter Umständen das fragende und meinende Hinzielen, und dazu schließlich das Behaupten, gedankenbildende geistige Hinaussetzen und Absetzen hinzu.

Erregt nun der Gegenstand, dem das Ich im Gegenstandsbewußtsei irgendwie zentrifugal zugewandt ist, im Ich ein Streben, so wird dieses Erregen erlebt als ein zentripetales, vom bewußt gegenüberstehenden Gegenstand herkommendes, in seinem Verlauf dunkles und erst im Ich an einer bestimmten Stelle aufleuchtendes Entzünden eines treibenden Strebens. Oder aber der ganze Tatbestand hat mehr den Charakter einer Anziehung (bzw. Abstoßung), die vom Gegenstand ausgeht, zum Ich zentripetal hingeht, hiher an einer bestimmten Stelle angreift und zentrifugal zurückgehet.

Außer dem zentrifugalen Gegenstandsbewußtsein und dem zentripetalen Erregen ist aber im Tatbestand des Strebens eben das Streben als eine neue und andersartige zentrifugale Zielung oder "Bewegung" vorhanden. Das Streben hat immer zentrifugale Richtung; es ist aber ansich blind, es ist nicht selbst ein Bewußtsein von einem bestimmten Ziel und enthält auch nicht notwendig ein solches Bewußtsein in sich. Für jedes Streben dagegen ist konstituierend eine ihm innere, gegensätzliche Dualität, d. h. in ihm ist eine zentrifugale Strömung mit einer ihr entgegengerichteten inneren Hemmung zu einer ursprünglichen Einheit von bestimmtem Spannungscharakter vereinigt (vgl. LIPPS, Leitfaden der Psychologie, dritte Auflage, Seite 260).

Außer dieser konstituierenden Dualität zeigt das Streben noch eine es spezifizierende Dualität, d. h. es ist entweder ein Hinstreben nach etwas, oder ein Widerstreben gegen etwas. Im Hinstreben geht jene das Streben konstituierende Strömung auf Verringerung der ideellen Distanz zwischen Ich und Gegenstand, im Widerstreben dagegen geht sie auf eine Vergrößerung dieser Distanz. Und die das Streben mitkonstituierende Hemmung ist beim Hinstreben gegen die Verringerung, bei Widerstreben gegen die Vergrößerung der Distanz gerichtet.

Im Gesamtbestand des Strebens stehen nun jene drei, zwischen Ich und Gegenstand hin- und herlaufenden Zielungen der "Bewegungen" in bestimmten Beziehungen zueinander. Das zentrifugale Gegenstandsbewußtsein stellt den Kontakt zwischen Gegenstand und Ich her, der dann dem Gegenstand ermöglicht, das Ich direkt anzugreifen und in ihm ein Streben zu erregen. Ist der Kontakt hergestellt, so ist das Entstehen des Strebens im Ich in ohne Zutun des Ich stattfindendes Geschehen, das durch den gegenüberstehenden Gegenstand phänomenal bewirkt oder auch bloß erregt wird. An die zentrifugale Richtung des Gegenstandsbewußtseins setzt sich also im Gegenstand als Knickpunkt die zentripetale Richtung der Erregung an, die dann im Ich als Knickpunkt ein zentrifugales Streben hervorsprießen läßt. Ändert sich der Inhalt oder auch die Art des Gegenstandsbewußtseins, so werden die im Ich erregten oder bewirkten Strebungen immer andere und andere.


2. Phänomenale Quelle, phänomenale Ursache
und reale Ursache des Strebens.

Bei diesen Strebungen muß man unterscheiden: die phänomenale Quelle des Strebens, die phänomenale Ursache des Strebens und die reale Ursache des Strebens. Erregt z. B. ein gehörtes Geräusch das Streben, an eine bestimmte Stelle des umgebenen Raumes hinzublicken, so ist die phänomenale Quelle dieses Strebens das Ich oder eine bestimmte Gefühlszuständlichkeit des Ich: ein Gefühl des Mangels, der Unzulänglichkeit oder der Unlust. Die phänomenale Ursache dieses Strebens dagegen ist das gehörte Geräusch, von dem dieses Streben erregt wird. Und die reale Ursache dieses Strebens ist ein umfangreicher Komplex von psychophysischen Bedingungen, die in einem psychophysischen Individuum und seiner augenblicklichen physischen Umgebung liegen. Weder die Quelle, noch die phänomenale, noch die reale Ursache, noch auch ein Element der realen Ursache des Strebens sind als solche schon das, was später Motive genannt werden soll. Selbst dann, wenn die phänomenale Quelle des Strebens wieder ein anderes Streben ist, kann diese Beziehung es erlebten Hervorgehens es einen Strebens aus einem anderen Streben nicht als eine Motivationsbeziehung in dem später festzulegenden Sinn betrachtet werden.


3. Exzentrische und zentrale Strebungen

Die im Ich entstehenden Strebungen und Widerstrebungen haben in diesem Ich doch nicht die gleiche Lage. Dieses Ich besitzt nämlich eine eigenartige Struktur: das eigentliche Ich-Zentrum oder der Ich-Kern ist umgeben vom Ich-Leib. Und die Strebungen können nun zwar im Ich, aber außerhalb des Ich-Zentrums im Ich-Leib entstehen, also in diesem Sinne als exzentrische Strebungen erlebt werden. Beim erwachsenen Menschen haben wohl die meisten Strebungen und Widerstrebungen zunächst diese exzentrische Lage, deren Exzentrizität übrigens eine verschiedene Größe haben kann.

Diese exzentrischen Strebungen haben nun, wie alle Strebungen, für sich eine zentrifugale, vom Ich weggehende Richtung. Zugleich aber haben sie die Tendenz, aus ihrer exzentrischen Lage in die zentrale überzugehen oder das Ich-Zentrum zu ergreifen und in sich hineinzuziehen. Diese Tendenz kann dann mehr oder weniger schnell zum Ziel führen, d. h. das Ich-Zentrum kann willenlos mehr oder weniger schnell jetzt von dieser, dann von jener exzentrisch auftauchenden Strebung ergriffen und festgehalten werden. Schließlich kann das Ich-Zentrum auch von vornherein willenlos-naiv in den entstehenden Strebungen darin sein, es können also die Strebungen in diesem Sinn oringinär-zentral sein. In allen diesen möglichen Fällen ist noch jedes eigentliche Wollen, von dem erst später die Rede sein soll, ausgeschlossen. Das erlebte Verhalten der exzentrischen Strebungen zum Ich-Zentrum ist ein phänomenales Wirken, nicht etwa schon ein Motivieren. Das Hineingezogenwerden des Ich-Zentrums in die Strebungen ist ansich kein Willensakt, das usurpatorisch [widerrechtlich in Besitz nehmen - wp]-zentrale Streben ist also noch kein Wollen. Und das oben genannte originär-zentrale Streben ist wohl zu unterscheiden von einem willentlichen Streben, das in einem ganz anderen Sinn originär-zentral ist.

Die Betrachtung des Ich Zentrums, von dem aus hier gesprochen ist, ergibt, daß es in keiner Weise selbst identisch ist mit den jeweilig "stärksten" oder mit den "dauernden, konstanten" Strebungen, ja, daß diese, hier und da behauptete Identität unmöglich ist. Denn das Ich ist immer das Subjekt der Strebungen, niemals die Strebung selbst und erst recht nicht eine Summe von Strebungen.


4. Mehrheit gleichzeitiger Strebungen.

Tritt eine Mehrheit einander widerstreitender Strebungen im Ich gleichzeitig auf, und "siegt" nach längerer oder kürzerer Zeit eine der Strebungen über die widerstreitenden anderen, d. h. ist die "siegende" nicht nur die Stärkere, sondern ergreift allein sie das Ich-Zentrum, zieht dieses in sich hinein und führt als usurpatorisch-zentrales Streben zur Verwirklichung des Erstrebten - führt z. B. das durch ein Geräusch erregte Streben, an eine bestimmte Stelle des umgebenden Raumes hinzublicken, trotz des Widerstrebens gegen die erwarteten Augenschmerzen, zum Hinblicken selbst - so ist dies alles ansich noch keinerlei Wollen, kann also prinzipiell auch bei einem Menschen ohne jeden eigentlichen Willensakt stattfinden. Hinsichtlich der "siegenden" Strebung kann man dann freilich nach ihrer phänomenalen Quelle, nach ihrer phänomenalen und ihrer realen Ursache und auch nach der Ursache ihres Sieges fragen. Aber eben as, was später als Motiv bezeichnet werden soll, nämlich der Willensgrun, ist von all dem verschieden und hier noch gar nicht vorhanden. "Siegt" das Streben im Kampf um das Ich-Zentrum über die ihm widerstreitenden anderen Strebungen (also etwa über jenes Widerstreben gegen die Augenschmerzen), so ist dieser Prozeß wesentlich verschieden von dem Prozeß, in welchem sich das Ich durch ein Motiv zu einem bestimmten Wollen bestimmen läßt. In jenem Fall ist das Ich-Zentrum einfach der Zankapfel, der, wenn auch vielleicht zuschauend, so doch willenlos die Beute des Stärkeren wird. Im zweiten Fall dagegen tritt eben jenes fehlende Wollen als etwas völlig Neues dazwischen und steht sowohl zu seinem Motiv, als auch zu dem ihm folgenden Verhalten des Ich in phänomenologisch völlig andersartigen Beziehungen, als diejenigen sind, in denen das Ich-Zentrum zu jener stärkeren Strebung und ihrem "Sieg" steht.

Indem wir das eigentümliche Getriebe des Strebelebens, das bisher kurz beschrieben wurde, im Auge behalten, wenden wir uns nun dem Willensakt zu.


II. Das Wesen des Willensaktes

Der Willensakt ist gegenüber allen bloßen Strebungen und Widerstrebungen, gegenüber dem "Siegen der stärksten Strebung" und ihrem Usurpieren des Ich etwas völlig Neues. Er soll hier zunächst von anderen Tatbeständen unterschieden und dann seiner Eigenart nach charakterisiert werden. Mit seiner Eigenart hängt die Möglichkeit einer besonders gearteten Beziehung zusammen, in der er zu bestimmten bewußten Tatbeständen stehen kann, eine Beziehung, die allein als Motivationsbeziehung zu bezeichnen ist.


1. Unterscheidung des Willensaktes von
anderen Tatsachen

Der Willensakt ist zunächst, ebenso wie das Streben, verschieden vom bloßen Gegenstandsbewußtsein, vom Aufmerken, vom Apperzipieren, vom fragenden und vom vermeinenden Hinzielen. Er ist also kein bloßer Akt der Aufmerksamkeit, kein bloßer Akt der Apperzeption und keine bloße Voraussicht einer psychischen Wirkung. Denn all das kann gegebenenfalls vorhanden sein, ohne daß irgendein Willensakt vollzogen wird.

Der Willensakt ist aber auch vom Streben verschieden. Vom exzentrischen Streben ist er dadurch verschieden, daß er immer zentral ist, d. h. vom Ich-Zentrum selbst vollzogen wird. Vom oben genannten originär-zentralen Streben unterscheidet er sich außerdem dadurch, daß in ihm das Ich-Zentrum nicht nur Subjekt und Ausgangspunkt, sondern der originäre Vollzieher des Aktes ist. Der Willensakt stellt sich phänomenal eben nicht als ein von einer anderen Seite her verursachtes Geschehen, sondern als ein ursprünglicher Akt des Ich-Zentrum selbst dar.

Stimmt der Willensakt auch mit dem Streben insofern überein, als er eine zentrifugale Richtung hat, so ist der doch ganz im Gegensatz zum Streben nicht ansich blind, sondern enthält in seinem Wesen ein Bewußtsein vom Gewollten. Der Vollzug es Willensaktes freilich ist ein strebendes Tun, in welchem die in der konstituierenden Dualität enthaltene zentrifugale Strömung die innere Hemmung aus sich heraus überwindet. Dieser Vollzug kann daher mehr oder weniger schwierig sein. Was aber hier in diesem Vollzug getan wird, das unterscheidet sich wesentlich von allem, was sonst in einem strebenden Tun getran werden kann: es wird nämlich meinend ein praktischer Vorsatz gesetzt.

Nun zeigt der Willensakt auch eine ihn spezifizierende Dualität, d. h. er ist entweder positiv oder negativ, entweder eine praktische Bejahung oder eine praktisch Verneinung. Diese Dualität korrespondiert gewiß der Dualität des Hinstrebens und Widerstrebens, aber sie ist doch auch von ihr wesentlich verschieden. Sie ist keine Dualität blinder Reaktionen, sondern eine Dualität sehender Akte.

Vergleicht man also den Willensakt mit den Strebungen, so rückt er von ihnen ab in die Sphäre der geistigen Akte. Andererseits aber ist er nun doch auch von den rein theoretischen Akten verschieden. Der Willensakt ist nämlich nicht etwa selbst ein Urteilsakt darüber, daß etwas ist oder nicht ist, kein Urteilsakt darüber, daß etwas wertvoll ist oder nicht und auch kein Urteilsakt darüber, daß etwas sein soll bzw. nicht sein soll. Der Willensakt ist, kurz gesagt, weder ein positiver noch ein negativer Urteilsakt über Sein, Wert und Sollen. Er mag solche Urteile implizieren. Aber keiner dieser Urteilsakte ist für sich schon ein Urteilsakt. In den Urteilsakten wird etwas behauptet oder erkannt, in den Willensakten dagegen wird etwas gewollt. Demnach ist der Willensakt auch keine bloße theoretische Bejahung oder Verneinung. Ebensowenig ist eine theoretische Zustimmung ansich schon ein Willensakt. Das Vollziehen von Seins-, Wert- und Sollensurteilen ist gewiß unter Umständen selbst eine Willenshandlung, aber deshalb sind diese Urteile selbst keine Willensakte. Die Urteile als theoretische Sätze sind keine praktischen Vorsätze.


2. Charakteristik des Willensaktes

Der Willensakt ist nach dem oben Gesagten jener eigentümliche, rein innere Akt, der der Willenshandlung vorhergeht und unter Umständen den Anfang einer Willenshandlung bildet. Er kommt sprachlich zum Ausdruck in Sätzen von der Form: "Ich will P" und "Ich will nicht P". Freilich kann man diese Sätze auch in einem anderen Sinn auffassen, nämlich im Sinne von Urteilen über das Ich und sein Wollen. Sie wären dann nur ein Spezialfall der allgemeineren Sätze: "S will P" und "S will nicht P" und sie wären so der Ausdruck von theoretischen Urteilen, nur eben mit einem besonders gearteten Sachverhalt. In Wahrheit aber haben jene Sätze einen anderen Sinn: sie sind der Ausdruck von Vorsätzen oder "Voluntarien"; statt der Behauptunskopula der theoretischen Urteils haben wir hier die Willenskopula der praktischen Vorsetzungsakte. Während die Behauptungskopula dem entworfenen Sachverhalt ein Setzungsgepräge gibt, erteilt die Willenskopula em entworfenen Sachverhalt ein Vorsetzungsgepräge.

Im Vollzug des Willensaktes setzt sich das Ich selbst ein bestimmtes eigenes Verhalten vor, nämlich etwas zu tun oder etwas nicht zu tun. Das vorgesetzte Selbstverhalten soll hier das Projekt genannt werden. Dann gehört zum Vollzug des Willensaktes zunächst die auf ein bestimmtes zukünftiges Verhalten des eigenen Ich zielene Willensmeinung oder das Projektbewußtsein. Das gemeinte Selbstverhalten ist dann aus irgendeinem Grund fürwertgehalten, es ist also eine Werthaltung dessen vorhanden, worauf die Willensmeinung zielt. Zuweilen tritt noch ein Sollensbewußtsein hinzu, d. h. die Meinung oder die Erkenntnis, das gedachte Selbstverhalten soll sein. Dieses Sollen mag dann anerkannt und das projektierte Verhalten mag gebilligt werden, und beides in Akten der Anerkennung und Billigung, die beide keine Verstandesurteile sind, geschehen, - solange nur die bis jetzt genannten Momente vorhanden sind, fehlt noch das Wesentliche und Entscheidende, um den ganzen Tatbestand zum Vollzug eines Willensaktes zu machen. Es fehlt nämlich noch die eigentümliche praktische Vorsetzung. Diese Vorsetzung geht vom Ich-Zentrum aus, aber nicht als ein Geschehen, sondern als ein eigentümliches Tun, in dem das Ich-Zentrum aus sich selbst hinaus zentrifugal einen geistigen Schlag ausführt. Dieser Schlag tut mehr als bloß billigen. Mit ihm wird das gemeinte Selbstverhalten vorgesetzt, jedoch nicht wirklich ausgeführt.

Der Willensakt bezieht sich auf das eigene Ich. Soll er nicht einer jener Scheinwillensakte sein, die sich auf ein losgelöstes Phantasie-Ich beziehen, soll er ein echter Willensakt sein, so muß das eigene Ich nicht bloß gedacht, sondern unmittelbar selbst erfaßt und zum Subjektgegenstand der praktischen Vorsetzung gemacht werden. Zum Wollen, nicht aber zum Streben, gehört also das unmittelbare Selbstbewußtsein.

Der Willensakt ist also ein mit einer bestimmten Willensmeinung erfüllter praktischer Vorsetzungsakt, der vom Ich-Zentrum ausgeht und, bis zum Ich selbst vordringend, dieses selbst zu einem bestimmten zukünftigen Verhalten bestimmt. Er ist ein Selbstbestimmungsakt, in dem Sinne, daß das Ich sowohl das Subjekt als auch das Objekt des Aktes ist.

Nun ist der Willensakt entweder ein positiver oder ein negativer, d. h. es wird in ihm das eigene Ich als Subjektgegenstand mit einem gemeinten selbsteigenen, zukünftigen Tun entweder willentlich in-Eins-gesetzt, oder willentlich außer-Eins-gesetzt. In beiden Fällen hat die Willenskopula, ähnlich der Behauptungskopula bei Urteilen, eine Doppelfunktion, nämlich die Funktion der In-Eins-Setzung (bzw. der Außer-Eins-Setzung) und die Funktion der Wollung, von denen die zweite der ersteren in einer Verschmelzung übergelegt ist.

Die praktische Voraussetzung kann nun, wie beim Wünschen, eine problematische, oder wie bei hypothetischen Wollen eine hypothetische sein. Beim eigentlichen Wollen ist sie dagegen eine wirkliche und unbedingte Willenssetzung.

Lösen wir aus dem Vollzug des Willensaktes vergedanklichend die Willensmeinung mit der Vorsetzungsfunktion vereinigt heraus, so erhalten wir den gefaßten Vorsatz oder das "Voluntarium". Durch den Vollzug eines echten Willensaktes ist das Ich mit einem bestimmten Vorsatz geladen. Der Willensakt ist insofern also auch ein Selbstladeakt, das Ich lädt sich selbst mit einem Vorsatz. Die so selbstgeschaffene Geladenheit kann dann entweder durch neu hinzutretende Willensimpulse zu ihrer Entladung gebracht werden, oder sie kann unentladen aktuell fortdauern oder auch virtuell verharren, bis sie später entweer ihre erfüllende Entladung findet, oder sich unentladen verflüchtigt, oder aber willentlich wieder aufgehoben wird.


3. Der Wahlakts

Der Wahlakt ist ein besonderer Fall des Willensaktes. Er ist weder einfach ein Streben, noch der "Sieg" eines Strebens. Statt eines Projektes stehen bei ihm mehrere, einander ausschließende Projekte vor Augen. Nach einer länger oder kürzer dauernden Überlegung hinsichtlich der objektiven und der subjektiven Möglichkeit, des Wertes und des Sollens dieser verschiedenen Projekte, und nach einer eventuellen Wert- und Sollensabwägung der Projekte gegeneinander, kann dann der Wahlakt eintreten. Er trifft eins dieser Projekte und besteht ebenfalls in einem Akt der positiven praktischen Vorsetzung, in welchem das Ich sich selbst die Ausführung des einen Projekts vorsetzt; zugleich ist damit explizit oder implizit eine Mehrheit negativer praktischer Vorsetzungen in Bezug auf die anderen Projekte verbunden. Der Unterschied zwischen einem einfach Willensakt und Wahlakt hat mit der Anzahl der vorhandenen Motive gar nichts zu tun. Auch ein einfacher Willensakt ohne irgendeine Wahl kann mehrere Motive haben.

Da der Wahlakt ebenfalls ein Akt der praktischen Vorsetzung ist, so bedarf er nicht neben dem einfachen Willensakt der gesonderten Berücksichtigung, wenn die Natur der Motivationsbeziehung in Frage steht.

Ist der Wahlakt wirklich ein Willensakt, dann darf man nicht schon die bloße Erkenntnis oder die Einsicht, daß das eine Projekt die anderen Projekte an Wert überragt oder daß es den anderen vorzuziehen ist, einen Wahlakt nennen. Ebensowenig ist schon die Anerkennung der Vorzüge und die Billigung des einen Projekts selbst ein Wahlakt.


III. Die Verhältnisse des Willensaktes zu dem,
was ihm "vorangeht".


1. Das Verhältnis des Willensaktes
zu den Strebungen.

Ehe der Willensakt vollzogen wird und noch während seines Vollzuges können in demselben Seelenleben eine oder mehrere Strebungen vorhanden sein, die sich auf oder gegen die Ausführung des gemeinten Projektes richten. Es ist aus dem vorausgehenden ersichtlich, daß keine dieser Strebungen, auch nicht diejenige, die über die widerstreitenden Strebungen den "Sieg" davonträgt, mit dem Willensakt selbst identisch sein kann. Die Verschiedenheit des Willensaktes von den Strebungen zeigt sich auch ferner in Folgendem:

Ein positiver Willensakt kann sich auf ein Projekt richten, gegen dessen Ausführung das Ich bis zuletzt ein Widerstreben in sich verspürt. Es gibt Fälle, in denen das Ich sich mit einem heftigen Widerstreben und trotz dieses Widerstrebens für etwas entscheidet. In solchen Fällen läßt sich in keiner Weise ein das heftige Widerstreben an Stärke überragendes und es besiegendes Hinstreben konstatieren. Jedenfalls liegt ein vom genannten verschiedener Tatbestand vor, wenn der Willensakt in Übereinstimmung mit einem Hinstreben, das stärker ist als ein auch vorhandenes Widerstreben, vollzogen wird. Im letzteren Fall weist die Gesamtlage des Strebens trotz des vorhandenen Widerstrebens ja schon von selbst in die Richtung, die der Willensakt dann ebenfalls einschlägt.

Es kann zweitens ein negativer Willensakt hinsichtlich eines Projekts vollzogen werden, auf dessen Ausführung das gegenwärtige positive Streben oder eine positive Strebungsresultate gerichtet ist. Trotz heftigen Hinstrebens entschließt sich das Ich gegen die Ausführung des Projekts. Auch in diesem Fall darf das Nicht-Wollen nicht mit einem Widerstreben verwechselt werden.

Schließlich gibt es nach meiner und auch anderer Menschen Erfahrung Willensakte, bei deren Vollzug weder ein Hinstreben noch Widerstrebungen gegen die betreffenden Projekte zu entdecken sind. Es sind vor allem die Fälle, in denen man nach völlig ruhiger und vernünftiger Überlegung und Einsicht sich gemäß dieser Einsicht für oder gegen etwas entschließt. Ich muß es als ein Vorurteil zugunsten einer falschen Willenstheorie betrachten, wenn behauptet wird, die Strebungen, die man hier in keiner Weise auffinden kann, seien trotzdem vorhanden, und in ihrem "Sieg" besteht der Willensentscheid.


3. Der Einfluß der Strebungen auf den
Vollzug des Willensaktes

Es ist jedoch zweifellos, daß die im gegebenen Moment in einem Ich vorhandenen Strebungen in größerem oder geringerem Maß das Ich bei seinem Vollzug von Willensakten beeinflussen können und in vielen Fällen tatsächlich beeinflussen.

Die auftretenden Strebungen und Widerstrebungen sind zunächst für das willensfähige Ich Anreize, sich gegenüber diesen Strebungen willentlich zu betätigen. Darüber hinaus aber machen sie das Ich auch geneigt, sich zugunsten der gerade vorhandenen Strebungen zu entscheiden. Was nun das erstere anbetrifft, so ist sicher, daß das Ich sich im gegebenen Moment häufig gar nicht willentlich betätigen würde, wenn nicht gerade die bestimmten Strebungen oder Widerstrebungen in ihm aufträten. So würde ich mir jetzt nicht vorsetzen, Blumen zu kaufen, wenn nicht gerade jetzt der Anblick der Blumen ein Streben, sie zu besitzen, in mir erregt hätte. Das Ich, das freilich hier als ein willensfähiges vorausgesetzt ist, wird in solchen Fällen sicher durch die vorhandenen Strebungen zu einem Wollen "bestimmt" und nicht nur überhaupt zu einem Wollen, sondern auch zum Wollen eines bestimmten Inhalts wird das Ich durch sie "bestimmt". Das Ich würde vielleicht nicht nur überhaupt nicht, sondern erst recht nicht in Bezug auf diese Projekte sich willentlich entschieden haben, wenn nicht gerade diese Strebungen aufgetreten wären. Wenn nun allerdings soweit das Ich durch die Strebungen bestimmt wird, so braucht es deshalb doch nicht schon zu einem positiven oder zu einem negativen Willensakt "bestimmt" zu werden. Ist etwa ein positives Streben nach etwas vorhanden, so braucht der stattfindende Willensakt durchaus kein positiver im Sinne dieses Strebens, d. h. durchaus kein solcher zu sein, der die Befriedigung dieses Strebens mitsetzt. Wie oben schon hervorgehoben wurde, kann ein negativer Willensakt bei vorhandenem positiven Streben und trotz dieses Strebens gefällt werden.

Die Beziehung der Strebungen zum Vollzug des Willensaktes ist in diesen Fällen eine phänomenale Wirkungsbeziehung, d. h. das Ich erlebt ein von der Strebung herkommendes Drängen oder Ziehen, das am Ich-Zentrum angreift und es in die Strebung hinein zu ziehen sucht. Zugleich tritt ihm ohne sein Zutun ein Projekt vor Augen, und eine Bereitschaft zu wollen, als ein bestimmter psychischer Zustand, wird durch die Strebung spürbar in ihm erregt. Auf jeden Fall sind diese Beziehungen der Strebungen zum Vollzug eines Willensaktes verschieden von denjenigen Beziehungen, die im Folgenden noch zur Betrachtung kommen und als Motivationsbeziehungen bezeichnet werden sollen.

Auch stellt sich im unmittelbaren Erleben die Sache keineswegs so dar, daß die Strebungen von sich aus den Vollzug eines bestimmten Willensaktes einfach verursachen würden. Das ist schon durch das Wesen des Vollzugs eines Willensaktes ausgeschlossen. Im Erleben erscheint nämlich immer das Ich selbst als der Täter, der den Willensakt vollzieht. Niemals kann der Vollzug eines Willensaktes ein Geschehen sein, das vom Ich erlitten wird, denn dann wäre das, was stattgefunden hätte, eben nicht mehr ein Willensakt. Es liegt in der eigentümlichen Natur des Willensaktes begründet, daß er phänomenal nur durch das Ich selbst vollzogen werden kann.

Im Rückblick auf früher vollzogene Willensakte wird nun freilich das Ich manchmal konstatieren können, daß es sich damals zum Vollzug jener Willensakte durch die gerade in ihm vorhandenen Strebungen hat verleiten oder verführen lassen. ("Die Blumen waren gar nicht so schöne, ich habe mich nur durch ein heftiges Verlangen nach ihnen verführen lassen, sie zu kaufen".) Aber schon die Ausdrücke "verführen" und "verleiten", die man gewöhnlich im Deutschen in solchen Fällen gebraucht, deuten darauf hin, daß auch hier die Strebungen nicht die Ursachen waren, die einfach den Willensentscheid herbeigeführt haben. Und worauf diese sprachlichen Ausdrücke hindeuten, das bestätigt die phänomenologische Betrachtung der psychischen Tatsachen selbst. Nur darf man hier nicht gegen feinere Nuancen der Tatsachen blind oder gegen ihre Anerkennung heimlich renitent [aufmüpfig - wp] sein.

Strebungen, die zum Vollzug bestimmter Willensakte verführen oder verleiten, sind auch nicht als Motive der Willensentscheide anzusprechen, wenn man nur dasjenige ein Motiv nennt, das in der sogleich zu besprechenden und andersartigen Beziehung zu den Willensentscheiden steht.

Es wird durch diese Unterscheidung verständlich, warum bei Menschen mit empfindlichem Gewissen in allen Fällen, in denen ihr Willensentscheid in die Richtung einer vorhandenen Strebung fällt, so leicht das Bedenken entsteht, ob sie sich nicht, statt sich durch zureichende Motive bestimmen zu lassen, durch die vorhandene Strebung haben verleiten lassen. Auch der Gegensatz zwischen der Bestimmung des Willens durch Pflicht und der Bestimmung durch Neigung enthält den wesentlichen Unterschied zwischen Bestimmung durch Motive und Verleitung durch Strebungen.

Hinsichtlich seines prinzipiellen Verhältnisses zu den vorhandenen Strebungen bietet der Wahlakt gegenüber dem einfachen Willensakt nichts wesentlich Neues. Auch der Wahlakt stimmt nicht immer überein mit dem jeweilig stärksten Streben, ja es braucht gar kein mit ihm übereinstimmendes Streben da zu sein. Der Wahlakt kann ebenfalls "veranlaßt" oder "bestimmt" sein durch vorhandene Strebungen, aber deshalb ist er nicht einfach die Wirkung dieser Strebungen und nicht durch sie motiviert.


3. Die Gründe des Willensaktes;
die Willensgründe oder Motive.

Es werden zuerst einige Beispiele angeführt, in denen etwas Grund eines Willensentscheides in einem ganz besonderen, von den bisher betrachteten Fällen verschiedenen Sinne ist. Diese Beziehung des Grundes zum Willensentscheid ist nicht vom außenstehenden Betracht hineininterpretiert, sondern im Tatbestand selbst erlebt, also in ihm selbst phänomenal vorhanden.

Ein Mensch betritt einen Raum, nimmt die darin herrschende Kälte wahr und beschließt aufgrund dieser wahrgenommenen Kälte, den Raum zu verlassen. - Ein Mensch empfängt von einem Anderen ein bestelltes Arbeitsprodukt; er erkennt, daß dieses besonders sorgfältig gearbeitet ist, und er beschließt aufgrund der erkannten Tatsache, daß der andere die Arbeit so sorgfältig gemacht hat, ihn besonders zu belohnen. - Ein Mensch erinnert sich, daß er sich allemal, wenn er in einer bestimmten Gegend lebte, eine sehr gute Zeit hatte und er beschließt aufgrund dieser erinnerten Tatsachen, diese Gegend wieder aufzusuchen. - Ein vierter Mensch beschließt, eine Tat zu unterlassen aufgrund des Gedankens, ein anderer könnte sich durch diese Tat gekränkt fühlen.

In allen diesen Fällen werden Willensakte vollzogen. Im ersten Fall ist außerdem wesentlich die Wahrnehmung der in diesem Raum herrschenden Kälte. Aufmerksamkeit, Apperzeption und Seins-Erkenntnis mögen mit dieser Wahrnehmung vereint sein. Aber damit ist der Tatbestand nicht erschöpft; die bloße Gleichzeitigkeit der Wahrnehmung und des Vollzugs des Willensaktes macht nicht die wahrgenommene Kälte zum Grund des Willensaktes.

Im zweiten Fall ist außer dem Vollzug des Willensakte noch wesentlich vorhanden die Wahrnehmung des Arbeitsproduktes, dann eine Werterkenntnis in Bezug auf dieses Produkt und die Seins-Meinung, der andere Mensch habe durch seine Sorgfalt dieses wertvolle Produkt geschaffen. Aber auch hier ist mit dem bloßen gleichzeitigen Dasein dieser Tatsachen der Tatbestand nicht erschöpft.

Analog verhält es sich im dritten und vierten Fall. Zum Vollzug des entsprechenden Willensaktes tritt dort die Erinnerung an bestimmte Tatsachen, hier der Gedanke an eine zukünftige Möglichkeit hinzu; vielleicht sind auch Werterkenntnisse oder Wertmeinungen vorhanden. Aber bei all dem fehlt noch die Beziehung des Willensaktes zu seinem Grund. Diese Beziehung, die in allen vier Fällen einen Wesensbestandteil der Tatbestände ausmacht, ist nun in ihrer Eigenart zu bestimmen. Dazu dient zunächst die Analyse des ersten Beispiels.

a) Die phänomenale Verursachung des geistigen Hinhörens auf Forderungen. Die wahrgenommene Kälte wirkt zentripetal auf das Ich. Außerdem daß sie vielleicht Unlust und Widerstreben erweckt (was freilich im gegebenen Fall durchaus nicht nötig ist), bewirkt sie, daß das Ich-Zentrum sich nicht nur aufmerkend und apperzipierend sondern auch innerlich oder geistig hinhörend ihr zuwendet. In diesem geistigen Hinhören ist enthalten eine fragende Zielung oder Haltung. Solche fragende Zielungen gibt es aber, dem Frageinhalt nach, sehr verschiedene (vgl LIPPS, Leitfaden der Psychologie, dritte Auflage, Seite 26 und 189).

In diesem Zusammenhang kommt nur diejenige Fragehaltung in Betracht, die auf eine begründete Direktive für das einzuschlagende Verhalten des Ich selbst geht und deren Sinn man in der Frage formulieren kann: "was soll ich tun?". Die inhaltlich bestimmte Fragehaltung ist freilich keine ausdrücklich explizierende Stellung der soeben formulierten Frage. Sondern das Ich lebt einfach in dieser praktischen Fragehaltung. Die wahrgenommene Kälte erregt also zunächst zentripetal das zu ihr zentrifugal zurückgehende, mit einer bestimmten praktischen Fragehaltung erfüllte geistige Hinhören.

b) Das Vernehmen der Forderung; ihre Anerkennung und Billigung. In dieses Hinhören hinein, also zentripetal und zugleich als Antwort der Fragehaltung zentripetal entgegengehend, ertönt dann die Forderung der Kälte und wird vom Ich-Zentrum vernommen. In diesem Vernehmen der Forderung eines bestimmten Verhaltens liegt eine gewisse Anerkennung der Forderung, aber zunächst bloß eine erkennende Anerkennung, nämlich die Erfassung eines ideellen Hinweises auf das, was ich tun soll. Und die wahrgenommene Kälte ist zunächst der Grund dieser Erkenntnis, insofern sich diese Erkenntnis auf das Wahrgenommene stützt. Auch dieses Sich-stützen ist ein auf das Wahrgenommene hin gerichtetes Moment in einem phänomenalen psychischen Tatbestand. Hier ist nun der Grund freilich nicht Grund einer Seins-Erkenntnis, auch nicht Grund einer Wert-Erkenntnis, sondern Grund einer Sollens-Erkenntnis.

Hiermit aber ist die wahrgenommene Kälte noch nicht zum Grund eines Willensentscheides geworden. Denn der Willensentscheid ist keine bloße Sollens-Erkenntnis. Auch wenn die Billigung des anerkannten Sollens hinzutritt - auszudrücken etwa in der Form: "Ja, ich sollte das eigentlich tun". - ist noch kein Willensakt vollzogen, und die wahrgenommene Kälte ist noch nicht Willensgrund geworden.

c) Der Vollzug des Willensaktes und seine Stützung auf den Grund. Zur erkennenden und billigenden Anerkennung der inhaltlich bestimmten Forderung muß eine ganz andere, eine eigentlich praktische Anerkennung hinzutreten, wenn die wahrgenommene Kälte wirklich Willensgrund werden soll. Diese praktische Anerkennung besteht zunächst im Vollzug des Willensaktes, durch den sich das Ich das Geforderte vorsetzt. Aber diese Vorsetzung könnte geschehen ohne daß die wahrgenommene Kälte den Grund dafür abgibt. Auch wenn eine Forderung erkannt und gebilligt ist, und auch wenn die Vorsetzung stattfindet und tatsächlich als eine gewisse Erfüllung der Forderung gelten kann, braucht doch die Vorsetzung vom Ich nicht aufgrund der Forderung zu geschehen. Dies gilt allgemein: mögliche Gründe für ein bestimmtes Wollen, selbst wenn sie und ihre Forderung dem Ich tatsächlich bewußt sind, brauchen nicht die Gründe zu sein, aus denen das Ich dann dieses bestimmte Wollen vollzieht, sie können beim Vollzug des Willensaktes sogar ausdrücklich als Gründe ausgeschaltet werden.

Erst dann wird die wahrgenommene Kälte wirklich der Grund für den Willensakt, wenn das Ich sich beim Vollzug dieses Willensaktes auf die fordernde Kälte stützt, wenn es den Willensakt auf die Forderung gründet und ihn daraus deduziert. Damit ist die Begründungsbeziehung komplett. Das Ich hat dann die Forderung nicht mehr außerhalb von sich stehen lassen und sie bloß anerkannt und gebilligt, sondern sie in sich hereingelassen, sie sich einverleibt, dann, sich darauf rückstützend den Willensakt in Übereinstimmung mit der Forderung vollzogen und sie damit vorläufig ideell erfüllt. Dieses Sich-stützen auf etwas beim Vollzug des Willensaktes ist ein eigentümliches geistiges Tun. Durch dieses geistige Stützen wird erst die Verknüpfung zwischen Grund und Willensakt hergestellt, und der mögliche Grund wird erst so zum wirklichen Willensgrund.

Ganz ähnlich wie im betrachteten ersten Beispiel verhält es sich auch in den drei anderen Beispielen. Die erkannte Tatsache, daß der andere die Arbeit so sorgfältig gemacht hat, fordert vom hörbereiten Ich eine besondere Belohnung des Anderen. Das Ich vernimmt diese Forderung und billigt sie, es vollzieht den Willensakt, den Anderen besonders zu belohnen, indem es sich dabei auf die fordernde Tatsache stützt, und macht mit diesem gestützten Willensakt den ersten Schritt zur praktischen Anerkennung der Forderung durch die Tat. Im dritten Beispiel werden die erinnerten Tatsachen zum Grund gesetzt, und im vierten Beispiel fungiert der Gedanke an die Möglichkeit, ein Anderer könnte sich durch eine bestimmte Tat gekränkt fühlen, als Grund für den negativen Willensakt, jenes gemeinte Tun zu unterlassen.

In allen diesen Fällen gebraucht man nun auch das Wort "Motiv", um zu sagen, daß etwas Grund eines Willensentscheides war. Man nennt die wahrgenommene Kälte das Motiv für den Beschluß, den Raum zu verlassen; die erkannte Tatsache, daß der Andere die Arbeit so sorgfältig gemacht hat, das Motiv für den Beschluß, ihn besonders zu belohnen; die erinnerte Tatsache, daß ich mich allemal bei meinem Aufenthalt in einer bestimmten Gegend sehr wohl fühlte, das Motiv für den Beschluß, die Gegend wieder aufzusuchen; und den Gedanken, ein Anderer könnte sich durch mein Verhalten gekränkt fühlen, das Motiv für den Beschluß, dieses Verhalten zu unterlassen. Und in der Tat dürfte es zweckmäßig sein, das Wort "Motiv" nur in diesem Sinne des fordernden Willensgrundes zu gebrauchen, und demgemäß unter Motivation nur das eigentümliche Verhältnis zu verstehen, welches zwischen einem fordernden Willensgrund und dem darauf gestützten Willensakt besteht.


IV. Die Unterscheidung der Motivation
von anderen Beziehungen


1. Die Stellung von praktischen Forderungen und
die Erregung von Strebungen.

Man könnte meinen, wenn von einer wahrgenommenen Kälte gesagt wird, daß sie die Forderung stellt, den Raum zu verlassen, so heißt das gar nichts anderes als: sie erregt das positive Streben, den Raum zu verlassen. Diese Meinung könnte man durch den Hinweis darauf stützen, daß in beiden Fällen von der gegenüberstehenden Kälte zentripetal eine Erregung zum Ich hingeht. Aber obgleich dieser Hinweis richtig ist, so ist doch die Stellung von praktischen Forderungen wesentlich verschieden von der Erregung der Strebungen. Diese Verschiedenheit zeigt sich in Folgendem:

a) Die wahrgenommene Kälte kann ein Widerstreben im Ich erregen, ohne daß es gleichzeitig zu einer praktischen Forderung an das Ich kommt. Dies ist z. B. der Fall, wenn das Individuum konzentriert in geistiger Arbeit begriffen ist und nebenbei die im Raum herrschende Kälte wahrnimmt. Dann kann dauernd ein Widerstreben gegen die Kälte erregt werden und dieses Widerstreben gleichsam in einem abgelegenen Winkel des Ich verharren, ohne daß das Ich eine von der Kälte herkommende praktische Forderung vernimmt. Vielleicht erregt sogar die Kälte jenes früher erwähnte fragende Hinhören; aber dieses Hinhören geht dann gleichsam an der Kälte vorbei in die falsche Richtung und empfängt keinerlei fordernde Antwort. Wenn aber hier Strebungen erregt werden können, ohne daß zugleich Forderungen gestellt werden, so ist beides notwendig voneinander verschieden.

b) Verfolgt man das eben angeführte Beispiel weiter, so kann es geschehen, daß plötzlich die wahrgenommene Kälte in die Richtung des fragenden Hinhörens tritt und nun antwortend ihre praktische Forderung stellt. Hier scheidet sich deutlich die schon vorher vorhandene Erregung des Widerstrebens von der jetzt neu hinzutretenden Stellung einer praktischen Forderung.

c) Die gleiche Verschiedenheit ergibt sich auch aus der Tatsache, daß die wahrgenommene Kälte, ohne irgendein Widerstreben oder ein Hinstreben zu erregen, die praktische Forderung stellen kann, den Raum zu verlassen. Ist die Kälte nicht sehr intensiv und wird sie sogleich beim Eintritt in den Raum wahrgenommen, so kann angesichts der Kälte das völlig strebungslose Bewußtsein entstehen: "ich sollte eigentlich diesen Raum verlassen", d. h. die Kälte stellt die Forderung den Raum zu verlassen, und das Ich vernimmt diese Forderung, ohne irgendein Streben dafür oder dagegen zu verspüren. Dies ist ein Fall der "rein vernünftigen Einsicht", die sich ohne Strebungen vollzieht.

d) Die wahrgenommene Kälte kann immer dieselbe praktische Forderung stellen, während gleichzeitig das erregte Widerstreben in seiner Intensität zunimmt oder abnimmt. Und sie stellt eine positive Forderung, während sie ein negatives Streben erregt. In anderen Fällen stellt etwas eine negative Forderung, während es zugleich ein positives Streben erregt.

Das alles deutet auf die Verschiedenheit hin, die zwischen der Stellung von praktischen Forderungen und der Erregung von Strebungen besteht. Die Verschiedenheit selbst läßt sich in folgender Weise charakterisieren.

e) Das Erregen von Strebungen ist ein zentripetal verlaufendes, phänomenales Wirken, das Stellen einer praktischen Forderung dagegen geht in ein vom Ich entgegenkommendes Vernehmen hinein und ist ein ideelles Hinweisen. Die Strebungen sind reale Tatsachen, die Forderungen sind ideelle Hinweise.

f) Die Erregung widerfährt dem Ich, sie berührt oder ergreift das Ich. Und die erregten Strebungen erleidet das Ich wie einen Naturzwang. Die gestellten Forderungen dagegen vernimmt das Ich. Es wird nicht von ihnen bezwungen, sondern steht ihnen völlig frei gegenüber.

g) Es sind verschiedene Partien der Seele, die in den beiden Fällen, der Erregung von Strebungen und der Stellung von Forderungen, in Anspruch genommen werden. Jene Erregung triff gleichsam den "Seelenleib", während jene Forderungsstellung sich an den "Seelengeist" und zwar gerade an jene Seite des Seelengeistes wendet, welche die praktischen Forderungen geistig zu hören vermag. Dieses geistige Gehör für praktische Forderungen kann in bestimmten Fällen taub, oder nur betäubt, es kann erschöpft, ermattet, oder es kann schließlich unwillkürlich oder willkürlich nur ausgeschaltet sein. Dann vernimmt das Ich keinerlei praktische Forderungen oder es hört sie nur undeutlich und schwach, während es gleichzeitig von heftigen und deutlich gespürten Strebungen und Widerstrebungen ergriffen sein kann.

Schon aus dieser hier nachgewiesenen Verschiedenheit zwischen der Erregung von Strebungen und der Stellung von Forderungen folgt, daß etwas in keiner Weise ein Motiv sein kann, solange es bloß Strebungen erregt. Aber auch wenn nun etwas eine vom Ich vernommenen praktische Forderung stellt, so ist es damit doch noch kein wirkliches, sondern erst mögliches Motiv.


2. Die Motivation und die phänomenale Reizung.
Motive und Reize.

Die Erregung von Strebungen kann, wie schon früher gesagt, phänomenal einen verschiedenen Charakter haben, nämlich den einer anziehenden oder abstoßenden Reizung, oder den einer Auslösung hin- oder wegzielender Triebe im Ich. Im ersten Fall erscheint der Gegenstand, der die Strebung erregt, als der Ausgangspunkt eines am Ich angreifenden Ziehens oder Abstoßens. Auch dieses phänomenale Ziehen und Abstoßen ist verschieden von jenem Stellen praktischer Forderungen. Es ist kein Motivieren, selbst wenn es den Erfolg hat, daß die Strebungen ihre Erfüllung finden. Motive sind daher von Reizen oder Anreizen in diesem phänomenalen Sinn wohl zu unterscheiden. Durch Motive bestimmt werden, ist etwas ganz anderes, als durch Anreize angezogen oder abgestoßen zu werden.


3. Motive und Triebe.

Im zweiten Fall, wo die erregten Strebungen den Charakter von Trieben im Ich haben, erscheint als Ausgangspunkt des Strebens oder Widerstrebens eine exzentrische Stelle im Ich. Diese Strebungen mit Triebcharakter können sich nun unwillkürlich bis zu ihrer Erfüllung auswirken. Während z. B. ein Mensch in einem fesselnden Gespräch begriffen gerade seinem Partner antwortet, erweckt der Anblick einer kleinen Süßigkeit auf seinem Teller in ihm den Trieb, sie zu essen, er ergreift das Stückchen und verzehrt es. Hier ist der Trieb die phänomenale Ursache der Handlung, aber die Handlung ist keine Willenshandlung und der Trieb nicht als Motiv der Handlung zu bezeichnen. Triebe als solche, sofern sie nicht praktische Forderungen stellen und nicht zu bewußten Stützen für einen Willensakt gemacht werden, mögen allerlei, phänomenal und vielleicht auch real, bewirken, aber sie motivieren dann nicht und sind daher von Motiven streng zu unterscheiden. Durch Motive bestimmt werden, ist nicht dasselbe wie von Trieben getrieben werden. Beides gehört völlig verschiedenen Sphären an.


4. Motive und Quellen des Strebens.

Es gibt ein erlebtes Hervorgehen eines Strebens aus einem anderen seelischen Erlebnis, z. B. aus Lust oder Unlust, oder aus einem anderen Streben. So geht erlebbar aus dem Streben, Wasser zu trinken, das Streben hervor, das Glas, in dem das Wasser enthalten ist, zu ergreifen. Man kann, wie es schon oben geschehen ist, das woraus das Streben im Erleben hervorgeht, die phänomenale Quelle des Strebens nennen. Dann ist dieses Hervorgehen eines Strebens aus seiner phänomenalen Quelle offenbar verschieden von jener oben charakterisierten Motivation eines Willensaktes durch bestimmte Motive. Und die Motive sind nicht mit bloßen Quellen eines Strebens oder Widerstrebens zu verwechseln.


5. Motive und Quellen des Wollens.

Die Quelle, aus der phänomenal der Vollzug des Willensaktes hervorgeht, ist immer das Ich-Zentrum selbst. Das liegt im Wesen des Wollens begründet. Wo dieses Hervorgehen aus dem Ich-Zentrum fehlt, da kann überhaupt kein Vollzug eines Willensaktes vorliegen. Die Motive können also nicht die phänomenalen Quellen eines Wollens sein. Höchstens könnte man die Motive als die ideellen Quellen des willentlichen Vorsatzes bezeichnen. Aber die Willensprägung wird dem Vorsatz nicht vom Motiv, sondern einzig und allein vom Ich-Zentrum gegeben.


6. Motive und Ursachen des Wollens.

Mit den Ursachen des Wollens sind die Motive wohl am häufigsten verwechselt worden. Die Frage nach den Ursachen des Wollens kann zunächst phänomenologisch gemeint sein, d. h. sie kann erfragen, was im Vollzug eines Willensaktes als Ursache dieses Vollzugs erlebt wird. Auf diese Frage ist aber im Einzelfall evident die allgemeine Antwort zu gewinnen, daß niemals etwas außerhalb des Ich-Zentrums Liegendes, sondern immer nur das Ich-Zentrum selbst die phänomenale Ursache des Vollzugs eines Willensaktes ist. Das ganze Wesen dieses Wollens wäre sofort zerstört, wenn irgendeine phänomenale Ursache außerhalb des Ich-Zentrums das vermeintliche Wollen bewirken würde. Speziell ergibt die Betrachtung der phänomenalen Stellung, die das Motiv zum Vollzug des darauf gestützten Willensaktes einnimmt, die evidente Erkenntnis, daß das Motiv in keinem Fall diesen Vollzug verursacht. Ohne jene vom Ich-Zentrum selbst ausgehende Stützung des Willensaktes auf das Motiv ist das mögliche Motiv im gegebenen Fall gar kein wirkliches Motiv für diesen Willensakt. Mit dieser Stützung freilich wird es "bestimmend" für das Wollen. Aber die Bestimmung durch Motive ist eben gar keine phänomenale Verursachtung durch Motive; Willensbegründung ist keine Verursachung des Wollens, und Motive sind keine phänomenalen Ursachen des Wollens. Es widerspricht daher den Tatsachen, wenn SCHOPENHAUER behauptet, die Motivation sei die Kausalität von innen gesehen. ("Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde", Kap. VII, § 43). Denn was bei der Bestimmung des Wollens durch Motive "von innen gesehen" wird, ist völlig verschieden von einer Verursachtung. Eine phänomenale Verursachung des Wollens in diesem Sinne gibt es überhaupt nicht. Das Wollen ist seinem Wesen nach phänomenal immer frei, d. h. nicht durch etwas vom Ich-Zentrum Verschiedenes verursacht.

Jene Frage nach den Ursachen des Wollens kann aber einen anderen Sinn haben, sie kann nämlich die realen Ursachen des Wollens erfragen. Sie nimmt dann den Vollzug des Willensaktes als ein reales Ereignis in der Zeit und will die realen Faktoren wissen, durch deren Dasein gerade in einem bestimmten Zeitpunkt dieses reale Ereignis herbeigeführt worden ist. Auf diese Frage aber kann man nicht durch eine phänomenologische Untersuchung eine Antwort gewinnen. Sondern man muß aufgrund von anderweitigen Erfahrungen und von Induktionsprozessen im gegenwärtigen Fall die notwendigen und hinreichenden realen Bedingungen für den Eintritt des Wollens aufsuchen. Das Verhältnis von realer Ursache und Wirkung ist hier kein unmittelbar erlebtes Verhältnis. Was zur Ursache des Wollens gehört, braucht nicht notwendig dem Wollenden bewußt gewesen zu sein; es braucht auch nicht an das wollende Ich eine von diesem vernommene praktische Forderung zu stellen; sondern es muß nur überhaupt in einem bestimmten Moment realiter vorhanden gewesen sein. Schließlich gehört zum Wirklichsein eines Kausalverhältnisses auch nicht, daß dabei eine bewußte Stützung des Wollens auf das, was zur Ursache gehört, stattfindet.

All das aber, was zu einem Kausalverhältnis nicht notwendig gehört, bildet die notwendigen und wesentlichen Bedingungen für eine Motivationsbeziehung. Also ist es sicher, daß die Motivationsbeziehung von einem Kausalverhältnis verschieden ist. Aber es könnte nun noch sein, daß die Motivationsbeziehung ein besonderer Spezialfall des Kausalverhältnisses wäre. Die Annahe, daß es so ist, wird ja auch vielfach gemacht. Wo man die reale Ursache eines Wollens aufsucht, pflegt man unbedenklich unter anderen Teilursachen auch die Motive als Teilursachen des Wollens aufzuführen. Zuweilen definiert man geradezu die Motive als die bewußten Teilursachen des Wollens. So sagt man, die Motive sind zusammen mit dem Charakter die wirklichen Ursachen des Wollens.

Daß aber in diesen Annahmen ein fundamentaler Irrtum vorliegt, daß die Motivationsbeziehung keine Kausalbeziehung ist, und daß daher die Motive als Motive niemals unter die Ursachen des Wollens gemengt werden dürfen, ergibt sich aus Folgendem:

Was zur realen Ursache des Wollens gehören soll, muß notwendig etwas Reales sein. Dagegen braucht ein Motiv gar nichts Reales zu sein, vielmehr kann auch bloß Gedachtes, ein ideelles Motiv eines Wollens sein. So kann z. B. die Wahrheit einer Behauptung das Motiv dafür sein, daß ich beschließe, die Behauptung bei bestimmter Gelegenheit auszusprechen.

Außerdem muß eine Teilursache nicht nur überhaupt etwas Reales sein, sondern sie muß zudem in dem Zeitpunkt real sein, in welchem die Wirklichkeit eintritt. Ist aber z. B. die Tatsache, daß jemand eine Arbeit besonders sorgfältig gemacht hat, oder die Tatsache, daß ich mich früher in einer bestimmten Gegend immer besonders wohl fühlte, das Motiv für mein Wollen, so können diese Motive als vergangene Tatsachen jetzt nicht Teilursachen meines Wollens sein. Ebenso können zukünftige Tatsache in der Voraussicht wirkliche Motive sein, aber solange sie noch der Zukunft angehören, können sie in keiner Weise Teilursachen sein. Freilich kann man das jetzt reale Denken an die vergangenen oder zukünftigen Tatsachen als Teilursache in Anspruch nehmen; aber gerade dieses reale "Denken" ist eben nicht das Motiv meines Wollens.

Schließlich ist durch die unmittelbare Beobachtung zu erkennen, daß dasjenige Verhältnis des Motivs zum Willensakt, durch das jenes Motiv erst ein wirkliches Motiv ist, völlig verschieden ist vom Verhältnis einer Teilursache zur gehörigen Wirkung. Das Motiv wirkt überhaupt nicht mit beim Vollzug des Willensaktes, sondern bietet nur die ideelle Stütze für das allein den Willensakt vollziehende Ich-Zentrum.

So dürfen dann auch die Ursachen des Wollens grundsätzlich nicht mit den Motiven des Wollens auf die gleiche Stufe gestellt werden, wenn man die völlige Verwirrung vermeiden will, die durch die Nichtbeachtung dieser Wesensverschiedenheit notwendig entstehen muß und die z. B. in den Untersuchungen über die Willensfreiheit wirklich herrscht.


7. Motive und leitende Grundsätze, Regeln,
Vorbilder, Vorschriften, Gesetze, Gebote.

Es sei hier nur einfach darauf hingewiesen, daß es außer der Motivationsbeziehung noch andere eigenartige Beziehungen gibt zwischen dem Vollzug von Willensakten und dem, wodurch das Ich-Zentrum sich dabei bestimmten läßt. So kann sich das Ich bei der Bildung von Vorsätzen, ehe es ihnen die Willensprägung gibt, leiten lassen von allgemeinen Grundsätzen oder Regeln. In anderen Fällen führt es im Vollzug des Willensaktes eine Angleichung an bestimmte Vorbilder aus. Bestimmte Vorschriften befolgt das Ich willentlich, bestimmten Gesetzen oder Gebogen gehorcht oder unterwirft sich das Ich in seinem Wollen. Dieses im Wollen sich-leiten-lassen, sich-angleichen, befolgen, gehorchen, sich-unterwerfen ist jedesmal etwas eigenartiges und etwas, das im psychischen Leben wirklich vorkommt. Die Wörter hat man zwar in der Psychologie vielfach gebraucht, aber ohne sich bewußt zu sein, daß sie keine leeren Redefloskeln sind, sondern wirklich etwas bedeuten. Das, was mit jenen Wörter gemeint ist, muß man aber ausdrücklich in den Gesichtskreis der Psychologie ziehen und nicht immer nur stillschweigend im Dunkel mitführen. Eine Fülle von Aufgaben eröffnet sich hier der phänomenologischen Psychologie. Die Kinderfibelvorstellung, welche die Primitiven von der menschlichen Seele haben, muß man freilich schon weit hinter sich gelassen haben, umd diese Aufgaben nur überhaupt sehen zu können.

Jene oben genannten, von einer Motivationsbeziehung verschiedenen Beziehungen sind auch unter sich verschieden. Damit ist nicht ausgeschlossen, daß genau das Gleiche, das sich in der einen Beziehung, etwa einer Gehorsamsbeziehung, zum Wollen steht, auch in einer anderen, etwa einer Motivationsbeziehung, zu ihm stehen kann.


V. Die Möglichkeit und die
Notwendigkeit der Motivation.


1. Die Möglichkeit der Motivation

Da die oben charakterisierte Motivationsbeziehung in sich schließt, daß ein Willensentscheid vollzogen und auch bewußt gestützt wird auf eine geistig gehörte Forderung, so ist die Möglichkeit einer Motivation in all denjenigen Fällen ausgeschlossen, in denen auch nur eines dieser Momente fehlt. Kommt z. B. bei Tieren wirklich dasjenige nicht vor, was wir den Vollzug eines Willensaktes genannt haben, so darf man in der Tierpsychologie niemals davon sprechen, daß irgendein Tier aus Motiven etwas getan hat. Vielleicht darf man das schon deshalb nicht, weil möglicherweise den Tieren jenes "geistige Gehör" für Forderungen fehlt. Auf jeden Fall ist aber auch beim Menschen dann keinerlei Motivation vorhanden, wenn kein Willensentscheid von ihm vollzogen wird, oder wenn zwar ein Willensentscheid gefällt wird, aber dieser auf das, was wohl ein Motiv sein könnte und dessen praktische Forderung auf geistig gehört ist, nicht wirklich gestützt wird, oder schließlich, wenn die praktische Forderung dessen, was ein Motiv sein könnte, gar nicht geistig gehört worden ist.

Diesen Folgerungen scheint es zu widersprechen, daß in manchen Fällen das wollende Individuum nicht anzugeben weiß, durch welche Motie es sich in seinem Wollen hat bestimmen lassen, und daß man von "unbewußten" Motiven des Wollens spricht. Aber man kann vieles wirklich tun, ohne nachher angeben zu können, was und wie man es getan hat, ja ohne nachher überhaupt noch zu wissen, daß man es getan hat. Das Wissen und Bemerken dessen, was man tut, braucht das Tun selbst durchaus nicht zu begleiten. Außerdem aber gibt es ein unwillkürliches vor sich selbst Verdrängen oder vor sich Verborgenhalten der wirklichen Motive und ein unwillkürliches Vorschieben oder Unterschieben von Scheinmotiven, auf die man vor sich selbst den Willensakt stützt. Nicht nur die vergessenen und die unbemerkten, sondern auch jene innerlich verborgenen Motive nennt man "unbewußte" Motive, obgleich sie natürlich nicht in jedem Sinn des Wortes "unbewußt" sind. Das, was im eigentlichen Sinne des Wortes "unbewußt" ist, kann überhaupt niemals Motiv sein.


2. Die Notwendigkeit der Motivation

Die Verwechslung und Vermischung von Motiven und Ursachen des Wollens hat dazu geführt, zu behaupten, jedes Wollen habe notwendig ein Motiv, aus dem es notwendig hervorgeht. Über den ersten Teil dieser Behauptung, daß nämlich jedes Wollen notwendig einen Willensgrund hat, vermag ich noch keine entschiedene Einsicht zu gewinnen. Auf jeden Fall darf die Behauptung nicht besagen wollen, jedes Wollen habe notwendig einen solchen Willensgrund, der außerhalb des vorgesetzten Tatbestandes liegt. Denn häufig läßt sich, wenn überhaupt ein Motiv, so doch nur eines innerhalb des vorschwebenden Projektes selbst auffinden. Man kann etwas ums seiner selbst willen wollen, ohne dabei durch irgendwelche außerhalb liegenden Motive bestimmt zu sein.

Den zweiten Teil der obigen Behauptung, daß nämlich die Motive notwendig das Wollen herbeiführen, muß man jedoch in jeder Hinsicht als ungültig bestreiten, wenn man wirklich Motive und nicht Ursachen des Wollens meint. Zunächst gibt es, wie oben schon hervorgehoben, Fälle, in denen mögliche Motive bewußt sind, in denen auch ihre praktische Forderung geistig gehört werden, in denen aber entweder überhaupt kein Willensentscheid stattfindet, oder der Willensentscheid im Widerstreit zu einem möglichen Motiv geschieht, oder schließlich der Willensentscheid zwar in Übereinstimmung mit der praktischen Forderung dieses Motivs, aber nicht gestützt auf dieses, sondern auf ganz andere Motive gegründet vollzogen wird. Wenn nun endlich der vollzogene Willensakt wirklich auf das betreffende Motiv gestützt wird, so sind noch zwei verschiedene Fälle möglich. Das Motiv kann entweder ein völlig zureichendes, oder aber ein mehr oder weniger unzureichendes Motiv sein. Die Existenz unzureichend motivierter Willensentscheide zeigt allein schon, daß die Motive nicht die Ursachen des Wollens sind. Denn, wenn die Motivierung eine Verursachung wäre, so könnten eben unzureichend motivierte Willensakte gar nicht wirklich vollzogen werden.

Ist also für einen vollzogenen Willensakt nur ein unzureichendes Motiv vorhanden gewesen, so ist es ohne weiteres sicher, daß dieses Motiv nicht das Wollen ursächlich herbeigeführt hat. Aber auch wenn ein zureichendes Motiv für das Wollen vorlag, und das Wollen wirklich stattgefunden hat, dann hat doch dieses MOtiv nicht notwendig das Wollen herbeigeführt, weil Motive überhaupt nicht verursachen, sondern begründen. Gewiß hat die Begründung durch ein zureichendes Motiv. Die Forderung, die von einem zureichenden Motiv in das geistige Hinhören hinein ertönt und vom Ich-Zentrum vernommen wird, ist eine eindeutige und entschiedene, und sie vermag den ihr gemäßen und auf sie gestützten Willensakt ganz allein zu tragen, d. h. eben, zureichend begründen. Das unzureichende Motiv dagegen stellt keine eindeutige oder entschiedene Forderung und ist aus sich selbst nicht tatkräftig genug für den ihm gemäßen Willensakt, wenn er darauf gestützt wird. Außerdem: jene vernommene entschiedene und eindeutige Forderung erlebt das Ich-Zentrum als eine verpflichtend geistige Bindung. Aber diese geistige Bindung ist kein wirkender Zwang. Wenn sich das Ich der geistigen Bindung unterwirft, indem es den geforderten Willensakt aufgrund der Forderung vollzieht, so hat dieser Prozeß phänomenal ein ganz anderes Aussehen, als wenn das Ich einem wirkenden Zwang unterliegt. Die Notwendigkeit, die auf einer Forderung beruth, ist etwas anderes, als die Notwendigkeit, die auf einem kausalen Wirken beruth. Bei einem zureichenden Motiv ist der geforderte Willensakt notwendig im Sinne eines Sein-Sollens, aber nicht notwendig in dem Sinne, daß sein Vollzug durch ein Motiv verursacht würde.

Das zureichende Motiv macht also allerdings einen bestimmten Willensakt zu einem "notwendigen", aber nicht den Vollzug des Willensaktes zu einem notwendig eintretenden. Auch das zureichende Motiv motiviert ja nur dann den Vollzug des Willensaktes, wenn das Ich-Zentrum es zur Stütze seines Wollens macht. Nur diejenigen möglichen Motive sind wirkliche Motive, durch die das Ich-Zentrum sich bestimmen läßt. In diesem Sinne steht das Ich völlig zureichenden Motiven frei wollend gegenüber. Ja, es kann sogar zureichende Motive, deren Forderungen es vernimmt, von der Motivation ausschalten und die von ihnen geforderten Willensakte auf ganz andere Motive gründen und vollziehen. Läßt sich dagegen das Ich von einem zureichenden Motiv zum Vollzug des geforderten Willensaktes bestimmen, so ist dieses Sich-bestimmen-lassen etas durchaus Eigenartiges und von allem ursächlichen notwendigen Wirken wesentlich verschieden.


3. Das Wollen folgt notwendig aus den
jeweiligen Motiven und dem Charakter.

Der Satz, daß zwar nicht die Motive allein, wohl aber die Motive zusammen mit dem Charakter des Wollenden notwendig das Wollen zur Folge haben, erfreut sich einer weitverbreiteten Anerkennung, aber zugleich auch einer ebenso weitverbreiteten Mißdeutung. Da die Motive als Motive nicht wirken, so darf jener Satz gar nicht kausal verstanden werden. Er verdankt auch seine Überzeugungskraft durchaus keiner empirischen Kausalinduktion, sondern er ist im Grunde ein analytischer Satz, und die Notwendigkeit, von der er spricht, ist die analytische Notwendigkeit, mit der ein Metall von bestimmten Schmelzpunkt auch wirklich bei diesem Schmelzpunkt schmilzt. Jener Charakter nämlich, von dem in jenem Satz die Rede ist, ist nicht etwa als eine bloße Beschaffenheit, mit der das wollende Ich einfach ausgestattet wäre, zu denken. Sondern er ist, oder er enthält zumindest als wesentliches Moment in sich, die Art und Weise, wie das Ich sich willentlich entscheidet, wenn bestimmte Motive vorhanden sind. Einen Charakter in diesem Sinne können nur willensfähige Wesen haben. Daß nun aus diesem Charakter, also aus der bestimmten Art und Weise, wie das Ich bei bestimmten Motiven sich willentlich entscheidet, dann wenn diese bestimmten Motive nun wirklich in ihm vorhanden sind, auch notwendig das bestimmte Wollen folgt, ist natürlich eine selbstverständliche Sache, die jedoch über die reale Verursachung des Willensentscheides nicht das Geringstes ausmacht. Vielmehr ist im Begriff des Charakters vorausgesetzt, daß das frei wollende Ich-Zentrum die letzte Ursache der einzelnen Willensentscheidungen ist. Denn der Charakter der einzelnen Willensentscheidungen ist. Denn der Charakter ist keine Sache von bestimmter Beschaffenheit, an der aufgrund ihrer Beschaffenheit bei bestimmten Einwirkungen bestimmte Wirkungen geschehen, vielmehr steht im Mittelpunkt des Charakters das aus sich heraus in bestimmter Weise wollende Ich-Zentrum, das der freie Täter und nicht der Erdulder des Wollens ist.

middot

ANHANG: Da es Motive und Motivation in dem oben bezeichneten Sinn gibt, und da die Begründung praktischer Vorsätze etwas anderes ist, als die Begründung von Urteilen, so eröffnet sich die Aussicht auf eine der Logik analoge Wissenschaft von den praktischen Vorsätzen oder Voluntarien. Sie hätte das Wesen und die Struktur der Voluntarien überhaupt, dann die möglichen Arten von Voluntarien, außerdem die Arten der Motivation von Voluntarien und die Folgerungszusammenhänge zwischen verschiedenen Voluntarien zu bestimmen.

Eine besondere Art von Voluntarien bilden die Imperative. Eine Imperativenlehre, von der ich eine noch unveröffentlichte Skizze entworfen habe, könnte meiner Meinung nach eine letzte Grundwissenschaft für die Ethik, die Rechtsphilosophie und die Pädagogik bieten. Hier kann ich jedoch diese Idee nicht weiter verdeutlichen, sondern muß mich mit dem bloßen Hinweis darauf begnügen.
LITERATUR - Alexander Pfänder, Motive und Motivation, Münchener Philosophische Abhandlungen [Theodor Lipps zu seinem 60. Geburtstag] Leipzig 1911