ra-2cr-4E. BernheimWindelbandvon RümelinO. Dittrichvon BelowE. Wachler    
 
FRIEDRICH GOTTL-OTTLILIENFELD
(1823-1900)
Die Grenzen der Geschichte

"Daß nur ein einziges Kontinuum des Geschehens die Welt erfüllt, der einen Zeit entlang, das wird als eine unerschütterliche Grundlage unseres ganzen modernen Denkens angesehen. Die Sache scheint ja, ein für allemal, glatt und aufs Beste erledigt! Nun, ich kann mir nicht helfen, ich finde eben doch ein Haar darin."


Vorwort

Das Problem hat sich mir ursprünglich so dargestellt, ob es denn wahr sei, daß man beim Vordringen in eine immer fernere Vergangenheit aus der Historik oder Nationalökonomie schließlich unversehens in die Geologie gelangt. Diese Frage erhält ihre praktische Bedeutung durch meine Auffassung der Nationalökonomie, als einer Schwesternwirtschaft der Geschichte, als "Erfahrungswissenschaft vom Alltagsleben aller Zeiten", wie ich es schlagwörtlich ausdrücke. Muß nun für den Teil der überlieferungslosen "Urzeit" der Nationalökonom dem Anthropologen, dem "Naturwissenschaftler" den Platz räumen? Für den "äußeren" Forschungstrieb gewiß; wer unter Steinen und Versteinerungen stöbert und sichtet, dem müssen naturgemäß auch Gräber und Kulturreste aufstoßen. Die  Deutung  der Funde aber kann, für die Dauer wenigstens, unmöglich dem mehr naturwissenschaftlich geschulten und auch naturwissenschaftlich denkenden Anthropologen überlassen bleiben. Nicht aus kleinlichem Zunftneid erhebt der Nationalökonom auf diese Erkenntnisgebiete Anspruch; er  bedarf  des Einblicks auch in jene fernliegenden Zustände, wenn er den Werdegang des Alltagslebens aufzurollen sucht und er allein ist den Aufgaben dabei auch  gewachsen.  Nur er besitzt schon fachlich die Schulung dafür, die Zusammenhänge des täglichen Lebens zu entwirren, die Komplexität dieser Vorkommnisse zu durchdringen, nur er wird dieser Art "Korrelation" gerecht.

Und nun handelt es sich einfach darum, ob dieser Anspruch, den die Nationalökonomie der "historischen Anthropologie" gegenüber erhebt, nicht auch ein  prinzipiell  befugter ist. Auf diese Frage antwortet die vorliegende Arbeit mit einem entschiedenen  Ja.  Darin wurzelt ihr engerer Zusammenhang mit der nationalökonomischen Methodologie. Im Text kommt das natürlich bloß nebenher zur Geltung. Für mich persönlich aber lag darin der Antrieb zu dieser Arbeit.

Freilich, wenn ein solcher Anspruch auf "Hausherrenrechte" im Prinzip auch feststeht, er ist zunächst doch nur ein Erbe, das durch positive Forschungsleistungen erst erworben sein will. Soweit daraus für mich selber Verbindlichkeiten erwachsen, hoffe ich sie späterhin einzulösen. Es scheint mir außer Zweifel, daß sich aus einer entsprechenden Bearbeitung jener "urzeitlichen" Gebiete für theoretische Probleme der Nationalökonomie sehr viel gewinnen läßt.

Dorthin also geht der Weg für mich noch weiter. Dagegen ist in Bezug auf die großen Fragen, die ich da aufzuführen wage, mein  legitimes  Interesse mit dieser Arbeit schon erschöpft. Und wie es der Lehrberuf einmal mit sich bringt, nimmt uns die fachliche Arbeit viel zu sehr in Beschlag, um nebenher Aufgaben zu lösen, die allein schon ein Menschenleben überreichlich ausfüllen könnten. Nicht ohne Wehmut also trenne ich mich von dieser Schrift. Ich weiß nur zu gut, wie fern ihre Ergebnisse von abschließender Bedeutung sind; aber es ist mir nicht gegönnt, diese Arbeit als eine "vorläufige Mitteilung" zu bezeichnen.




I.

Mein Thema muß sich erst aus verwandten Fragen herausschälen. Der Ausdruck  "Grenzen der Geschichte"  läßt eben  verschiedene  Deutungen zu, die nicht bloß im Namen, die auch in der Sache zusammenhängen. Umso nötiger erscheint es, sie alle zur Sprache zu bringen, obwohl es sich nur um  eine  aus ihnen handelt. Ich führe sie also nacheinander auf.

Wer von den Grenzen der Geschichte hört, denkt wohl zuerst an eine Scheidung zwischen dem, was die historische Wissenschaft zu leisten vermag und dem, was sie anderen Disziplinen überlassen muß. Das wären also die  Grenzen des Arbeitsfeldes einer Fachwissenschaft.  Solche Grenzen zwischen sich und den Nachbarn zu ziehen, gehört zur Selbsterkenntnis einer Disziplin. Erwägungen darüber empfehlen sich besonders dann, wenn die ruhige Pflege einer Wissenschaft durch den Streit über ihren Sinn und Beruf gestört wird.

Die Historik, nebenbei gesagt, ist ja so ziemlich in dieser Lage. Nur scheint sie herzlich wenig der Gefahr ausgesetzt, an ihrer eigenen Art irre zu werden. Unter den Wissenschaften ist sie von so altem Adel, wie etwa unter den Künsten die Bildhauerei. Menschenschicksal, Menschenschönheit, das scheinen Vorwürfe, die das geistige Streben recht sicher im Gleis halten. Wenn nun gerade der Historik immer von neuem  Reformen  gepredigt werden, so mag man über diese Bestrebungen im einzelnen noch so sympathisch denken, in der Hauptsache lernt die Historik aus diesen Reformen doch nur, wie sie es  nicht  machen soll. Im schlichten Weiterwirken findet sie stets wieder zu sich zurück. Aber soviel ist klar, für einen  theoretischen  Vortrag - und zu einem solchen bin ich ja aufgefordert worden - wäre das Thema von den Grenzen des historischen Arbeitsfeldes recht aktuell. Und mir persönlich, namentlich was die Grenzen zwischen Historik und Nationalökonomie anbelangt, läge es einigermaßen nahe. (1) Aber ich greife es nicht auf. Als Theoretiker und Methodologe auf  nationalökonomischem  Gebiet will ich vor einem Parterre von Geschichtsforschern lieber eine Frage behandeln, die unsere Wissenschaft  solidarisch  findet.

Die Wendung von den Grenzen der Geschichte läßt sich auch noch anders verstehen. Unwillkürlich denkt man an den Satz RANKEs, daß alle Geschichte erst mit dem Schrifttum beginnt. Wie ist dies nun gemeint? Zweifellos wird dabei an die festere Form gedacht, die von da ab die geschichtliche Erinnerung der Völker annimmt. Im tatsächlichen Erfolg aber sind damit die  Grenzen der Geschichtsschreibung  bestimmt und zwar ihrer  praktischen Möglichkeit.  Bis dorthin zurück kommt die Vergangenheit buchstäblich selber zu Wort; als ihr kluger Dolmetscher erscheint die Geschichtsschreibung möglich. Darüber hinaus ist die Vergangenheit stumm, man kann gleichsam nur mehr ihre Gebärden zu deuten suchen. Ein Unterschied, der tatsächlich schwer ins Gewicht fällt.

Auch die  Grenzen der theoretischen Möglichkeit einer Geschichtsschreibung  hat man wiederholt zu bestimmen gesucht. Wenn OTTOKAR LORENZ den Anfang der Geschichte im "Auftreten des auf den Staat wirkenden Menschen" ersehen wollte, EDUARD MEYER einstmals im "Hervorbrechen der Individualität als eingreifenden Faktor im Leben eines Volkes", so hat das ungefähr jene Bedeutung. Man sucht den Punkt zu bestimmen, über den hinaus es auf keinen Fall mehr möglich wäre, Geschichte zu schreiben; wobei für jeden einzelnen dieser Versuche an eine Geschichtsschreibung eines ganz bestimmten Geistes zu denken ist, jenes nämlich, der sich gerade bei dieser Gelegenheit klar verrät. Denn es hat diese Art Grenzermittlung den versteckten Sinn, daß sich der betreffende Forscher über seine allgemeinsten Anschauungen Rechenschaft ablegt. Wer in solcher Weise nach dem Anfang der Geschichte frägt, umschreibt eben nur die Frage, was Geschichte ist und Geschichtsschreibung will. Für die Stellung, die der ausübende Historiker zur Theorie nimmt, ist es bezeichnend, wenn er das Wesen der Geschichte gleich im Bild ihres Anfangs zu erschauen sucht. Auch erscheint es von seinem Standpunkt aus vollauf gerechtfertigt, wenn er dabei als Geschichte nur das zu bestimmen sucht, was eine Geschichtsschreibung  seines  Geistes erst möglich macht. In diesem dritten Fall ihrer Deutung besagen also die Grenzen der Geschichte eigentlich nur eine theoretische Hilfsvorstellung der ausübenden Historik.

Drei Deutungen habe ich in Kürze aufgeführt. Man kann erstens die Grenzen des  historischen Arbeitsfeldes  im Sinn haben, zweitens die Grenzen der  praktischen,  drittens die Grenzen der  theoretischen Möglichkeit einer Geschichtsschreibung.  Jeder einzelnen dieser drei Deutungen entspricht ein selbständiges  Problem  und alle drei Probleme sind in der Literatur zu ihrem Recht gekommen. Mein Thema aber hat mit  keinem  dieser drei Probleme etwas zu tun, die ich eben nur angeführt habe, um sie scharf getrennt zu halten von jenem  vierten  Problem,  dem ich mich ausschließlich zuwende. 

Wie sich zeigen soll, hat es mit diesem vierten Problem seine ganz eigene Bewandtnis. Nur so ist es möglich, daß gerade dieses Problem, das bedeutsamer noch als die übrigen ist, der theoretischen Erwägung bisher so gut wie entgehen konnte. Und dabei liegt es zum Greifen nah. Man braucht die Wendung von den Grenzen der Geschichte bloß in ihrem wörtlichsten und strengsten Sinn zu nehmen. So also, daß man "Geschichte" nicht in der übertragenen Bedeutung als Wissenschaft von der Geschichte, als Historik versteht, sondern als das  historische Geschehen selber;  und daß man bei den "Grenzen"  nur  an dieses Geschehen denkt und nicht jenen Bezug auf die Geschichtsschreibung einschmuggelt, von dem sich der ausübende Historiker so schwer lossagen kann. Die  Grenzen der Geschichte  besagen dann also so viel wie  die realen Ausläufe des historischen Geschehens;  gemeint im Sinne eines Blickes aus der Gegenwart in die Vergangenheit zurück. Es handelt sich also um Erwägungen von der Art: Wo hört das historische Geschehen endlich auf, wenn es der Vorstellung nach in die Vergangenheit verfolgt wird, wie verliert es sich dort in etwas anderes und was ist dieses andere? Das ist im rohen schon unser ganzes Problem. Ich will es nun schärfer entwickeln, noch als Problem selber und eigentlich gehe ich überhaupt nicht weiter. Von der Lösung spreche ich in der Folge nur soviel, als es dem Verständnis des Problems frommt. Mit einem Wort:  ich exponiere nur. 

Es ist ein zulässiger Kunstgriff, wenn man im Angesicht einer Wissenschaft alles, was ihren  praktische Betrieb  angeht, als etwas Abgeleitetes, schon als etwas  Bedungenes  ansieht. Dazu gehört auch die Geschichtsschreibung, im weitesten Umfang dieser Tätigkeit. Als das  Primäre,  Bedingende dazu erscheint dann bei einer Erfahrungswissenschaft der  Stoff ihrer Erfahrung:  ich wähle diesen und vermeide den üblicheren Ausdruck des "Gegenstandes" einer Wissenschaft, weil die letztere Bezeichnung doppelzüngig ist und ebensowohl den Erfahrungsstoff bedeuten kann, als auch die Aufgaben, die ihm gegenüber zu lösen sind.

Was ist nun für die  Historik  dieser Erfahrungsstoff, das also, was uns ihr gegenüber als das Primäre erscheinen darf? Der Forscher, daran ist nicht zu zweifeln, hat es in aller Regel nur mit der  Überlieferung  zu tun, mit irgendeiner Form der Erinnerung an das einstmals Geschehene. Aber dieses Ganze der "Quellen", der aufgefundenen und noch aufzufindenden, gehört, in der Eigenschaft des "Materiales" für die Geschichtsschreibung, schon zum praktischen Betrieb der Wissenschaft. Jenes Primäre wird erst  jenseits  der Überlieferung zu suchen sein. Es bedarf nun keiner langen Erörterung, daß dieses Primäre, dem gegenüber die Überlieferung nur mehr eine Art stellvertretende Wirklichkeit besagt, ein  Geschehen  sei; jenes Geschehen offenbar, das unser Deutsch mit dem Ausdruck  "Geschichte  so hübsch und bedeutungsvoll in eins zu fassen weiß. (2)

Wer nun nach den Grenzen der Geschichte fragen will und als Geschichte den Erfahrungsstoff der Historik im Auge behält, für den muß jenes Geschehen ein ganz besonderes, etwas  Spezifisches  sein; so zwar, daß es sich mit keinem anderen Geschehen verwechseln läßt, sich mit keinem anderen vermischt. Sonst hätte es ja gar keinen Sinn, nach den Grenzen dieses Geschehens, nach seinen realen Ausläufen zu fragen. Also erscheint die  spezifische Natur des Geschehens, das man unter Geschichte versteht,  als die notwendige  Voraussetzung  unseres Problems.

Wie es scheint, handelt es sich um den  Anfang  des Geschehens, das uns als Geschichte spezifisch wäre. Allein, hier ist sofort ein Einspruch am Platz. Wer solche Fragen der äußersten Neugier aufwirft, darf sich nicht auf die Erwägung beschränken, ob er die oder jene Antwort auch zu verantworten weiß: er muß schon für die Frage einstehen. Und wirklich entpuppt es sich als eine Voreiligkeit, statt nach den Grenzen gleich nach dem Anfang der Geschichte zu fragen.

Was könnte dieser Anfang sein? Der Anfang alles und jeglichen Geschehens sicher nicht; das widerspräche ja unserer Voraussetzung. Also kann es sich nur um einen Wendepunkt, sagen wir um einen  Übergang im Geschehen  handeln; sei es nun im Sinne einer Abwandlung von einer Art des Geschehens zu einer anderen oder im Sinne einer Abschnürung oder wie auch immer. Jedenfalls läge der Anfang der Geschichte dort, wo wir auf ein Geschehen, das uns etwas spezfisch anderes als Geschichte ist, die letztere darauf folgen sehen. Nun ist aber der Fall möglich, daß wir von diesem Übergang im Geschehen wohl in abstracto sprechen könnten, genauer gesagt, vom hierzu nögiten Zweierlei des Geschehens; der Übergang selber jedoch wäre für uns nicht widerspruchslos, also nicht gültig denkbar. Vielleicht erscheint diese Besorgnis zu weit hergeholt; immerhin, warum sollten wir das Probem von vornherein so eng fassen, daß seine Lösung gegebenfalls daran ersticken könnte? Es verbietet sich also bei Strafe eines bedenklichen Vorurteils, geradeaus nach dem  Anfang  der Geschichte zu fragen. Die Frage nach den  Grenzen  der Geschichte bleibt dagegen aufrecht, weil sie selbst in jenem schlimmsten Fall kein Präjudiz [Vorentscheid - wp] schafft. Gesetzt, wir könnten jenen Übergang im Geschehen wirklich nur so erfassen, daß unser Denken dabei seiner Gültigkeit verlustig ginge, einem Selbstbetrug verfiele: was würde das besagen? Daß die Geschichte keinen Anfang habe? Das wäre ein ebenso ungeschickter als auch trügerischer Ausdruck des wahren Sachverhalts, der dann einfach so läge, daß die Grenzen der Geschichte zugleich Grenzen unserer  Erkenntnis  wären.

Jenes vierte Problem von den Grenzen der Geschichte, das zu meinem Thema wird, läßt sich also nur dann aufwerfen, wenn uns als Geschichte ein Geschehen spezifisch ist. Und nur dann ist dieses Problem im positiven Sinn lösbar, wenn zwischen dem "historischen" und einem spezifisch anderen Geschehen ein Übergang vermittelt, der in seinem Ablauf für uns etwas widerspruchslos Denkbares ist. Damit wäre die Untersuchung orientiert und unter normalen Verhältnissen hätte ich nun mit der Prüfung jener Voraussetzung zu beginnen. Die Dinge liegen aber anders. Vorderhand scheinen alle kritischen Bedenken, ob sich das Problem aufwerfen und sich positiv lösen läßt, gegenstandslos zu sein.  Denn allem Anschein nach rennt das Problem offene Türen ein.  Sollte wirklich auch nur der mindeste Zweifel bestehen, wie jene Frage nach den Grenzen der Geschichte zu beantworten wäre? Es scheint doch vielmehr, daß sich die Antwort in aller Einfalt geben läßt, durch eine schlichte Besinnung auf Dinge, die uns mehr oder minder  selbstverständlich  sind. Machen wir uns das einmal klar.

Für den ausübenden Historiker sind  Geschichte  und  Volk  untrennbar; er steht eben unter dem Eindruck der Bedingungen, an die seine Tätigkeit als Geschichtsschreiber gebunden ist. Für den allgemeinen Standpunkt aber gilt das nicht. Da wird schlechthin an das Geschehen gedacht, soweit es Menschen als Tat und Schicksal erleben. Man kann behaupten, je unbefangener, je harmloser wir von Geschichte sprechen - ohne die Wissenschaft zu meinen, die Historik - desto weniger kann ein Mißverständnis darüber aufkommen, was wir unter diesem Wort meinen: das Ganze der Menschenschicksale! Während es nur unter dem Vorbehalt näherer Erklärung gilt, daß Geschichte und Volk zueinander gehören, so gilt es ohne weiteres und unbedingt, daß  Geschichte  und  Mensch  zueinander gehören. Das soll natürlich keine These sein, ebensowenig als ich dort eine Definition von Geschichte gegeben hätte. Ich gehe hier nur jener  allgemeinen Ansicht  auf die Spur, die zwar nirgends ausgesprochen wird, aber desto inniger mit allen unseren Anschauungen verwachsen ist.

Zur Geschichte gehört danach also der Mensch; mit ihm steht und fällt sie, daher beginnt und endet sie auch mit ihm; zumindest in allerletzter Linie und somit im ausschlaggebenden Sinn. Die Grenzen der Geschichte, im Geist jenes vierten Problems, wären also klipp und klar die  Grenzen des Menschentums:  dort läge der Anfang der Geschichte, wo das Menschentum anhebt. Eine Divergenz bestände innerhalb dieser allgemeinen Ansicht nur darüber, ob man sich dieses Anheben als einen Schöpfungsakt denken soll oder als eine Phase in der gattungsmäßigen Entwicklung der Lebewesen. Für uns hier ordnet sich dieser Zwiespalt auf das einfachste. Die Natur der einen Ansicht bringt es mit sich, daß sie vor keiner Erkenntniskritik verantwortlich erscheint. Also bleibt für uns nur die andere Ansicht relevant:  die Lösung unseres Problems vom Standpunkt der sogenannten naturwissenschaftlichen Weltanschauung.  Das ist es, dem gegenüber eine Auseinandersetzung not tut, sobald jenes vierte Problem zum Thema wird.

Soweit hier eine Lösung unseres Problems vorliegt, ist sie, prinzipiell genommen, fast wider Willen und Wissen erfolgt. Nicht das Problem hat die Lösung herbeigerufen; das Lösende hat sich vielmehr ganz von selber eingestellt, im Gefolge der ganzen wissenschaftlichen Entwicklung. Ein Umstand, der in gleich hohem Grad zur Kritik herausfordert, als er die Kritik auch erschwert. Es empfiehlt sich jederzeit, einer solchen Lösung, die sich förmlich nur eingeschlichen hat, ich möchte sagen, einer solchen Lösung aus Versehen, ein wenig auf den Zahn zu fühlen. Ihre Kritik ist aber sehr prekär, weil gerade eine Lösung solcher Art organisch aufgewachsen erscheint, weil sie ihrer Entstehung nach auf einer breiten Grundlage von Anschauungen ruht, die vorher schon über alle Kritik hinaus scheinen. Dadurch gewinnt die Lösung für uns den Anschein des  blindlings Selbstverständlichen.  Und wie sie da war, ohne auf das Problem zu warten, so läßt sie dieses nun gar nicht aufkommen;  sie erdrückte es gleichsam.  Das ist der Grund, weshalb jenes vierte Problem von den Grenzen der Geschichte für das wissenschaftliche Erkenntnisstreben eigentlich gar nicht als vorhanden gilt. Wenn ich nun  Kritik  übe an dieser Lösung, so geschieht es nicht bloß deshalb, um dem Problem zu seinem Recht zu verhelfen.  Es stellt der Zweifel an der Gültigkeit jener Lösung eine häusliche Sorge der Historik und ihrer Geistesverwandten dar, brennender und bedeutungsvoller, als es auf den ersten Blick erscheinen mag.  Das will ich noch am Schluß erörtern, als Moral der ganzen Darlegung.

Sehen wir uns jene aufdringliche Lösung unseres Problems etwas näher an. In ihr lebt ein Gedankengang, wie er überzeugender kaum gedacht werden kann. Die Geschichte, heißt es da ungefähr, ist ein Schauspiel, dessen Inhalt die Menschenschicksale sind. Zum Schauspiel gehört notwendig der Schauplatz und gehören notwendig die Akteure. Also ist die Erdgeschichte und dann die Entwicklungsgeschichte des Menschen das notwendige Vorspiel der Geschichte und diese beginnt dort, wo jenes Vorspiel endet; also beim Anheben des Menschentums. Eine Argumentation, die ohne Zweifel ungeheuer plausibel klingt, weil sich ihre Schwächen gerade bei dieser naiven Form ihres Ausdrucks am besten verhüllen. um ihr beizukommen, muß man auf die wissenschaftlichen Anschauungen zurückgehen, von deren breitem Rücken diese Lösung emporgetragen wird.

Im Geiste der Anschauungen, denen diese Lösung entsteigt, liegen die Dinge ungefähr so. Jenes der Historik gegenüber primäre Geschehen, das wir als Geschichte schlechthin bezeichnen, ist darin und kann nur darin etwas Spezifisches sein, daß es an den Menschen anknüpft; denn es ist in jenem Geist nur ein Ausschnitt aus dem Gesamtgeschehen. Soweit es der historischen Forschung übersehbar ist, füllt es eine Anzahl Jahrtausende aus, gleichgültig, ob nun zwei oder fünf oder fünfzehn; daher spreche ich in der Folge vom  Geschehen der historischen Jahrtausende.  Auch weiter zurück hört das Geschehen noch nicht auf, in jenem naivsten, aber eindeutigsten Sinn als Geschichte spezifisch zu sein. Wir sprechen dann zwar von der "prähistorischen" Zeit, von der "Vorgeschichte" oder "Urgeschichte und statten sie mit Hunderttausenden von Jahren aus, aber dieser Namenswechsel erfolgt, um es kurz zu sagen, bloß im RANKEschen Geiste: man respektiert hier die Grenzen der praktischen Möglichkeit einer Geschichtsschreibung. Das Geschehen bleibt vorläufig noch an den Menschen geknüpft und  ändert seine spezifische Natur erst dort, wo man die Ursprünge des Menschengeschlechts hinverlegt.  Je nach Stand der Forschung mag das nun im älteren Diluvium oder im Tertiär oder wo auch immer sein,  dort lägen dann die Grenzen der Geschichte.  Dort hätte das Geschehen den entscheidenden Wendepunkt passiert. Herwärts jener Phase wäre uns ein Geschehen als Geschichte erfaßbar geworden: selbst vom Standpunkt des ausübenden Historikers aus wäre von da ab Geschichte wenigstens  möglich  geworden. Jenseits jener Phase aber vermischt sich dieses Geschehen dem mütterlichen Strom des Gesamtgeschehens, von dem es ja überhaupt nur ein abzweigendes Äderchen vorstellt; sagen wir, es verliert sich von da ab im  Geschehen der geologischen Jahrmillionen. 

Auf den ersten Blick scheint es allerdings um die Aussichten der Kritik schlecht bestellt. Handelt es sich doch um lauter Dinge, die uns allmählich zu Gemeinplätzen der Erkenntnis geworden sind. Es gilt dies im einzelnen, wie fürs Ganze. Daß nur ein einziges Kontinuum des Geschehens die Welt erfüllt, der einen Zeit entlang, das wird als eine unerschütterliche Grundlage unseres ganzen modernen Denkens angesehen. Aber gerade auf dieser Grundlage scheint auch jene Lösung unseres Problems zu ruhen; wo soll also der Zweifel da hinaus! Die Sache scheint ja, ein für allemal, glatt und aufs Beste erledigt! Nun, ich kann mir nicht helfen, ich finde eben doch ein Haar darin.

Prüfen wir einmal das Verhältnis, das hier zwischen  Geschehen  und  Erkenntnis des Geschehens  besteht. Auf der einen Seite also das System alles realen Geschehens, wie es im Geist der naturwissenschaftlichen Weltanschauung vorliegt; auf der anderen Seite das System unserer Erkenntnis, zu dem sich die verschiedenen Disziplinen zusammenschließen. Es wäre also der große und einheitliche Verlauf des gesamten Geschehens da: Das Geschehen der historischen Jahrtausende bildet mit dem Geschehen der geologischen Jahrmillionen eine stetige Folge, ein Kontinuum und zwar im Sinne einer Abzweigung des ersteren aus dem letzteren, über das Mittelglied einer Urzeit hinüber. Diesem  Kontinuum des Geschehens  stünde dann ein  Kontinuum der Erkenntnis  gegenüber. Alle Wissenschaft, die dem Geschehen in die Zeit nachgeht, den Blick auf die Vergangenheit gerichtet, wäre im Grunde nur ein und dieselbe. Zwar hat es der hier mit Steinen, der andere mit Lebewesen, ein dritter mit Menschenschicksalen zu tun, im Grundsatz aber würden sich die einzelnen Disziplinen gleichsam nur nach der  verschiedenen Position zum Gesamtgeschehen  voneinander absondern. Der Historiker durchforscht anhand seiner Quellen die nähere Vergangenheit. Der Prähistoriker spürte dem Menschentum bis in jenes Dunkel der Zeiten nach, aus dem keinerlei Überlieferung, nur mehr kärgliche Reste auf uns gekommen sind. Und sie beide überholt der Blick des Geologen, der über die Jahrmillionen der Ergeschichte hinschweift. So läst der eine den anderen in der Erfüllung der wesensgleichen Aufgabe ab, der Vorstellung gemäß, daß dort, wo die Geschichte verstummt, dann die Steine zu reden beginnen. Historik, Prähistorik, historische Geologie und dazu die Entwicklungsgeschichte der Tiere und Pflanzen, sie alle wären danach Schwestern im Geiste, "historische" Wissenschaft im weitesten Sinn des Wortes. Das will sagen,  es müßte dieser ganze Disziplinenkomplex von innerer Einheit und Geschlossenheit sein,  in Grund und Wesen  homogen.  Und dies als eine zwingende Folgerung aus jenen Anschauungen, weil man eben dem Kontinuum des Geschehens folgerichtig das Kontinuum der Erkenntnis beidenken muß.

Hier bietet sich nun die Möglichkeit, die Prämissen auf ihre Gültigkeit hin zu prüfen, indem man an ihrer zwingenden Folgerung Kritik übt.  Ich will am Verhältnis der Historik zur historischen Geologie zeigen, daß eben doch ein tiefer und scharfer Riß durch jene Gruppe der "historischen" Disziplinen geht, von durchaus grundsätzlicher Bedeutung.  In diesem Sinne suche ich jener Lösung unseres Problems, die so selbstverständlich, so unangreifbar scheint, durch  Erkenntniskritik  beizukommen. Um aber nicht gar zu abstrakt zu bleiben, führe ich diese Kernthese meiner Ausführungen an einer Art Schulbeispiel durch.
LITERATUR Friedrich Gottl-Ottlilienfeld, Die Grenzen der Geschichte, Leipzig 1904
    Anmerkungen
    1) Vgl. Gottl, Herrschaft des Wortes, 1901, besonders Seite 118, 122 und 128f
    2) Nach der Ausdrucksweise, die ich in den bezüglichen Ausführungen a. a. O. befolgt habe, müßte ich den Erfahrungsstoff der Historik als die "Welt des Handelns", "Welt der Erlebungen" bezeichnen, während der Ausdruck "Geschichte" einem engeren Sinn vorbehalten bliebe. Hier im Vortrag verbietet sich diese, ansich gewissenhaftere Terminologie, da ihre Rechtfertigung zuweit führen würde. Auch schädigt es die hier behandelte Sache nicht, wenn ich in der Anlehnung an die landläufige Ausdrucksweise Unterscheidungen übergehen, die erst dort von Bedeutung wären, wo es sich um die Grenzen zwischen Nationalökonomie und Historik handelt. Hier aber gilt es eine gemeinsame Angelegenheit  beider,  als Wissenschaften vom handelnden Menschen, als "Aktionswissenschaften".