Max Frischeisen-KöhlerLudwig SteinTheodor Lipps | ||||
Vorgedanken zur Weltanschauung
Erster Teil Das Wesen der Weltanschauung 1. Vorbereitung - Der Begriff - Fragt man nun nach dem Gedankengehalt, der mit dem Wort verbunden wird, so zeigt sich sofort, daß dem Begriff trotz mannigfachen Gebrauchs noch die klare Umschreibung fehlt. Solange wir uns aber nicht darüber Rechenschaft gegeben haben, was Weltanschauung überhaupt ist, was sie will und kann, ist eine Erringung einer eigenen Weltanschauung, wenigstens in ihrer höchsten, der philosophischen Form, nicht möglich. Deshalb sei, zunächst noch ohne Zuspitzung zu einer inhaltlich determinierten und Geltung beanspruchenden Weltanschauung, der allgemeine Begriff der Weltanschauung geklärt und eine Charakteristik seiner Wesensbestimmungen versucht. Die "Welt-Anschauung" will eine Abbildung, eine Darstellung der Welt enthalten. Das gleiche wollen Religion und Metaphysik; doch ist jener Begriff zum Teil weiter, zum Teil enger als diese. Weiter: denn es gibt nicht nur religiöse und philosophische, sondern auch zahlreiche andere Formen der Weltanschauung. Enger: den es gibt innerhalb der Religion und der Philosophie viele Gebiete, die nicht direkt Weltanschauungscharakter tragen, so dort den Kult, hier die Erkenntnistheorie. Am kürzesten läßt sich die besondere Färbung des Begriffs "Weltanschauung" fassen durch den wesentlich objektiv-subjektiven Charakter. Dieser ist schon im Namen ausgesprochen: denn "Welt" ist der Inbegriff alles Realen, aller objektiven Dinge und aller gültigen Werte, "Anschauung" aber ist die Funktion, durch welche, und die Form, in welcher sich das Subjekt jene Welt zueigen macht. Weltanschauung ist die Ineinsbildung von Welt und Subjekt. Dies hat eine doppelte, eine theoretische und eine praktische Bedeutung. Beginnen wir mit der theoretischen Seite. Was ist ein Gemälde? Nicht eine bloße Wiederholung der Natur, kein sachgetreuer Abklatsch des Objekts, wie es die Nachahmungstheorie will. Aber auch nicht selbstherrliche Schöpfung einer schrankenlosen Subjektivität. Sondern es ist die Verarbeitung des Objekts durch eine schauende und formende Persönlichkeit. Ein Gleiches gilt vom Weltgemälde, das sich der Mensch entwirft. Seit KANT hat auch in der Philosophie die Nachahmungstheorie abgewirtschaftet. Ein imitatives Weltbild, eine absolut objektive Wiedergabe des Seins ansich, ist dem endlichen Geist versagt. Der Kritizismus wertete diese Einsicht in einem vorwiegend negativem Sinn, zur Bekämpfung der rationalistischen Metaphysik, die das Weltwesen durch Weltwissen erfassen wollte und - ins Leere griff. Keine Objekt ohne Subjekt. Die Weltanschauung aber kehrt den Gedanken ins Positive. Kein Subjekt ohne Objekt. Kann ich die Welt ansich nicht fassen, so doch die Welt für mich. Ist der Mensch auch kein achromatischer ebener Spiegel, der die Dinge da draußen getreu wiedergibt, sondern ein Prisma, das die Strahlen des Weltlichts in tausend Farbentönen bricht, so ist es doch das Welt licht, das in diesen Farben gebrochen wird. Die Weltanschauung ist bescheidener als die alte Metaphysik, aber anspruchsvoller als Skepsis und Positivismus; sie verzichtet auf das metaphysische Wissen im Sinne der absoluten Wahrheit, aber sie bejaht den metaphysischen Trieb im Sinne einer Tendenz zur höchsten Vereinheitlichung aller Überzeugungen und Wertungen, und sie erstrebt die Erfüllung dieses Triebes, soweit eine solche dem Menschen vergönnt ist. Zum Wesen der Metaphysik wie auch der Religion gehört zwar, ansich genommen, ebenfalls der "objektiv-subjektive" Charakter, aber zugleich das Fehlen des Bewußtseins von ihrer zum Teil subjektiven Bedingtheit. Sie müssen an die schlechthin absolute Gültigkeit und Objektivität ihres Weltbildes glauben, oder sie sind nicht mehr Religion und Metaphysik. Die Weltanschauung begnügt sich mit einer nur relativen Gültigkeit. Sie weiß um das Subjektive,, das an ihr beteiligt ist und das ihre Objektivität dreifach begrenzt. Jede Weltauffassung wird zunächst getragen von einem erkenntnistheoretischen Subjekt, d. h. der für alle Menschen identischen Organisation der Vernunft, welche die Vorbedingung für die Möglichkeit allen Erkennens ist. Sie wird zweitens differenziert durch das kulturelle und nationale Subjekt, d. h. durch die besonderen Strebungen und Überzeugungen der Kulturepoche, Kulturschicht, Volksseele, die sich zum Weltbild verdichten. Sie wird endlich individualisiert durch das Einzelsubjekt, d. h. durch die Persönlichkeit dessen, der die Weltanschauung schaff und gestaltet. - Ja, noch mehr, diese subjektive Begrenzung wird für die Weltanschauung aus einem Mangel ein Vorzug und konstitutiver Wert: während sich in allem schlechthin Objektiven und Allgemeingültigen die Eigenart des Subjekts verlieren muß, erschließt die Weltanschauung dem Subjekt die Welt, ohne daß die Welt das Subjekt verschlingt. Subjekt und Weltanschauung gehören zusammen wie Künstlertum und Werk, wie Heroentum und Tat. Deshalb ist für den Begriff der Weltanschauung ein ergänzender Genitivus subjectivus wesentlich: wir sprechen von der Weltanschauung der Renaissance und der Aufklärung, des Kaufmanns und des Künstlers, des Inders und des Engländers, SPINOZAs und GOETHEs usw., - während Religion nur die Religion, Metaphysik nur die Metaphysik sein will. Und aus dem gleichen Grund kann es für den, der eine Weltanschauung hat, dennoch andere Weltanschauungen neben ihr geben, - während es für den, der Religion oder Metaphysik besitzt, im strengen Sinne keine Religion en oder Metaphysik en geben kann. Alles Bisherige galt dem Welt bild, der theoretischen Seite der Weltanschauung. Aber der Mensch ist mehr als Theoretiker; die Welt ist ihm nicht nur das Objekt seines Schauens und Denkens, das er in ein Begriffssystem zu fassen sucht, sondern zugleich das Objekt seines Schaffens und Handels, nicht nur "Schauplatz", sondern auch "Kampfplatz"; und erst diejenige Weltanschauung erfüllt ihre Aufgabe ganz, welche auch diese praktische Seite regelt. Wir fühlen uns in der Welt nicht nur als fremde Forschungsreisende, sondern als bodenwüchsige Eingeborene, und unser Weltbild soll mehr als beschaulich-gleichgültige Landeskunde, soll Heimatkunde sein. Zur Frage: Was ist die Welt? gehört die andere, ja sie geht ihr voran: Was ist sie mir? Was bin ich ihr? Was schulde ich ihr? Als Antwort auf diese Fragen entsteht ein Inbegriff von Überzeugungen über Wert und Sinn menschlichen Daseins, über Pflichten und Aufgaben, die sich der Mensch selbst und den mannigfachen Kreisen der Welt: der Familie, dem Staat, der Menschheit, der Gottheit gegenüber zu erfüllen hat, über Recht und Sitte, über Verzweiflung und Erlösung - ein Inbegriff von Überzeugungen, der, sofern er tatsächlich das praktische Sein und Tun des Subjekts bestimmt, dessen "Lebensanschauung" darstellt. Und wieder tritt der zugleich objektiv-subjektive Charakter dieser Überzeugungen hervor. Objektiv sind die Werte, da sie die Bedeutung unbedingt geltender Forderungen haben. Aber diese Forderungen erstrecken sich auf das Subjekt, das wieder in jener dreifachen Form aufgefaßt wird: als allgemein menschliches Subjekt, sofern die Lebensanschauung die für jedes Menschenwesen verbindlichen Normen enthält, als kulturelles und nationales, indem die Strömungen einer Zeit, die Willensrichtungen eines Volkes sich zu Wertungen verdichten, als individuelles, indem jeder Einzelmensch aus seiner Eigenart heraus seine besondere Lebensaufgabe und sittliche Mission entwickelt. So besteht dann die Weltanschauung im wahren Sinne des Wortes aus zwei Momenten: einem System von Begriffen und Sätzen, in denen der Mensch das Sein der Welt theoretisch erfaßt, und einer Hierarchie von Wertungen, durch welche der Mensch seine Stellung in der praktischen Wirklichkeit bestimmt. Beide Teile haben denselben Gegenstand, sehen ihn aber von verschiedenen Standpunkten an. Die Lebensanschauung ist anthropozentrisch und muß es sein; die Welttheorie braucht es nicht zu sein und ist es in neuerer Zeit auch meist nicht mehr. Dennoch müssen sich beide zur vollen Einheit verbinden lassen: nur dasjenige theoretische Weltbild kann eine "Weltanschauung" begründen, welches jene Umstellung und Anwendung auf die Lebensanschauung verträgt, ohne sich selbst aufzugeben. Und umgekehrt: nur diejenige Gesamtheit von Prinzipien der Lebensführung kann als "Weltanschauung" gelten, welche sich zugleich in irgendeiner Weise einer theoretischen Gesamtüberzeugung vom Wesen der Welt einpaßt. Damit haben wir Forderungen ausgesprochen, die - obwohl oft genug vernachlässigt - dennoch grundsätzlicher Art sind; ja sie umschließen, wie wir später sehen werden, geradezu die Existenzfrage der Weltanschauung. Denn diese hat letzten Endes die Aufgabe, das Verhältnis von intellektueller Erkenntnis zu wertender Stellungnahme auf eine Einheitsformel zu bringen. Innerhalb des Umkreises dessen, was wir "Weltanschauung" nennen können, gibt es eine unübersehbare Reihe von Abstufungen: vom rudimentären Gesichtskreis des kleinen Kindes, dem "die unendliche Welt noch die Wiege", bis zur Weltansicht des reifen weitschauenden Weisen; vom Fetischismus des primitiven Menschen bis zum abgeklärtenn Monotheismus des modernen Kulturmenschen. Das Unterscheidungsmerkmal für die verschiedenen Stufenhöhen sind aber nicht sowohl bestimmte inhaltliche Erklärungs- und Wertungsprinzipien - findet man doch idealistische und naturalistische, optimistische und pessimistische usw. Weltanschauungen auf allen Stufen - sondern formale Merkmale: der Umkreis dessen, was als "Welt" in die Weltanschauung einbezogen wird, die Art, wie dieser Inhalt zustande gekommen ist, und die bewußte Intensität, mit der das Weltanschauungsziel erstrebt wird. Und auch die im eigentlichen Sinne philosophische Weltanschauung grenzt sich nicht durch einen bestimmten Inhalt gegen andere ab, sondern sie ist die Form, in der jede Weltanschauungsrichtung ihre für den Menschen höchstmögliche Ausgestaltung erreicht. Ehe wir uns unserem Hauptthema, der philosophischen Weltanschauung, zuwenden, sei auf die wichtigsten vor-philosophischen Stufen ein kurzer Blick geworfen: auf die Weltanschauung des Primitiven, auf die des Gebildeten, auf die des "Einseitigen". In latenter, unbewußter Form besitzt jedermann eine Weltanschauung. Auch der einfachste, der unwissendste Mensch findet sich in irgendeiner einheitlichen Weise ab mit dem, was ihn umgibt, was er erlebt. Sein Ich bildet das Bindemittel für die zerstreuten einzelnen Eindrücke, Wertungen und Gedankengänge; diese stehen nicht einfach nebeneinander, sondern durchdringen und verschmelzen zu einem Ganzen, das als "Weltbild" freilich oft lückenhaft und dürftig genug ist und nur einen geringen Bewußtseinsgrad hat. Welches sind die Bausteine, aus denen ein Fidschi-Insulaner oder auch ein russischer Bauer seine Weltanschauung errichtet? Die zufälligen Eindrücke seines engbegrenzten Lebens, in welches die weitere Welt nur selten einen verlorenen Ton hineinklingen läßt, die beschränkten Lebensbeziehungen seiner Umgebung, über die er nie hinausgekommen ist, ein Wust von Überlieferungen theoretischer und praktischer Art, die er sich ohne Besinnen und ohne Prüfung einverleibt, und die als religiöse, mythologische, rechtliche, sittliche Anschauungen die Hauptlinien in die Zeichnung hineinbringen. Endlich einige wenige Reflexionen und mehr oder weniger Phantasie eigener Schöpfung, "das ist seine Welt, das heißt eine Welt"! Was er Neues erfährt, gleitet entweder ab, oder wirk kritiklos und zwangsweise eingegliedert in eines der wenigen Fächer, über welche er verfügt. Immerhin sei es auch hier schon betont, daß selbst enes solche schlichte Weltanschauung nicht ganz der persönlichen Färbung entbehrt. "Eine jede Monade spiegelt das Universum von ihrem Standpunkt." Innerhalb dieser volkstümlichen Weltanschauungen gibt es nun selbstverständlich nocht eine unendliche Stufenreihe von tiefer oder höher gearteten Formen, aber sie bilden doch, wenigstens in unserer Zeit, eine geschlossene Masse gegenüber einer anderen Hauptstufe der Weltanschauungsgestaltung, der des Gebildeten. Diese Zeilen beabsichtigen natürlich nicht, das schwierige Problem des Bildungsbegriffs in seinem ganzen Umfang aufzurollen, sondern sie wollen lediglich einen engen Ausschnitt aus jenem Begriff, eben die Weltanschauungsseite der "Bildung", behandeln. Denn es scheint in der Tat, als ob die Form, in welcher der sogenannte "Gebildete" seine Weltanschauung sucht und gestaltet, typische Züge aufweist, die sie von der latenten Weltanschauung des Ungebildeten ebenso wie von der kritisch-produktiven des Philosophen scheiden. Bildung ist zunächst idiozentrisch im Gegensatz zur Wissenschaft. Intellektueller Inhalt wird nicht gewertet und gesucht um seiner selbst willen, sondern um der dadurch erzielbaren Bereicherung und Vertiefung der Persönlichkeit willen. Es findet daher aus dem Bestand denkbaren Wissens eine Auslese statt, bei der ein Gesetz der konzentrisch abgestuften Beziehung obwaltet: je ferner irgendein Inhalt den leiblichen und seelischen Wesensbedingungen der Persönlichkeit steht, umso kleiner ist auch der Platz, den er im Weltbild des Gebildeten beanspruchen darf.
Bildung strebt somit nicht das Haben bestimmter Stoffe, sondern das lebendige Verstehen an. Sie braucht z. B. von einer neuen wissenschaftlichen Entdeckung erst dann etwas zu erfahren, wenn diese im Begriff ist, sich zu einem Kulturelement von Eigenwert zu entwickeln; sie braucht von ihr nur das zu erfahren, was daran mehr als fachwissenschaftlichen, nämlich allgemein kulturellen Wert hat; sie braucht schließlich von ihr nur das zu behalten, was nötig ist, um die Brücke herzustellen zum Verständnis der weiteren von eben jener Anschauung ausgehenden Kulturfolgen: wer dieses Verständnis hat, hat Bildung, er mag noch so wenig gedächtnismäßes Einzelwissen besitzen. Die "jeweilig gegenwärtie" Kultur, die den Schwerpunkt des Bildungsinhaltes ausmacht, ist aber in ständigem Fortschreiten begriffen; deshalb gehört das Mitfortschreiten, das Flüssigbleiben ebenfalls zum Wesen der Bildung. Nur der ist gebildet, der ständig sich bildend ist. Mag bei einem Menschen noch soviel Wissen, eine noch so große intellektuelle Angepaßtheit an eine früher erlebte Kulturphase vorhanden sein - sobald das Interesse und die Fähigkeit fehlt, neuauftauchende Kulturelemente einzureihen und sein Weltbild entsprechend zu erweitern oder langsam umzubilden, besitzt er keine "Bildung" im wahren Sinn. Freilich hat ja diese, aller Bildung notwendig anhängende Beziehung zur Aktualität oft genug zu den bösesten Folgen geführt. Denn gerade beim Neuen, dem Gegenwärtigen ist die Bewertung der wahren Kulturbedeutung außerordentlich erschwert; statt eine wirklich abgestufte Perspektive um die Gegenwart herum herzustellen, richtet der Mensch das ganze Interesse nur auf dieses Zentrum, und an die Stelle des Bildungstriebes tritt die Neugier und die Sensationssucht: "L'actualité c'est l'ennemi." [Die Neuigkeit ist der Feind. - wp] Ist durch alles bisher Gesagte die Weltanschauung des Gebildeten wesentlich nach Umfang und Gruppierung des Inhalts bestimmt, so haben wir nun noch nach Ursprung und Gültigkeit dieses Inhalts zu fragen. Hier liegt der Hauptunterschied zwischen den Weltanschauungen der Bildung und der Philosophie. Denn sowenig jener Bildungsinhalt aus logisch-wissenschaftlichen Motiven hervorgegangen ist, sowenig genügt er auch logisch-wissenschaftlichen Ansprüchen. Dieselben Quellen, aus denen die volkstümliche Betrachtung floß - Überlieferung, Suggestion, Phantasie und gelegentliche, eigene Reflexion -, sind auch für die Weltanschauung des Gebildeten maßgebend; nur nimmt wegen der beträchtlich größeren Weite des Gesichtsfeldes jeder einzelne Faktor andere Dimensionen an; und infolge des gesteigerten Intellekts hat der Faktor des eigenen Nachdenkens einen verhältnismäßig größeren Anteil. Immerhin bleibt seine Weltanschauung reproduktiv und unkritisch. Den Stoff sowie die Gesichtspunkte der Betrachtung empfängt der "Gebildete" wesentlich von außen. Er eignet sie sich entweder durch die geistige Atmosphäre, die er atmet, durch Sitte und Herkommen, Erziehung und Umgang unbewußt an, bis sie zu selbstverständlichen Elementen seines Ich geworden sind - oder er sucht sie sich aus einem bewußten Kulturinteresse zu verschaffen, wobei dann die bekannten Bildungsmittel: Lektüre, Vorträge, Museen, Konzerte, Theater, Reise usw. benutzt werden. Und nun gar die "Methode" dieses Weltanschauungserwerbs! Wie trübe sind oft die Quellen, aus denen der Gebildete schöpft, wie kritiklos ist sein Annehmen oder auch sein Ablehnen, wie zufällig seine Auslese und wie launisch seine Meinungs- und Stimmungsänderung (1). So weist die Weltanschauung des Gebildeten notwendig hin auf andere höhere Stufen: weil sie wesentlich unproduktiv ist, auf schöpferische, denen sie den Stoff entnimmt - weil sie nicht logisch verarbeitet ist, auf exakte, die durch Kritik und Forschung hindurchgegangen sind - weil sie in der vorhandenen Kultur ihre Grenze findet, auf umfassendere, welche die Gesamtprinzipien des Wissens und die Vorbereitung der kommenden Kultur zu Gegenstand haben. All dies zusammen leisten allein die philosophischen Weltanschauungen, doch haben wir zuvor noch eine etwas abseits vom Weg stehende andere Gruppen zu betrachten. Die "einseitigen" Weltanschauungen erhalten ihr Gepräge durch das unverhältnismäßige Überwiegen eines einzelnen Interessenkreises. Gelegentlich wird diese Vorherrschaft eines Sondergebietes so stark, daß alles andere dagegen fast verschwindet. Dann ist von jener harmonischen Abtönung der verschiedenen Kulturwerte in der einzelnen Persönlichkeit, die erst Bildung ermöglicht, keine Rede mehr; die Weltanschauung steht nur unter einer einzigen Kategorie; die alles andere entweder unter sich zwingt oder einfach an sich abgleiten läßt, die mit einer merkwürdigen Unbeirrtheit an der Welt und an den Dingen nur das zu suchen und das zu sehen versteht, was sie angeht.
Produktiv wie die einseitige Weltanschauung, aber zugleich allseitig und harmonisierend wie die des Gebildeten soll die höchste der Stufen, die philosophische Weltanschauung sein, der wir uns nun zuwenden. Dem Ideal nach müssen in ihr sämtliche Seiten der Geistigkeit zu ihrem Recht kommen, aber sie alle sollen getragen sein vom Intellekt. Denn die philosophische Weltanschauung will zwar in ihrer Art ein schöpferisches Kunstwerk, eine vergeistigte Religion, eine ethische Lebensanschauung sein, zugleich aber, als Rahmen und Zusammenhalt für all das, ein durchgeführtes logisches System, eine kritische Stellungnahme des forschenden Geistes zu allen ihm zugänglichen Dingen und Werten. Das Merkmal des Objektiv-Subjektiven, das dem Begriff der Weltanschauung überhaupt zukam, wird uns bei der Besprechung der philosophischen Weltanschauung zum Einteilungsgrund dienen: wir betrachten zuerst ihre Objekte, sodann ihre Subjekte. Die Welt aber ist Objekt des Erkennens und des Wertens; so haben wir als die objektiven Momente der philosophischen Weltanschauung die Welttheorie, die Weltwertung und schließlich deren Verknüpfung zu behandeln. Ist auch die absolute Wahrheit dem Menschen verschlossen, so muß ihm doch das Recht erhalten bleiben auf eine philosophische Welttheorie, d. h. auf ein System von Überzeugungen, das den höchsten erreichbaren Zusammenschluß wissenschaftlichen Erkennens und Meinens in einer gegebenen Zeit darstellt. Wie der Mensch selber nicht ein Nebeneinander von Wissensatomen, sondern eine sie zur Einheit zusammenfassende Persönlichkeit ist, so kann er es auch nicht ertragen, die Welt als beziehungsloses Konglomerat unzähliger Weltlein zu nehmen; er muß versuchen, eine Einheit zu finden. Bestreitet man dieses Recht der Philosophie, dann bestreitet man das Recht wissenschaftlichen Forschens überhaupt. Denn als Welttheorie betrachtet ist Philosophie nichts anderes als die universalste Form der Wissenschaft. Jede Wissenschaft setzt sich die Aufgabe, in ihrem aus der Gesamtwirklichkeit herausgeschnittenen Sonderkreis zwischen den einzelnen Erscheinungen widerspruchslose Zusammenhänge zu stiften. Aber diese Sonderkreise haben sehr verschiedene Weiten; und darum müssen sich, schon selbst innerhalb der Spezialwissenschaften, die Synthesen auf verschiedenen Stufen immer von neuem wiederholen. Ein beliebiges Beispiel soll das veranschaulichen. Die Ornithologie sucht die innerhalb der Vogelwelt sich darbietendenn Erfahrungstatsachen zu übersehen, zu ordnen und in ihren Gesetzmäßigkeiten festzulegen, ohne sich um etwas anderes zu kümmern. Die Zoologie muß das dort Gefundene in einen Zusammenhang bringen mit Erkenntnissen, die bei anderen Tierklassen erarbeitet worden sind. Die Biologie erweitert den Kreis auf alles Lebendige, auf Tier, Mensch und Pflanze; sie darf z. B., wenn die Zoologie zu einer Auffassung des Lebensbegriffes gekommen ist, die der Auffassung des Botanikers widerspricht, nicht eher ruhen, als bis sie eine Fassung des Begriffs gefunden hat, welche die Anschauungen beider Unterkreise widerspruchslos vereint. Die allgemeine Naturwissenschaft schließlich - man kann sie schon füglich Naturphilosophie nennen - muß der Tatsache gerecht werden, daß organische und anorganische Welt fortwährend in einer Wechselwirkung, in Kraft- und Stoffaustausch stehen, und hat nun wieder die Denkkategorien, welche beiden großen Sphären zukommen: z. B. Materie, Kraft, Kausalität so zu formulieren, daß die Naturwelt als Gesamtphänomen einen Zusammenhang und innere Einstimmigkeit erhält. Und sollte hier plötzlich die Synthese des Wisens stocken? Sollten wir nun nicht auch das Verlangen haben dürfen, alle Anschauungen über die Naturwelt wieder mit jenen in Verbindung zu bringen, welche die Wissenschaften des Geistes und der Kultur aus ihren Methoden heraus geschaffen haben? Sollte das Spezialistentum, das beim bisher geschilderten Fortgang jedesmal nur als provisorisch galt, hier plötzlich verewigt werden? Sicherlich nicht! Wir müssen auch die höchste Synthese wagen, sonst müßten alle jene frühere sinnlos erscheinen. Denn der Umkreis jeder Einzelwissenschaft ist eine nur künstlich isolierte Teilwelt, die in Wirklichkeit mit zahllosen Fäden an der ganzen Welt hängt; und die dort gefundenen Überzeugungen erhalten erst ihre endgültige Daseinsberechtigung, wenn sie bei dieser Einreihung in die höchste Zusammenfassung nicht ad absurdum geführt werden. Die wissenschaftlichen Auffassungen, die der Theologe einerseits, der Physiologe andererseits von der menschlichen Seele hat, sind völlig verschiedenartig und zunächst unvereinbar: ist hier nicht ein Schiedsgericht möglich? Läßt sich nicht die Unzulänglichkeit des einen oder des anderen Seelenbegriffs oder beider nachweisen und ein Ausgleich herstellen? Das sind Fragen, auf die eine Antwort weder von der Warte der theologischen noch von der physiologischen Spezialwissenschaft erblickt werden kann; man muß eine Vogelperspektive zu gewinnen suchen, welche beide Gebiete zugleich und in ihrer gegenseitigen Beziehung zu überschauen gestattet, d. h. man muß die Frage philosophisch behandeln. Solche Beispiele lassen sich häufen. Wie so ganz anders sieht der Begriff der Ursache beim Physiker und beim Juristen, der des Zweckes beim Biologen und beim Ethiker aus; wie verschiedenartig werden die in der Welt sich abspielenden Veränderungen vom Geschichtsforscher und vom Chemiker aufgefaßt; welche Kluft gähnt zwischen dem "Arbeits"-Begriff des Nationalökonomen und dem des Physikers, zwischen der Raumauffassung des Mathematikers und der des Psychologen - und doch ist es dieselbe eine Welt, welcher Ursächlichkeit und Zweckhaftigkeit, Geschehen, Arbeit und Raum angehören. So erfordert dann der Fugenbau der Einzelwissenschaften ein philosophisches Weltbild zugleich als vereinheitlichenden Grundriß und verbindende Krönung des Gebäudes; und die Einsicht, daß man nicht für die Ewigkeit bauen kann, ändert nichts an der zeitlichen Unentbehrlichkeit jenes Gesamtbildes. Universalhypothesen sind als jeweilig letzte Zusammenfassungen für die Gesamtheit der Wissenschaft ebenso nötig, wie irgendwelche spezialwissenschaftlichen Hypothesen es für Einzelfragen sind; und sowenig die Spezialforschung der Hypothese als methodischen Hilfsmittels deswegen entraten darf, weil sie durch etwaige neue Einsichten künftig überholt oder widerlegt werden könnte, sowenig vermag - im großen und allgemeinen - Wissenschaft auf die letzten Synthesen darum zu verzichten, weil eine künftige Zeit mit fortgeschrittenem Wissen eine Revision oder auch Umgestaltung des theoretischen Weltbildes wird vornehmen müssen. Ja, noch mehr! Der Wert einer philosophischen Welttheorie überdauert sogar noch die Zeit ihrer Geltung. Denn was sie brachte, war niemals nur falsch! Sie eröffnete neue Weiten, sie schuf neue Begriffskategorien, durch welche die Wirklichkeit von früher unbeachteten Seiten her gefaßt werden konnte, sie verband früher Getrenntes - und so dient sie dann noch, wenn sie als Ganzes überwunden und überholt ist, weiterem Forschen und Denken zum Hilfsmittel des Fortschritts. In der Tat, die Geschichte der philosophischen Welttheorien ist doch etwas anderes als nur eine Chronik menschlicher Denkirrungen, zu der verständnislose Gegner sie machen wollten. Die Philosophie muß sich zwar immer wieder von neuem die Welt gedanklich erobern; aber jedesmal ist es eine umfassendere Welt, die sie ihrerseits zu umfassen sucht; denn von Mal zu Mal findet sich einem unendlich vermehrten Material von empirischen Kenntnissen und spekulativen Vermutungen, von Fragestellungen und Betrachtungsstandpunkten gegenüber, die bewältigt werden müssen; jedesmal aber steht ihr auch schon die verdichtete Vorarbeit früherer Epochen zur Verfügung, welche sie als Momente in sich aufnehmen kann. Als höchste Synthese aller Einzelwissenschaften steht die Philosophie diesen nicht nur empfangend, sondern auch gebend gegenüber. Denn aus ihrer verknüpfenden und läuternden Denkarbeit gehen Begriffe und Hypothesen, Wertungen und Klassifikationen oft von Grund aus umgewandelt hervor und gewähren nun den Sonderwissenschaften neue Denkweisen und Aufgaben. Der moderne Begriff der strengen Naturkausalität ist den Naturwissenschaften zum großen Teil von der Philosophie vorbereitet worden; die Rolle, die der Entwicklungsgedanke heute in ganz verschiedenartigen Natur- und Geisteswissenschaften spielt, wurde nur dadurch möglich, daß - in Wechselwirkung mit den biologischen und historischen Einzelforschungen - die philosophische Erweiterung des Begriffs durch HEGEL und SCHELLING, SPENCER und HÄCKEL fortwährend am Werk war. Die gleiche rege Wechselwirkung von Nehmen und Geben besteht nun aber auch in methodischer Beziehung zwischen der Philosophie und den Spezialgebiten; Philosophie hat nämlich auch die allgemeine wissenschaftliche Funktion der Methodenkritik in oberster Instanz zu verwalten. Wenn sie die Ergebnisse der Wissenschaft zur Begutachtung übernimmt, prüft sie nicht nur ihren Inhalt, sondern auch das Ursprungszeugnis. Denn nur dann läßt sich eine Entscheidung im Kampf der Welthypothesen treffen, wenn man untersucht, woher diesen ihren Anspruch auf Gültigkeit nehmen. Tragweite und Erkenntniswert der einzelwissenschaftlichen Methoden unterliegen eben manchen allgemeinen Bedingungen, über welche die Sondergebiete selbst mit ihrer notwendig beschränkteren Sehweite kein endgültiges Urteil zu fällen vermögen. Deshalb muß geprüft werden, inwieweit und in welcher Weies Empirie, diskursives Denken und Intuition an der wissenschaftlichen Arbeit Anteil haben, welche Rolle Beschreibung und Erklärung, Hypothese und Wahrscheinlichkeit spielen, welche Leistungsfähigkeit der Induktion [Schluß vom Einzelnen auf Allgemeines - wp], dem Experiment, der mathematischen Berechnung innewohnt usw. Letzten Endes aber muß die Philosophie diese Untersuchungen über die Methodik der Einzelwissenschaften aufbauen auf einer allgemeinsten Fundamentaluntersuchung, die ihrem eigenen Machtbereich, den Voraussetzungen jeder wissenschaftlichen Erkenntnis überhaupt gilt: sie muß sich auf Erkenntnistheorie gründen. Welttheorie und Erkenntnistheorie - man meint oft, diese beiden Richtungen der Philosophie schließen sich gegenseitig aus. Nichts ist falscher, ja gefährlicher als diese Meinung. Zutreffend ist sie nur für den seltenen Spezialfall einer nihilistischen Erkenntnistheorie, welche - wie etwa die Sophistik - jeden Unterschied zwischen Wissen und Laune, zwischen Erkenntnis und Jllusion schlechthin aufhebt. Dann freilich hört nicht nur die Welttheorie, sondern überhaupt jede wissenschaftliche Forschung auf. Für alle anderen Standpunkte aber ist die Erkenntnistheorie nicht der Ersatz, sondern nur die Vorbereitung der Welttheorie. Mag auch die Erkenntnistheorie das Wissen als subjektiv bedingt hinstellen, als nur Erscheinungen gebend, mag sie nun "phänomenalistisch" oder "positivistisch" oder "empiriokritisch" oder "immanent" sein - sobald sie eine irgendwie definierte Berechtigung theoretischer Überzeugungen anerkennt, entsteht auch die Forderung nach einer höchsten Synthese dieser Überzeugungen, als einer inhaltlich bestimmten Welttheorie. All dies muß besonders hervorgehoben werden, weil man so oft der lähmenden Anschauung begegnet, seit KANT könne Philosophie überhaupt nur noch Erkenntnistheorie sein. Man denkt immer nur an die Gegensätzlichkeit zwischen Erkenntnistheorie und absoluter Metaphysik, und glaubt, mit der Niederwerfung dieser jedweden Versuch, sich über die Wesensbestimmtheit der Welt eine theoretische Überzeugung zu bilden, abgeschnitten zu haben. Wäre dies war - dann wäre über die menschliche Geisteskultur niemals ein größeres Unglück gekommen als die Erkenntnistheorie. Aber es ist nicht so. Wie unentbehrliche Dienste sie in ihrem Richter- und Wächteramt leisten mag, sie ist nicht berufen, das Herrscheramt zu führen; denn auf dem Thron sitzen kann nur das Schaffende. So können wir die philosophische Weltanschauung nach der Seite der Welttheorie hin durch drei Merkmale kennzeichnen: Bewußtheit, Universalitätsstreben, Kritizismus. Sie ist bewußt, das Erzeugnis absichtlichen Schaffens. Auch der Nichtphilosoph hat ja eine Weltanschauung; aber er pflegt nicht noch einmal mit der Reflexion über ihr Vorhandensein zu quittieren. Sie ist da und wirkt als Bewußtseinshintergrund; sie wird aber meist nicht zum gesonderten Bewußtseinsmittelpunkt. Sobald dies eintritt, so "philosophiert" man - und wer hätte in diesem Sinne nicht schon gelegentlich philosophiert? Ganz anders aber der eigentliche Philosoph. Das bewußte Streben, eine Weltanschauung zu gestalten, ist ihm das Leitmotiv seines Tuns, ja ist ihm Lebensaufgabe, Sinn des Daseins. Er leidet an diesem Problem, wie nur ein Mensch an einem Sehnsuchtsziel leiden kann. Neue Seiten des Daseins, die sich ihm auftun, lassen ihm keine Ruhe, bis sie sich nicht zu einer theoretischen Einsicht verdichtet und ihren Platz im Bild erhalten haben. Durch diese bewußte Zuspitzung des Denkens auf das Ziel "Weltanschauung" kann in der philosophischen Arbeit eine Energie zur Auslösung kommen, die sich in Licht und Wärme für das gesamte Geistesleben zu verwandeln vermag. Die philosophische Welttheorie strebt ferner nach Universalität. Sie soll dem Ideal nach so beschaffen sein, daß sich das Ganze des vorhandenen Wissens in sie einordnen läßt. Es kann natürlich nicht jede letzte Einzelheit der Wissenselemente einer Zeit aktuell in der Welttheorie enthalten sein; aber diese soll doch - potentiell - die Voraussetzungen und Handhaben dazu bieten, welche zur etwaigen Bewältigung jener Einzelheiten nötig und hinreichend sind. Sie soll nur eine Synthese der Prinzipien, aber eine Synthese aller Prinzipien sein. Eine Weltanschauung, deren Rahmen wesentliche Tatbestände der Welt ausschließt, ist keine eigentlich philosophische mehr; eine Weltanschauung, aus der wesentliche Hypothesen irgendeiner Wissenschaft herausfallen, ist nur dann eine philosophische, wenn sie den Weg weist zu einem Ersatz der Hypothesen durch andere oder durch positive Erklärungen. Es ist eine ungeheure Anforderung, die hier an die philosophische Welttheorie gestellt wird, und sie ist objektiv genommen niemals erreicht worden. Aber die Absicht der Universalität war zumindest da. Ein ARISTOTELES, ein SPINOZA, ein HEGEL, sie haben in der Tat geglaubt, daß ihre Welttheorien Netze sind, die nichts, was überhaupt im Gesichts- und Wissenskreis ihrer Zeiten lag, entschlüpfen ließen. Schließlich: die philosophische Welttheorie ist kritisch: d. h. kein einzelner Bestandteil wird hingenommen, ohne daß seine Berechtigung geprüft worden wäre; die Prüfungsordnung aber und die Bedingungen der Zulassung werden vom Philosophen aus eigener Machtvollkommenheit festgestellt. Die Kriterien hierfür sind bei verschiedenen Denkern verschieden genug: Vernunftgemäßheit, sinnliche Wahrnehmbarkeit, intellektuelle Anschauung, consensus omnium [allgemeine Übereinstimmung - wp] Offenbarung und manch anderes wurde zum Maßstab der Wahrheit gemacht - übereinstimmend bleibt aber doch immer, daß der Philosoph sich selbst als Gesetzgeber und zugleich als Gesetzesanwender fühlt. Der erkennenden Funktion des Menschen, welche die Welttheorie erzeugt, steht das Werten als eine besondere Geistesfunktion gegenüber, die ebenfalls den Anspruch erhebt, an der Weltanschauung mitzuwirken. Denn sie will die "Lebens anschauung" des Menschen begründen. Wenn man die verschiedenen Rollen betrachtet, die etwa die Begriffe der Natur im Mittelalter und in der Gegenwart, die Begriffe der Einzelpersönlichkeit bei LEIBNIZ und bei SPINOZA, die Begriffe der Gleichheit bei Individualisten und Sozialisten, die Gottesbegriffe bei Theisten und Atheisten spielen, so bemerkt man sofort, daß jede dieser Scheidungen etwas anderes darstellt als eine bloße Differenz der theoretischen Überzeugungen. Nicht um ihre Bedeutung im Ganzen alles Existierenden, um ihre Stellung in einer Hierarchie von Werten. Diese Funktion des Wertens zeigt trotz aller Selbständigkeit deutliche Analogien zum Erkennen. Beides ist ein Objektivieren seelischer Phänomene. Bei der Erkenntnis werden gewisse theoretische Inhalte des Bewußtseins, bei der Wertung gewisse Gefühle in die Objekte als deren Eigenschaften und Relationen hineinverlegt. Hier wir dort bemerkt zwar eine fortgeschrittene Kritik den subjektiven Anteil und kann darauf Zweifel gründen an der absoluten metaphysischen Gültigkeit jener Objektivation; aber hier wie dort vermag doch diese Kritik niemals den Zwang zur Objektivation selbst aufzuheben; nach wie vor gehört es zum Wesen des Menschen, zur Welt alternativ Stellung zu nehmen - erkennend unter dem Gesichtspunkt wahr und falsch, wertend unter dem Gesichtspunkt gut und schlecht -, und diese Stellungnahmen bis zur höchsten möglichen Synthese fortzuführen. Daß das Werten eine dem Erkennen durchaus ebenbürtige geistige Funktion ist, ist nicht immer mit genügender Klarheit eingesehen worden. Freilich, manche Philosophen - so PLATON, LEIBNIZ, FICHTE - haben mit vollem Bewußtsein die Welt als ein unermeßlich abgestuftes Wertsystem begreifen wollen. Oft aber fehlte auch diese bewußte Absicht. Man meinte auf dem Wege kühl-nüchterner Erkenntnis das Ganze des Weltproblems erschöpfen zu können und sah womöglich gerade in der Aufhebung aller Rangunterschiede und Wertbeziehungen die Vorbedingung eigentlich wissenschaftlicher Philosophie. Allein diese Lehrmeinungen wurden fast immer durch die Taten der Philosophen selbst Lügen gestraft. Derselbe SPINOZA, der das All restlos in die um Gut und Böse, Billigung und Mißbilligung völlig unbekümmerten Gesetze der mathematischen Logik pressen möchte, der die Handlungen des Menschen wie indifferente geometrische Gebilde analysieren will - derselbe SPINOZA nennt sein ganzes System Ethik nach jenem Schlußstein, in dem er mit sehr untheoretischer Mystik als einzig wertvolles Lebensideal das Aufgehen in der Gottheit preist! Alle jene Hauptbenennungen, nach denen sich in der Philosophie die Geister trennen: Idealismus und Materialismus, Optimismus und Pessimismus, Monismus und Dualismus usw., sie scheinen auf theoretische Anschauungen zu gehen und sind dennoch letzten Endes hergenommen von Wertungen. Ein Werten ist, wenn PLATO die Idee als das wahrhaft Seiende, die Materie als das negative, ja böse Prinzip, und die Dinge nur als schwankende Halbheiten zwischen beiden ansieht; - und wenn später die christliche Philosophie zwischen sinnlicher und übersinnlicher Welt eine ähnliche Rangabstufung vornimmt. - Wenn KANT für Gott, Freiheit und Unsterblichkeit "praktische" und damit eine höhere, gleichsam realere Realität beansprucht als für die Erkenntniselemente der Erfahrungswelt, und wenn er den Satz ausspricht: daß die Dinge einen Preis, der Mensch aber eine Würde habe - so wird gewertet und nicht erkannt. Ja selbst ein Hauptbegriff der scheinbar so objektiv nüchternen modernen Naturphilosophie, der der "Entwicklung", ist durch und durch ein Wertbegriff. Man halte ihn nur gegen den in der Tat wertfremden Begriff der "Veränderung", so sieht man, daß Entwicklung gerade durch die Wertsteigerung charakterisiert ist. Jede Aufstellung von Zwecken und Zielen, Normen und Idealen, jede Alternative von Gut und Böse, Schön und Häßlich bedeutet ein Werten; und wo ist die Philosophie, die nicht erst recht von solchen Tendenzen durchsetzt wäre? Das aber ist nicht ein Mangel, sondern gehört geradezu zum Wesen der philosophischen Weltauffassung; denn eine wertfremde Welt wäre eine wertlose Welt. Der Philosoph soll sich also nicht seine Aufgabe künstlich vereinfachen, indem er von der Wertseite der Welt absieht, sondern er soll sich heranwagen an die große Aufgabe und sie bewußt, universell und kritisch behandeln. Wir fordern also für die philosophische Weltbewertung, daß sie dieselben Merkmale besitzt, die wir auch für die philosophische Welttheorie bezeichnend fanden. Freilich, das erste dieser Merkmale ist, wie wir schon oben sahen, nicht immer verwirklicht. Zuweilen fehlt dem Philosophen das Bewußtsein, daß er wertet und daß er werten will und soll; es wird dann sein Philosophieren zu einem Werten wider Willen. Sicherlich aber bedeutet das Vorhandensein des Wertungsbewußtseins einen Vorzug in der philosophischen Weltanschauung; denn sobald auch diese Seite der Gedankenschöpfung mit Absicht und Überlegung gepflegt wird, dann ist zu hoffen, daß die beiden anderen an das philosophische Werten zu stellenden Anforderungen, Universalität und Kritik, umso eher erfüllt werden können. Allumfassend soll das System der Wertungen sein, derart, daß sich das Ganze der Welt einer großen Rangordnung der Werte fügt. Der unphilosophische Kopf wertet von Fall zu Fall, oder er hat vereinzelte Wertprinzipien, denen alles untergeordnet wird: man denke an den Chauvinisten, an den Ästheten, an den Parteimann in irgendeiner Sache; wenig kümmert er sich darum, welche Rolle diese seine Werte im Ganzen der Menschheit oder gar des Alls spielen, und wie sie sich mit andern - gleichgeordneten, niederen, höheren - Werten vertragen. So gibt es in der Welt zahllose Wertungssysteme und -Systemchen; jedes Volk, jeder Stand, jede Gruppe, jedes Fach, ja schließlich jeder Mensch hat das seine. Sie zersplittern sich zu kleinen Einseitigkeiten, zu Engherzigkeiten und Fanatismen, die zusammenhanglos nebeneinander stehen oder feindselig aufeinander prallen. Sie verdichten sich andererseits zu großen Kulturwirksamkeiten: Religion, Wissenschaft, Moral, Kunst, die schon sehr umfassende Wertsysteme darstellen. In jedem von ihnen gibt es Wertgegensätze und Wertstufen; und in jedem gipfelt die Rangordnung in einem höchsten Wert: in der religiösen Heiligung, der logischen Vernünftigkeit, der sittlichen Vollkommenheit, der reinen Schönheit. - Aber all dies sind doch nur Teilgebiete und Teilsynthesen; und wieder verlant es den Menschen nach einem letzten Zusammenschluß und einer allumfassenden Rangordnung, denn jene nebeneinander herlaufenden oder sich durchkreuzenden Werte gehören doch einer Welt an. Das gefühlsmäßige Sehnen nach einer solchen höchsten Wertkulmination - "nenn' es Glück, Herz, Liebe, Gott" - findet in der Religiosität seine Befriedigung; wo jenes Bedürfnis aber nach begrifflichem Ausdruck sucht, und wo es vor allem das lückenlose System der Werte synthetisch zu umfassen strebt, da führt es zur Philosophie. Auch hier trägt jenes Letzte, Endgültige sehr verschiedene Namen: Gott, Substanz, das Absolute, das Ideal, die Menschheit, die Persönlichkeit, Natur, Universum, Materie, Energie, Weltgeist, Weltkraft - womit ebensoviel grundverschiedene Wertungsweisen und damit grundverschiedene Weltanschauungen gekennzeichnet sind. Aber jedesmal wird dann der Versuch gemacht, all dem, was uns an spezielleren Werten im Dasein begegnet, seinen Platz anzuweisen unter jenem höchsten Wert - wobei es dann oft zu weitgehenden "Umwertungen" der Werte kommt. Schließlich: kritisch muß die Weltbewertung sein, soll sie eine philosophische heißen. Es genügt nicht, das hierarchische System der Werte aufzustellen, man muß es auch rechtfertigen. Dazu bedarf es, ebenso wie in der theoretischen Erkenntnis, eines Kriteriums, von dem die Anerkennung der Wertgeltung abhängig gemacht wird. Und auch bezüglich der Wahl und Anwendung dieses Kriteriums läßt sich für das Wertsystem Entsprechendes sagen wie für die Welttheorie: "Die Prüfungsordnung und die Bedingungen der Zulassung werden vom Philosophen aus eigener Machtvollkommenheit selber festgestellt. Die Kriterien sind verschieden genug, gleich bleibt sich aber doch immer, daß der Philosophe sich als Gesetzgeber und zugleich als Gesetzesanwender fühlt." Man bedenke etwa, welch verschiedene Stellung irgendeine bestimmte Wertkategorie (z. B. die der ästhetischen Werte) erhält, wenn man sie dem einen oder dem andern der folgenden Wertkriterien unterstellt: Vernunftgemäßheit, Naturgemäßheit, Sittlichkeit, Seelenheil, Glücksförderung, Nützlichkeit. Alle diese aber noch manche andere sind tatsächlich aufgestellt worden. So sind wir zu zwei umfassenden Synthesen gekommen: der Welttheorie und dem Wertsystem. Wie sie sich zueinander verhalten, und ob sie sich einer letzten und höchsten Synthese fügen - das ist erst das eigentliche Grundproblem allen Weltanschauungsstrebens. und Wertsystem Erkennen und Werten sind zwar sehr verschiedene, aber nicht völlig voneinander isolierbare Funktionen menschlichen Geisteslebens; sie stehen vielmehr in allerinnigstem Zusammenhang, und die Philosophie hat daher die Aufgabe, ihre Wechselwirkung nach allen Seiten hin umfassend zu regeln. Eine Wechselwirkung ist es in der Tat - nicht etwa nur, wie man oft allzu intellektualistisch meinte, die einseitige Wirkung des Erkennens auf das Werten. Freilich drängt sich diese zunächst auf. Die Bewertungen der Dinge hängen nun einmal, wenigstens zum Teil, von den Überzeugungen über die Dinge ab: die unphilosophischen Werthaltungen von den unphilosophischen, d. h. unkritischen, hergebrachtenn oder launenhaften Meinungen, die philosophischen Wertungen aber von den philosophischen, d. h. kritisch geprüften, logisch begründeten Einsichten der Welttheorie. So hat hier die Philosophie zunächst die Aufgabe einer stetigen Wert-Eichung: jede neue bedeutsame Entdeckung und Hypothese der Einzelwissenschaften, jedes neue Ergebnis der theoretisch philosophischen Synthese, jede große Wendung in der Geschichte der Menschheit muß auf die Einwirkung geprüft werden, die sie auf das System der Wertungen auszuüben vermag.
Doch nun das Gegenbild. Die Erkenntnis ist nicht nur der spendende, das Wertungsgebiet der empfangende Teil im Verhältnis beider, sondern auch das Umgekehrte findet statt, ja ist von noch größerer grundsätzlicher Bedeutung. Man könnte - in Abwandlung einer SCHOPENHAUER'schen Formel - geradezu vom Primat des Wertens über den Intellekt sprechen. Diese These, die den reinen Intellektualismus in der Weltanschauung bestreitet, verlangt wohl, durch einige Proben belegt zu werden. Schon die Auswahl des Erkenntnis stoffes wird durch Wertgesichtspunkte bestimmt; da wir aus der unendlichen Fülle des Erkenntnismöglichen nur einen engbegrenzten Ausschnitt zu bewältigen vermögen, so wenden wir uns vor allem der Bearbeitung derjenigen Probleme zu, welche sich auf wertvolle Seiten der Welt beziehen und von deren Lösungen wir wertvolle Aufklärungen erwarten. - Noch mehr aber bestätigen die Lösungsversuche selbst den Wertprimat. Man glaube doch nicht, daß ein wissenschaftliches Gedankenergebnis einem maschinenmäßigen Zwang seinen Ursprung verdankt, dergestalt, daß es eindeutig festgelegt ist, sobald einmal die Elemente des Wissens gegeben sind. Vielmehr ist das Erkennen - und vor allem das philosophische Erkennen als Synthese höchster Instanz - eine mehrdeutige Funktion, die ihre Determination zur Eindeutigkeit von anderswoher (nämlich von Wertungen) erhalten muß. A und B seien Erkenntnisinhalte, zu denen ich schrittweise gelangt bind, und die ich nun philosophisch zu einer letzten Verknüpfung bringen will. Ich suche eine Kategorie für diese Vereinheitlichung. Vielleicht wähle ich als solche C und sage: sowohl A wie B ist auf C zurückführbar. Oder aber ich lasse A selbst als Fundamentales, Letztes gelten und führe B auf A zurück. Oder auch umgekehrt. Welche Kategorie ich aber als Erklärungs prinzip, welche als erklärungs bedürftig auffasse, das hängt nicht wieder von theoretischen Momenten, sondern von Wertungen ab. Denn alles Fragen geht letztlich auf eine Antwort, bei der man sie beruhigen kann, alles Verständlichmachen muß schließlich auf etwas hinführen, was als selbstverständlich gilt. Dieser feste Nagel aber, welcher die Vorbedingung dafür ist, daß sich die Kette der Theorie von irgendwoher abrollt, kann durch Theorie selbst nicht erst gefunden werden; er ist vortheoretisch und damit zugleich übertheoretisch. Er verdankt seine Annahme einer grundlosen Position und Anerkenntnis, nicht aber einer Erkenntnis. Ohne Axiome keine Theoreme - axioun aber heißt "Werten". Bei diesen Urwertungen hört wegen ihrer Erhabenehit über Begründung und Beweise auch die Möglichkeit auf, sie als verbindlich den anderen aufzuzwingen. Der eine beruhigt sich, wenn er alles auf Gott, der andere, wenn er alles auf Naturgesetze zurückgeführt hat. Einen HERAKLIT erschien von den beiden Hauptzuständen der Welt (Werden und Sein) die Veränderlichkeit als das Urgegebene, und die Beharrung erst erklärt, nachdem sie (als Gleichgewichtszustand einer Bewegung) auf jene zurückgeführt war; die Eleaten werteten umgekehrt. Für den Idealisten ist das Geistige dogmatisch und das Stoffliche problematisch, für den Materialisten umgekehrt. Der Mechanist leitet den Zweck aus dem Zwang, der Teleologe den Zwang aus dem Zweck ab. Ähnlich steht es auch mit dem obersten Formalprinzip der philosophischen Methode. Hier tritt, so sahen wir, der Philosoph als Gesetzgeber für seine eigene Gesetzesanwendung auf. Womit aber rechtfertigt er diese Prinzipien, die er als Fundamentalmaßstäbe an alles anlegt? Etwa damit, daß er sie für richtig erkannte? Das wäre ein circulus vitiosus [Teufelskreis - wp]. Nein, die Prinzipien stellen sich dem Philosophen als schlechthinnige, nicht weiterer Begründung bedürftige und fähige Werte dar, aus denen erst alle einzelnen Erkenntnis- und Lebensnormen ihr Recht schöpfen. Dem Rationalisten gilt Übereinstimmung mit der Vernunft und Ursprung aus der Vernunft als unbedingter Maßstab der Wahrheit. Fragen wir "warum?", so ist darauf keine theoretische Antwort mehr möglich, sondern eben nur diese: weil ihm die Vernunft schlechthinnigen und höchsten Erkenntnis-"Wert" hat. Ebenso im Ethischen: für den Eudämonisten ist die Glücksförderung der letzte Maßstab zur Beurteilung der Lebensziele und Willenshandlungen - warum? Weil ihm das Glück schlechthinniger Daseins- Wert ist. Im Anfang ist der Wert. Indessen kommt die volle Suprematie [Vorherrschaft - wp] des Wertprinzips erst in einer Erscheinung zum Ausdruck, die bereits an der Grenze der eigentlichen Philosophie steht: in der Emanzipation des Wertens vom Erkennen. Es gibt wertungen, die dem Menschen so Luft und Licht seines Daseins, so tief eingewurzelt und unentbehrlich sind, daß er sich an sie klammert und sie bewahrt - trotz aller widersprechenden Erkenntnis. Und wenn er vor die Entscheidung gestellt wird, entweder die Erkenntnis oder jene Werte zu verwerfen, dann entscheidet er sich für den ersten: "Credo, quamquam absurdum!" [Ich glaube, obwohl es absurd ist. - wp] Ja, wenn jene Wertung den Menschen ganz erfüllt und ihm dagegen die wertfremde Erkenntnis flach und nichtig erscheint, nicht nur als Hemmnis, sondern geradezu als verzerrtes Gegenbeispiel der wahren Bedeutsamkeit des Daseins, dann kommt er gar zu einem furchtbaren "Credo, quia absurdum" [Ich glaube, weil es absurd ist. - wp] (2) Selbst abgesehen von solch extremen Formen begegnet uns die Emanzipation des Wertens vom Erkennen oft genug. Es werden dann der Wirksamkeit und Gültigkeit des Erkennens enge Grenzen gezogen, darüber hinaus aber noch Überzeugungen anerkannt, die ihre Begründung lediglich in atheoretischen Wertungen haben sollen. Jene Lehre des ausgehenden Mittelalters, die eine "doppelte Wahrheit", eine philosophische und eine davon unabhängige theologische, annahm, ist ein Beispiel hierfür. Der Hauptvertreter dieser Anschauung aber ist KANT. Nach ihm sind die Überzeugungen von Gott, Freiheit, Unsterblichkeit ebenso un be weisbar wie un ab weisbar, sie sind für die menschliche Persönlichkeit Forderungswerte von solcher Unmittelbarkeit, daß sie die Gewähr für ihre Realität in sich selber tragen, obwohl die theoretische Erkenntnis über sie zu gar keinem, oder gar - beim Freiheitsproblem - zum entgegengesetzten Ergebnis kommt. Zur Philosophie gehört dieses Sich-Hinwegsetzen des Wertens über das Erkennen nur noch insofern, als ein erkenntnistheoretisches Schiedsgericht die Grenzstreitigkeiten der beiden Funktionen zugunsten des Wertens entscheidet. Die Positive Weltanschauung selbst aber, die daraus entspringt, kann eine ethische oder ästhetische oder religiöse sein; zur philosophischen fehlt ihr jenes Hauptmerkmal, die letzte und allerhöchste Synthese von Welttheorie und Weltwertung darzustellen. Als Antrieb dagegen zur Gestaltung neuer philosophischer Weltanschauungen besitzt jene Unvereinbarkeit von wertfeindlicher Theorie und theoriefeindlicher Wertung unermeßliche Bedeutung. Die Feststellung, daß hier eine Kluft gähnt, rüttelt die Geister zu neuer Arbeit auf, die nicht eher ruht, als bis die Welt der Denkbarkeiten und die Welt der Rangordnungen sich wieder als eine Welt erfassen läßt. Auf das "Credo, quia absurdum" des angehenden Mittelalters mußte daher die Scholastik folgen, auf die "zwiefache Wahrheit" des ausgehenden Mittelalters die großen Systeme der beginnenden Neuzeit, auf KANT ein HEGEL und SCHOPENHAUER. Nach beiden möglichen Richtungen hin geht dann eine solche energische Philosophenarbeit: entweder wird gesucht, die Wertungen zu reformieren, damit sie sich der Theorie fügen: wir sahen schon oben, daß dies häufig gelingt, daß aber gerade die fundamentalsten Wertungen sich oft stärker zeigen und trotz ihres widertheoretischen Charakters ihre Unerschütterlichkeit bewahren. Dann muß der andere Versuch beginnen, die Erkenntnis den Wertungen anzupassen, d. h.: das theoretische Weltbild so zu gestalten, daß darin die Fundamentalwertungen zu ihrem Recht kommen. Man irrt, wenn man schon im Zugeständnis einer solchen "Anpassung" ansich etwas wie feige Fahnenflucht des wissenschaftlichen Geistes sehen wollte. Dies träfe zu, wenn sich das Erkenntnissystem allein schon durch die äußere Autorität gewisser Wertungen einen Zwangskurs auferlegen ließe - auf solche Weise könnte vielleicht eine dogmatisch-kirchliche, nie aber eine echt philosophische Weltanschauung entstehen. Und es kann auch Fahnenflucht sein, wenn innerhalb des Philosophen selbst seine Erkenntnis zu schnell vor seiner wertenden Stellungnahme kapituliert, wenn er jeden dem intellektuellen Ergebnis zuwiderlaufenden Wert als einen Fundamentalwert ansieht und gar nicht erst versucht, ihn sich geistig zu unterwerfen. Wo eine solche Bewältigung dagegen auch intensivster Arbeit nicht gelingt, wo daher für die Theorie die Gefahr bestände, einfach von den unaufgebbaren Wertungen beiseite geschoben zu werden, da ist Vogel-Strauß-Politik nicht Beharrlichkeit, sondern Feigheit. Hat man einmal eingesehen, daß auch die theoretischste Theorie nicht ein mechanisch-eindeutiges Gedankengebilde ist, sondern schon in ihrer innersten Struktur von Wertungen durchzogen, daher vieler Ausgestaltungsmöglichkeiten fähig, dann wird man fordern, daß sie diese Elastizität gerade dem letzten und höchsten Problem gegenüber bewährt; das ist für die Philosophie nicht ein Sichselbstaufgeben, sondern die Erfüllung ihrer vornehmsten Aufgabe. Ja, noch mehr! Gerade wenn man der Erkenntnis die hohe Mission zuerteilt, auf das Werten einzuwirken, dann muß sie sich auch ihrerseits mit den allgemeinsten Forderungen des Wertens in Einklang zu setzen suchen. Ist die Erkenntnis wertfremd, so ist sie es nach beiden Seiten hin; sie fügt sich nicht der Wertwelt, aber sie leistet auch nichts für sie. Die machtvollsten Einwirkungen der Philosophie auf Kultur und Lebensgestaltung der Jahrhunderte sind nicht von jenen Systemen ausgegangen, welche die Welt als ein ethisch indifferentes Sachgebilde angesehen haben, sondern von denen, welche durch die Grundtatsache, daß es Wertungen gibt, ihren Erkenntnisgang bestimmen ließen. Ein theoretisches Wissenssystem, das sich streng abgesondert gegen jedwede Beziehung zur Wertwelt halten will, erniedrigt sich so selber zu einer gleichgültigen Jonglierkunst mit Gedanken oder zu einem gespenstischen Schattenspiel, das mit seinem "kimmerischen Grau" (3) die Weltanschauungssucher abschreckt. Wenn man z. B. empfindet, daß eine mechanisch-naturalistische Welttheorie den Werten der geistigen Persönlichkeit und der sittlichen Selbstbestimmung, der zielvollen Lebendigkeit im Weltgeschehen und der Erhebung zur Gottheit nicht gerecht wird - welche Folgerung ergibt sich? Soll man (mit KANT) resignieren: "An jenen Punkten versagt eben theoretisches Erkennen grundsätzlich"? Sich (mit DUBOIS-REYMOND) bei einem endgültigen "ignorabimus" [Ich weiß es nicht. - wp] zu beruhigen? Oder soll man umgekehrt (mit mechanistischen Dogmatikern) den Knoten zerhauen durch die bequeme Resolution: "Persönlichkeit, Selbstbewußtsein, Gottheit und Zielstrebigkeit sind nur Jllusionen und Scheinwerte!"? - Ich meine, man sollte vielmehr in jener Diskrepanz ein Anzeichen erblicken, daß die zum Ausgang genommene Erklärungsweise - die hier natürlich nur exempli causa gewählt wurde - als Welttheorie unzulänglich sei; man müßte daraus den Antrieb entnehmen, an ihrer Statt eine neue und umfassendere theoretische Formulierung zu suchen, die sowohl den dort vornehmlich berücktsichtigten Tatbeständen des Naturgeschehens als auch den dort einfach abgewiesenen Wertungen gerecht wird. Man kann sich so oder so verhalten - auch dies ist ein Werten, über das nicht weiter gestritten werden kann. Wer aber eine philosophische Weltanschauung für etwas Erstrebenswertes hält, der muß zugestehen, daß sie nur in der Synthese, nicht im Zwiespalt von Wissenssystem und Wertsystem bestehen kann; und wer selbst eine philosophische Weltanschauung sucht, für den muß das regulative Prinzip seiner Arbeit sein: Weltbild und Wertung zu einen.
1) Bedarf es erst der Beispiele zu jedem der obigen Punkte? Der Gebildete lernt die Politik fast immer nur aus Zeitungen einer Parteirichtung, also stets in einem einseitigen Licht kennen. Er übernimmt die popularisierte - und wie oft schlecht popularisierte! - Wissenschaft, ohne eine Ahnung von jenen feinen und doch so wichtigen Unterschieden zwischen Notwendigkeit, Tatsächlichkeit, Wahrscheinlichkeit und hypothetischer Möglichkeit der Lehren zu haben, ohne der Tragweite des einzelnen gerecht zu werden, ohne die Beziehungen zu anderen wissenschaftlichen Ergebnissen zu verstehen. Und - um nur noch eines zu nennen: die Mode, nicht nur die der Kleidung, ist der Hauptsache nach ein Erzeugnis der Bildung. 2) Bezeichnend ist es, daß von diesen beiden Sätzen nur der erste eine Umkehrung denkbar erscheinen läßt, der zweite aber nicht. "Ich halte das theoretische Gedankensystem fest, obgleich es den Wertungen widerspricht" - der Satz ist oft gesprochen worden; dagegen ist es niemandem eingefallen, zu sprechen: "die Richtigkeit des Gedankensystems ist mir dadurch verbürgt, daß es den Wertungen widerspricht." 3) So bezeichnete der junge GOETHE bekanntlich den Eindruck, den das Hauptwerk des französischen Materialismus, das "Systéme de la Nature" von HOLBACH auf ihn ausübte. |