cr-2p-3Emil BullatyDas ErkenntnisproblemHeinrich Rickert     
 
LUDWIG STEIN
Der Sinn des Erkennens)
(Zur Psychologie der philosophischen Systembildung)

"Die Erkenntnisdenker forschen nach den letzten Gründen allen Denkens und Seins, suchen jedes Einzelgeschehen in den großen Weltzusammenhang gesetzmäßig einzuordnen und bevorzugen deshalb kausale Erklärungen, die jede Abbiegung von der ewigen Weltordnung oder Abirrung von der regelrechten Entwicklungslinie ausschließen. Die Bekenntnisdenker dagegen fühlen sich nur heimisch in der Welt der Zwecke und Werte. Ihr Problem heißt nicht: Erkennen, sondern Handeln. Mit Nietzsche verlangen sie vom Philosophen, daß er Werte schaffe; denn sein Erkennen sei ein Schaffen. Der Philosoph ist ihm ein Befehlender und Gesetzgeber; sein Wille zur Wahrheit ist letzten Endes Wille zur Macht."

"Versteht man mit Kant unter Gesetzen nur solche Vorstellungsverbindungen, die notwendig und allgemein in einer eindeutig bestimmten Reihenfolge ablaufen, so lösen sich alle Naturgesetze, wie Schleiermacher und Helmholtz richtig gesehen haben, in oberste Generalisationen oder Gattungsbegriffe auf. Entstehen aber Gattungsbegriffe, wie die Logik früher annahm, durch Ausscheidung aller unterschiedlichen und eine Aneinanderreihung aller übereinstimmenden Merkmale bestimmter Vorstellungsgruppen seitens unserer  transzendentalen Einheit der Apperzeption,  so leuchtet ein, daß wir die nunmehr gebildete oberste Generalisation - heiße diese nun Gestein, Pflanze, Tier oder, alles zusammenfassend, Welt - nur deshalb als Einheit denken müssen, weil wir, durch die unentfliehbare vereinheitlichende Funktion unseres Bewußtseins dazu gedrängt, vor der Bildung dieser obersten Abstraktion alles Unterschiedliche ausgeschaltet haben. Wir borgen jene Einheit, welche  unser  Bewußtsein durch Vereinheitlichung aller Vorstellungsinhalte in der Ichvorstellung zusammenfaßt, der  Außenwelt." 

"Bis man sich dazu entschloß, den Dingbegriff mit Hume in einen Komplex von Sinneswahrnehmungen oder mit Mach in eine konstante Gruppe von Empfindungen aufzulösen, mußten schwere erkenntnistheoretische Krisen überwunden werden. Wofür Kepler selbst Jahrzehnte brauchte, nämlich die kategoriale Vorschiebung der dinglich gedachten Gesetzesbegriffe dergestalt vorzunehmen, daß er sie aus den Gegenstandsbegriffen auszuschalten und in Zustands- oder Beziehungsbegriffe umzugießen suchte, dazu brauchte die das arme steuerzahlende Volk der Wissenschaft ebensoviele Jahrhunderte."

I.
Erkenner und Bekenner

Dem unaufhebbaren Gegensatz von Verstand und Gefühl entspricht innerhalb der philosophisch wirksam gewesenen Systembildungen ein Doppeltypus von Denkerns: subjektive Symptom- oder Temperament-Denker und objektive, Zusammenhänge erfassende Verstand-Denker. Die einen philosophieren gleichsam mit Herz und Gemüt, die anderen nur mit dem Kopf. So sind Mystiker und Romantiker durchwegs Temperament-Denker. Gefühlsüberschwang und volle Entfaltung der Persönlichkeit sind ihnen zum Leben unentbehrlich.  J'étouffe dans l'univers,  [Ich ersticke im Universum. - wp] schreibt der Erzromantiker ROUSSEAU; und er läßt seinen savoyischen Vikar sagen: "Ich entdecke Gott überall in seinen Werken; ich fühle ihn in mir. Aber sobald ich ihn ansich betrachten will, sobald ich frage, wo und was er, welches sein Wesen sei, dann gelingt mirs nicht." Nach ROUSSEAUs Geständnis sind seine Werke recht eigentlich nur Siegelabdrücke seiner Persönlichkeit. Etwas Ähnliches deutet FICHTE, der Titan unter den Idealisten, mit dem Wort an: Welche Philosophie einer hat, hängt ganz davon ab, was er für ein Mensch ist. Ebenso muß das von WINDELBAND ein "glänzendes Mosaik" genannte, von KUNO FISCHER als künstlerische Konzeption aufgefaßte System SCHOPENHAUERs als starker Ausdruck seiner Persönlichkeit begriffen werden. NIETZSCHE, der letzte Ausläufer der Romantik und vollendete Typus eines Temperament-Denkers, sagt es mit dürren Worten: "Meine Schriften reden nur von meinen Überwindungen" "Mihi ipsi scripsi" [Ich schrieb es für mich selbst. - wp]. Er nennt seine Bücher Erlebnisse, die "erlebtesten" Bücher. "Ich mißtraue allen Systematikern und gehe ihnen aus dem Weg. Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit." NIETZSCHE sieht vielmehr in jeder großen Philosophie "nur das Selbstbekenntnis ihres Urhebers und eine Art ungewollter und unvermerkter  memoires." 

Dieser Bekenntnisphilosophie steht nun seit SOKRATES eine Erkenntnisphilosophie, der Intellektualismus oder Rationalismus gegenüber, die nicht dem überflutenden Drang nach Offenbarung der eigenen Persönlichkeit, ,sondern dem Trieb nach Erkennen, dem bewundernden Anstaunen (epi to thaumazein) der gesetzmäßigen Zusammenhänge in Natur und Geist entspringen. Jene deuten das All in ihr Ich hinein. Diese lassen das eigene Ich ins All aufgehen. Beide vollziehen, wie dies im Grunde alle Philosophen tun, subjektive Verdoppelungen, indem sie ihr Ich nach außen projizieren und in den Weltzusammenhang deuten; nur treiben die einen Mikrokosmos, die anderen Makrokosmos. Dem Romantiker ist das Individuum alles, die Gattung nichts; den Idealisten bedeutet die Gattung alles, das Individuum nichts. Jene stellen ihre Persönlichkeit so sehr in den Vordergrund, daß ihr Ich ihre Werke vollständig überschattet. Diese lassen die Persönlichkeit vollkommen hinter die Werke zurücktreten. Den Bekenntnisphilosophen ist es in erster Linie um eine Analyse ihrer eigenen Person, den Erkenntnisphilosophen nur um Sinn und Deutung des Weltzusammenhangs zu tun. Und der gute Melanchthon meint deshalb, jeder denkende Mensch müsse genau so Anhänger eines vernünftigen philosophischen Systems wie jeder zivilisierte Mensch Bürger eines bestimmtes Staates sein. Doch hat unter den reinen Verstandes-Denkern, die, wie DESCARTES, SPINOZA, HUME, BERKELEY oder KANT, ihre Persönlichkeit in ihre großen systematischen Werke nur selten redend einführen, für die Leidenschaftslosigkeit des wahrhaft philosophischen Stils niemand so scharfe Merkworte gefunden wie SPINOZA, der selbst die menschlichen Affekte, in denen ja das eigene Wohl und Weh mit zum Ausdruck gelangt, zu behandeln sich vornimmt, als wenn er es mit "Linien", Flächen und Figuren" zu tun hätte.

Wie SCHELLING der Philosophie der Romantik war, so ist der Temperament-Denker NIETZSCHE der Neoromantiker unserer Tage. Gefühle, Energien, Neovitalismus, Zweckbetrachtung, Unbewußtes, Spiritismus, Okkultismus, Wille zum Leben, Wille zur Macht, - kurz: Mystizismus in allen Formen und Tonarten steht wieder einmal im Mittelpunkt literarischer Erörterung, während logisch-mathematisches Denken, strenger Ordnungssinn, anders ausgedrückt: das Bewußtsein und seine notwendigen Gebilde, als blasse Schatten und leere Schemen denunziert werden. Der "letzte Rauch der verdunsteten Realität" sind in NIETZSCHEs Augen jene allgemeinen Begriffe, die der menschliche Intellekt im Interesse der Selbst- und insbesondere in dem der Arterhaltung zu bilden strebt. Was der Geist als "Ursache ansich" herausdüftelt, ist in NIETZSCHEs Augen das "Dünnste und Leerste"; denn "die scheinbare Welt ist die einzige, die wahre Welt ist nur hinzugelogen". "Unsere Sinne lügen überhaupt nicht. Was wir aus ihrem Zeugnis machen, das legt erst die Lüge hinein, zum Beispiel die Lüge der Einheit, die Lüge der Dinglichkeit, der Substanz, der Dauer usw." Die mit SCHOPENHAUER einsetzende Unterschätzung des Logischen wird von NIETZSCHE auf die Spitze getrieben. Die Vernunft ist ihm nur noch ein grammatisches Vorurteil. Der Sensualismus kommt wieder obenauf. Nicht Ideen, Gattungen, allgemeine Begriffe, logische Gesetze künden uns die Wahrheit, sondern Empindungen, Instinkte, Triebe. Der Nominalismus erhebt sich wieder einmal gegen den Realismus. Hier ARISTIPP und ANTISTHENES, da PLATO; hier HUME und CONDILLAC, da SPINOZA, LEIBNIZ und KANT; hier CZOLBE, FEUERBACH und STRAUSS, da LOTZE, FECHNER und WUNDT, hier AVENARIUS und MACH, da RENOUVIER, COHEN, NATORP; da HERBERT SPENCER, der Erkenner, da FRIEDRICH NIETZSCHE, der Bekenner.

Die Erkenntnisdenker forschen nach den letzten Gründen allen Denkens und Seins, suchen jedes Einzelgeschehen in den großen Weltzusammenhang gesetzmäßig einzuordnen und bevorzugen deshalb kausale Erklärungen, die jede Abbiegung von der ewigen Weltordnung oder Abirrung von der regelrechten Entwicklungslinie ausschließen. Die Bekenntnisdenker dagegen fühlen sich nur heimisch in der Welt der Zwecke und Werte. Ihr Problem heißt nicht: Erkennen, sondern Handeln. Mit NIETZSCHE verlangen sie vom Philosophen, daß er Werte schaffe; denn sein Erkennen sei ein Schaffen. Der Philosoph ist ihm ein Befehlender und Gesetzgeber; sein Wille zur Wahrheit ist letzten Endes Wille zur Macht. Hier sieht man im Philosophen "den notwendigenn Menschen des Morgens und Übermorgens", dessen Feind jedesmal das Ideal von heute ist. ZARATHUSTRA drückt die Hand auf Jahrtausende wie auf Wachs. Was ROUSSEAU einst gegen VOLTAIRE und die einseitige Verstandeskultur der Aufklärer vorbrachte, führt NIETZSCHEs gegen STRAUSS' Bildungsphilisterium, gegen wissensstolzen Historismus, philologischen Dünkel und gegen Intelligenz-Hochmut ins Treffen. Wie sich zu allen Zeiten die Mystik gegen die Logik, das Gefühl gegen den Verstand, die Romantik gegen den Rationalismus, der Geist gegen den Buchstaben, das Leben gegen die Theorie, die Persönlichkeit gegen die Gesamtheit, Religon gegen Philosophie, Kunst gegen Wissenschaft auflehnte, so stemmt sich in NIETZSCHE wieder einmal die Bekenntnisphilosophie der Erkenntnisphilosophie trotzig entgegen.

Der triebhafte Drang zur philosophischen Weltbegreifung, den KANT ein untilgbares metaphysisches Bedürfnis der Menschennatur, SCHOPENHAUER den "Willen zum Erkennen", NIETZSCHE den "Willen zur Wahrheit" oder den "Willen zur Macht" nennt, ist im Grunde nichts anderes als: Wille zur Ordnung. Unser Ich, dessen Grundfunktion die Vereinheitlichung des Mannigfachen innerhalb der uns gegebenen Erlebnisse bildet, nötigt uns zunächst die eigene Einheit auf und borgt sie dann gewissen Erlebnis-Komplexen, die eine Regelmäßigkeit aufweisen, sei es im Neben-, Nach- oder Durcheinander. "Sein" heißt, vom Standpunkt unserer heutigen Erkenntnistheorie betrachtet, kein Erkennen von absoluten Gegebenheiten, sondern nur ein Erkennen von konstanten Beziehungen innerhalb unserer Erlebnisse. Die Zusammenfassung aller Mannigfaltigkeit zur Einheit des Ich ist eine die Art erhaltende Funktion, der wir die Herrschaft auf unserem Planeten verdanken. Die Erkenntnisdenker decken nun diese festen Beziehungskomplexe auf. Ihr Wille zur Ordnung kommt darin zum Ausdruck, daß sie die ewigen Gleichförmigkeiten im Ablauf unserer Bewußtseinsphänomene in mathematisch-logische Formeln umsetzen. Sie deuten die angenommene Einheit ihres Ich in das Universum hinein. Ihr Ordnungssinn ruht nicht eher, bis alles Naturgeschehen restlos erklärt, also auf oberste Beziehungsgesetze zurückgeführt ist. Deshalb lehnen sie sich instinktiv gegen alle Finalität (End- oder Zweckursachen) in der Natur auf, weil die Zweckbetrachtung ihrem mythologisch-personifizierenden Ursprung nach zwar älter ist als die kausale, aber auch lückenhafter und willkürlicher. Zweckursachen haben noch einen stark anthropomorphen Beigeschmack; sie generalisieren meist Motive und Handlungen von Menschen, nicht unpersönliche Zustände und konstante Beziehungen des Naturgeschehens. Anders die mechanische Kausalität, bei der das Persönlichkeitsmoment so weit ausgeschaltet ist, wie es uns Menschen, die wir das Anthropomorphisieren nie bis auf den letzten Rest zu tilgen vermögen, nur irgendwie möglich ist.

Jetzt versteht man auch, warum  Erkenntnisdenker  die mechanische Welterklärung und die mathematische Methode bevorzugen, während die Bekenntnisdenker meist zur teleologischen hinneigen und biologische Argumente ins Feld führen. Jene wollen eben Ordnung in das Sein und Denken, diese Ordnung in das Handeln deuten; jene treibt der immanente Ordnungssinn, den wir uns im Kampf ums Dasein als tauglichste Waffe angeeignet haben, zu Naturgesetzen oder, was auf dasselbe hinausläuft, zu ewigen Ideen; diese drängt das ebenso immanente Persönlichkeitsbedürfnis zur Frage nach dem Sinn des Lebens, dem Wert des Daseins und den Zweck aller Kultur. Die Erkenntnisdenker suchen daher vorwiegend den Zusammenhang des Universums, die Bekenntnisdenker den Sinn der menschlichen Kultur zu ergründen; jene forschen nach letzten Kausalerklärungen  sub specie aeternitatis  [im Licht der Ewigkeit - wp], diese nach Zwecksetzungen  sub specie vitae  [im Licht des individuellen Lebens - wp]

Zur Klärung der Geister und zur Beschwichtigung der durch unsere Gefühlsphilosophen leidenschaftlich erregten Gemüter brauchen wir dringend eine Psychologie der philosophischen Systembildung. Der immanente Ordnungstrieb der Menschennatur, der das Dasein einer Philosophie als ordnender Begreifung aller Zusammenhänge in Natur und Geist erklärt, und eben damit teleologisch rechtfertigt, darf vor der Persönlichkeit der Philosophen selbst nicht Halt machen. Die einzelnen Systeme dürfen nicht als plötzliche Eingebungen, willkürliche Konstruktionen, gleichsam als aufleuchtende Gedankenmeteore oder psychologische "Wunder", als übernatürliche "Inspirationen" aufgefaßt werden. Auch für dieses "Wunder" gilt SPINOZAs Wort, es sei, wie aller Zufall, ein "asylum ignorantiae" [Zufluchtsort der Unwissenheit - wp]. Wir sehen vielmehr das Wunder aller Wunder nur darin, daß es für uns kein Wunder mehr gibt. Wir suchen zu zeigen, wie der Ordnungssinn logisch-mathematisch angelegter Naturen sich im Erkenntnisdenken offenbart, während der Abwechslungstrieb des gefühlsmäßigen Denkens in Fragmenten, Apercus [geistreiche Bemerkungen - wp] und Aphorismen sich zu entlden pflegt, eben damit aber das Bekenntnisdenken zutage fördert. Der Nachweis eines festen Rhythmus der philosophischen Systembildung durch Erkenntnisdenker und Bekenntnisdenker läßt sich philosophie-geschichtlich führen. Ein umfassender Überblick über alle großen Systembildungen zeigt den stetigen Pendelschlag des Gedankens zwischen Nominalismus und Realismus, zwischen Kausalität und Finalität, zwischen Mechanismus und Dynamismus, zwischen Materialismus und Energetik, zwischen Sensualismus und Idealismus. Beobachtet man dieses regelmäßige Hin und Her, so schwindet der Wunderglaube aus der Philosophiegeschichte und macht der Periodizität philosophischen Systembildungen Platz. Wie jedes Lebewesen das Erzeugnis von Klima und Bodenbeschaffenheit, von Wasser, Luft, Licht und Nahrung, von ererbten Instinkten und erworbenen Anpassungen an die Umgebung ist, so wird eine einstweilen nur als  pium desiderium  [frommer Wunsch - wp] vorhandene Milieutheorie in der Philosophiegeschichte die einzelnen Philosophen und ihre Systeme aus natürlichen psychologischen Bedingungen abzuleiten suchen. Erst dann kann HEGEL Behauptung, auf die wir noch zurückkommen, an den philosophiegeschichtlichen Einzeltatsachen wahr werden: "Nichts ist verloren, alle Prinzipien sind erhalten", so daß uns die Geschichte der Philosophie nicht mehr als verwirrende Galerie von Willkürlichkeiten, Schrullen und Irrtümern abschrecken, sondern als Pantheon ewiger Gedanken anziehen wird.

Wir erfüllen nur eine unausweichliche Forderung unseres immanenten Ordnungssinns, wenn wir, wie in Natur und Geist, so auch in Theorien und System der Denker einen Zusammenhang deuten. Gelingt es uns auch nicht, wie HEGEL einst kühn geträumt hat, eine strenge logische Gesetzmäßigkeit innerhalb der einzelnen Systembildungen lückenlos und ungezwungen aufzudecken, so wollen wir wenigstens einen Anlauf nehmen zur Feststellung von naheliegenden Periodizitäten, zur Registrierung von Rhythmen in den philosophischen Systembildungen. Alle "Gesetze" sind anfangs ja ganz bescheden von solchen Gleichförmigkeiten ausgegangen. Alle begannen ihre Laufbahn als beobachtete Regelmäßigkeiten: als Gleichmäßigkeiten im Ablauf unserer Vorstellungen, als eine konstante Simultan-Apperzeption im zusammenhängenden Nebeneinander, im Bewegungsryhtmus der Aufeinanderfolge des Geschehens, als Typen, Arten und Gattungen in den übereinstimmenden Lebensäußerungen der organisierten Materie. Haben Naturgesetze oder Allgemeinbegriffe die Zweckbestimmung, uns über alles Geschehen um und in uns an der Hand kausaler Erklärungen zu orientieren und moralische Gesetze oder Ideale den Sinn, dem menschlichen Handeln als Wegleitung und Zielsetzung zu dienen, so bedarf es eines orientierenden Überblicks über die Welt ewiger Gedanken.

Die hier versuchte Klassifizierung der Systeme nach dem (etwas groben) Grundschema von Erkenntnis- und Bekenntnisdenkern, von Verstandes- und Gefühlssystemen, und die Ableitung dieses Schemas aus dem zum Zweck der Orientierung im Universum von uns ausgebildeten Ordnungssin läßt uns vielleicht einen ersten, zaudernden Schritt zu einer Psychologie philosophischer Systembildungen wagen. An großen Gedankendichtungen fehlt es uns wahrlich nicht. Der Erkenntnisdrang sollte sich daher heute weniger darin äußern, daß er sich verleiten läßt, zu hundert vorhandenen Systemen noch eins hinzuzufügen. Vielmehr follte man aufgrund der philosophiegeschichtlichen Forschung die schon vorhandenen Systeme so zu rubrizieren und zu klassifizieren suchen, daß ihre tieferen psychologischen Triebfedern offenbar werden. An dieser Stelle nur ein bescheidener Ansatz zu einer solchen Psychologie der Systemumbildung: stark entwickelter Ordnungssinn bildet Erkenner, stark entwickeltes Temperament und lebhafter Persönlichkeitsdrang prädestinieren zum Bekenner.


II.
Der Sinn des menschlichen Denkens

"Jenseits von Gut und Böse" ist heute ein geflügeltes Wort. NIETZSCHE hat in dieser Titelgebung Tendenzen zusammengefaßt und auf einen stechenden, mnemotechnisch sich leicht einprägenden Ausdruck gebracht, wie sie dem denkenden Menschengeist seit HERAKLIT geläufig sind. Die frühere Formel für die Subjektivität aller Werturteile und Wahrheitskriterien, die sich SHAKESPEARE-HAMLET nach dem Voranschreiten MONTAIGNEs zu eigen gemacht hat, lautete: "Nichts ist gut ansich, nichts ist falsch ansich; erst der Verstand macht es dazu". Ein Aphorismus HERAKLITs lautet: "Gut und Schlecht ist dasselbe." Aber selbst die Fassung des SHAKESPEARE'schen  Hamlet  stellt nur eine Umbiegung der noch älteren, auf EPIKTET, EPIKUR und letzten Endes auf ARISTOTELES zurückgehenden Beobachtung dar, welche man in die Worte kleiden könnte: Jenseits von Wahr und Falsch. Nichts ist wahr ansich, nichts ist falsch ansich: der Verstand macht es dazu.

Daraus folgte die Relativität aller Erkenntnis. Das Kriterium der Wahrheit kann nur im Urteil liegen. Denn die Prädikate "wahr und falsch" gibt es, so argumentiert schon ARISTOTELES, nur in Bezug auf Urteile. Urteilen aber ist eine Funktion des Verstandes, nicht der Sinne. Nicht die Sinne täuschen, wenn offenbare Phantasmagorien, Halluzinationen, Truggebilde, Sinnestäuschungen vorliegen, sondern der urteilende Verstand, welcher in solchen Fällen Schein mit Sein verwechselt, und das falsche Urteil abgibt, die durch Sinneseindrücke vermittelten Vorgänge müßten in Wirklichkeit  so sein,  wie sie unseren Sinnen  schienen.  Die Urteilsfunktion ist eben das Urphänomen menschlichen Denkens. In diesem Sinne hat schon die pyrrhonische Skepsis - bei allem naiven Realismus bezüglich des Dingbegriffs - die Unerkennbarkeit der obersten Werte grundsätzlich und zuversichtlich behauptet (1). Seit HELMHOLTZ gebrauchen wir für diesen Gedankengang die Wendung: Was die Sinne uns an Zeichen der Außenwelt übermitteln, mag wirklich sein, aber es ist nicht notwendig wahr. Umgekehrt können reine Verstandesoperationen wahr sein, ohne mit der Wirklichkeit das Geringste zu tun zu haben. Die Sinne liefern die Kriterien der Wirklichkeit, der Verstand die der Wahrheit. Nach heißem Bemühen hat sich der philosophierende Menschengeist zu jener fundamentalen Einsicht durchgerungen, welche LOCKE zuerst aufgegangen war, daß wir nämlich einer psychologischen Gesetzmäßigkeit unterworfen sind, welche uns nötigt, die Außenwelt in einem bestimmten Zusammenhang, in geordneter Aufeinanderfolge, anzuschauen und zu begreifen, für uns also gesetzmäßig zurechtzulegen und zu interpretieren, gleichviel, ob sie sich in Wirklichkeit so verhalte, oder nicht. Denn wahr und falsch gibt es, wie uns LOCKE einmal nd für immer eingeschärft hat, nur in Bezug auf Vorstellungen, nicht aber in Bezug auf Dinge. Die Außenwelt kann uns im günstigsten Fall - nämlmich unter Zugrundelegung des kritischen Realismus - eine gegenständliche Wirklichkeit liefern, aber niemals vermag sie uns eine logische Wahrheit zu vermitteln, die sich ihrer Natur nach gar nicht auf Gegenstände, sondern nur auf unsere Vorstellungen dieser Gegenstände und ihrer Beziehungen richtet. Dinge können wirklich, aber niemals wahr, Vorstellungen allein wahr und wirklich zugleich sein. Gegenstände sind wirklich oder unwirklich, je nach der Genauigkeit und Zuverlässigkeit der Sinneseindrücke, aber wahr und falsch können nur Vorstellungen und ihre Verknüpfung im Urteil sein, je nach dem Entscheid des logisch-kritisch prüfenden Verstandes. Diese innere Notwendigkeit des Zusammendenkens ruht auf dem Untergrund eines Anschauungs- oder Denkzwangs, einer  phantasia kataleptike  im Sinne der Stoa. Wir nehmen Gegenstände nicht so wahr, wie sie sind, sondern sie sind so, wie wir sie wahrnehmen, sagt KANT. Nicht wir richten uns nach den Gegenständen, sondern diese müssen sich, wie der Kopernikanishe Standpunkt KANTs fordert, nach uns richten, um für uns Erfahrungsinhalt zu werden. Ihre oberste Prägung empfängt diese Gedankenreihe in der Kantischen Lehre: Naturgesetze sind letzten Endes Denkgesetze. (2)

Versteht man nun mit KANT unter Gesetzen nur solche Vorstellungsverbindungen, die notwendig und allgemein in einer eindeutig bestimmten Reihenfolge ablaufen, so lösen sich alle Naturgesetze, wie SCHLEIERMACHER und HELMHOLTZ richtig gesehen haben, in oberste Generalisationen oder Gattungsbegriffe auf. Entstehen aber Gattungsbegriffe, wie die Logik früher annahm, durch Ausscheidung aller unterschiedlichen und eine Aneinanderreihung aller übereinstimmenden Merkmale bestimmter Vorstellungsgruppen seitens unserer "transzendentalen Einheit der Apperzeption", so leuchtet ein, daß wir die nunmehr gebildete oberste Generalisation - heiße diese nun Gestein, Pflanze, Tier oder, alles zusammenfassend, Welt - nur deshalb als Einheit denken müssen, weil wir, durch die unentfliehbare vereinheitlichende Funktion unseres Bewußtseins dazu gedrängt, vor der Bildung dieser obersten Abstraktion alles Unterschiedliche ausgeschaltet haben. Wir borgen jene Einheit, welche  unser  Bewußtsein durch Vereinheitlichung aller Vorstellungsinhalte in der Ichvorstellung zusammenfaßt, der  Außenwelt. 

Eine korrekt vollzogene, allen Regeln der formalen Logik gerecht werdende Abstraktion kommt einer komplizierten Rechnung gleich, deren Endsumme genau die nämliche bleibt, gleichviel nach welcher Methode die verschiedenen Mathematiker zu diesem Resultat gelangt sind. Es ändert daran wenig, daß die neueren Logik die Bildung von Allgemeinvorstellungen nicht mehr als "Heraussonderung von teilen" begreifen. Denn uns interessiert in diesem Zusammenhang nicht die psychologische Entstehung, sondern nur die logische Gültigkeit der Allgemeinbegriffe.

Schon der HOBBES'schen Gleichung:  Denken = Rechnen  lag wohl der Gedanke zugrunde, daß die Begriffsbildung zu ihrer Addition von Empfindungen zu Begriffen und Subtraktion von Empfindungen aus Begriffen dem Grundschema allen Rechnens korrespondiert. Bei komplizierten Gleichungen gehen die Mathematiker in den Lösungsmethoden auseinander, aber im Resultat müssen sie zusammentreffen. Die Richtigkeit der Lösung wird durch die Übereinstimmung in den Resultaten verbürgt. Wenn man mittels verschiedener Methoden immer wieder zum gleichen Resultat gelangt, so ist die Gewähr für die Richtigkeit der Lösung eine umso größere. Richtigkeit bedeutet also: Übereinstimmung aller Kundigen im gewonnenen Resultat. Das Kriterium der Wahrheit heißt demnach: Allgemeingültigkeit. Ein durch zahlreiche Instanzen geprüftes und mittels verschiedener Methoden bestätigtes Resultat nennen wir ein notwendiges. Das "Geltungsgefühl", wie es die neueren Logiker nennen, nimmt in demselben Maß an Intensität zu, als es von zuständigen wissenschaftlichen Instanzen Bestätigung erfährt.

Hier erbebt sich nun die Frage: Ist das so gewonnene Resultat deshalb notwendig, weil es allgemeingültig, d. h. von allen Fachkennern nachgerechnet und bestätigt ist, oder ist umgekehrt die Übereinstimmung nur deshalb erfolgt, weil das Resultat  ansich  notwendig war? Mit anderen Worten: Läßt sich die Notwendigkeit auf Allgemeingültigkeit oder diese auf jene zurückführen? Müssen wir bei diesem Dualismus der Merkmale: Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit stehenbleiben, wie bei dem ebenfalls von KANT geforderten Dualismus der Erkenntnisquellen: Sinn und Verstand? Oder sind diese beiden Merkmale "in ihrer letzten Wurzel" vielleicht identisch, wie es KANT ja auch für Sinnlichkeit und Verstand hypothetisch zuließ. Gibt es  zwei  Kriterien der Wahrheit oder nur eines? Und wenn beide Merkmal sich aufeinander zurückführen lassen: welches ist das primäre? Folgt die Notwendigkeit aus der Allgemeingültigkeit oder die Allgemeingültigkeit aus der Notwendigkeit?

Man kann diese Frage an ein ganz konkretes Beispiel anlehnen: Unser dekadisches Zahlensystem geht nach Untersuchungen JOHN BOWRINGs seinem anthropologisch-ethnographischen Ursprung nach auf die zehn Finger unserer beiden Hände zurück (3). Es erhebt sich nun die Frage: Hat uns die Natur deshalb mit zehn Fingern ausgestattet, weil das dekadische System schon vorgebildet ist - gleichsam als prästabilierte [vorgeformte - wp] Harmonie der Zahlen - oder verdanken wir das dekadische System  nur  dem (zufälligen?) Umstand, daß wir zehn Finger haben? Ist das bei den Indern entstandene, von Phöniziern adoptierte dekadische Zahlensystem auf unserer Kulturlinie allgemeingültig geworden, weil es  ansich  notwendig, natürlich, in der Harmonie der Zahlenwelt präexistent ist, oder erscheint es uns nur deshalb natürlich und notwendig, weil es allgemeingültig geworden ist ? Anders gewendet: heißt das Kriterium der Wahrheit: Allgemeingültigkeit, oder heißt es: Notwendigkeit? Vorausgeschickt sei, daß die Mathematiker erklären, man könne mathematische Operationen großen Stils auch nach den früher gültig gewesenen Sieben- oder Zwölfzahlensystemen vollziehen.

Die Beantwortung der Frage, ob logische Wahrheiten, Axiome der Geometrie, Funktionen der Algebra, sowie Gesetze der Physik und Biologie vor aller Existenz von Menschen schon vorhanden gewesen sind - (wo?) - und erst von den Menschen nachempfunden und nachkonstruiert worden seien, oder ob Axiome, Funktionen und Gesetze nur  vom  menschlichen Bewußtsein  für  menschliches Bewußtsein zwecks ordnender Begreifung der Welt erzeugte Orientierungsmaßstäbe seien, trifft den Lebensnerv aller Philosophie. Und ich stehe nicht an zu erklären, daß der Universalienstreit des Mittelalters, an welchen die subtilsten Köpfe der scholastischen Dialektik allen Fürwitz gewendet hatten, in Tat und Wahrheit das Rückgrat aller Philosophie ist.

Zum billigen Spott über das leere Stroh, das Realisten und Nominalisten Jahrhunderte hindurch angeblich gedroschen hätten, würden wir nur dann ein gegründetes Recht haben, wenn die Garben unserer eigenen Gedanken voll üppiger und saftiger Kerne steckten. Dem ist leider nicht so. Wir mühen us um genau dieselben Probleme, wie die großen Denker der Antike, nur haben wir ihnen andere  Benennungen  gegeben. Wer der Gedankenbewegung unserer Gegenwart auf den Grund geht, wird sich der Einsicht nicht verschließen können, daß wir uns heute genau um dieselben Fragen in zwei Richtungen spalten, welche PLATO und PROTAGORAS zum erstenmal in monumentalen Linien gezeichnet haben. COHEN, NATORP, BERGMANN und die Jungmetaphysiker unserer Tage bekennen sich zum Idealismus Plato-Kantischer Prägung, während die Empiriokritizisten AVENARIUS'scher Richtung, sowie MACH, STALLO, OSTWALD und andere die Fahne des Phänomenalismus Protagoras-Hume'scher Färbung hochhalten. Wir kämpfen um die gleichen Probleme mit anderen Terminologien. Wo der Scholastiker z. B. vom Willen Gottes handelt, da spricht SCHOPENHAUER vom Willen in der Natur. Wo die Kirchenväter und später die Calvinisten über Prädestination, Erbsünde, Gnadenwahl, über göttliche Präszienz [Vorherwissen - wp] und Providenz [Vorhersehung - wp] meditierten, wo der Astrologe Horoskope stellte und das menschliche  Schicksal  der Konstellation der Gestirne unterwarf, da sprechen wir heute von Kausalität und Determinismus, und meinen doch im  Kern  dasselbe. Die genannten patristisch-scholastischen Bezeichnungen und astrologischen Afterformeln waren im Grunde nur anders lautende Etiketten für dieselben philosophischen Grundfragen, die uns heute genauso beschäftigen wie die Denker des Mittelalters.

Selbst die scheinbar müßigste und unleidlichste unter den scholastischen Vexierfragen, die nach dem  nous poietikos  und dem  nous pathetikos,  nach dem schaffenden und dem leidenden Verstand, nach jenem schöpferischen göttlichen Totalbewußtsein, von welchem das menschliche Individualbewußtsein nur Ausläufer und blasser Abklatsch sein soll, sie die Averroisten etwa lehren, treibt heute analoge Gedankenbildungen bei WUNDT hervor. Apperzeption und Universalbewußtsein bei WUNDT klingen deutlich an die averroistische Fassung der schöpferischen Gattungsvernunft an. Und wenn SPENCER von Gattungserfahrungen als "repräsentativen Gefühlen" spricht, und HERING die Instinkte bei Mensch und Tier das Gattungsgedächtnis der Lebewesen genannt hat, so liegen die Begriffe "Totalbewußtsein" und "Gattungsgedächtnis" durchaus auf der Linie des averroistisch gefärbten Aristotelismus.

Wir gehen noch einen Schritt weiter. Nicht bloß hängen unsere heutigen Problemstellungen mit denen der mittelalterlichen und antiken Philosophie am Faden der logischen und historischen Kontinuität zusammen: der geschichtliche Zusammenhang der Probleme läßt sich noch weiter zurückführen, bis zu Mythos und Volksreligion vor dem Erwachen der philosophischen Reflexion (4). Überall dort, wo uns in Mythologie, Volkssitten und Volksglauben Spuren von Schicksal, Vorsehung, ewiger Weltordnung oder Gesellschaftsgliederung (dike, logos, tyche, anagke, moira, pronoia], Fatum bei den Römern, Kismet bei den Mohammedanern, Sephirot bei den Kabbalisten, die Viergliedrigkeit der Kasten mit ihrer unverbrüchlichen Gesellschaftsordnung im Gesetzbuch des MANU entgegentritt, wittern  wir  die ersten Ansätze zur Bildung von obersten Generalisationen, Gattungsbegriffen oder Naturgesetzen.

In der Konzeption des Schicksals als einer ordnenden, die Gegensätze ausgleichenden, alles Mannigfaltige zur Einheit erhebenden Macht sehen  wir  die natürliche Vorstufe zu unserem heutigen Begriff des Naturgesetzes, der sich bekanntlich erst seit dem sechzehnten Jahrhundert in seiner scharf umrissenen, unpersönlichen Form herausgebildet hat. Assoziationstrieb und Ordnungssinn gehören zu den rudimentären Anlagen des menschlichen Geschlechts (5). Dem sogenannten Kausalitätsbedürfnis des Menschen, wie seinem Willens- und Erkenntnistrieb, liegt in letzter Instanz der Ordnungssinn zugrunde. Wissenschaft ist nichts anderes als Ordnung auf dem Gebiet des Vorstellungslebens. Im Schicksalsbegriff findet der immanente Ordnungssinn in der alten Welt seinen höchsten Ausdruck. Hier ist jenes persönliche Moment noch stillschweigend mitgedacht, das in unserem Gesetzesbegriff eliminiert ist. Da nun  alles  ursprüngliche Denken mit personifizierenden Tendenzen durchsetzt und durchwachsen ist - nicht bloß Gegenstände und Eigenschaften, sondern selbst Zustände und Beziehungen werden im Kindheitszustand der Menschheit durchgängig anthropomorphisiert und personifiziert -, so mußte sich die Abstraktion einer "ewigen Ordnung" die Umstempelung zu einer Person (Schicksalsgöttin) gefallen lassen, um dem Verständnis der  damaligen  Menschen nähergebracht zu werden.

Es bedurfte einer Jahrhunderte währenden Erziehung durch Mathematik und Physik, durch Philosophie und Geschichte, der Ersetzung von Göttern und Geistern durch Kräfte und Energien, bis wir uns abgefunden haben, in unserem Ordnungsbedürfnis das persönliche Moment auszuschalten, Regelmäßigkeiten im Naturgeschehen und konstant wiederkehrende Wirkungen beobachteter Naturprozesse als unpersönliches Geschehen zu begreifen, statt wie früher als persönliches Tun zu erklären.

Erst seit KEPLER beginnt sich eigentlich der unpersönliche Gesetzesbegriff zu stabilisieren. Die drei KEPLER'schen Gesetze für die Bewegung des Planetensystems bilden im Zusammenhang mit dem von GALILEI formulierten Fallgesetz, dem Gesetz vom Parallelogramm der Kräfte und dem des kleinsten Kraftmaßes, sowie endlich in Verbindung mit dem Gravitationsgesetz NEWTONs den eisernen Fonds unseres heutigen (unpersönlichen) Gesetzesbegriffs. Wir fassen Naturgesetze - als ewige Ordnungen des Weltgeschehens - nicht mehr als Befehle auf, denen man gehorcht, sondern als Zustände, denen man unterworfen ist. (6)

Den Übergang vom persönlich begriffenen Gesetz zum unpersönlichen können wir am schlagendsten an KEPLER selbst konstatieren. In seiner ersten animistischen Periode, wie sie sein  Mysterium cosmographicum  kennzeichnet, läßt er noch die Planeten durch Seelen lenken und die Sonne selbst durch die Weltseele regieren. Diesen persönlichen Ursachenbegriff läßt aber KEPLER nach und nach fallen, als ihm der Begriff der  wahren  Ursachen aufgegangen war (verae causae). Die bewegende Seele (anima motrix) wird ganz aufgegeben, und in seinen späteren Schriften ersetzt er (seit 1609) das Wort "Seele" durch das Wort "Kraft".

Am Voranschreiten KEPLERs läßt sich am durchsichtigsten abnehmen, wie schwer es selbst den höchststehenden Denkern geworden ist, sich von der süßen Gewohnheit des personifizierenden Denkens zu trennen, um sich zum Begriff der Kraft als eines unpersönlichen Geschehens durchzuringen. Die Zersetzung des Dingbegriffs hat ihre eigene Leidensgeschichte. Bis man sich dazu entschloß, den Dingbegriff mit HUME in einen Komplex von Sinneswahrnehmungen oder mit MACH in eine konstante Gruppe von Empfindungen aufzulösen, mußten schwere erkenntnistheoretische Krisen überwunden werden. Wofür KEPLER selbst Jahrzehnte brauchte, nämlich die kategoriale Vorschiebung der dinglich gedachten Gesetzesbegriffe dergestalt vorzunehmen, daß er sie aus den Gegenstandsbegriffen auszuschalten und in Zustands- oder Beziehungsbegriffe umzugießen suchte, dazu brauchte die  misera contribuens plebs  [das arme steuerzahlende Volk - wp] der Wissenschaft ebensoviele Jahrhunderte.

Schon GALILEI führt die "wahren Ursachen" KEPLERs dort ins Feld, wo man sich bisher mit Vorliebe auf den "göttlichen Willen" berufen hat. Überall, wo Materie anzutreffen ist, sagte KEPLER, sei Geometrie anzuwenden. Das Buch der Natur, so baut GALILEI den Gedankengang KEPLERs weiter aus, liegt aufgeschlagen vor uns; aber es ist in anderen Lettern geschrieben, als unser Alphabet; seine Lettern heißen Dreiecke, Vierecke, Kreise, Kugeln usw. Seit drei Jahrhunderten hat nun unser Kulturkreis sich allmählich daran gewöhnt, die Zusammenhänge im Weltganzen, welche der Mensch sich mittels seines immanenten Ordnungssinnes nach dem jeweilig vorherrschenden Denkmittel zurechtzulegen pflegt, nach dem pädagogischen Rezept GALILEIs zu begreifen. Die Ordnung und der Zusammenhang im Weltall, welche KEPLER in seiner "Weltharmonik" noch unter dem Gesichtswinkel eines persönlich gefärbten und dinglich gestalteten ästhetischen Optimismus betrachtet hatte, werden nach und nach als konstante Zustände, als ewige mathematische Verhältnisse von Bewegung, kurzum als unpersönliches Geschehen oder als beharrendes Sein gedeutet und wissenschaftlich dargestellt.

Der mit persönlichen Merkmalen ausgestattete Dynamismus weicht auf der ganzen Linie dem unpersönlichen Mechanismus. Die verborgenen Eigenschaften (qualitates occultae) werden allgemach verabschiedet, und alle Qualität auf Quantität, auf Lagerungs- und Volumenänderungen im Raum zurückgeführt. Die Fahne des ARISTOTELES (Organismus, Teleologie und Dynamismus) wird allerorten verlassen und die Standarte DEMOKRITs aufgepflanzt. Leben und Bewegung werden durch Druck und Stoß ersetzt. Das Denken der Neuzeit, dessen Sukkus [Ergebnis - wp] die mechanische Weltanschauung war, stand seit dem 17. Jahrhundert unter dem unmittelbaren Bann GALILEIs und - durch dessen Vermittlung - unter dem mittelbaren DEMOKRITs. Das Denkmittel des gegenständlichen Seins kapituliert vor dem Denkmittel des zuständlichen Seins.

An Universitäten und Mittelschulen hat die von DEMOKRIT und GALILEI beherrschte mechanische Weltanschauung das wissenschaftliche Denken unseres gesamten Kultursystems seit drei Jahrhunderten in der Richtung einer mechanischen Weltbegreifung bearbeitet. Alle Lehrbücher der Mathematik und Naturwissenschaft, denen unser Kulturkreis seine Nahrung an exakter Kenntnis verdankt, sind seit mehreren Generationen durchzogen und getragen von GALILEI-DEMOKRIT'schen Gedankengängen. Durch diese Erziehung haben wir allmählich gelernt, Gedankenwerte umzuwerten, die Begriffsverschiebung vom gegenständlich-persönlichen zum zuständlichen Denken vorzunehmen; Gesetze nicht mehr als persönliche Gebote, sondern zunächst als verharrende Zustände, sodann als unpersönliche Beziehungen zu begreifen.

COMTE hatte, von TURGOT angeregt, das Gesetz der drei Stadien formuliert, nach welchem das menschliche Denken zuerst einen fetischistischen, später einen metaphysischen Charakter an sich trug, der nunmehr vom positiven, d. h. wissenschaftlichen Denken abgelöst werden soll. Flüchtig streift er auch den Gedanken der "logischen Abhängigkeit von Wahrheiten untereinander zu ihrer geschichtlichen Abfolge". Es gewinnt dabei an Bedeutung, daß auch nach KANT der menschliche Geist drei Stadien durchlief: "das erste war das Stadium des Dogmatismus (d. h. Metaphysik); das zweite das des Skeptizismus; das dritte das des Kritizismus der reinen Vernunft;  diese Zeitordnung ist in der Natur des menschlichen Erkenntnisvermögens begründet"  (Werke, ROSENKRANZ I, Seite 493) (7). Wir werden uns der Aufgabe unterziehen, den Zusammenhang menschlicher Denkformen mit den geschichtlich wirksam gewesenen philosophischen Systembildungen aufzudecken.

Der Sinn des menschlichen Denkens ist vom Standpunkt der Bewußtseins-Immanenz aus kein anderer und kann kein anderer sei, als die Zurückführung aller Ordnung und allen Maßes, aller Zusammenhänge endlich in Natur und Geschichte auf logische Operationen des Menschengeistes. Metaphysiker vom Schlage SPINOZAs oder HEGELs nennen es: Logisierung der Welt. Positivisten von der Farbe LUDWIG FEUERBACHs setzen dafür folgende Erklärung: Gott, Natur, Welt, Naturkräfte und Naturgesetze - sie sind allesamt Vermenschlichungen, Übertragungen der an der eigenen Natur beobachteten Regelmäßigkeiten auf ein hinausprojiziertes und dem eigenen Ich gegenübergestelltes Außen. Gott selbst ist nichts anderes "als das personifizierte und vergegenständlichte Wesen der mit allen Schätzen, allen Gütern und Vollkommenheiten der Natur und Menschheit erfüllten und ausgeschmückten Einbildungskraft" (Werke Bd. VIII, Seite 445). "Daher hängt das Schicksal der Menschheit nicht von einem Wesen außer oder über ihr, sondern von ihr selbst ab, daß der einzige Teufel des Menschen der Mensch, der rohe, abergläubische, selbstsüchtige, böse Mensch, aber auch der einzige Gott des Menschen der Mensch selbst ist" (Werke VIII, 370).

Nach all dem sehen wir den Sinn des Denkens in der wissenschaftlichen Orientierung nach jenen von den Menschen aufgestellten Maßstäben von Raum, Zeit, Zahl und den Kategorien des menschlichen Verstandes, in die wir das von uns in ein Außen projizierte Weltbild - eine Verdoppelung der inneren Einheit unseres Ich - eingefügt haben. Indem wir das Weltbild denkend - philosophisch - begreifen, holen wir aus diesem Bild nur hervor, was unsere Vorfahren zuvor hineingelegt haben. An die Stelle einer Metaphysik des  Seins  ist für uns Heutige eine Metaphysik des  Erkennens  getreten. Wir durchschauen tiefer, weil historisch geschulter, als vorangegangene Geschlechter, was der philonische Logos, SPINOZAs logische Entfaltung der Substanz, LEIBNIZ' empfindende Monade, KANTs Subjektivität von Raum, Zeit, Zahl und Kategorien, FICHTEs ICH, SCHELLINGs Identifizierung von Subjekt und Objekt im Absoluten, endlich und besonders was HEGELs "Weltgeist" im letzten Grund bedeutet. Die metaphysischen Formeln erweisen sich als logische Hypostasierungen [einem Gedanken gegenständliche Realität unterschieben - wp] des menschlichen Bewußtseins. Am Endpunkt ihrer Bahn treffen Metaphysik und Erkenntnistheorie zusammen, wie DILTHEY dies an einer prächtigen Parabel von zartestem poetischen Duft veranschaulicht hat (8): "Die Verwandlung der Welt in das auffassende Subjekt durch diese modernen Systeme ist gleichsam die Euthanasie der Metaphysik. NOVALIS erzählt ein Märchen von einem Jüngling, den die Sehnsucht nach den Geheimnissen der Natur ergreift; er verläßt die Geliebte, durchwandert viele Länder, um die große Göttin ISIS zu finden und ihr wunderbares Antlitz zu schauen. Endlich steht er vor der Göttin der Natur, er hebt den leichten glänzenden Schleier und - die Geliebte sinkt in seine Arme. Wenn der Seele zu gelingen scheint, das Subjekt des Naturlaufs selber ledig der Hüllen und des Schleiers zu gewahren, dann findet sie in diesem - sich selbst. Dies ist in der Tat das letzte Wort aller Metaphysik, und man kann sagen, nachdem dasselbe in den letzten Jahrhunderten in allen Sprachen bald des Verstandes, bald der Leidenschaft, bald des tiefsten Gemütes ausgesprochen ist, scheint es, daß die Metaphysik auch in dieser Hinsicht nichts Erhebliches mehr zu sagen haben."
LITERATUR - Ludwig Stein, Der Sinn des Daseins, Tübingen und Leipzig 1904
    Anmerkungen
    1) Vgl. RAOUL RICHTER, "Die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen des griechischen Skeptizismus" in WUNDTs "Philosophische Studien", Bd. XX, 1902, Seite 284.
    2) Vgl. auch WINDELBAND, Präludien, zweite Auflage 1903, Seite 256. Naturgesetze sind allgemeine Urteile über die Sukzession seelischer Vorgänge.
    3) HEINRICH SCHURTZ, Urgeschichte der Kultur, 1900, Seite 631 4) Vgl. WILHELM DILTHEY, Einleitung in die Geisteswissenschaften I, Seite 174f
    5) Vgl. dazu HEYDEN-ZIELEWICZ, Archiv für systematische Philosophie, Bd. VIII, 1902, Seite 106f.
    6) Vgl. meine Abhandlung "Naturgesetz und Sittengesetze" (An der Wende des Jahrhunderts, 1899, Seite 255 - 272. Die "substantielle Denkweise" beherrscht das antike Denken fast ausschließlich. "Eine Gestalt wie die HERAKLITs ist in der Antike völlig abnorm" (VIERKANDT, Naturvölker und Kulturvölker, Seite 385).
    7) Vgl. WILHELM DILTHEY, Einleitung in die Geisteswissenschaften I, Seite 113, 134, 166f.
    8) DILTHEY, a. a. O. Seite 516f