p-4ra-1F. MauthnerHerbartSigwartvon der PfordtenR. Hönigswald     
 
WILHELM HAAS
Die psychische Dingwelt

"Der fortschreitenden Erkenntnis genügte die Naivität und Unreflektiertheit einer Anschauung nicht, in der das bewußte Subjekt wie ein Objekt unter allen anderen betrachtet wird und dabei untergeht. Jetzt erfolgte der wichtigste Schritt in der Entwicklung des menschlichen Geistes: Die Erkenntnis setzte sich durch, daß diese ganze Welt gegeben ist - und fürs Erste nur gegeben - im Bewußtsein des wahrnehmenden und denkenden Subjekts. Damit verliert die Welt die Unbestreitbarkeit und Selbstverständlichkeit, mit der sie bisher hingenommen wurde und droht zu einem bloß Subjektiven und bloß Erscheinenden herabzusinken. Seitdem ist die Frage nicht zur Ruhe gekommen, ob es ein eigentlich Existierendes gibt und wie dieses zu denken ist."

"Nach Bergson ist unsere Anschauung und Erkenntnis des Psychischen von Grund aus verfälscht durch die Übertragung von Denkformen und Anschauungsweisen, die der physischen Welt entnommen sind und nur da Sinn haben. Ebenso unzulässig ist es, nach Art der physischen Dinge und Einheiten, Bewußtseinszustände oder dergleichen zu unterscheiden und z. B. von einem bestimmten Gefühl oder Affekt zu reden; denn die Analyse zeigt, daß das, was wir so mit einem Begriff benennen, in Wahrheit ein rastlos wechselndes Psychisches ist, das in ungeschiedener Heterogenität weitergeht und bei der jeder von uns herausgehobene Moment von jedem anderen gänzlich verschieden ist."


V o r w o r t

Das Psychische ist niemals Schauplatz menschlicher Handlung gewesen und niemals der unmittelbare Stoff menschlicher Betätigung. Selbst an den seltenen Stellen der Geschichte, wo Einzelne oder kleine Gemeinschaften in der gänzlichen Abwendung von der physischen Welt das Seelische zum Gegenstand nicht nur der Betrachtung, sondern auch der Formung gemacht haben - in gewissen höchsten Erscheinungen der indischen und christlichen Religiosität -, sind die psychischen Gebilde doch nicht sowohl in ihrer Eigenart um ihrer selbst willen beachtet und ins Bewußtsein gezwungen worden, als vielmehr ausschließlich unter dem Gesichtspunkt ihres Wertes für den letzten religiösen Zweck, und dieser lag selbst außerhalb und jenseits der psychischen Phänomene.

Physische Dinge und Zustände werden erstrebt, und ebenso sind die Mittel zu ihrer Erreichung physische Mittel und selber Veränderungen innerhalb der physisch-materiellen Welt. Die Anfänge der denkenden Reflexion aller Völker äußern sich in Sätzen einer Lebens- und Weltweisheit, die die Erfahrungen des handelnden oder leidenden Ich in seiner Auseinandersetzung mit der Umwelt enthalten; das Psychische wird übersprungen oder nur berührt. So ist es die physische Welt, die Gestalt und endgültige Form gewonnen hat und für Erfahrung und Kenntnis offen vor uns liegt. Damit ist nicht gesagt, daß nicht Psychisches als treibender Faktor wirken kann und wirkt. Aber das freilich ist eine notwendige Folge jener Grundrichtung, daß das Psychische sich fast unbeachtet nur neben ihr entfalten konnte, niedergehalten durch sie und doch zugleich auch eigenwillig nach eigenem Recht strebend gegen sie.

So muß sich ergeben, daß Bildung und Gestalt der psychischen Welt keinen ähnlichen Grad der Vollkommenheit und Endgültigkeit erlangt hat wie die physische. Und damit hängt ein zweites zusammen: Unsere Kenntnis von ihr wird bei der relativen Unwichtigkeit, die sie hat oder zu haben scheint, eher geneigt sein, hinter dem erreichbaren Grad einen Schritt zurückzubleiben: Die psychische Welt, in der wir leben, ist anders als wir gemeinhin annehmen.

Somit muß es die erste und grundlegende Aufgabe der psychologischen Wissenschaft sein, die wrikliche psychische Welt in der Form, die sie erreicht hat, aufzudecken; darüber hinaus aber - falls dies auf irgendeine Weise angeht - die großen Umrisse zu zeichnen, in denen sich das Psychische entwickeln würde, wenn es sich neben der Vorrangstellung des Physischen restlos zur Geltung zu bringen vermöchte. Indem so die Psychologie das Ergebnis einer Entwicklung vorausnimmt, die, obgleicht kaum jemals oder nur in bescheidenen Grenzen zur Wahrheit reifend, doch nicht nur möglich und denkbar, sondern gewissermaßen theoretisch gefordert ist, wird sie getrieben, bis zur eigentümlichen Wesenheit des Psychischen vorzudringen und gewinnt Aufschlüsse auch über die Natur des Zusammenhangs zwischen Physischem und Psychischem überhaupt.

Daß diese Aufgabe in der Psychologie wesentlich noch zu erfüllen ist, darf nicht wundernehmen: die Wissenschaft vom Psychischen ist in Anlehnung an die physikalische Mechanik und Atomistik entstanden und hat im Hinblick auf deren Grundanschauungen und Methoden ihre Mittel zur Erforschung des Psychischen auszubilden versucht. Es ist noch nicht allzulange her, daß sie begonnen hat, die in mehr als einer Hinsicht verhängnisvollen Folgen dieses Ursprungs zu erkennen und sich davon freizumachen. -

Die psychische Welt aber ist eine reale Welt, die prinzipiell - und tatsächlich in weitem Umfang - unabhängig von der zufälligen Wahrnehmung existiert wie die physische. Die psychische Materie muß freilich erst durch die Form des Ich, des individuellen oder überindividuellen Ich, verarbeitet und hindurchgegangen sein, um eine Welt von Dingen zu bilden. Hat aber das Ich seine Aufgabe als  principium individuationis  des Psychischen erfüllt, so ist die psychische Welt als eine objektiv reale erstanden.

Nur so wird die psychische Welt zu einem lebendigen Kosmos, in dem sich das Ich mit seinem psychischen Besitz bewegt wie mit seinem Leib im Physischen, zu einem Kosmos, in dem sich das Ich mit seinem psychischen Besitz bewegt wie mit seinem Leib im Physischen, zu einem Kosmos, in dem es Werden und Vergehen nach eigenem Gesetz gibt. Und nur so wird das Wort SCHELLINGs Wahrheit: "Nur das Leben ist das sichtbare Analogon des geistigen Seins." -



Erstes Kapitel
E i n f ü h r u n g

Die Entdeckung der psychischen Welt

Die Welt, wie sie in ihrer Wirklichkeit unmittelbar vor uns liegt, kennen zu lernen, ihre Erscheinungen Zusammenhänge - aber noch ganz im Sinn der alltäglichen Erfahrung - zu erforschen, war die nächstliegende und für seine Existenz notwendige Aufgabe des Menschen. Von hier aus wandte sich sein Denken bald zurück in die Vergangenheit, nach Anfang und Ursprung der Welt fragend, und dann auch vorwärts in die Zukunft, um über ihr Ende und Ziel gewiß zu werden. Die Antworten haben unendlich verschieden gelautet. Es ist ein weiter Weg von den Prinzipien des THALES und ANAXIMENES, aus denen alles geworden sein sollte, bis zur Kosmogonie von KANT und LAPLACE, die es unternimmt, aus der gegebenen Materie die Welt entstehen zu lassen, und eine weite Kluft trennt den extremen Materialismus, dem die höchsten Formen des Lebens und Bewußtseins die materielle Bewegung ist, von der umgekehrten Anschauung, die mit FECHNER und BERGSON in allem Unbelebtem nur Reste und Rudimente eines ursprünglich und ehemals Lebendigen sieht. Die Mannigfaltigkeit der Antworten, je nach der Zeit, der Weltanschauung und dem Wissenschaftsgebiet übergehen wir. Herausheben soll ich nur das Allgemeine dieser Weltbetrachtung, die das ganze Universum - mit Einschluß der wahrnehmenden und denkenden Wesen - so wie es objektiv da ist, als Gewordenes, Seiendes und Werdendes zu erkennen sucht: Wir könnten sie die objektiv-historische nennen.

Der fortschreitenden Erkenntnis genügte die Naivität und Unreflektiertheit dieser Anschauung nicht. In ihr war das bewußte Subjekt wie ein Objekt unter allen anderen betrachtet worden und untergegangen. Jetzt erfolgte der wichtigste Schritt in der Entwicklung des menschlichen Geistes: Die Erkenntnis setzte sich durch, daß diese ganze Welt  gegeben  ist - und fürs Erste  nur  gegeben - im Bewußtsein des wahrnehmenden und denkenden Subjekts. Damit verliert die Welt die Unbestreitbarkeit und Selbstverständlichkeit, mit der sie bisher hingenommen wurde und droht zu einem bloß Subjektiven und bloß Erscheinenden herabzusinken. Seitdem ist die Frage nicht zur Ruhe gekommen, ob es ein eigentlich Existierendes gibt und wie dieses zu denken ist.

Im okzidentalen Denken hat die griechische Philosophie sehr früh diesen entscheidenden Schritt in der Erkenntnis getan. In zweifacher - ebenso fein wie bedeutsam unterschiedener - Weise haben HERAKLIT und PARMENIDES das Problem des Eigentlichen gestellt.

HERAKLIT fragt, was die Welt eigentlich, ihrer innersten Natur nach, ist. PARMENIDES (unter gänzlicher Beiseitesetzung dieser Welt) was die eigentliche Welt, was das Eigentliche, wahrhaft Existierende ist.

Die Antwort HERAKLITs lautet: Die Welt ist eigentlich bloß Bewegung; und zwar begrifflich gedacht als dialektische Bewegung, deren materielles Substrat als Feuer bezeichnet wird.

PARMENIDES bestimmt das wahrhaft Seiende als den in sich ruhenden Gedanken.

Das Problem des Eigentlichen hat seitdem die mannigfachsten Lösungen erfahren. Erinnern wir uns als Beispiele an die folgenden: Das Eigentliche ist als das Unendliche und Göttliche zu denken, als die Zahl, als die Welt der Ideen; das Eigentliche ist das Gesetz (als mathematisch-physikalisches und ethisches Gesetz).

Oder:

Die Welt ist eigentlich ein Organismus, eine bloße Bewegung von Atomen, ist die Bewußtwerdung des Geistes.

Vergleichen wir diese ganze Art der Weltbetrachtung mit der zuerst charakterisierten sogenannt objektiv-historischen, so fällt der Unterschied beider sogleich ins Auge:

Bei der letzteren ist das Prinzip der Welt, die  arche,  dasjenige, woraus eben die Welt historisch geworden ist, der materielle oder geistige, wie auch immer geartete Urstoff, aus dem sie sich gebildet hat, ob er in seiner ursprünglichen Form der sinnlichen Erfahrung noch zugänglich ist, ob er in dieser Form überhaupt noch existiert oder nicht.

Das Eigentliche der zweiten Weltbetrachtung steht zur wirklichen Welt, wie sie vor uns ist, in gar keine historischen und genetischen Verhältnis. Es liegt als das wahrhaft Seiende ontologisch der Welt zugrunde. Mit dieser braucht es, wie bei PARMENIDES, in gar keinen Zusammenhang gebracht zu werden, so sehr die wissenschaftliche Forderung nach einem solchen Zusammenhang besteht; aber der könnte nur ein erkenntnistheoretischer, niemals ein zeitlich-genetischer sein. (1)

Das Problem des  Eigentlichen  ist allein für diesen Zusammenhang wichtig. Von ihm aus versteht sich auch die andere große Frage, die von entscheidender Bedeutung sein wird:

Sobald es dem seiner selbst gewiß werdenden Erkenntnisstreben nicht mehr genügte, das Problem des Eigentlichen durch Intuition oder nach feststehenden Voraussetzungen, z. B. den religiösen, aufzulösen, bliebt als sicherer Weg zur Erkenntnis der Rückgang auf das Bewußtsein des Subjekts und dessen (des Bewußtseins) Erforschung.

Denn ob es ein eigentlich Seiendes gibt, wie es beschaffen ist, und in welchem Verhältnis es zu der uns umgebenden (wirklichen Welt steht, das alles ließ sich beantworten, wenn erst einmal bekannt ist, wie diese wirkliche Welt, die ja doch einmal die uns vertraute und gewohnte ist, dem Bewußtsein gegeben ist, ob sie überhaupt ursprünglich und unmittelbar dem Bewußtsein gegeben ist, oder vielleicht nur eine sekundäre und abgeleitete Existenz besitzt, zu einer Welt des subjektiven Scheins herabsinkt, in ihrem ganzen Umfang oder nur in einigen ihrer uns entgegentretenden Elemente.

Dieses Ursprüngliche im Bewußtsein ist in den einzelnen Philosophen auf das Verschiedenartigste bestimmt worden:

Die einen behaupteten, was uns ursprünglich gegeben ist, sind die bloßen Inhalte der Sinnesempfindungen; ob diesen etwas außerhalb ihrer entspricht und was das ist, lasse sich schlechterdings nicht feststellen. Auf jeden Fall ist alles, was diese WElt so recht eigentlich zu konstituieren scheint, die zeiträumliche Ordnung und die Festigkeit des Dingzusammenhangs, nicht als subjektive Zutat, deren Gewordensein aus den Empfindungsinhalten leicht aufzuzeigen ist. So CONDILLAC und die strengen Sensualisten.

Andere leugneten überhaupt, daß die grundsätzliche Verschiedenheit des Geistigen oder Seelischen einerseits und die des Physisch-Materiellen andererseits eine Beziehung wie die der Wahrnehmung zuläßt. So kam BERKELEY zu der Anschauung, die Existenz der Außenwelt überhaupt zu leugnen, deren Sein sich in ihrem Gedachtwerden erschöpft. Und nach MALEBRANCHE nehmen wir nicht die Dinge selber, sondern bloß ihre Ideen wahr, die nur durch die Vermittlung Gottes mit den von ihm geschaffenen Dingen übereinstimmen.

Nicht so weit ging LOCKE, der das ursprünglich Gegebene zwar in den Sinnesinhalten sah, von diesen aber die sogenannten sekundären, wie Farben, Töne, Gerüche usw. als bloß subjektiv ausschied und nur die primären, Ausdehnung, Solidität, Gestalt, Bewegung und Ruhe als objektive Eigenschaften der Dinge bestehen ließ.

Diese Beispiele mögen zur Charakterisierung der Frage ausreichen.

Das Problem des Ursprünglichen im Bewußtsein erhielt einen neuen und endgültigen Sinn durch KANT:

Die apriorischen Formen der Erkenntnis werden nicht im Bewußtsein des psychologischen Subjekts aufgefunden, sondern bilden dessen Voraussetzung, weil sie jeder möglichen Erfahrung zugrunde liegen. Aber nicht unmittelbar dies ist hier für uns von Bedeutung, sondern das andere, daß durch die apriorischen Erkenntnisformen die empirische Realität der Außenwelt festgestellt und gewährleistet wird. Denn wenn die Erfahrungswelt empirisch real ist, d. h. ebenso real wie die erfahrenden Subjekte selbst, so gewinnt das Ursprüngliche im Bewußtsein einen dem früheren genau entgegengesetzten Sinn.

Früher war das dem Bewußtsein ursprünglich Gegebene dasjenige gewesen, dessen Existenz allein schlechthin gewiß war; alles Übrige, was sich an und in der Welt sonst noch vorfand, einzelne Qualitäten, die Ordnungen und Zusammenhänge oder sie selbst im ganzen Umfang ihrer sogenannten Objektivität, mußte dann als bloß subjektive Zutat, als bloßer Schein gelten. Jetzt dagegen, da die Existenz der Außenwelt, so wie sie uns allen vertraut ist, feststeht, kann das Ursprüngliche nur die Art und Weise sein, wie uns diese reale Welt ursprünglich zu Bewußtsein kommt. Denn keineswegs tritt sie so vollkommen und fertig, wie sie unserem gewohnten Blick erscheint, vor das Auge des erwachenden Bewußtseins. Denn Sinnen der Gattung Mensch in ihren Anfängen bot sich die Welt anders dar und ebenso erscheint sie dem menschlichen Individuum zu Beginn seines Lebens noch als eine andere; es bedarf der individuellen Erfahrung und der vererbten Gattungserfahrung, um uns die Welt schließlich in der uns bekannten endgültigen Gestalt erfassen zu lassen.

Während also vor KANT das Ursprüngliche das allein Existierende und Wirkliche war, und die Welt, soweit sie darüber hinausging, ein bloß subjektives und künstliches Gebilde wurde, ist jetzt das Ursprüngliche im Bewußtsein dasjenige, worin das Auffassungsvermögen des Subjekts noch hinter der wirklichen Welt zurückbleibt, also selber das Subjektive, das Primitive, das Vorläufige, das überwunden, ausgebaut und berichtigt werden muß, um mit der wirklichen Welt in Übereinstimmung zu kommen. Psychologie, Physiologie und vergleichende Biologie bemühen sich vereint zu erforschen, wie in den Anfängen der Menschheit und des einzelnen Menschen (2) das ursprüngliche Weltbild beschaffen war, und zu zeigen, wie es allmählich durch mancherlei Übergangsstufen zum fertigen, uns wohlbekannten, wurde.

Dieses ursprüngliche Weltbild und sein Unterschied vom fertigen, wirklichen, kann in einem allgemeinsten Umriß folgendermaßen skizziert werden; für unseren Zweck, der ein prinzipieller und allgemeiner ist, kommt es dabei nicht auf die Vollständigkeit im Ganzen an, noch auf die Heraushebung strittiger Punkte im besonderen.

Bleiben wir zunächst bei einer Stufe des Ursprünglichen und Vorläufigen, deren deutliche Reste uns in der Geschichte der Menschheit als ganzer noch begegnen.

## Die Abgrenzung der einzelnen Dinge, das, was als Ding zusammengefaßt und erfaßt wird, deckt sich nicht mit unserer heutigen Gewohnheit. So freilich ist es nicht, daß ursprünglich nur Empfindungsinhalte erfaßt wurden und diese etwa gar noch als bloß einzelne, wie es die Assoziationspschologie glauben machen will. Nicht nur daß der Bewußtseinsinhalt immer ein Mannigfaltiges und Komplexes ist, und es immer war, auch die Einheit gebende dingliche oder Ding-Erfassung war immer da (zumindest als Tendenz, psychologisch gesprochen). Aber ob sie jeder Mannigfaltigkeit des gegebenen Inhalts gegenüber sich immer durchzusetzen vermochte, ob sich die vereinheitlichende, den Gegenstand als solchen setzende Apperzeption immer erfüllen konnte, ist fraglich (und übrigens auch bei uns nicht in allen Verhältnissen möglich); sicher ist, daß die ursprünglichen Dingabgrenzungen mit unseren heutigen nicht durchweg übereinstimmten. (3) Der Umfang des physischen Menschen, der Leib, erweitert sich für den Primitiven ungeheuerlich. Nägel, Haare, Exkremente bilden noch seinen Leib, auch wenn sie von ihm getrennt sind, Schatten und Spiegelbild gehören so innig zu ihm, wie nur irgendein Leibesteil, selbst Kleider und sonstiger Besitz können noch inbegriffen sein. Diese unmittelbare Anschauung von der menschlichen Person in leiblicher Hinsicht ist die Grundlage für die magischen Handlungen und die Angst vor ihnen; denn wer einen solchen Teil, einige Haare oder Nägel etwa, im Besitz hat, hat die ganze Person in seiner Gewalt. Dieser Glaube ist in der Zauberei und Magie überall erhalten geblieben, aber als bloßes Wissen, als vermeintlich tiefe Erkenntnis, während es ursprünglich eine unmittelbare Anschauung war, von deren Lebendigkeit wir uns schwer eine Vorstellung machen können. Daran muß überhaupt festgehalten werden, daß diese und ähnliche Eigentümlichkeiten des primitiven Weltbildes nicht auf Begriffen und Beurteilungen beruhen, die von den unseren verschieden wären, sondern daß sie überall für den Primitiven den Charakter unmittelbarer, lebendiger Anschauung tragen, auf deren Grund sich das Begriffliche und bloß Erkenntnismäßige allererst aufbaut. Es versteht sich, daß der Primitive, wenn solche befremdliche Dingabgrenzungen zahlreich sind, sich in einer uns kaum mehr zugänglichen Welt bewegt.

Dazu ist ferner der für uns fundamentale Unterschied zwischen Vorstellung und Wirklichkeit nocht nicht vorhanden oder erst auf dem Weg, herausgearbeitet zu werden; nicht nur schreibt der Primitive Traumbildern die Wirklichkeit von Wahrnehmungen zu, nicht nur hat für ihne die durch ein Bild geweckte Vorstellung eines Menschen denselben Wirklichkeitswert wie die Gegenwart, auch das Aussprechen eines Wortes bürgt ihm für die reale Gegenwart des mit einem Wort Gemeinten. Und die Gebilde seiner Phantasie scheiden sich erst allmählich vom Tatsächlichen ab - so wie noch heute oft im Fall eines besonders eindrucksvollen Verbrechens - einer durch die Zeitungen in ihren Einzelheiten bekannt gewordenen Bluttat - zahlreiche Personen auftreten, die sich anstelle des noch nicht gefundenen Mörders der Tat bezichtigen unter Angabe der beschriebenen oder selbsterfundenen Umstände.

Das Vorausgehende bezog sich mehr auf die allgemeine Form des primitiven Weltbildes. Es gibt jedoch ebenso einen Unterschied zwischen ihm und dem unsern im Hinblick auf die Sinnesqualitäten, mit denen es ausgestattet erscheint. Das läßt sich schon dadurch erweisen, daß sogar unser Weltbild gerade in seinen qualitativen Bestimmtheiten auch jetzt noch einer gewissen Veränderung unterworfen ist. Es sind noch nicht viele Dezennien [Jahrzehnte - wp], daß wie die violetten Töne und Zwischentöne in der Natur sehen gelernt haben. Ohne Zweifel ist es das Auge des Malers gewesen, das zuerst die violetten Färbungen im entlaubten Holz des spätherbstlichen Waldes entdeckt und festgehalten hat, während noch vor nicht allzulanger Zeit dasselbe Motiv in braunen Tönen gemalt wurde. Ganz analog hat die Schule von Barbizon die beschatteten Furchen des schneebedeckten Ackers zum erstenmal in einem bestimmten Blau gesehen (die bis dahin gleichfalls braun dargestellt wurden), und unsere Farbempfindung stimmt heute völlig damit überein. - Vielen Naturvölkern und Völkern des Altertums fehlen besondere Bezeichnungen für bestimmte Farben. So wird der Himmel bei HOMER nie blau genannt und in einem anderen Zusammenhang blau mit dunkelfarbig oder schwarz identifiziert, ebenso fehlt z. B. den  Hereró  ein Wort für  blau.  Sicherlich war die frühere Theorie, die auf eine Blaublindheit dieser Völker aus dem Fehlen der entsprechenden Bezeichnungen schloß, nicht haltbar, und es handelt sich vielmehr nur um eine Gleichgültigkeit oder Achtlosigkeit im Unterscheiden und Benennen, die ihrerseits auf die relative Unwichtigkeit bestimmter Objekte zurückgehen mag. Allein wenn WILHELM PREYER wirklich der Nachweis gelungen ist, daß das Kind anfangs gegen Blau unempfindlich ist und in seiner Entwicklung die blauen Qualitäten zuletzt wahrnimmt, so dürften wir vielleicht, da sich in der Geschichte des Individuums die der Gattung wiederholt, gleichwohl annehmen, daß zwar in historischer Zeit und bei den uns bekannten Völkern die Empfindung des Blau als Blau nie gefehlt hat, daß sie aber in der Geschichte der Menschheit überhaupt allerdings am spätesten aufgetreten ist.

Es bleibt noch eine ganze Klasse von Bestimmungen übrig, die dem ursprünglichen Weltbild im Gegensatz zum wirklichen eignen, eine Klasse von überragender Wichtigkeit: sie enthält alle die bloß vorläufigen Auffassungsweisen und Bewußtseinsinhalte, die das einzelne Individuum (auch das der uns bekannten primitiven Völker) für sich durchlaufen und überwinden muß, um überhaupt lebensfähig und in einem kulturellen Sinn entwicklungsfähig zu sein: da ist es vor allem der Raum selbst und das Räumliche, die von den Sinnen ursprünglich nicht so erfaßt werden wie sie wirklich sind. Es ist hier ohne Bedeutung, ob und in welchem Ausmaß die dritte Dimension der Tiefe ein sinnlich unmittelbar wahrnehmbares Datum ist und aufgrund welcher sogenannten Tiefenzeichen sie gegebenenfalls erschlossen wird; aber sicherlich bedarf es langer Erfahrung, um die Dreidimensionalität der Dinge, ihre Entfernung vom Beschauer und ihren Abstand untereinander zu sehen, wie sie wirklich sind. Aus den Operationen Blindgeborener scheint hervorzugehen, daß ursprünglich alles in ungefähr gleicher Entfernung gesehen wird; daraus müssen sich dann auch Täuschungen über die Größe der Objekte ergeben. Es ist ferner eine Aufgabe, die nicht von Anfang an schon gelöst ist, die verschiedenen Sinnesgebieten angehörigen Eindrücke auf einen identischen Gegenstand zu beziehen, von dem sie herrühren; insbesondere die Identität des getasteten mit dem gesehenen Ding zu erkennen, weil sich aus der Vereinigung von Gesichts- und Tasteindrücken in ganz hervorragendem Maß das Bewußtsein von einer Welt objektiv existierender Dinge bildet. Und da die getastete Ausdehnung und Gestalt eines Dings eine ganz andere ist als die gesehene, so müssen diese erst zur Deckung gebracht werden, um die wirkliche Ausdehnung und Gestalt zu erkennen. Ist die Vereinheitlichung noch nicht vollkommen erfolgt, so erleben wir mannigfache Täuschungen über die Größe der Gegenstände (operierte Blindgeborene sind erstaunt über die Größe der ihnen bisher nur durch den Tastsinn bekannten Dinge; eine Zahnlücke mit der Zunge oder dem Finger getastet, erscheint viel größer als im Spiegel betrachtet, wie sie wirklich ist usw.). Alle diese primitiven, vorläufigen Auffassungsweisen lassen sich leicht wiederherstellen und beweisen, wenn durch das wissenschaftliche Experiment Situationen geschaffen werden, die unseren Sinne ungewohnt, sie wieder in die ursprüngliche Einstellungs- und Auffassungsweise zurückwerfen.

Gehen wir noch einen Schritt weiter zurück: Wir sahen, es war eine ursprünglich durchaus nicht erfüllte Forderung, die Eindrücke, die ein und dasselbe Ding auf verschiedene Sinne machte, auch auf dieses identische Ding zu beziehen, zu erkennen, daß es dasselbe ist, was die und die Farbe hat, sich so oder so anfühlt, diesen bestimmten Geruch hat usw., und zugleich alle diese Qualitäten als einem Ding zugehörig auch an derselben Stelle im Raum zu lokalisieren. Nicht nur dies: Es muß auch das erst nach und nach zu Bewußtsein kommen, daß innerhalb der einzelnen Sinnesgebiete selbst der Gegenstand seine Eigenschaften wechseln kann, ohne darum aufzuhören, derselbe zu sein: Dasselbe Ding ändert seine Farben, klingt einmal so, dann wieder anders. So wie es in diesen wirklichen Änderungen als dasselbe erst herausgelöst werden muß, so besteht ursprünglich die Gefahr, daß es verkannt wird oder daß ihm fälschlich Eigenschaften zugeschrieben werden, wenn es im Wechsel der Beleuchtung oder in einer perspektivischen Verschiebung gänzlich anders erscheint, als es in Wahrheit ist. In dem Maße, als alle diese Verschiedenartigkeiten und Mannigfaltigkeiten noch nicht systematisch Dingen zugeordnet sind, in dem Maße, wie der fortwährend stattfindende Wechsel in der Umwelt noch nicht einheitlich bezogen ist, droht jeder gegebene Eigenschaftskomplex sich dinghaft zu verselbständigen. Zwar ist das ursprünglich im Bewußtsein Befindliche niemals ein ungeregelter Ablauf von Empfindungsinhalten gewesen, wie die Assoziationspsychologie versichert; aber bei einem Mangel der Identifizierung und Vereinheitlichung im oben angeführten Sinn neigte die dingbildende Auffassung dazu, die verschiedenen Sinnesgebieten angehörigen Eindrücke ein und desselben Dings auf für verschiedene Dinge zu halten und ebenso hinter den wirklich oder scheinbar wechselnden Eigenschaften eines identischen Dinges verschiedene zu erblicken. Sofern als die Einheit des Dings, die über allen Wandel der Zeit und die durch sie ermöglichten Änderungen der Eigenschaften hinübergreift, noch nicht genügend und der Wirklichkeit entsprechend erfaßt ist, unterliegt ein so beschaffenes Weltbild der Neigung zum Auseinanderfallen oder zur Diskontinuität in der Zeit. (Das andere Extrem, das sich leicht an die Stelle setzt oder mit dem ersten vermischt, ist dies, daß die Dingeinheiten zu umfangreich genommen werden: Reste davon fanden wir schon da, wo primitive Stämme die Sterne noch nicht als Einzeldinge aus dem Gesamtding "Himmel" herausgelöst haben oder wo der Umfang der menschlichen Person ins Ungeheuerliche erweitert ist.)

Dieser zeitlichen Diskontinuität tritt im ursprünglichen Weltbild das räumliche Kontinuum gegenüber. Bedingt durch die noch unvollkommene Erfassung der dinglichen Einheiten, namentlich aber durch die noch nicht fertig ausgebildete Wahrnehmung der dritten Dimension, erscheint das Räumliche (und damit der Raum) zusammenhängend und in unmittelbarer Verbindung unter sich. Es ist noch nicht, wie für uns jetzt, auf das Reichste auseinandergebrochen durch Zwischenräume und Abstände, wodurch recht eigentlich die Mannigfaltigkeit des Raumlebens erzeugt wird. es besteht vielmehr die Tendenz, ein räumliches Gebilde unmittelbar an das andere anzuschließen, ohne eine Erfassung der Überschneidungen des hintereinander Befindlichen.

Es ist die Tatsache der Bewegung, die besonders geeignet ist, von der vorläufigen Auffassungsform zu der der wirklichen Welt entsprechenden überzuleiten; nicht nur, weil sich das bewegende Ding die Aufmerksamkeit vor allem andern auf sich zieht, sondern auch weil es sich als besonderes und gleichbleibendes Ding vor einem wechselnden Hintergrund abhebt. Gleichwohl ist auch hier eine vorläufige Auffassungsweise zu überwinden, die noch leicht nachweisbar ist. Ursprünglich nämlich ist die Trennung von ruhendem Hintergrund und Beobachter und dem sich Bewegenden noch nicht vollzogen, es wird vielmehr "die Bewegung als solche erfaßt und dem ganzen Bewußtseinsinhalt zugeschrieben", wie JAMES (4) sagt. So erscheint uns, wenn wir uns rasch um uns selber drehen, auch die Umwelt in Bewegung, ebenso empfinden wir im rasch fahrenden Zug die Gegend und uns selber als bewegt usw. und nicht anders bei der Erfassung des Bewegungsphänomens durch den Tastsinn. Aber in all diesen Fällen wird die primitive Auffassungsweise, so deutlich sie noch überall ist, durch die fortschreitende Erfahrung umso schneller korrigiert, je wichtiger die Erkenntnis des wahren Sachverhalts für die einfachsten Betätigungen zur Erhaltung des Lebens ist.

So unterscheidet sich also das Ursprüngliche im Bewußtsein - im Sinne des primititven Weltbildes - in mannigfacher Weise von der endgültigen Wahrnehmung der wirklichen Welt; ihr näher es sich in vielen Zwischenstufen und Übergängen, die sich, ebenso wie das Ursprüngliche selbst noch da und dort zum Teil in künstlich durch das Experiment hergestellten Situationen, aufweisen lassen. Wir können dabei diese wirkliche Welt, wie es die populäre Anschauung ist, als die schlechthin objektiv existierende ansehen. Dann ist der Fortschritt von der ursprünglichen Auffassungsform dieser Welt - dem primitiven Weltbild - eine Hinentwicklung zur wirklichen Welt, eine Anpassung an sie und ihre Forderungen. Wir können aber auch in wissenschaftlicher Denkweise, mit der modernen Biologie diese wirkliche Welt betrachten als das Lebensmilieu, das sich unser lebender Organismus nach seinen biologischen und physiologischen Möglichkeiten und Bedürfnissen selber geschaffen hat. Sie ist dann eine unter unendlich vielen, ansich möglichen und ihre spezielle Eigenart durch eben diese biologischen Bedürfnisse bestimmt. Ihre empirische Realität im philosophischen Sinn bleibt davon natürlich ganz unberührt, weil es sich ja nur um eine biologische Auseinandersetzung zwischen Subjekt und Objekt handelt. Vertritt man diese Anschauung, dann ist der Fortgang vom primitiven Weltbild zum endgültigen nicht als Anpassung an die im populären Sinne wirkliche Welt zu fassen, sondern als Entfaltung des nach biologischer Zweckmäßigkeit milieu-(umwelt-)schaffenden Organismus bis zu seiner vollen Leistungsfähigkeit, welche mit der Erfassung des endgültigen Weltbildes zusammenfällt. Genauer ausgedrückt: Die einzelnen Organe des lebenden Individuums stellen sich nach einer immanenten Teleologie immer inniger wechselseitig aufeinander ein und verarbeiten vereinheitlichend ihre Eindrücke; die Erkenntnis, die sich auf diese Arbeit gründet, so wie sie dieselbe wiederum beeinflußt, gibt in dem Bild, das sie von der Umwelt hat, den jeweiligen Stand dieser Entfaltung wieder, bis schließlich mit dem endgültigen Weltbild das Milieu gewonnen ist, welches der betreffende Organismus nach seinem inneren Gesetz recht eigentlich als seine wirkliche Welt ansprechen muß. Für den Gegensatz von Ursprünglichem im Bewußtsein und der wirklichen Welt ist aber die Stellungnahme in dieser intern biologischen Frage ohne Bedeutung; er, auf den es allein ankommt, bleibt bestehen.

Die flüchtige Skizzierung des ursprünglichen und vorläufigen Weltbildes wird im Folgenden ihre Ergänzung finden, wo immer der allgemeinere Gesichtspunkt unserer Betrachtungen es erfordert.

Eine  dreifache Haltung  nimmt also das Subjekt zu der ihm gegebenen Materie der physische Welt ein: sie drückt sich aus einmal in der (bedingten oder unbedingten) Hinnahme der wirklichen Welt, die es als fertiges, entwickeltes Individuum vorfindet; damit verbunden ist die Frage nach Ursprung und Entstehung dieser Welt in der Zeit und ihrem zeitlichen Schicksal. Es entspricht ihr zum anderen die eigentliche Welt, welche hinter dieser wirklichen liegt, oder das Eigentliche, das diese Welt in Wahrheit ist. Es entspricht ihr als Drittes das Ursprüngliche, d. h. die Welt, die ursprünglich dem Subjekt gegeben ist, oder die wirkliche Welt in  Form  und  Qualität,  wie sie ursprünglich dem Subjekt gegeben ist; dabei ist dann in der vorkritischen Philosophie das Ursprüngliche zugleich das allein Wahrhafte, seit der kritischen jedoch das bloß Subjektive und Vorläufige.

Diese Dreiteilung kann nicht auf die physische Materie und Welt beschränkt sein, weil sie von keiner Bestimmung abhängig ist, die der physischen Materie als solcher besonders und auszeichnend zukommt. Sie ist vielmehr anwendbar und anzuwenden bei jeder Art von Materie, die dem Bewußtsein eines Subjekts gegeben ist. Eine solche Materie, die prinzipiell von der physischen verschieden ist, ist die psychische und sie ist zugleich die einzige, die wir außer der physischen kennen. So erscheint auch das Psychische in dieser Dreiheit, wenn sie auch da in der Geschichte der Philosophie erst spät und mit geringerer Schärfe und Bewußtheit unterschieden herausgearbeitet wurde.

Von der psychischen Welt, wie sie gemeinhin bekannt ist, ausgehend, wurde die einfachste Frage nach Herkunft und Zukunft z. B. dahin beantwortet, es sei das Psychische entstanden aus dem Trieb und Instinkt, seine Bestimmung aber läge darin, sich von ihm und seinem Zwang immer unabhängiger zu machen und sich als eigenes Reich nach eigenen Gesetzen (denen der Sittlichkeit und Freiheit etwa) festzustellen. Aber auch im Psychischen tauchte die Frage auf, ob wir denn in dieser ganzen Mannigfaltigkeit der uns vertrauten psychischen Welt auch tatsächlich das wahrhaft Psychische wahrnehmen, ob nicht vielmehr das Psychische eigentlich ganz anders beschaffen ist. Da erschied dann z. B. die paradoxe Antwort, das Psychische sei eigentlich nichts als das Physische bzw. Physiologische, Begleiterscheinung und Nebenprodukt der Nervenprozesse. Eine andere Lösung ist die, das Eigentliche im Psychischen seien die an und für sich immer unterhalb der Schwelle des Bewußtseins verlaufenden psychischen Vorgänge, die nur, wenn sie über ein bestimmtes Maß an psychischer Energie verfügen, im Bewußtsein die Inhalte entstehen lassen, die eben unser bewußtes psychisches Leben ausmachen (LIPPS).

Wie gegenüber der physischen Außenwelt, so tauchte nun auch bei der psychischen Welt der Gedanke auf, ob denn die uns als psychische Wirklichkeit bekannte Welt ursprünglich und von allem Anfang an, so wie wir sie jetzt erlebend wahrnehmen, gegeben war, oder ob nicht vielmehr das dem Bewußtsein ursprünglich gegebene Psychische sich von unserer psychischen Welt unterscheidet. Und sofort galt dann auch ganz im Sinn der vorkritischen Philosophie das, was sich als ursprüngliches Psychisches ergab, als das allein wahrhaft Existierende (welches mit dem ontologisch vollkommen verschiedenen eigentlichen Psychischen identifiziert wurde) und die uns bekannte psychische Welt löste sich in eine Welt des Scheins und der Täuschung auf, insoweit als sie sich vom Ursprünglichen unterschied: So sollten ursprünglich dem Bewußtsein bloß die Inhalte der Empfindung gegeben sein, die, aus denen die Außenwelt sich aufbaut, wie namentlich die hier besonders in Betracht kommenden Leibesempfindungen, dazu weiter nichts als das Gedächtnis als die Fähigkeit der Reproduktion der Empfindungen. Die ganze Mannigfaltigkeit der Gefühle aber sei nichts als Täuschung und, genau besehen, begründet in der Verschiedenheit der physiologischen Leibesempfindungen, sei vielmehr nichts anderes als diese selbst. In gleicher Weise seien die Gedanken und Gedankenzusammenhänge nicht eine wirklich echte psychische Tatsache, sondern das zufällige Ergebnis des nach den äußerlichen Regeln der Assoziation sich vollziehenden Zusammenschlusses der Empfindungen und Vorstellungen aufgrund des Gedächtnisses. Gefühle und Gedanken, wie Gedankenzusammenhänge, sind also bloßer Schein und eine Täuschung des Bewußtseins; es entsprechen ihnen als solchen im Psychischen keinerlei Realitäten, weil sich da nur das Ursprüngliche findet, welches keinerlei Ähnlichkeit hat mit dem, was die Namen  Gefühl  und  Gedanke  vortäuschen wollen. Nach BERGSON dagegen ist unsere Anschauung und Erkenntnis des Psychischen von Grund aus verfälscht durch die Übertragung von Denkformen und Anschauungsweisen, die der physischen Welt entnommen sind und nur da Sinn haben. Gemäß der unvergleichlichen Bedeutung, welche die physische Welt für uns besitzt, hat sich unser Verstand ausschließlich an ihr und ihren Gestaltungen und für sie gebildet; so muß der Blick, wenn er auf das Psychische fällt, unwillkürlich und mit Notwendigkeit die psychische Welt nach dem Muster und Vorbild der physischen erfassen und deuten. Aufgabe der Wissenschaft ist es, diesen unheilvollen Fehler rückgängig zu machen und das Psychische in seiner Ursprünglichkeit und Reinheit wieder vor Augen zu stellen. So findet BERGSON z. B., daß die Auffassung des Psychischen unter der Form der Zeit als dem Nacheinander in der Sukzession [Aufeinanderfolge - wp] eine unberechtigte Übertragung des nur im Physischen Gültigen ist. Im Psychischen selbst gibt es keine Sukzession, sondern bloß eine wechselseitige Durchdringung aller Momente in ihrer beständig sich ändernden Mannigfaltigkeit, reine "Dauer". Ebenso unzulässig ist es, nach Art der physischen Dinge und Einheiten, Bewußtseinszustände oder dergleichen zu unterscheiden und z. B. von einem bestimmten  Gefühl  oder  Affekt  zu reden; denn die Analyse zeigt, daß das, was wir so mit einem Begriff benennen, in Wahrheit ein rastlos wechselndes Psychisches ist, das in ungeschiedener Heterogenität weitergeht und bei der jeder von uns herausgehobene Moment von jedem anderen gänzlich verschieden ist. So ist auch das Psychische als Ganzes eine in ununterbrochener Kontinuität dauernde Mannigfaltigkeit, ungeschieden d. h. sich beständig und überall durchdringend, und dabei immer völlig verschieden, d. h. sich rastlos ändernd.

So weit führt die Geschichte der Psychologie. Die Anschauungen vom Psychischen, die überhaupt einen prinzipiellen Gesichtspunkt hervorheben, suchen entweder das Eigentliche hinter der vorliegenden psychischen Wirklichkeit; dann scheitern sie am  diasozein ta phainomen [Erhalten der Erscheinung - wp] und es gelingt ihnen nicht, die Existenz dieser psychischen Wirklichkeit verständlich zu machen. Oder sie bemühen sich, das ursprüngliche Psychische aus den Täuschungen und Irrtümern rein und unverfälscht herauszuarbeiten, durch die es unserer gewöhnlichen Auffassung verdunkelt ist; in diesem Fall ist es neben anderen Schwierigkeiten unmöglich, den radikalen Unterschied zwischen dem Ursprünglichen und dem, was uns gemeinhin als das psychisch Wirkliche gilt, zu erklären und insbesondere die Möglichkeit und Entstehung dieses Letzteren genügend zu begründen. Die Lehren vom Psychischen aber, die glauben, ohne eine prinzipielle Orientierung und Methode auszukommen (was doch ein für allemal nicht angeht) und bescheiden bloß die Einteilung und Beschreibung der psychischen Phänomene auf ihr Programm setzen, - diese leiden Schiffbruch, noch ehe sie ihre Fahrt angetreten haben; denn schon in der bloßen Benennung der psychischen Phänomene, geschweige denn in ihrer Beschreibung und in der ihres Verhältnisses zueinander, steckt unvermeidlich alle Theorie und Konstruktion mit all den Fährnissen, die sie gerade zu umgehen strebten.

Der Weg aber, den wir hier verfolgen wollen, ergibt sich folgerichtig aus der dreifachen Haltung, die das erkennende Subjekt der physischen und psychischen Welt gegenüber einnimmt, und die sich auf das Wirkliche, Eigentliche und Ursprüngliche bezieht. Für das Psychische wurde die Darstellung bis dahin geführt, wo das ursprünglich Gegebene einmal in einen Gegensatz zu dem tritt, was uns gemeinhein als die psychische Wirklichkeit gilt und dann sofort auch als das allein wahrhaft Existierende angesehen wird. Es ist aber zu erinnern (siehe oben), daß an dieser Stelle der Entwicklung in der denkenden Erfassung der physischen Welt die entscheidende Wendung eintrat: durch die kantische Philosophie wurde die objektive Wirklichkeit unserer Wahrnehmungswelt festgestellt und damit wurde auch das Ursprüngliche - in völliger Verkehrung seines bisherigen Wertes - zu einem bloß Subjektiven und Vorläufigen, als welches anfänglich uns diese unsere wirkliche Welt gegeben war vor ihrer reifen und endgültigen Erfassung. Derselbe, letzte und wichtigste Schritt muß nun auch im Psychischen getan werden; so wie er die Lösung für das Problem der Erkenntnis der physischen Welt brachte, so eröffnet er alsbald den Blick für die wahre Natur der psychischen Welt:

Auch im Psychischen muß das Ursprüngliche erkannt werden als das bloße Subjektive und Vorläufige im Gegensatz zur wirklichen psychischen Welt, in der wir tatsächlich leben. Sämtliche Bestimmungen des ursprünglich Psychischen, wie sie die ganze Psychologie bisher zu ergründen suchte, um dieses so erforschte ursprüngliche Psychische dann sogleich als das allein wahrhaft Existierende anzusprechen, alle diese Bestimmungen, wenn sie überhaupt irgendwo eine Stelle haben, kommen dem subjektiven, vorläufigen Weltbild zu, welches der richtigen Anschauung und Erkenntnis der wirklichen psychischen Welt vorhergeht, auch wohl noch mehr oder weniger in sie hineinragt, sie verwischend und trübend, das aber mit den Bestimmungen dieser wirklichen psychischen Welt nicht das mindeste zu tun hat. Ursprünglich wird dem erlebenden Subjekt das Psychische in rastloser Bewegung erscheinen; es ist ihm nicht möglich, es anders als eine beständig wechselnde Mannigfaltigkeit zu erfassen, in der ihm die Heraussonderung und Abgrenzung von einzelnen Teilen oder Elementen nicht gelingt, dann wieder droht es gerade in eine Abfolge gesonderter Elemente zu zerfallen, unter denen scheinber einfache Empfindungs- und Vorstellungsinhalte die wichtigste Rolle zu spielen scheinen. Diese und noch andere Bestimmungen, von denen an ihrer Stelle mehr zu sagen ist, sind das Charakteristische des Eindrucks, den die psychische Wirklichkeit ursprünglich auf das bewußte Subjekt macht; daß sie zum Teil einander logisch widersprechen, hindert nicht, daß sie sich im ursprünglichen Eindruck zusammenfinden, so wie ja auch in einem subjektiven ursprünglichen Bild von der physischen Welt, das ihrer richtigen Erfassung vorhergeht, die Tendenz zu einer alle Sonderexistenzen verwischende Kontinuität zusammenbesteht mit einer ebenso drohenden Neigung, das Weltbild in übergangslose Einzelmomente zu spalten.

So also begründet sich in diesem Zusammenhang unsere Theorie vom Psychischen. Es ist dies aber nur der eine Teil. Der andere, der von größerer Bedeutung ist, ergibt sich durch folgende Überlegung: Alle Philosophie, die im Physischen das Ursprüngliche für das allein Wahrhafte hält und folglich die Dinge und Dingzusammenhänge für eine bloß subjektive Konstruktion erklärt, kann doch den unmittelbaren Eindruck von Wirklichkeit und Objektivität nicht zerstören, den die so entthronte Welt unweigerlich auf uns macht. Sie mag an noch so vielen Stellen des nach ihrer Meinung zu Unrecht bestehenden Weltbildes das Ursprüngliche - und für sie Wahrhafte - nachweisen, die uns vertraute Welt verliert für unsere unmittelbare Anschauung und Überzeugung nichts von ihrer Gültigkeit, und wir können nur durch logisch treffende indirekte Beweisgründe dazu gebracht werden, daran zu zweifeln, und jener anderer Auffassung zu folgen. Ganz anders im Psychischen: BERGSON, wie alle anderen, die im Psychischen denselben, eben erwähnten Standpunkt einnehmen, begnügen sich nicht damit, durch mannigfache Beweisgründe und Schlüsse darzulegen, daß das ursprünglich Psychische ganz anders ist und sein muß, als das Psychische, wie wir es zu kennen glauben, sondern sie behaupten, daß es sehr wohl möglich ist, sich dieses ursprünglich Psychische, das ihnen als das reine und wahrhafte gilt, zur unmittelbaren Anschauung zu bringen. Nur bedarf es dazu einer geschärften Selbstbeobachtung und sorgfältigen Analyse; hat diese aber erst einmal alle Trübungen und Entstellungen entfernt, die von einer unwillkürlichen Übertragung der bloß in der physischen Welt gültigen Anschauungs- und Denkweisen herrühren, oder von einer biologisch begründeten Vernachlässigung des Psychischen überhaupt oder aus anderen Ursachen - dann wird das Psychische sichtbar, wie es ursprünglich gegeben war. Während also kein noch so fanatischer Anhänger der angeführten Theorie sich vermißt, durch irgendwelche Manipulationen die Wirklichkeit der physischen Welt in der Anschauung aufzulösen und die Anschauung des ursprünglich Gegebenen an die Stelle zu setzen, soll derselbe Prozeß im Psychischen keinerlei Schwierigkeiten unterliegen. Und die Möglichkeit, bis zur Anschauung des Ursprünglichen durchzudringen, gilt gerade als wesentlicher Beweis für die Richtigkeit der Theorie.

Wir werden nun nicht einfach dekretieren können, daß alles, was so zur Anschauung gebracht wird, bloß auf Täuschung und Irrtum beruth, weil man vielleicht im Psychischen besonders leicht zu erblicken glaubt, was gefordert wird. Zweifellos ist es möglich, das Psychische so zu sehen, in rastloser Bewegung, als unendliche wechselnde Mannigfaltigkeit usw. Aber was so gesehen wird, ist weit davon entfernt, das wahrhafte, objektiv existierende, wirkliche Psychische zu sein. Vielmehr wissen wir jetzt, daß es die vorläufigen, primitiven, dem endgültigen Weltbild vorhergehenden Auffassungsweisen sind, welche durch diese - im eigentlichen Sinne - analytische, auflösende Arbeit ausgegraben werden und ihre Auferstehung feiern. Nicht anders, als wenn wir uns zwingen, bei der Betrachtung der physischen Welt nicht auf die objektiven Dinge und deren realen Zusammenhang zu achten, sondern uns bloß auf die früher beschriebenen ursprünglichen Gegebenheiten der Empfindung und subjektiven Auffassung einzustellen, aus denen wir erst allmählich zur Anschauung der objektiven Welt gelangen. Was bei dieser Einstellung zum Vorschein kommt, ist im Psychischen genau wie im Physischen bloß die Weise, wie dem noch nicht zur richtigen und endgültigen Anschauung der Welt gelangten Subjekt die Welt erscheint, im Wesentlichen und Charakteristischen also ein bloß Subjektives und Vorläufiges, dem in der objektiven psychischen oder physischen Welt direkt nichts oder nur wenig entspricht (je nach dem Grad der Annäherung an die wirkliche Welt), so gewiß die Basis für die Gewinnung der wirklichen Welt darin gegeben ist. Das Weltbild, das sich durch diese Betrachtung und Analyse den Blicken enthüllt, ist also gar nichts Wirkliches und Objektives, es wird darin gar nicht etwas Wirkliches gesehen, aber gleichwohl wird wirklich etwas gesehen, d. h. das Weltbild, das uns BERGSON, HUME und all die anderen als das Ursprüngliche (und damit nach ihrer Meinung Wahrhafte) aufzeigen, ist nicht einfach bloß erfunden und seine Erfassung eine bloße Täuschung, sondern der Irrtum liegt darin, daß es für etwas anderes und für mehr gehalten wird, als es tatsächlich ist, für etwas anderes und mehr als sein bloß Subjektives, wie es als primitives und vorläufiges Welterfassen der richtigen Anschauung der Welt vorhergehen muß, im Psychischen nicht anders als im Physischen. Die aber, die versichern, daß man durch Selbstbeobachtung des von ihnen für das Wahrhafte gehaltene Ursprüngliche inne werden kann, verkünden eine Wahrheit gegen ihren Willen und entgegen ihrem eigenen Zweck; denn, was bei dieser Einstellung dem Physischen wie dem Psychischen gegenüber zum Vorschein kommt, ist eben nicht das Wirkliche, das objektiv Existierende, sondern bloß ein Weltbild, wie es das Subjekt, das noch nicht zur richtigen Welterfassung gelangt ist, für sich selber erzeugt, durch bloß subjektive - und in diesem Sinne willkürliche - Verzerrungen, Verschiebungen und Zutaten, wie sie eben dem noch nicht voll ausgereiften Auffassungsvermögen entsprechen. Wir beobachten also, wenn wir diese Einstellung einnehmen, hervorrufen oder wieder erneuern, allerdings unser Selbst in einem gewissen Sinne, und zwar wohlgemerkt nur in diesem Sinne, unser Selbst nämlich bei seiner, das Wirkliche infolge seiner primitiven Auffassungsweise entstellenden Arbeit. Bei allen Stufen und Arten der Welterfassung, die noch nicht die Welt, wie sie wirklich ist, zeigen, überraschen wir unser Selbst, im Sinne der Subjektivität, in seiner Tätigkeit, und zwar in genau dem Maße, als die Gegebenheiten nach Inhalt und Ordnung nicht mit der wirklichen Welt übereinstimmen, ob es nun die physische oder die psychische ist.

Die Tatsache, daß alle die Bestimmungen, die wir mit dem Begriff des Ursprünglichen umfassen, zur Anschauung gebracht werden können, steht fest. Das ist keiner weiteren Erklärung bedürftig vom Standpunkt der früheren Theorien vom Psychischen; für diese ist ja eben dieses Ursprüngliche das allein wahrhaft existierende Psychische und alles, was wir sonst als Psychisches wahrzunehmen, zu erleben glauben, künstlicher Überbau und Schein, der entfernt werden muß, um zum Ursprünglichen, zum Wahren zu gelangen. Daran, daß das Ursprüngliche tatsächlich zum Vorschein kommen kann, hält auch unsere Theorie fest. Nur die Bedeutung, die sie dem so zum Vorschein Kommenden gibt, ist die der bisherigen entgegengesetzt, da ihr das Ursprüngliche als das bloß Subjektive und Vorläufige gilt, gegenüber der wirklichen psychischen Welt. Wie erklärt sich also von unserem Standpunkt aus die Tatsache, daß das Ursprüngliche ohne große Schwierigkeiten aus allem, was sonst als das Psychische gilt, herausgearbeitet und erblickt werden kann? Es scheint ja gerade diese Tatsache für die Richtigkeit der alten Theorien zu sprechen, wonach eben dieses Ursprüngliche das allein Wahrhafte und echte Psychische sein soll, umso mehr als, wie eben betont wurde, im Bereich der physischen welt das Ursprüngliche in unserem neuen Sinn des bloß Subjektiven und Vorläufigen durchaus nicht imstande ist, die Anschauung der wirklichen physischen Welt zu verlöschen und sich selbst an deren Stelle zu setzen. Die Antwort auf diese Frage lautet: Es  ist  möglich, daß das Ursprüngliche, welches das bloß Subjektive, Primitive und Vorläufige ist, ohne besondere Schwierigkeiten zum Vorschein kommt, es  ist  möglich, daß es in einem solchen Ausmaß an die Stelle des Psychischen tritt, wie wir es sonst gemeinhin als das wirkliche hinnehmen und dessen Anschauung verdrängt, - weil unsere Anschauung - und damit unsere Kenntnis und Erkenntnis - von diesem wirklichen Psychischen selber noch nicht ausgereift, noch nicht vollkommen richtig und ausgebildet ist: Wir haben es im Psychischen mit einer Welt zu tun, deren Objektivität und deren Eigenart sich im Hinblick auf Ordnung und Zusammenhang ihres qualiativen Materials, ja hinsichtlich dieses Materials selbst, für unsere Anschauung und unser unmittelbares Bewußtseni noch nicht vollkommen und endgültig festgesetzt hat, wie es mit der physischen Welt längst geschehen ist - so sehr diese psychische Welt jedenfalls objektiv eine fertige Welt in sich und an sich ist, wie die physische. Da wir also noch nicht oder zumindest noch nicht überall bis zur Anschauung der psychischen Welt, wie sie wirklich ist, vorgedrungen sind, so werden einerseits subjektive, primitive. vorläufige Auffassungsweisen noch häufig unser psychisches Weltbild trüben, andererseits wird es nicht schwer sein, auch die Auffassungsweisen, die  de facto  im Großen und Ganzen schon überwunden sind, wieder lebendig zu machen und so ein durch sie bestimmtes psychisches Weltbild zu erhalten, wenn die Absicht der Beobachtung dahin zielt.

Dies ist also der zweite Teil der Theorie vom Psychischen: daß unsere Anschauung der psychischen Welt (und damit unsere Kenntnis und Erkenntnis ihrer im Begriff) noch in einer werdenden Entfaltung ist, daß sie noch nicht oder zumindest noch bei weitem nicht, überall übereinstimmt mit der wirklichen psychischen Welt, sowie unsere Anschauung der physischen Welt sich mit ihrer Wirklichkeit deckt.

An diesem Punkt erheben sich sogleich zwei Fragen: Die erste: Wie es denn kommt, daß unsere Auffassung des Psychischen noch hinter der psychischen Wirklichkeit zurückbleibt, daß wir die psychische Welt durchaus noch nicht so wahrnehmen, wie sie ist. Der Hauptgrund dafür ist rein biologischer Natur und besteht in der allgemein zugestandenen Tatsache, daß das Psychische im Vergleich zum Physischen für unsere Existenz eine unwesentliche und sekundäre Rolle spielt, sowohl hinsichtlich der Ziele, die wir uns normalerweise setzen, als auch der Mittel, durch welche sie erreicht werden. So kommen wir mit einer ganz oberflächlichen Kenntnis der psychischen Welt aus (nicht viel mehr als einem Kenntnisnehmen) und demgemäß ist das Maß an Beachtung und Aufmerksamkeit, das ihr geschenkt wird, gering, und ihre Kenntnis und Anschauung muß sich neben der allgemeinen Richtung unseres Lebens entwickeln, wenn nicht gegen diese. Dazu wird, wer jetzt sein Interesse dem Psychischen zuwendet, um es so zu schauen und kennenzulernen, wie es wirklich ist, nicht selber allein gutmachen und nachholen können, was Generationen versäumt haben; denn auch diese Anschauung der physischen Welt baut ja jeder für sich nur zum geringsten Teil ganz neu schöpferisch auf, vielmehr lebt er dabei von der vererbten Erfahrung der Gattung und steht auf den Schultern der Vergangenheit. Die Tatsache aber, daß die physische Welt Ort und Materie unseres Handelns ist, gibt ihr gerade, was ihre Anschauung und Kenntnis angeht, einen gewaltigen Vorsprung vor dem Psychischen und erschwert es diesem letzteren, sich für das Bewußtsein als ebenbürtige und ebenso vollkommen gekannte Welt zu konstituieren und darzulegen. Davon wird noch mehr zu reden sein, wenn wir uns erst einmal mit der psychischen Welt, wie sie wirklich ist, vertraut gemacht haben.

Und ferner entsteht das zweite Problem: Wie ist es möglich, was die bisherige Entwicklung versäumt hat, nachzuholen und, einer möglichen künftigen vorauseilend, eine richtige und endgültige Anschauung und Kenntnis der psychischen Welt zu erwerben, wie kann diese, deren Erfassung sich noch im vorläufigen bewegt wird, vor unseren Augen in ihrer Wirklichkeit erstehen?

Die Lösung dieser Frage hat einen empirische und einen allgemein begründenden erkenntnistheoretischen Teil:

Zuerst einmal ist zu bemerken, daß die richtige Erfassung der wirklichen psychischen Welt schon in weitem Umfang zumindest vorbereitet ist und sein muß. Denn da wir tatsächlich nicht im Psychischen leben, das uns eine vorläufige und unvollkommene Auffassungsweise vorspiegelt, sondern in der wirklichen psychischen Welt, wie sie objektiv ist, so muß der Instinkt, der überall der hellen Erkenntnis vorangeht, an vielen Punkten auf seine Weise diese wirkliche Welt ungefähr tastend spüren und, wenngleich ohne Bewußtsein, mit ihr rechnen. Unsere unwillkürliche, nicht bewußte Verhaltensweise im Psychischen - eben die instinktive - ist also schon vielfach auf die wirkliche psychische Welt und ihre Verhältnisse eingestellt; das zeigt sich nicht nur (trotz vieler Irrtümer) eben in unserem praktischen Verhalten innerhalb des Psychischen, sondern es drückt sich auch aus in den Begriffen und Bezeichnungen, mit denen sich das gemeine Bewußtsein oberflächlich, aber für seine Zwecke genügend, im Psychischen orientiert. So werden wir z. B. sehen, wenn wir später das psychische Ding entdeckt und begriffen haben werden, daß wir instinktiv mit ihm rechnen, als ob es uns auch bewußt geläufig ist, und daß das gemeine Bewußtsein in der Art, wie es ("ohne sich etwas dabei zu denken") vom Psychischen redet, die Existenz des psychischen Dings unwillkürlich anerkennt. Es fehlt aber, wie in diesem Einzelfall, so in allem, was bloß der Instinkt in der unwillkürlichen Verhaltensweise anerkennt, die deutliche Anschauung und infolgedessen auch die richtige Kenntnis und Erkenntnis, es besteht ein unvermittelter Sprung vom instinktmäßigen, unbewußten Erfassen (und dessen Wirkung auf das unwillkürliche Verhalten) zu dem ebenso unwillkürlichen und unreflektierten, ganz ungefähren sprachlich-begrifflichen Ausdruck, in dem sich die Weisheit des Instinkts spiegelt und in den sie sich absichtslos übersetzt. Es fehlt also gerade das, was uns die physische Welt zu einer klar und vollkommen gekannten macht, das Vermittelnde zwischen den beiden Gegenpolen, ihre Synthesis: die Anschauung, die durch den geformt und fertig bereitliegenden, wenn auch nicht immer ausdrücklich angewendeten Begriff zu einer deutlich umrissenen, bewußten Anschauung wird, oder, von der anderen Seite gesehen, es fehlt der Begriff, der durch die erfüllende Anschauung aus einer bloß hindeutenden, für die Bedürfnisse der oberflächlichen Orientierung gerade ausreichenden Bezeichnung allererst zum wirklichen Begriff wird. Damit ist aber der Weg gegeben, auf dem wir zu der gesuchten Kenntnis der wirklichen psychischen Welt gelangen können, noch ehe die historisch-biologische Entwicklung uns mit der psychischen Welt ebenso vertraut gemacht hat wie mit der physischen - wenn diese Absicht überhaupt in ihrer Richtung liegt: Der Instinkt hat, wie sich in unserer unwillkürlichen Verhaltensweise innerhalb des Psychischen zeigt, die wirkliche psychische Welt in seiner Weise ahnend vorausgenommen, und das spiegelt sich in den ebenso unwillkürlich gewählten allgemeinen Ansichten (nicht: lebendigen fertigen Anschauungen) und einzelnen Bezeichnungen wider, mit denen wir uns so ungefähr und oberflächlich im Psychischen orientieren, mit ihnen gleichsam nur das Psychische von fern berührend. Diese instinktiven Verhaltensweisen und ihr tastender Ausdruck in Wort und Bezeichnung und die damit gegebene, noch unvollkommene Anschauung sind ein wertvoller Besitz, so vage und oberflächlich er sein mag; aber er muß in seinem Wert erkannt sein, gereinigt und vertieft werden. Wir werden dann auf dem durch ihn vorgezeichneten Weg weitergehen, so erhalten wir die Begriffe, die zur Erkenntnis der wirklich psychischen Welt nötig sind, ferner aber auch die Begriffe der Anschauungen, die das Psychische allein richtig geben. Diese richtige Anschauung selber freilich ist damit noch nicht unmittelbar überall gegeben, weil dazu eine lange Vertrautheit, Gewöhnung und Einstellung nötig ist. Aber da, wo die Vorbereitung schon genügt, bedarf es gleichsam nur des Stichwortes und es wird uns wie Schuppen von den Augen fallen, an diesen Stellen werden wir, wenn nur der Begriff gefunden ist, alsbald wirklich und Wirkliches sehen; an den anderen Punkten aber zumindest deutlich wissen, in welcher Richtung die gesuchte Wirklichkeit liegt, wenn auch die lebendige Anschauung mit der gewonnenen Erkenntnis noch nicht gleichen Schritt hält. Hier bringt die überragende Bedeutung und Ausbildung, welche der physischen Welt im Gegensatz zur psychischen zuteil geworden ist, einen unerwarteten Nutzen. Zunächst freilich liegt darin die Gefahr, daß Anschauungen, Begriffe und Vorstellungsweisen, so wie sie in der physischen Welt gelten und mit allem, was ihnen noch vom Physischen her spezifisch anhaftet, blindlings auf das Psychische übertragen und, so von ungefähr, auf dieses angewandt werden, wie das von jeher immer geschehen ist. Bei richtiger Erkenntnis aber, die der psychischen Welt das Eigenartige ihrer Materie beläßt, kann es nur von Vorteil sein, daß wir uns schon einmal an der Schaffung eines Weltbildes erprobt haben: Überall da, wo wir der Wirklichkeit noch nicht so nah sind, daß es nur der hinweisenden und aufklärenden Begriffe bedarf, um diese auch wirklich anschaulich wahrzunehmen, - überall da erlaubt es uns diese gewonnene Welterfahrung - rein als ordnende systematisierende Fähigkeit - Möglichkeiten vorauszunehmen und die noch fehlende Anschaulichkeit, die aus biologischen Gründen vielleicht nie ganz zur Tatsache wird, gleichwohl so vorzustellen, wie sie etwa werden müßte.

Indem wir andeuten, daß die im Aufbau der physischen Welt gewonnene Erfahrung ganz allgemein ihrer Form nach auch bei der Orientierung in der neu zu entdeckenden psychischen Welt von Nutzen sein könnte, berühren wir schon den zweiten, erkenntnistheoretischen, Teil der Antwort auf die Frage, wie es möglich ist, eine richtige Anschauung von der psychischen Welt, so wie ist ist, zu erhalten, obgleich durch die Schuld einer entgegengesetzt gerichteten biologischen Entwicklung unsere Auffassung von ihr sich mehr oder weniger noch im Vorläufigen bewegt.

Eben durch diese letzte Tatsache entsteht aber eine eigentümliche Situation: es ließen sich zwar die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen, die dieser Psychologie als einer Lehre von der psychischen Dingwelt zugrunde liegen, vollständig entwickeln, allein damit wäre nicht viel gewonnen; denn sie könnten in ihrer Beziehung auf die von ihnen gegründete psychische Welt nicht einsichtig und überzeugend erfaßt werden, weil uns diese Welt noch nicht klar und vertraut vor Augen steht. So mit würde eine Darlegung der theoretischen Grundlagen  vor  der Aufdeckung und Entwicklung des gültigen psychischen Weltbildes notwendig ein System noch toter Begriffe sein, dem die sichtbare Verknüpfung mit der psychischen Welt selbst fehlen müßte und das sich an ihr nicht bewähren könnte. Daher wird sich dieses ganze Buch wesentlich im Empirischen bewegen. Die erkenntnistheoretische Grundlegung aber kann erst später erfolgen, wenn die Erfahrungswelt, auf die sie sich bezieht, anschaulich feststeht. Bis dahin aber soll zumindet die Richtung angegeben werden, in der sie zu finden sein wird; es ist die folgende:

Jeder Materie gegenüber - von welcher Beschaffenheit sie auch sein mag - gelten notwendig dieselben Formen der Erkenntnis als Formen der Anschauung, des Denkens oder wie auch immer bestimmte formale Bestandteile des Erkenntnisvermögens. Diese Erkenntnisformen einer beliebigen Materie, der physischen, der psychischen, wie jeder etwa sonst noch aufweisbaren gegenüber, zu variieren, d. h. die eine oder andere gänzlich auszuscheiden, liegt weder in unserem Belieben, noch hat die Materie selbst eine bestimmende, auswählende Kraft dieser Art. Die Allmacht der Formen über jede Materie liegt im Begriff der Form selbst. Es mag sein, daß im Prozeß der wissenschaftlichen Bearbeitung einer materiellen Welt die eine oder andere Form vernachlässigt wird und eleminiert werden muß (so daß etwa bei der naturwissenschaftlichen Konstruktion der physischen Welt die Zeit verschwinden müßte). Das geht uns nichts an. Ebenso mag es sein, daß die eine oder andere Erkenntnisform in der einen materiellen Welt deutlicher zum Ausdruck kommt als in der andern, daß sie sich mehr oder weniger energisch durchsetzt (so wie schon innerhalb der einzigen physischen Welt die Räumlichkeit eines Steins eindrucksvoller und deutlicher ist als die eines Gases). Ist es so, so mag man immerhin der Eigenart der Materie die Schuld geben, welche die Formen an der vollkommenen Verwirklichung hindert; eine eigentliche Bedeutung braucht in diesem Satz nicht zu liegen. Die Formen der Erkenntnis existieren ebensowenig für sich allein und sind ebensowenig für sich anschaulich und vorstellbar wie die Materie - physische oder psychische - für sich existiert oder anzuschauen ist. Vielmehr sind die Formen nur existent und erfaßbar in ihrer Funktion an der Materie und diese wiederum nur als durch jene in mannigfacher Weise bestimmt und geformt. Wir mögen immerhin sagen, daß die absolute Verschiedenheit der physischen und der psychischen Materie es bedingt, daß die in sich identischen Formen an beiden nicht gleichmäßig erscheinen können. Ganz allgemein aber wird jede Erkenntnisform, die für die physische Welt gilt, in irgendeiner Weise für die psychische gelten, und ebenso muß, wenn eine Form in der psychischen Welt erkannt ist, sie auch in der physischen in irgendeiner Gestalt nachgewiesen werden können.

Aus dieser Einheit der Erkenntnisformen jeder Materie gegenüber folgt zunächst, daß die psychische Welt eine zeiträumliche Welt ist wie die physische, und daß sie es ist und sein kann, ohne damit dine physische Welt zu sein: Durch die Anschauungsform des Raumes wird nicht ohne weiteres und ansich schon Physisches gegeben; dadurch, daß etwas in dieser Form gegeben ist, ist es noch nicht sogleich physisch. Weil es sich so verhält, bedarf es eben noch der physischen Materie selbst (des  X  der Empfindung oder wie auch immer die Bestimmung lauten mag). Physisches, äußerer Sinn und Räumlichkeit (räumliche Anschauung) sind zu trennen. Und der äußere Sinn, der um des Physischen willen gesetzt wird, kann damit die Räumlichkeit nicht ausschließlich für sich in Anspruch nehmen. Es verhält sich entsprechend mit der Zeit: die Zeit ist keine ausschließliche Form des inneren Sinnes, wenn unter innerem Sinn das Gegebensein von Psychischem verstanden wird: Wiederum ist psychische Materie, die Zeitlichkeit und der innere Sinn auseinanderzuhalten.

So würde also die Zeiträumlichkeit des Psychischen als  erste  Aufgabe zu behandeln sein. Allein wir stoßen hier auf einen besonderen Fall der oben erwähnten allgemeinen Schwierigkeit: In der physischen Welt, die fertig vor uns steht, können wir sogleich zur Betrachtung ihrer allgemeinsten und äußersten Formen schreiten. Die psychische Welt muß erst herausgearbeitet werden, bevor sich  dieser  Weg zu den  letzten  Bestimmungen öffnet. Dies aber geschieht zuerst und vor allem durch die Erkenntnis, daß die psychische Welt eine dinghafte Welt, eine Welt von Dingen ist, nicht weniger als die physische. Die Kategorie des Dings (Substanz und Akzidenz [Eigenschaft - wp]) findet auf das Psychische ebenso Anwendung wie auf das Physische. Das psychische Ding freilich wird - abgesehen von der Verschiedenheit seiner Materie - vielfach anders aussehen und sich in gewisser Hinsicht anders verhalten wie das physische, so unverkennbar auch beide eben Dinge sind.

Erst wenn die Dinghaftigkeit der psychischen Welt klar erkannt ist, wenn eben damit das Psychische nicht mehr ausschließlich  sub specie temporis [unter dem Gesichtspunkt der Zeit - wp] als bloßes Nacheinander erscheint, dann erst hat auch die Frage nach den allgemeinsten Formen des Psychischen, nach seiner Zeiträumlichkeit, ein anschauliches Fundament gewonnen, dann erst kann sie beantwortet werden. Mit der Dinghaftigkeit des Psychischen also und den wesentlichen Folgerungen aus dieser seiner Struktur haben wir es in diesem ersten Teil ausschließlich zu tun.

Um aber den systematischen Gedanken zu stören und um zugleich zu sagen, wie die Einheit der Anschauungsform gegenüber der physischen und der psychischen Materie zu denken ist, soll hier zumindest die Räumlichkeit des Psychischen mit einem Wort berührt werden; und zwar auch deshalb, weil sie allein den Schlüssel liefert zur Erklärung des Zusammenhangs zwischen Physischem und Psychischem überhaupt. Im übrigen muß freilich beides, Räumlichkeit und der Zusammenhang, Gegenstand einer gesonderten Betrachtung sein:

Wenn die Anschauungsform des Raumes auch für das Psychische gelten soll, wenn die psychische Welt eine räumliche Welt sein soll, so ist das eine sofort gewiß, daß unter Raum nicht der physische Raum verstanden sein kann und unter Räumlichkeit nicht die physisch-materielle Körperlichkeit. Andererseits stehen uns doch wieder für diese bestimmte Form des Psychischen keine anderen Ausdrücke zu Gebote als die des Raumes und der Räumlichkeit, die beide belastet und durchtränkt sind vom Inhalt und der Färbung ihrer ausschließlichen Anwendung auf die physische Welt. Das ist so, weil es eine reine Anschauung von Raum und Räumlichkeit, abgehoben von allen Gegenständen nicht gibt; und so sind sie für unser Bewußtsein mit der Beziehung auf physische Dinge unlöslich verbunden. Andererseits ist uns die Räumlichkeit des Psychischen niemals zu klarem Bewußtsein gekommen. Und doch läßt sich an bestimmten Phänomenen nachweisen, daß das Psychische echten Raumcharakter trägt, auch wenn dieser mehr oder weniger sichtbar und entwickelt ist.

Zunächst mögen wir uns erinnern, daß der optisch-taktile Raum und die Räumlichkeit unseres gewohnten-taktilen Weltbildes, daß dieser spezifische Raumcharakter nur einer unter vielen ansich möglichen ist: eine Welt, die sich auf akustisch-taktile Daten stützen würde, noch mehr eine, die sich lediglich auf Daten des Geruchs- und Gehörsinns aufbaut, würde durchaus nicht des Raumcharakters entbehren, aber er würde sich in nicht vorstellbarer Weise von dem unserer Welt unterscheiden. Aber darum handelt es sich nicht.

Vielmehr muß der Raum und die Räumlichkeit des Physischen überhaupt als Spezialfall einer allgemeinen Form begriffen werden, die freilich nur an materiellen Dingen anschaubar ist. Solche materielle Dinge sind aber auch die der psychischen Welt.

Zunächst kommt den psychischen Dingen, so wie sie erscheinen, Ausgedehntheit und Ausgebreitetheit zu. Freilich keine physische Ausgedehntheit, und die psychischen Dinge müssen, um ausgedehnt zu sein, nicht rund oder eckig sein; sie sind, wie sie sind und wie sie eben angeschaut werden. Es kommt dem Psychischen ferner eine Art Voluminosität oder Fülle zu, die sich mit der dritten Dimension des Physischen vergleichen läßt. Und es kann schließlich in einer Art der Tiefenordnung erscheinen. Alle diese Bestimmtheiten sind anschaulich und können auf nichts anderes zurückgeführt werden, nicht auf eine qualitative, nicht auf eine logische, nicht auf eine zeitliche Anordnung und Ordnung. Es handelt sich um Erscheinungen, die der Raumform entspringen. Wir müssen allerdings lernen sie zu sehen. Und wenn die Deutlichkeit und Entwickeltheit des Raumcharakters des Psychischen die des Physischen nicht entfernt erreicht, so ist daran vor allem die Eigenart der psychischen Materie als solcher schuld, dann aber auch in nicht zu unterschätzendem Grad unsere primitive und vorläufige Auffassungsweise der psychischen Welt; denn wie deren volle Ausbildung durch ihre sekundäre biologische Bedeutung verhindert wurde, so würde ihre Weiterentwicklung mit der Herausarbeitung ihres tatsächlichen Bestandes auch ihren Raumcharakter deutlicher hervortreten lassen. Immerhin ist dessen Wichtigkeit für die allgemeine Orientierung innerhalb der psychischen Welt nicht allzu groß, desto einschneidender in theoretischer Hinsicht für die Frage des Zusammenhangs zwischen Physischem und Psychischem überhaupt. Davon kann hier noch nicht die Rede sein.

Trotz der Einheit der Erkenntnisform bleibt die Reinheit der psychischen und der physischen Materie unberührt erhalten. Somit wäre nichts von Grund auf verfehlter als Verhältnisse, die in der physischen Welt stattfinden, z. B. die Art und Weise, wie das physische Ding als physisches gestaltet ist und sich verhält, auf das Psychische übertragen. Das wären nicht bloß leere Analogien, die des eigentlichen Sinnes entbehrten, sondern Vergewaltigungen der psychischen Materie, die unser Bild von der wirklichen psychischen Welt grundsätzlich verfälschen müßten, weil, was bloß der Eigenart der besonderen physischen Materie zukommt, also ein rein Inhaltliches, in die Auffassung der psychischen Welt mit herübergenommen würde, während es doch bloß die identischen Formen sind, die je nach der Art der Materie sich in verschiedener Weise erfüllen. Wird aber dieser Grundfehler der Übertragung vermieden, so kann die ausgebildete Erkenntnis und Kenntnis der physischen Welt ein unersetzliches Hilfsmittel zur richtigen Entdeckung der physischen Welt und ihrer Eroberung für Erkenntnis und Anschauung sein; denn in der uns vertrauten physischen Welt lassen sich die Formen von ihrer durch die Natur der physischen Materie bedingten, besonderen Erscheinung leicht ablösen, um sie dann in der psychischen Welt in der eigenartigen Weise wiederzufinden, welche die spezifische Natur der psychischen Materie ihnen bei ihrer Verbindung mit ihr aufzwingt. Ganz allgemein aber bedeutet die Identität und Einheitlichkeit der Erkenntnisformen bei der streng gewahrten, absoluten Verschiedenheit der Materien die prinzipielle Gleichstellung der physischen und der psychischen Welt und zwar hinsichtlich ihrer Gestalt und Bildung, ihrer Struktur, wie hinsichtlich ihrer Gültigkeit und Dignität.

Zurückschauend und ergänzend können wir jetzt das Gerüst der wirklichen psychischen Welt entwerfen, so wie sie in fortschreitender Darstellung aufgebaut oder vielmehr als existierend nachgewiesen werden soll. Das kann vorläufig freilich nicht mehr sein als ein flüchtiges Programm; denn das Gerüst muß sich erst beleben, die Anschauung erst errungen werden:

Die psychische Materie ist eine besondere und reine Materie für sich. Die psychische welt, die sich aus ihr aufbaut, ist eine Welt von Dingen und Dingzusammenhängen. Sie existiert objektiv, unabhängig davon, ob sie wahrgenommen oder einem Subjekt bewußt wird. Eine primitive Anschauung vom Psychischen, von der oben die Rede war, läßt uns freilich auffassendes Subjekt (Subjektives) und wirkliches Psychisches in eins zusammenfließen und gleichsetzen. Nichts aber ist unrichtiger. So wie wir uns in der physischen Welt bewegen, sofern wir physische Wesen sind, ebenso bewegen wir uns in der psychischen Welt als psychische Wesen und so wie wir in der physischen Welt bald uns selbst wahrnehmen, bald andere physische Dinge, so in der psychischen Welt bald unser eigenes Psychisches, bald fremdes und andere psychische Dinge.  Wir  sind im Psychischen; das Psychische ist nicht in uns: diese letzte mißverständliche Vorstellungsweise, die so viel Unheil angerichtet hat, kann doch nur heißen, daß das Psychische nicht in der äußeren physischen Welt ist, weil es eben nicht diese ist; wenn schon ein Bild nötig war und wir uns nicht mit der unmittelbaren Anschauung begnügen konnten (die freilich zum Teil erst erobert werden muß), so wäre es um vieles besser gewesen, man hätte sich von jeher die psychische Welt wie die physische vorgestellt als seine, in der wir uns bewegen, statt einer, die sich in uns bewegt. Damit ich etwas Psychisches wahrnehme, muß es natürlich in meinem Gesichtskreis auftauchen, genau wie es auch im Physischen der Fall ist, es ist aber damit in keinem Sinn  mein  Psychisches, und würden wir es als solches betrachten, so wären wir nicht anders als Kinder, die alles, was sie sehen, als ihren selbstverständlichen Besitz begehren und danach greifen. Aber die Trennung von mir selbst, meinem Psychischem und dem sonst existierenden Psychischen ist nicht weniger vorhanden als zwischen mir, meinem physischen Leib und Besitz und der übrigen physischen Welt, wenn sie auch vielleicht weniger deutlich und für uns schwerer zu erkennen ist. Wir werden in eine psychische Welt hineingeboren, eine Welt psychischer Dinge, die nur aufgefunden und übernommen werden: sie gehören unserer engeren und weiteren Umgebung an, Gedanken- und Gefühlsrichtungen und - Komplexe der Familie, des sozialen Kreises, des Landes, der Gegenwart usw.; diese übernehmen wir fertig, sie bewußt oder unbewußt auffassend, und in ihnen leben wir zunächst. Aus ihnen bilden wir durch Umschaffung und Änderung  unser  eigentliches Psychisches, d. h. uns selber als psychische Existenzen, zum geringeren Teil nur durch eine schöpferische Neuschaffung aus dem psychischen Rohstoff. Manche von diesen unseren psychischen Dingen vergehen und lösen sich schon während unseres Lebens auf, andere sterben etwa mit uns, andere überleben uns, bleiben erhalten. Denn unser Ich darf nicht mit unserem Psychischen identifiziert werden. Der ganze Prozeß aber der Umschaffung und Neuschaffung psychischer Dinge vollzieht sich nach dem Gesetz der Psychisierung: Dieses bestimmt, wie psychische Dinge werden, sei es durch eine relative Neuschöpfung aus dem noch ungeformten psychischen Rohstoff oder durch eine Umgestaltung bereits vorhandener Dinge des geformten psychischen Stoffes. Mit dem psychischen Ding und seinen Eigentümlichkeiten und mit dem wichtigen Gesetz der Psychisierung müssen wir uns zunächst vertraut machen.


LITERATUR - Wilhelm Haas, Die psychische Dingwelt, Bonn 1921
    Anmerkungen
    1) Selbst wenn in zwei philosophischen Systemen das, was die Welt eigentlich ist, oder das Eigentliche, wahrhaft Seiende, mit dem, woraus die Welt enstanden ist, inhaltlich als dasselbe bestimmt würde, so würde dies der prinzipiellen Scheidung keinen Eintrag tun; denn der erkenntnistheoretische Wert und die methodische Bedeutung wären in beiden Fällen  toto coelo [himmelweit - wp] verschieden.
    2) Die Vererbung der Gattungserfahrung ermöglicht es dem Einzelindividuum, Stadien, die in den Anfängen der Menschheit ausführlich zu durchwandern waren, rasch zu durchlaufen oder vielleicht manche zu überspringen.
    3) Beispiele dieser verschiedenen Anschauung finden sich noch bei primitiven Stämmen: So ist für die Cora-Indianer Mexikos "die Auffassung des Nacht- und Taghimmels als Ganzes früher als die der einzelnen Gestirne. Umgekehrt sind ihnen die verschiedenen Bienen- und Ameisenarten jede ein Zusammengehöriges, dagegen besitzen sie keinen Begriff für Ameise und Biene als allgemeines Ding". (PREUSS, Die Nayarit-Expedition) - weitere Beispiel z. B. bei DURKHEIM, Les formes élémentaires de la vie réligieuse.
    4) WILLIAM JAMES, Principles of Psychology II, Seite 173