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Montaignes Lebensanschauung [1533 - 1592]
Kein einziger Denker der Renaissancezeit hat ein einheitliches philosophisches System aufzuweisen; auch MONTAIGNE, der sich übrigens wenig veranlagt fühlte, den dornenvollen Weg der Wissenschaft zu gehen, hat kein solches aufgestellt; er ist kein konsequenter Denker, - die Reihe der konsequentesten Denker beginnt erst mit HOBBES, DESCARTES, SPINOZA -, in seinen "Essais" sind viele Widersprüche vorhanden. Aber bei aller Planlosigkeit seines Denkens sind besonders zwei Grundideen, die seine Seele beherrschen: die allgemeine Toleranz zu predigen und den Menschen zum Individualismus zu erziehen, und damit den Menschentypus zu vervollkommnen und zu veredeln. Sein letztes Wort war nicht der Skeptizismus und Epikureismus (3), seine Endabsicht war nicht den großen Gedanken, die Gesetzmäßigkeit und Berechtigung des natürlichen menschlichen Lebens, zu behaupten (4), sondern das, woraus es ihm letzten Endes angekommen ist, war durchaus ein ethisches Ziel: zur Veredlung des Menschen beizutragen. Der Versuch eines Beweises meiner Behauptung, durch die Betrachtung der Stellung MONTAIGNEs zu den einzelnen Lebensfragen, wird der Gegenstand des ersten Teils der vorliegenden Abhandlung sein. Da man bis jetzt unterlassen hat, auf die Nachwirkung MONTAIGNEs hinzuweisen, werde ich im zweiten Teil meiner Arbeit versuchen, den Einfluß MONTAIGNEs in Frankreich, England und Deutschland aufzuweisen. (5) Diesem zweiten Teil werde ich, aus methodologischen Gründen, einen kurzen Überblick über die Quellen MONTAIGNEs vorausschicken. Fast alle Denker, welche sich den Menschen zum Gegenstand ihres Nachdenkens wählen, haben auch auf das Problem der Erziehung ihre Aufmerksamkeit gerichtet. Kein einziger großer Philosoph - SCHOPENHAUER macht die einzige Ausnahme - hat die Bedeutung der Erziehung für die heranwachsenden Generationen in Abrede gestellt. In der Epoche der Renaissance, in diesem Zeitalter der moralischen und politischen Revolutionen, stehen die pädagogischen Fragen im Vordergrund. In Frankreich sind es RABELAIS und MONTAIGNE, die den Kampf gegen die herkömmlichen Grundsätze und Erziehungsmethoden aufnehmen. Obwohl die beiden ihre Angriffe gegen denselben Feind, die Scholastik, richten, sind dennoch ihre Ansichten über die Erziehung verschieden. RABELAIS gehört zur ersten Hälfte der Renaissance; das charakteristische Merkmal dieser Zeit ist ihr Universalismus und ihr schrankenloser Enthusiasmus für die Wissenschaft. Als echter Sohn seiner Zeit stellt er ein Erziehungssystem auf, welches sich durch seine Maßlosigkeit auszeichnet. MONTAIGNE dagegen gehört zur Spätrenaissance; der Enthusiasmus ist um diese Zeit bereits verblaßt, und in Bezug auf die Allmacht der Wissenschaft ist man skeptischer geworden. Als ein guter Kenner der menschlichen Natur, weiß er auch, daß die Fähigkeiten des Menschen ihre Grenzen haben; deswegen stellt er, im Gegensatz zu RABELAIS, ein System der Erziehung auf, als dessen Motto der Satz der antiken Weisheit "meden agan" [Nichts im Übermaß. - wp] dienen könnte. Praktisch und nüchtern wie er selbst - seine Mutter war jüdischer Abstammung - ist sein Erziehungssystem, welches den Zweck verfolgt, beim Zögling die Eigenschaften zu entwickeln, welche den wahren Menschen ausmachen, d. h. ein Wesen, das sich durch die Selbständigkeit seines Charakters, Unabhängigkeit seiner Gesinnung, Kraft und Klarheit seines Verstandes auszeichnet. In den Kapiteln 24 und 25 des ersten Buches seiner "Essais", beschäftigt sich MONTAIGNE mit dem Ziel und der Methode der Erziehung. Im schroffen Gegensatz zur landläufigen Anschauung seiner Zeit, tritt er gegen jede Überschätzung des intellektuellen Vermögens ein. Das Ziel der Erziehung kann und darf nicht sein, den Kopf mit einer Menge von Kenntnissen auszustatten, sondern den Verstand zu kräftigen und das Herz zu bilden. Er tadelt die Eltern, welche sich nicht bemühen das eigentliche Wissenswerte vom nutzlosen Ballast zu unterscheiden, und welche nur sorgen, ihren Kindern eine Schein-, eine Halbbildung zu geben; und eine solche ist nach MONTAIGNE, und mit Recht, jedes Wissen, das nicht zum wirklichen Eigentum gemacht worden ist. Weil er, vor allem, die Individualität des Schülers berücksichtigt wissen will, ist er, wie später ROUSSEAU, ein Gegner des öffentlichen Unterrichts; an der inneren Einrichtung der öffentlichen Schulen selbst findet er selbst keinen Gefallen; die Zucht, meint er, ist zu barbarisch, es sind keine Schulen, sondern wahre Kerker; in den Klassen hört man nichts als das Schreien der geschlagenen Kinder und sieht nichts als "zorntrunkene Lehrer". Auch der Unterricht, den man in den öffentlichen Anstalten genieße, ist, nach MONTAIGNE, durchaus ungeeignet für das spätere Leben. Von der elterlichen Erziehung will er ebenso nichts wissen: es ist nicht vernünftig, meint er, ein Kind "im Schoß der Eltern" zu erziehen, denn die natürliche Liebe macht diese zu zärtlich und unfähig Fehler zu strafen; und die Strafe, ein unentbehrliches Moment bei jeder Erziehung, muß mitunter angewendet werden. Da weder die öffentliche, noch die elterliche Erziehung zu empfehlen ist, erklärt er sich für die Erziehung durch einen Hofmeister. Bei der Wahl dieses letzteren, soll man nicht auf einen wohlgefüllten Kopf reflektieren, sondern auf einen, der sich durch gesunden Verstand und gute Gesinnung auszeichnet. Angesichts der Kürze unseres Lebens und der Gefahren, denen es fortwährend ausgesetzt ist, muß man mit der Erziehung schon in der zartesten Kindheit beginnen, und mit dem 15. oder 16. Jahr muß sie abgeschlossen sein, der Rest des Lebens soll der Tätigkeit gewidmet sein. MONTAIGNE will, daß die Erziehung nicht viele Jahre in Anspruch nimmt, erstens, weil er dieselbe auf das Notwendigste beschränkt wissen möchte, und, zweitens, weil er der Ansicht ist, nach unserem Dafürhalten mit Unrecht, daß die Anlagen des Menschen schon Anfang der Zwanziger, ihr höchstes Entwicklungsstadium erreichen. Im Unterricht kommt es, vor allem darauf an, den Schüler zur Selbsttätigkeit anzuspornen; deswegen muß der Lehrer denselben so gestalten, damit der Zögling Geschmack und Interesse an den Dingen findet. Jedes mechanische Auswendiglernen soll vermieden werden. Damit der Schüler frei und selbständig urteilen kann, muß der Lehrer den letzteren nur nach dem Sinn und Inhalt des gelernten Materials fragen. Im Mittelalter war die Theologie der Hauptunterrichtsgegenstand. Unser Denker will von der Religion nichts wissen (6); die Philosophie und zwar die Moralphilosophie, soll der erste und wichtigste Unterrichtsgegenstand sein, denn diese lehrt den Schüler sich selbst zu erkennen, "gut zu leben und gut zu sterben". Erst nachdem man den Schüler vertraut gemacht hat, mit demjenigen Teil der praktischen Philosophie, der ihm den Weg zur Weisheit und Tugend aufweisen kann, erst dann kann man ihn mit der Logik, Physik, Geometrie und Rhetorik beschäftigen. Als Gegner jedes blinden Dogmatismus fordert MONTAIGNE vom Lehrer, daß er den Schüler jede Meinung prüfen und Kritik üben läßt, daß er ihm nichts in den Kopf setzt, was bloß auf Autoritätsglauben fußt. Der Zögling muß selbständig urteilen können, und seine Vernunft nur, soll, bei der Wahl irgendeiner philosophischen Lehre, das entscheidende Moment sein. Fühlt er sich nicht überzeugt, dann mag er zweifeln. Unser Denker ist, mit einem Wort, der Ansicht, daß das Kind so erzogen werden muß, daß nicht der Glaube, sondern die Vernunft die Grundlage seiner geistigen Entwicklung bildet. Bei der Erziehung muß auch der Umgang mit Menschen, der Besuch fremder Länder mitwirken. MONTAIGNE wußte aus eigener Erfahrung, wie außerordentlich wichtig es ist, andere Völker und Länder kennen zu lernen. Denn erst wenn man Toleranz gegen die andern ausüben kann, erst dann ist man im Besitz der wahren Bildung und die Toleranz erlangt man dadurch, daß man beim Besuch anderer Länder das richtige Verständnis für die fremde Art, das fremde Wesen und die fremde Gesinnung gewinnt. MONTAIGNE ist einer der ersten, der das Studium fremder Sprachen warm empfiehlt. Als praktischer Mann vertritt er die, für die damalige Zeit, kühne Ansicht, sich zuerst mit der Muttersprache vertraut zu machen und dann, mit den Sprachen derjenigen Nachbarvölker, mit denen man den meisten Verkehr hat. Die große Bedeutung des griechischen und lateinischen verkennt er nicht, er findet aber die landläufige Methode zu kostspielig und empfiehlt diejenige, welche sein Vater mit ihm selbst einschlug. Dem Studium der Geschichte legt MONTAIGNE ein großes Gewicht bei; denn mittels dieser letzteren kann der Schüler mit den großen Männern der vergangenen Zeit geistigen Verkehr pflegen; besonders warm empfiehlt er die Lektüre PLUTARCHs, seines Lieblingsschriftstellers. Die Geschichte aber soll so gelehrt werden, daß der Zögling nicht sowohl die einzelnen Ereignisse auswendig lernt, als vielmehr ein Urteil über dieselben gewinnt. Das Mittelalter sorgte nur für die Seele, es hatte nicht nur keinen Sinn für das Irdische, für die Natur, sondern es haßte geradezu das diesseitige Leben, als das Reich des Teufels. MONTAIGNE, der, vor ROUSSEAU, die Rückkehr zur Natur predigt, legt großes Gewicht auf die Abhärtung des Körpers. Über der geistigen Arbeit darf die Pflege des Körpers nicht im Geringsten vernachlässigt werden, denn von der Gesundheit des Körpers hängt die Frische des Geistes ab. So muß der Körper geübt und gestählt werden. Die Spiele und Leibesübungen müssen einen guten Teil des Unterrichts ausmachen. Äußeren Anstand und ein gefälliges Wesen sollen zugleich mit der Seele gebildet werden, denn "es ist nicht eine Seele, nicht ein Körper, den man erzieht, es ist ein Mensch". Die Disziplin im Mittelalter war sehr streng. Die Rute spielte in der Schule eine große Rolle. MONTAIGNE empfiehlt die Milde und verlangt, daß man bei der Erziehung mit Sanftmut verfährt. Er ist ein entschiedener Gegner der Rute, des Zwanges und der Gewalt, die nur Nachteile mit sich bringen. Er ist empört, daß den Eltern und Lehrern erlaubt ist, im Jähzorn gegen die Kinder strafend vorzugehen; "die Züchtigung", meint er, "soll den Kindern als Arznei dienen, und würden wir wohl einen Arzt dulden, der gegen seinen Kranken aufgebracht und zornig ist?" Und zuletzt eifert er gegen den pedantischen und langweiligen Fleiß des Stubenhockers, der die jungen Leute für die Gesellschaft ungeeignet macht und sie von nützlicheren Beschäftigungen abhält. Das sind die Hauptgedanken MONTAIGNEs über die Erziehung, deren Hauptziel ist: die harmonische Entwicklung der natürlichen Anlagen der Menschen, die Ausbildung einer rein menschlichen Natur. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, im Zeitalter MONTAIGNEs, waren die politischen und sozialen Zustände Frankreichs trostlos. Das Land war die Schaubühne unerhörter Grausamkeiten, begangen im Namen der christlichen Religion; in der gelehrten Welt herrschten Haß und Hader, und die Gegensätze schienen unüberbrückbar zwischen den Anhängern der Scholastik und denjenigen, die vom "autos epha" ["Er selbst hat es gesagt." Formel, mit der Schüler sich auf die Worte des Meisters berufen. - wp] des Magisters nichts wissen wollten. Eine solche Epoche und eine solche Umgebung sind sehr ungünstig für die Männer, die sich den Menschen und den Dingen gegenüber objektiv verhalten wollen. Seiner Zeit und seiner Umgebung zum Trotz kommt MONTAIGNE, dank seiner friedlichen, duldsamen Natur und seines kritischen Geistes, zu der Ansicht, daß die religiösen und wissenschaftlichen Kämpfe nicht nur nutzlos und schädlich, sondern sogar verbrecherisch sind. Innig überzeugt von dieser Wahrheit, setzt er sich, als Hauptziel seines Lebens, ein Apostel des Friedens und der Toleranz zu sein. Durch seine Bildung, Rassenanlagen und Unabhängigkeit der Gesinnung weltbürgerlich gesinnt, erkühnt er sich, indem man mit den Schlagworten: "Vive la Ligue! Vive Aristote!" kämpfte, die vorhandene Masse von Kenntnissen anzugreifen, um die Scholastik zu zertrümmern. Um dies zu erreichen, greift er zur Skepsis, und mit dieser scharfen Waffe tritt er dem Dogmatismus jeder Art entgegen. MONTAIGNE ist kein Skeptiker im Sinne PYRRHOs, wie es PASCAL und manche andere behauptet haben, er ist kein Verneiner, er ist ein allzu wißbegieriger, unruhiger Geist, um bei der bloßen Skepsis stehen zu bleiben, außerdem ist er allzu großer Verehrer der Harmonie, des Maßes, um am Extremen Gefallen zu finden. Er ist auch kein Anhänger dieses trostlosen Skeptizismus, welcher sich desjenigen bemächtigt, der alle seine Ideale verloren hat, dazu ist er allzu großer Weltbejaher, um sich, dem Leben und ihren mannigfaltigen Erscheinungen gegenüber, apathisch, gleichgültig zu verhalten. Sein Skeptizismus ist ihm vielmehr, was dem alten griechischen Weisen die Ironie war. Wie SOKRATES mit seiner Behauptung "er wisse nur Eins", nämlich, "daß er nichts weiß", den Krieg gegen den Hochmut und die Scheinbildung der Sophisten erklärt, so tritt MONTAIGNE mit seinem berühmten "Que sais-je?" [Was weiß ich? - wp] dem Dünkel der gelehrten Welt, und der engherzigen, unduldsamen Weltanschauung seiner Zeit entgegen. Die Männer der Wissenschaft und der Religion behaupteten ohne Bedenken: "Wir wissen alles." MONTAIGNE dagegen will mit seinem "Que sais-je?" Vorsicht empfehlen und zur Demut ermahnen. Die Geschichte der Philosophie, die vor kurzem gemachten geographischen und astronomischen Entdeckungen eines KOLUMBUS und eines KOPERNIKUS, die Erkenntnistheorie und das heraklitische Prinzip des ewigen Fließens kommen ihm, bei seiner Begründung des Zweifels, oder richtiger, der Beschränktheit und Ohmacht der menschlichen Vernunft, zu Hilfe. Die Geschichte der Philosophie stellt sich ihm dar, als eine ununterbrochene Auseinandersetzung zwischen den verschiedenen philosophischen Systemen, eine solche nämlich, die bis jetzt, und voraussichtlich in der Zukunft, zu keinem positiven Resultat geführt und führen wird. Diesen Einwurf, der nicht neu ist, entlehnt er den Pyrrhonikern, "bei denen der Streit der System einer der ersten und wichtigsten Entwürfe war, die sie gegen die Philosophie vorbrachten." (KREIBIG, Geschichte und Kritik des ethischen Skeptizismus) Die durch KOLUMBUS und andere entdeckten Länder und Völker dienen ihm als Beweis der Beschränkt und Relativität des menschlichen Wissens. Es ist töricht, behauptet er, sich auf die Männer der Wissenschaft zu verlassen, denn es ist nicht ausgeschlossen, daß sie sich ebenso irren, wie im Altertum PTOLEMÄUS. Die Unendlichkeit des Alls, der Hauptgedanke des KOPERNIKUS, mahnt uns auch zur Vorsicht; wie kann der Mensch ein winziges Pünktchen in Zeit und Raum, sich anmaßen, durch seine Vernunft alles begreifen zu können. Die Betrachtung der Genesis unseres Erkennens liefert ihm das Hauptargument gegen den Dogmatismus. Die meisten Philosophen der Renaissance (TELESIUS, CAMPANELLA, BACON) nehmen, im Gegensatz zur scholastischen Spekulation, die Sinnlichkeit zum Führer; die erste und gewisseste Quelle zur Erkenntnis der Natur ist für sie die sinnliche Erfahrung. MONTAIGNE schließt sich dieser sensualistischen Richtung an. Das zwölfte Kapitel des zweiten Buches seiner "Essais", das mit "Apologie des Raimond Sebond" überschrieben ist, enthält unter anderem seine erkenntnistheoretischen Ansichten. Alle Erkenntnis wird uns durch die Sinne zugeführt. Sie sind der Anfang und das Ende der menschlichen Erkenntnis. Denn Sinnen aber, kann man kein unbedingtes Vertrauen schenken, denn es liegt in ihrer Natur, daß sie nur die äußere Schale der Dinge, ihre Akzidenzien, nicht ihr Wesen selbst, erfassen können. Sie sind außerdem durch unsere Affekte so beeinflußt, daß uns derselbe Gegenstand zu verschiedenen Zeiten durchaus verschieden erscheint. Was wir hören und sehen, wenn wir in Zorn geraten, ist nicht immer genau das, was es scheint; das Wesen, das wir lieben, erscheint uns immer schöner als es ist, und dasjenige, was wir hassen, dünkt uns immer häßlicher, als es in Wirklichkeit ist. Unsere Sinne werden durch diese Affekte nicht nur getrübt, sondern oftmals ganz und gar abgestumpft. Um den Sinnen trauen zu können, müßten wir ein Organ besitzen, das dieselben kontrollieren könnte. Auch unsere Vernunft kann uns keine Hilfe leisten, denn damit wir ein Urteil beweisen könen, bedürfen wir wieder eines anderen, und wir stehen vor einem 'progressus in infinitum [Fortschreiten ohne Ende - wp] Für die Unzulänglichkeit der Erkenntnis der Außenwelt durch die sinnlichen Wahrnehmungen spricht noch, nach MONTAIGNE, der Umstand, daß es zweifelhaft ist, ob der Mensch überhaupt mit all den Sinnen, die in der Natur möglich sind, ausgestattet ist. Und zuletzt, am Schluß seiner langen Untersuchung, wendet er sich zu HERAKLIT. Alles in der Welt ist einer fortwährenden Veränderung unterworfen; es gibt keine beständige Existenz, weder unseres Seins, noch des Seins der Objekte; die Gegenstände der Außenwelt, wie auch wir selbst und unser Urteil, wechseln unablässig; nirgends ist etwas Festes und Beständiges zu finden; alles ist im ewigen Fluß, alles irdische Sein ist nur ein Augenblick zwischen Geborenwerden und Sterben. Ist die sinnliche Erfahrung unzulänglich, so kann es kein sicheres Wissen geben; und das Beste ist in diesem Fall, sich jeder Behauptung zu enthalten und sich mit einem "Que sais-je?" zu begnügen, was uns bescheiden, demütig und zugleich tolerant macht. Auf dem Gebiet der Religion finden wir bei den Denkern der Renaissance Inkonsequenzen, welche der Ausdruck des, durch den Kampf zwischen dem Alten und dem Neuen, hervorgerufenen seelischen Zwiespalts sind. Fast bei allen Denkern dieser Epoche treffen wir die Annahme einer doppelten Wahrheit, einer philosophischen und einer geoffenbarten. Auch für MONTAIGNE ist die Theologie und deren Inhalt kein Objekt der Vernunft, der philosophischen Spekulation, sondern ein Gegenstand des Glaubens. Die widerspruchsvollen Äußerungen über die Religion, welche in den "Essais" vorhanden sind, veranlaßten die einen (7), ihn zu den Ungläubigen, die anderen (8), zu den frommen Christen zu rechnen. Die letzteren sehen in MONTAIGNE nicht nur einen gläubigen Christen, sondern auch einen eifrigen Verteidiger, ja sogar einen Apologetiker des Christentums. Sie sind der Ansicht, daß die "Apologie de Raimond Sebond" in der geistigen Tätigkeit unseres Denkers dieselbe Rolle spielt, wie die "Pensées" in derjenigen PASCALs. Die einen wie die anderen gehen, meines Erachtens, entschieden zu weit. Freilich läßt sich die Tatsache nicht wegleugnen, daß in seinem Werk, einige Stellen vorhanden sind, in denen MONTAIGNE uns feierlich versichertf, daß er ein treuer Anhänger der "Eglise catholique, Apostolique et Romaine" ist, daß er sich mit Vorliebe des "Pater Noster" bedient. In den "Essais" sind, zweifellos zahlreiche Belege zu finden, die für MONTAIGNEs christliche Gesinnung sprechen könnten. Dieser Eifer und diese Sympathie der Kirche gegenüber sind aber nur auf sein großes Bedürfnis nach Ruhe und Freiheit und vor allem auf seinen Konservatismus zurückzuführen. Er betrachtet die Religion als einen Teil der bürgerlichen Verfassung, in welcher man keine Zerrüttung anrichten darf; er ist der Ansicht, daß man der Religion treu bleiben muß, nicht weil sie der Inbegriff der Wahrheit ist, sondern weil sie, wie die Gesetze, unentbehrlich für die Erhaltung der Gesellschaft ist. Als Renaissancemensch ist er aristokratisch gesinnt, von der Masse denkt er nicht allzu hoch; deswegen betrachtet er, wie MACCHIAVELLI und manch andere, die Religion als ein unentbehrliches Mittel, um das Volk, welches nicht selbständig zu denken vermag, leiten zu können. Manche abstrakt denkenden Köpfe wollen die Religion mit der Philosophie ersetzen. MONTAIGNE aber ist ein zu guter Menschenkenner, um eine solche Maßnahme als wirkungsvoll und segensreich zu betrachten und sie zu befürworten. Es sei auch hier nebenbei bemerkt, daß MONTAIGNE ein entschiedener Gegner der Reformation ist, nicht nur allein wegen seines Konservatismus, sondern auch erstens, weil er, wie ERASMUS und andere Humanisten, in dieser großen religiösen Bewegung eine Hemmung der freien Regungen des Geistes siehtf, und zweitens, weil er, den Protestantismus als eine für das Volk durchaus ungeeignete Religion betrachtet. Der Protestantismus ist eine Vernunftreligion, und eine solche kann keine große Wirkung auf die Masse haben; für diese letztere ist der Katholizismus mit seinen zahlreichen Zeremonien und tiefen Mysterien, die auf die Einbildungskraft und Sinnlichkeit einen so großen Eindruck machen, die beste und brauchbarste Religion. MONTAIGNE ist also kein Feind des Christentums, aber ein überzeugter Christ ist er keineswegs. Zunächst glaubt er nicht an eine Unsterblichkeit der Seele. Seine Ansichten über den Tod sind der Antike entnommen; sie decken sich fast vollständig mit denjenigen des LUKREZ. Im ersten Buch, im Kapitel "Vom Tode", versucht er, sich selbst und zugleich seinen Leser von der Angst vor dem Sterben zu befreien, indem er zahlreiche Trostgründe anführt. Unter anderem betont er, daß der Tod ein notwendiges Glied in der Ordnung der Natur, eine Bedingung der Schöpfung ist; daß er ein Teil unseres Wesens ausmacht; daß kein Geschöpf Anspruch auf ewige Dauer haben kann, da in der Natur Werden und Vergehen untrennbar sind; daß es unvernünftig ist über diesen notwendigen Ausgang besorgt zu sein, da der Tod uns von aller Plage befreit. An einer anderen Stelle führt er aus, daß die Natur, indem sie uns den Schlaf, diesen Bruder des Todes, gegeben hat, den Schlaf, der uns jeder Tätigkeit und jeder Empfindung beraubt, uns lehren wollte, daß sie uns zum Sterben wie zum Leben geschaffen hat. Der Haupttrost des christlichen Menschen, der Hinweis auf ein jenseitiges Leben, wird hier also mit keinem Wort erwähnt. MONTAIGNE ist ein Weltbejaher; er liebt das Leben mit allen seinen mannigfachen Äußerungen; er vergöttlicht die Natur und in dieser letzteren sieht er keineswegs, wie es die christliche asketische Religion behauptet, das Prinzip des Übels. Er ist ein Gegner der anthropozentrischen Weltanschauung. Die Scholastiker und manche Denker der Renaissance (PICO de MIRANDOLA z. B.) vergöttlichen den Menschen; dieser ist nach ihnen die Krone der Schöpfung und bildet im Vergleich mit der großen Welt (Makrokosmus), eine kleine Welt für sich (Mikrokosmos). MONTAIGNE tritt entschieden einer solchen Auffassung entgegen, und stellt sich in einen Gegensatz zu RAIMOND SEBOND, der behauptete, daß die Welt lediglich um des Menschen willen da ist. Der Mensch ist, nach MONTAIGNE, nicht das erste und vollkommenste, sondern das armseligste, elendeste von allen lebenden Wesen. Er findet nicht Worte genug, um die Kleinheit und das Elend des Menschen zu schildern. Um die Gebrechlichkeit und Schwäche des Menschen mit größerem Nachdruck betonen zu können, versucht er die Tiere dem Menschen zu nähern und behauptet, daß die Entfernung zwischen dem letzteren und den Tieren in Bezug auf den Verstand und das Gefühl nur eine geringe ist. Dieses kritische Verhalten den bestehenden Religionen gegenüber bedeutet aber keineswegs eine Feindschaft gegen die Religion als solche. Die Frage, ob MONTAIGNE ein inneres Verhältnis zur Religion gehabt hat, bejahe ich entschieden und ich bin der Ansicht, daß er eine tief religiös veranlagte Natur war. In seiner Kritik der überlieferten religiösen Anschauung, in seiner Bekämpfung des Aberglaubens und des Fanatismus sehe ich das Verlangen nach einer reineren, innerlicherenn Religion, nach einer Religion des Friedens und der Liebe, die den Menschen zur Freiheit und Selbständigkeit führen kann. MONTAIGNE ist einer der ersten Theisten. Gott ist für ihn die unbegreifliche Macht, der Schöpfer und Erhalter aller Dinge, das allgütigste, das vollkommenste, das gerechteste aller Wesen. Die Art und Weise, wie er das Wesen der Religion versteht, gibt uns einen Beweis von seiner Hochschätzung des Menschen als solchen. Er ist für die Anbetung Gottes im Geist, und nicht durch Zeremonien. Mit warm empfundenen Worten ermahnt er uns, in welcher Stimmung man Gott anbeten soll. Er tadelt die Sitte, bei jeder Verlegenheit Gott um Hilfe anzurufen, denn bei einem solchen Verfahren bildet man sich mit Unrecht ein, daß seine Unendlichkeit sich mit unseren geringen Handlungen befaßt. Ein gutes Herz, reine Sitte, das ist es, was Gott gefällt; ein reines Gewissen und nicht Werkheiligkeit verlangt er von uns. Weil er in dem Aberglauben, in seinen verschiedenen Gestalten: Astrologie, Hexen- und Zauberwesen, eine Herabwürdigung des Menschen sieht, tritt er ihm entgegen. In der Epoche der Renaissance herrschte der Hang zum Mirakel- und Hexenglauben, zur Magie, Astrologie nicht nur bei der Masse, sondern auch bei den Gebildeten, ja sogar bei einigen der hervorragendsten Geister der Zeit (9). Unser Denker zeigt sich auch in dieser Beziehung, als einer der freiesten Geister der damaligen Epoche. Die Wunder, sagt er, verdanken ihre Entstehung unserer Unkenntnis der Natur und all ihrer Erscheinungen; die Weissagungen sind nichts anderes als Träume. Sein beißender Spott hat viel zur Vernichtung so manchen Wahns (10) beigetragen. MONTAIGNE ist einer der ersten Denker der Renaissane, der den Mut hat, "den Satz zu verteidigen, daß religiöser Irrtum kein Verbrechen ist." (JODL, Geschichte der Ethik, Bd. 1, Seite 88). Vor GASSENDI und vor VOLTAIRE wagt er EPIKUR und den Kaiser JULIAN gegen die ungerechten Angriffe des Mittelalters zu verteidigen. Mit harten Worten verurteilt er die christliche Unduldsamkeit, welche für die Kultur gefährlicher gewesen ist als die Verwüstungen der Barbaren selbst. Mit Entrüstung spricht er von den Qualen und Schrecken der Folter. Indem er sich, der erste in Frankreich, gegen die Torturen wendet, weist er seine Nachfolger auf diese Richtung, BAYLE, VOLTAIRE und den Enzyklopädisten den Weg auf. Die moralphilosophischen Fragen treten in der Renaissancezeit in den Vordergrund. Der ethische Grundzug der philosophischen Spekulation in dieser Epoche ist dadurch charakterisiert, daß es durchweg die individuelle Ethik ist, welche den Mittelpunkt ihrer Untersuchung bildet. Auf dieses letztere Moment läßt sich die Tatsache zurückführen, daß gerade jetzt der Stoizismus und Epikureismus zum Ansehen gelangen, die beiden Systeme der antiken Philosophie nämlich, die einen individuellen Standpunkt der Moral verfechten. Nicht nur diese allgemeine Tendenz der Geistestätigkeit seiner Epoche, sondern auch die skeptische Richtung seines Geistes, treibt MONTAIGNE dazu, sich mit der Moral zu beschäftigen. Man hat mit Recht hervorgehoben (11), daß diejenigen Philosophen, welche zur Leistungsfähigkeit der spekulativen Vernunft kein allzu großes Vertrauen haben, ihr philosophisches Interesse den ethischen Fragen zuwendeten. Die Ethik ist für MONTAIGNE der wichtigste Teil der Philosophie. Obwohl er seine ethischen Ansichten nicht in einer systematischen Bearbeitung dargelegt hat, obwohl er sich öfters widerspricht, läßt sich, dennoch, aus den "Essais" hervorheben, daß unser Denker bei der Behandlung ethischer Probleme zweierlei Absichten verfolgt: die Verweltlichung der Ethik, d. h. die Loslösung der Moral von der Religion, und die Aufstellung eines individualistischen Moralprinzips. Als Renaissancemensch huldigt MONTAIGNE der Lebensauffassung der Antike und ist der Ansicht, daß zwischen der Sittlichkeit und der freien ungestörten Entfaltung aller natürlichen Anlagen und Kräfte des Menschen, kein Gegensatz bestehen kan. Daher gilt es zunächst, die christliche Lebensauffassung, welche die Überzeugung der Alten von der Heiligkeit der Natur erschüttert hatte, zu beseitigen. Da der fromme Christ vom absoluten Wert der christlichen Moral überzeugt ist, weist MONTAIGNE, um sein negatives Resultat zu erreichen, auf die Relativität jeder Moral und folglich der christlichen hin. Die Argumentation bei der Begründung seiner Ansicht ist die folgende:
2. In Bezug auf die moralischen und bürgerlichen Gesetze zeigen sich fortwährende Veränderungen und große Verschiedenheiten. Es läßt sich kein natürliches Gesetz nachweisen, das von allen Menschen beobachtet wird. Die Sitten, Gebräuche und Gesetze ändern sich nach Zeit und Ort, und sie verdanken ihre Macht nur der Gewohnheit. Diese Verschiedenheit der Sitten und Gesetze ist, nach Montaigne, eine Folge der Abhängigkeit der physischen, wie auch der psychischen Natur des Menschen von der Luft, dem Klima und dem Boden. Wir können, sagt er, durch die Erfahrung mit Händen greifen, daß die Form unseres Wesens von der Luft, vom Klima und vom Boden auf dem wir geboren werden, abhängt; nicht allein die Gesichtsfarbe, Gestalt und Größe, sondern auch die Fähigkeiten der Seele. Auf eben die Art, wie die Früchte und Tiere verschieden wachsen, werden auch die Menschen mehr oder weniger kriegerisch, gerecht, gemäßig und gelehrig, gehorsam oder rebellisch, gutmütig oder boshaft, wie es der Einfluß des Ortes, an dem sie leben, mit sich bringt; sie nehmen eine neue Beschaffenheit an, wie die Bäume, wenn man sie verpflanzt. 3. Schließlich betont 'Montaigne, daß das Gewissen kein guter, untrüglicher Führer sein kann, denn es ist kein ursprüngliches sittliches Prinzip, sondern die erblich gewordene Sitte. Er geht von der Lust aus, und findet darin das höchste Gut, als das letzte Ziel allen menschlichen Strebens. Die Tatsachen der inneren Erfahrung und die Geschichte des menschlichen Geistes bestätigen ihm diese Ansicht, daß das Streben nach Glück die innerste Triebfeder alles Lebendigen ist. MONTAIGNE hat kein Bedenken, dies mit Nachdruck zu betonen, obwohl er weiß, daß er sich damit in einen Gegensatz stellt zu denjenigen Anhängern der dogmatischen Religion, welch das Wort "volupté" [Wollust - wp] äußerst anstößig finden. Worin besteht das "höchste Gut"? Hier gehen die Ansichten weit auseinander. Die Einen behaupten dasselbe durch die Tugend zu erreichen, die Anderen durch die Lust; diese in einem naturgemäßen Leben, jene in der Wissenschaft, andere in der Abwesenheit allen Übels. Er, seinerseits, findet das höchste Gut in der Tuend. Eine präzise Definition des Begriffs der Tugend ist er uns aber schuldig geblieben; in den "Essais" finden wir darüber widerspruchsvolle Äußerungen. Die Tugend ist einmal
Die auf das Einzelleben gerichteten Pflichten nehmen bei MONTAIGNE die erste Stelle ein. Er ist für die Erfüllung derjenigen Pflichten, welche den wahren Menschen, die Persönlichkeit - wenn ein moderner Ausdruck erlaubt sein soll - ausmachen. Wie für SOKRATES ist für ihn die erste und wichtigste Pflicht, sich selbst kennen zu lernen, sich selbst zu studieren, denn nur auf dem Weg der Selbsterkenntnis ist es möglich zur Selbstbeherrschung zu gelangen. MONTAIGNE, der wie die Epikuräer ein großes Gewicht auf die physische Gesundheit legt, betrachtet es als eine Pflicht, seinen Körper zu pflegen, denn, meint er, der Mensch ist aus zwei Teilen zusammengesetzt und man darf nicht den Körper zugunsten der Seele vernachlässigen (15). Der wahre Mensch muß sich durch seine Wahrhaftigkeit und Offenheit auszeichnen; wahrhaftig und offenherzig muß er sein, nicht nur gegen die andern, sonern auch gegen sich selbst. Er darf nicht suchen seine Schwächen und Mängel zu verbergen, um vor sich vollkommenerer zu erscheinen, als er in Wirklichkeit ist. Die Lüge verdammt MONTAIGNE als das größte Laster. Sie ist ihm "der erste Schritt zur sittlichen Verderbnis". (16) Keine Farben sind düster genug, um die Niederträchtigkeit und Verworfenheit dieses Lasters zu schildern, das allen Umgang stört und alle geselligen Bande löst.
Die Pflichten gegen die andern kommen bei MONTAIGNE an zweiter Stelle. Meines Erachtens ist es aber durchaus unrichtig, wenn man behauptet, daß die altruistischen Pflichten bei unserem Denker eine untergeordnete Rolle spielen, denn die Hauptpflichten, welche er empfiehlt, Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit, Humanität involvieren schon in sich die Pflichten gegen die Anderen. Von den Beziehungen zu den Andern stellt er die Freundschaft an die erste Stelle. Das Band der Freundschaft gilt ihm, wie den Stoikern und Epikuräern, höher als die Ehe, denn die Freundschaft ist der einzige soziale Verband, durch welchen die Individualität nicht beeinträchtigt wird; außerdem spielt bei ihr die Vernunft und nicht das Gefühl, wie bei der Liebe, die Hauptrolle (19). Dem Staatsleben bringt er, obwohl kosmopolitisch gesinnt, Interesse entgegen. Dem Dienst der Gesellschaft sind wir verpflichtet zu widmen, nicht nur unsere Handlungen und unsere Bemühungen, sondern auch unser Vermögen und unser Leben; all das aber soll uns nicht hinden, das Recht und die Freiheit zu erhalten, über alle Dinge unbefangen urteilen zu können (20). Den Gesetzen seines Landes muß man Gehorsam leisten, "das ist die Regel aller Regeln", aber sein Gewissen, seine Überzeugungen darf man nicht preisgeben. Hat man das Unglück in einer verdorbenen Zeit zu leben, dann verfährt man am Besten, wenn man sich zurückzieht und sich mit der Rolle des passiven Zuschauers begnügt. (21) MONTAIGNE hat sich mit den Grundlagen der politischen und sozialen Ordnungen der Menschheit nicht beschäftigt. Er nimmt den Staat als etwas Gegebenes an, ohne theoretische Untersuchungen über seinen Ursprung anzustellen. Zwei Stellen in seinem Werk berechtigen uns jedoch zu der Annahme, daß er die Ansicht des Aristoteles vertritt, nämlich, daß der Mensch ursprünglich den Trieb und das Bedürfnis eines gesellschaftlichen Lebens fühlt. Die politischen Ansichten eines Denkers lassen sich, zum größten Teil zumindest, auf den politischen und sozialen Zustand seiner Zeit zurückführen. Auch MONTAIGNEs Konservatismus versteht man, wenn man sich die Zeitumstände vergegenwärtigt, in den er lebte. Er ist ein Gegner jeder gewaltsamen und willkürlichen Reform. Die Geschichte Roms und die traurigen politischen Zustände seiner Zeit bestärken ihn in seiner Überzeugung, daß jede politische Umwälzung, jede Art des Umsturzes in Kirche und Staat, nur der Ungerechtigkeit und Tyrannei Vorschub leistet. Das Gute, meint er, folgt nicht notwendigerweise auf das Übel, es kann Übel auf Übel folgen, und zwar ärgeres. Er ist aber weit davon entfernt zu glauben, daß das Bestehende, das Beste, daß, nach HEGELs Wort "das Wirkliche, das Vernünftigste ist"; er weiß wohl, daß die Gesetze willkürlich, daß sie sich in Ansehen halten, nicht weil sie gerecht, sondern weil sie Gesetze sind, daß sie sehr oft von Dummköpfen herrühren, öfters von Leuten, die, weil sie die Gleichheit hassen, auch keine Billigkeit kennen, daß sie das Erzeugnis von unzuverlässigen, durch die Macht der Affekte geblendeten Menschen sind (22). Allen diesen schweren Bedenken zum Trotz will er aber, daß man die Macht des "historisch Gewordenen" nicht außer Acht läßt. Weil wir in einer Welt leben, deren Grundlagen von anderen Generationen festgelegt worden sind, weil wir eine Welt vor uns haben, die schon gemacht und zu gewissen Gewohnheiten geworden ist, weil wir eine solche nicht wie bei PYRRHA und CADMUS erzeugen können, deswegen ist es ratsamer bei der Verwirklichung der Reformen mit der größten Vorsicht vorzugehen (23). Da er außerdem, als guter Menschenkenner, wohl weiß, daß bei der Einführung neuer Institutionen sich keineswegs die menschlichen Anlagen und Triebe, welche den alten Einrichtungen Lebenskraft gaben, ändern, - eine Wahrheit, die, nebenbei gesagt, viele Anhänger der Reformen á tout prix [um jeden Preis - wp] außer Acht lassen, - deswegen meint er, verfährt man am Besten, wenn man, im Laufe der Zeit, in der bestehenden Ordnung der öffentlichen Dinge, allmähliche Änderungen und Verbesserungen vollzieht. Trotz seines Konservatismus ist er aber kein überzeugter Anhänger der Monarchie; im Innern seines Herzens schwärmt er für die Republik, für die Institutionen Spartas und des republikanischen Roms. Auch die Könige, meint er, sind, wie die einfachen Sterblichen, der Macht ihrer Leidenschaften und Affekte ausgesetzt; auch sie, wie ihre Untertanen, unterwerfen sich selten den Geboten der Vernunft. Er ist auch gegen die Monarchie, weil diese letztere ein ungünstiger Boden für die Hervorbringung großer Charaktere ist; die Selbständigkeit der Gesinnung ist in einem monarchischen Regime selten zu finden; im Gegenteil, hier wird der Byzantismus groß gezogen.
1) Erst seit kurzer Zeit ist in Deutschland das Interesse für Montaigne und überhaupt für die Vertreter der französischen Moralphilosophie (La Rochefoucauld, La Bruyére, Vauvenargues, Chamfort) rege geworden. Diese Erscheinung ist nicht nur den gewaltigen Anregungen Nietzsches, sondern auch dem allgemeinen Kulturzustand des heutigen Deutschlands zu verdanken. Mit der großartigen materiellen Entwicklung, die man seit dem letzten Vierte des 19. Jahrhunderts datieren kann, hat sich auch ihre Begleiterscheinung, das gesellschaftliche Leben, allmählich entwickelt, und dieses nämlich ist der denkbar günstigste Boden für das Gedeihen desjenigen Teils der Philosophie, der sich mit dem Menschen beschäftigt. 2) Höffding in seiner "Geschichte der neueren Philosophie", und Dilthey in seiner "Auffassung und Analyse des Menschen im 15. und 16. Jahrhundert", sind Montaigne gegenüber gerechter verfahren. 3) Pascal, Guyau und andere. 4) Höffding, Dilthey. 5) Soviel mir bekannt ist, findet man über dieses Thema einige kurze Bemerkungen bei Paul Stapfer: Montaigne; Arthur Desjardins: Moralistes du 16. siécle; Èmile Faguet: Etudes sur le 16. siécle; Paul Schwabe: Montaigne als philosophischer Charakter. 6) Man hat ihm vorgeworfen, daß in seiner Pädagogik von religiöser Erziehung keine Rede ist; wie konnte er aber an den erzieherischen Wert der Religion glauben, er, der humane Denker, welcher war der tägliche Augenzeuge unerhörter Grausamkeiten begangen im Namen der Religion. Die schwachen Seiten seines Erziehungssystems sind, meines Erachtens, zu suchen: in seiner Überschätzung der hofmeisterlichen Erziehung, in seiner allzu starken Betonung des Prinzips der Schonung der Kräfte, in seinem Ignorieren der großen Bedeutung der Disziplin für die Bildung des Charakters und endlich in seiner Verkennung der erzieherischen Bedeutung der Naturwissenschaft und Kunst. Was diesen letzten Punkt betrifft, so muß ich zu seiner Rechtfertigung erwähnen, daß in der damaligen Naturwissenschaft sich eine starke Dosis Scharlatanismus mischte, und Montaigne war der bitterste Feind jedes Scharlatans. Unser Denker hatte für die Künste, die Poesie ausgenommen, kein Verständnis. Für die echte, wahre Poesie aber, hatte er das feinste Gefühl, und Jahrhunderte vor Herder hat er auf den großen dichterischen Wert der Volkslieder hingewiesen. Er ist der erste, der das Wort "poesie populaire" zur Anwendung brachte. 7) Pascal, Entretien avec M. de Saci; Vinet, Moralistes francais du 16. u. 17. siécles. 8) Bigorie de Laschamps: Michel de Montaigne. 9) Bodin glaubt an Zauberei und an Dämonen, Macchiavelli - an den Einfluß der Gestirne auf das Geschick des Menschen, Pomponatius, der nicht an die Unsterblichkeit der Seele glaubt, schreibt eine Abhandlung über die Magie, Bacon glaubt an Sympathie und den bösen Blick, an den Einfluß der Sterne auf den Menschen. 10) "Aus der Veröffentlichung der Essays von Montaigne können wir den Einfluß dieser begabten und immer größer werdenden rationalistischen Schule datieren, die allmählich die Zerstörung des Glaubens an die Hexerei bewirkte, nicht indem sie ihre Beweise widerlegte oder erklärte, sondern einfach indem sie die Menschen mehr und mehr sensibilisierte für deren intrinsische [innewohnende - wp] Absurdität." - Lecky, History of Rationalism, Bd. 1, zweite Ausgabe, Seite 104. 11) Eduard Zeller, "Über das kantische Moralprinzip", Vorträge und Abhandlungen, Bd. 3, Seite 160. 12) Essais, t II, Seite 47/48. 13) Essais, t III, Seite 145, 147. 14) Wie die Epikuräer teilt Montaigne die Begierde in natürliche und notwendige, natürliche und nicht notwendige, sowie unnatürliche und nicht notwendige ein (vgl. Essais, t III, Seite 229) 15) Essais, t IV, Seite 222 16) Essais, t IV, Seite 268. 17) Essais, t I, Seite 44. 18) Essais, t VII, Seite 24 19) Vgl. Kapitel 27 des ersten Buches "Über die Freundschaft". Moriz Lazarus schreibt darüber: "Seine Abhandlung über die Freundschaft ist ein Schatz von aufgereihten Perlen edelster Gedanken". (Das Leben der Seele, Bd. III, zweite Auflage, Seite 298) 20) vgl. Essais t I, Seite 167 21) vgl. Essais, t V, Seite 173-174. 22) Essais, t VII, Seite 15 23) Essais t VI, Seite 138f. |