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ALOIS von BRINZ
Über Universalität

"Für uns Erdenkinder ist nichts Allgemeines faßbar, außer in den einzelnen Dingen; selbst die Ideen des Guten, Schönen, Gerechten können wir nur in gewissen Spezialisierungen denken und sehen; geschweige denn, daß wir etwas Körperliches, wie das Licht, die Farbe oder irgendeinen Stoff oder ein Rechtsgeschäft irgendwo als Gattung oder anders als in der konkreten Erscheinung auftretend fänden. Folgerecht gibt es keinen Weg zum Allgemeinen, als den durch das Einzelne."

"Niemand soll Theologie, Kirchen- oder Zivilrecht, Medizin oder Grammatik lehren, noch auch jemand zu einem akademischen Grad promoviert oder als Rektor, Prokanzler und dgl. gewählt werden, der nicht den Eid auf das Konzil von Trient geleistet hat."

"Im Mittelalter waren Wissen und Glauben noch Eins, der Abfall in den Augen der Welt wie der Kirche kein Produkt geistiger Freiheit, sondern die Folge moralischer Schwäche, ein Werk der Hölle und als Verbrechen nicht nur gegen den Himmel, sondern auch gegen die Welt und den Staat vom Staat bestraft."


Hochansehnliche Versammlung!

"Kein Kleines ist mir auferlegt, daß ich vor einer so großen, ehrwürdigen und gelehrten Versammlung über das, was unserer Universität am wichtigsten ist, reden soll. Weil das gut zu tun, nur Wenigen gegeben ist, bin ich sehr in Furcht."
- So MARTIN MEYER bei der Eröffnung der Universität Ingolstadt am 26. Juli 1472. Ich aber teile die Gefühle dieses meines ersten Vorredners. Wenn es freilich erlaubt wäre, über irgendeinen Pandektentitel zu handeln, so wollte ich micht nur von einigen Wenigen in dieser großen Versammlung fürchten und selbst vor diesen noch leidlich zu bestehen hoffen. Allein heute, da nicht nur wie sonst um diese Zeit das begonnene Studienjahr feierlich inauguriert, sondern die Rektoratsrede dem nunmehr halbhundertjährigen Aufenthalt unserer Universität in einer Stadt gerecht werden soll, die sich mehr und mehr als eine Patronin nicht nur der Kunst sondern auch jedwedem intellektuellen Fortschritts herausstellt: - an diesem Tag soll etwas geredet werden, das die so verschiedenen Fakultäten sämtlich und Lehrer wie Lernende gleichheitlich betrifft, nebst dem aber auch nicht außerhalb des Bereichs eines sich von Neuem aus dem Handwerk zur Kunst, und aus Stadt- zu Landes- und Reichsinteressen emporarbeitenden Bürgertums gelegen ist. Gehören wir Professoren und Studierende sonst mehr oder weniger der Spezialität: der heutige Tag gehört der Universalität; gerade sie aber ist es, die ich fürchte. Wohl haben wir in jungen Jahren einst Himmel und Erde auf einmal zu umfassen gestrebt und uns nur langsam und schwer davon überzeugt, daß man sich dazu der Dinge im Einzelnen bemächtigen muß; nachdem wir uns aber endlich in die Spezialarbeit gefügt haben, gingen, fast müssen wir sagen, Himmel und Erde selbst verloren; das Universum nahm allmählich die Gestalt der Spezies an, und weit entfernt, daß wir etwa im Kreislauf, durchtränkt von allen Sphären der Natur und des Menschentums, zu unserem Ausgangspunkt zurückgedrängt wären, ist es die eine Spezies, an der wir haften blieben, in der wir leben und weben, und aus deren Bann wir uns wohl nicht mehr befreien werden.

Gehört demnach am allerwenigsten der diesmalige Redner zu denen, welche der Bedeutung des Tages zu genügen vermögen, und sollen Sie gleichwohl mit keiner Fachfrage befaßt werden, so bleibt mir nichts übrig, als gleich dem Knaben, der im nächtlichen Forst sich durch lautes Rufen Mut zu machen sucht, auf das gefürchtete Ding geraden Wegs loszugehen und also, wohl oder übel, die Universalität selbst zum Gegenstand dieser Rede zu machen.

Die Universalität ist nun zwar im weitesten Sinne des Wortes, als eine Universalität des Wissens und des Könnens, und zwar des übernatürlichen wie natürlichen Könnens nicht nur von Titanen und Engeln, sondern im Bund mit einem gefallenen Engel auch von Doktoren des 15. und 16. Jahrhunderts angestrebt und praktiziert worden. Einer von diesen figuriert mit der Zutat einerseits von modernem Weltschmerz, andererseits aber ohne den Hanswurst des Volksstücks, sogar als Lieblingsheld auf der deutschen Bühne. Nichts desto weniger will man von dieser Universalität, außerhalb der Bühne, unter den Vernünftigen, heutigen Tages nichts mehr wissen. Alles in allem sind wir in unseren Ansprüchen an die Universalgenies bescheiden geworden. Unsere Bewunderung erregt es schon, wenn der Mann der Wissenschaft zugleich ein Künstler in irgendeinem Zweig der schönen, natürlichen Künste ist, und die Pandektisten sind stolz darauf, daß einer der ihren das Büchlein über die Reinheit der Tonkunst geschrieben hat; ja wir können unbedenklich die Behauptung aufstellen, daß die Universalitätk selbst viel weniger in der Richtung und dem Geschmack der Gegenwart liegt, als Teilung der Arbeit und höchste Perfektion im Detail.

Ob in dieser Richtung zu beharren, oder aber im Interesse der Einzelnen oder weiterer Kreise einer universelleren Bildung zuzusteuern ist, scheint uns keine eitle Frage zu sein, wird sich aber nicht ohne nähere Betrachtung der Universalität selbst beantworten lasen.

Voraussetzend nun, daß es sich hierorts um eine Universalität bloß des Wissens handeln kann, lassen Sie mich vor den Wissenden die Wissenschaft, vor den Gelehrten und Forschern die Fächer ins Auge fassen, worin jene nunmehr seit Jahrtausenden bienenartig die Frucht ihrer Arbeit eingebaut haben. Von diesen Fächern ist eines, das nicht nur universeller als alle anderen, sondern die Universalwissenschaft selbst zu sein scheint: das der Philosophie nämlich. Denn in dieser gibt es nicht nur Logik, Metaphysik und einiges Andere mehr, was sie vor allen anderen Fächern voraus hat, sondern auch Geschichte, Recht, Theologie, Moral und vieles andere, was sie mit den anderen Fächern gemein hat. Was, kann man sagen, gibt es, womit die Philosophie sich nicht befaßt? Jünglinge, denen um eine tiefere und weitere Bildung zu tun ist, zieht es dann vor allem zur Philosophie und gewiß gibt es kein Fach, das ihnen einen gleich großen Gesichtskreis zu eröffnen vermöchte. Allein andererseits ist doch nicht zu verkennen, daß Theologie, Jurisprudenz, Medizinm Philologie und Naturwissenschaften auch da sind und ein von der Philosophie ziemlich unabhängiges Dasein führen. Wohl gab es eine Zeit, da das gesamte Wissen vom gesamten Wissensobjekt noch so weit abstand, wie etwa ein Globus von der Größe eines Eies von der Erdkugel, eine Zeit, in der es dann auch nur eine Wissenschaft gab, und zumindest der Grieche jeden der sich in den Besitz dieses einen und kleinen Wissensterritoriums zu setzen suchte, einen Freund der Wissenschaft oder Philosophen nannte; allein diese Zeit ist vorbei; unvordenklich die Teilung der Arbeit auch in den Wissenschaften; überwunden auch jene jüngste Vergangenheit, in der die Philosophie sich noch einmal als Universalwissenschaft hinstellen durfte, und da sie das wirklich vorhandene Recht und die wirklich vorhandene Natur doch nicht genau genug kannte, Spekulation mit Kreation vermengend ein eigenes Recht und eine eigene Natur machte. Aber wie, muß man fragen, ist es denn zu denken, daß die Philosophie alles betrifft, und doch nicht alles ist? Ist es Überhebung auf Seiten der anderen Fächer, daß sie sich von der Philosophie emanzipierten, und sollten sie nicht etwa bloße Beilagen oder Detailausführungen zur Philosophie sein? Oder hat sich umgekehrt die Philosophie in Sachen eingemischt, die sie nichts angehen? Keines von beidem; vielmehr dürfte sich der Widerspruch aus der Verschiedenheit der Ausgangspunkte lösen, den die beiderlei Wissenschaften, die philosophische und, wenn ich so sagen darf, die unphilosophischen seit ihrer Trennung genommen haben. Denn bei dieser Trennung und Teilung gemeinschaftlich mit der Theologie und (im Gegensatz zu den anderen Fakultäten) auf das höchste Wesen und den Urgrund der Dinge zurückgezogen hat sich die Philosophie von der Theologie in der Autorität, an welche sie sich halten, geschieden, ist infolgedessen in den Zweifel über den wirklichen Grund und das wahre Sein der Dinge verfallen und darum aus allen Kräften mit der Frage beschäftigt, ob etwas und was das nicht nur scheinbar sondern wirklich, das nicht nur vorübergehend und konkret, sondern ansich, allgemein und ewig Seiende ist. So fallen die Dinge, die realen wie die idealen, in den Kreis ihrer Betrachtung; allein weitaus überwiegend nur nach der einen Kategorie, nach der ihres Seins, oder ihres Ob; sich gleich eingehend auch mit deren Wie zu befassen, fehlt es der Philosophie naturgemäß an dem dazu notwendigen Behagen; denn wie mag ich, wie kann ich mich mit einem Ding, dem ich gar kein oder nur ein scheinbares Dasein zutraue, oder über dessen Wert ich auch nur im Zweifel bin, mit mehr als flüchtigem Blick abgeben? Sich mit den Eigenschaften Gottes, mit dem Inhalt des Rechts, mit den Erscheinungen der Natur und ihrer Kräfte bis ins Äußerste zu befassen, blieb denjenigen vorbehalten, welche diese Dinge gläubig da sein lassen, d. h. den Theologen, Juristen, Physikern usw. Nur das Denken selbst haben die Philosophen, in der Logik, jederzeit auch seiner Qualität nach behandelt; nicht ohne inneren Grund; denn das Denken ist das einzige Ding, an dessen Existenz und Realität die Philosophen nicht zweifeln durften, das vielmehr ihre letzte Autorität und ihr einziges Daseinskriterium bildet und darum auch nicht aus der Hand gegeben werden mochte. So ist die Logik als ein Reservatrecht zu betrachten, das sich die Philosophie bei der Extradition der Theologie, Jurisprudenz und Naturwissenschaft an die übrigen Fakultäten vorbehalten hat. Ob sie sich bei diesem Reservatrecht erhalten, oder ihr neuerer Bundesgenosse, die Naturwissenschaft nicht auch noch die Logik annektieren wird, ist eine Frage, welche man weiterhin aufwerfen darf. Denn ungefähr so, wie eine gewisse philosophische Schule seinerzeit alle, auch die materielle Existenz in den Begriff zu verlegen getrachtet hat, fehlt es umgekehrt in der Naturwissenschaft nicht an Anläufen, alle Existenz und alle Bewegung, auch die ideelle, in den Bereich der Materie zu ziehen.

Haben wir nach all dem selbst in der Philosophie eher eine Wissenshälfte, als eine Universalwissenschaft, und wie bemerkt auch in der Naturwissenschaft bloße Anläufe zu einer solchen, so fragt sich, ob dem auch bei den Gelehrten so ist oder sein muß oder ob nicht zumindest in ihren Köpfen Raum für alle Fächer ist oder sein sollte? Selbstverständlich ist dabei an kein Universalwissen im absoluten Sinn des Wortes zu denken, sondern wie wir einen Weltumsegler schon denjenigen nennen, der einen gewissen Durchschnitt über die Erdoberfläche macht, so verlangen wir auch von einem Universalgelehrten nur einen gewissen Durchstich des Wissensgebietes. Zieht man nämlich um dieses zu überblicken eine Linie gewissermaßen durch den Menschen hindurch, und denkt man sich auf der einen Seite alles, was unabhängig vom Menschen da ist, also das ganze Reich der Natur und ihrer mathematisch-physikalischen Gesetze mit Inbegriff des ersten Menschen - auf der anderen Seite dagegen alles was durch den Menschen geworden oder aus ihm hervorgegangen ist: seine Geschichte, Sprache, seine Religion, sein Recht und seine Sitte, einerseits also das Naturreich, andererseits das Menschentum, so wird alles darauf ankommen, daß jemand zwar nicht auf allen Gebieten gleichbewandert, wohl aber daß er auf beiden Hemisphären seßhaft ist. Fassen wir hiernach den wirklichen Tatbestand ins Auge, so zeigt sich bald, daß in ihren reiferen Studien heutigentags auch die Dehnbarsten kaum einmal den Äquator passieren; daß sie zwar nicht ausschließlich hier auf Philologie oder Jurisprudenz oder Geschichte, dort auf Mathematik oder Physik, Medizin usw. sich einschränken, alles in allem aber doch auf der einen anthropologischen, humanistischen oder auf der anderen mathematisch-physikalischen Seite zu verharren pflegen. ALEXANDER von HUMBOLDT gilt als ein sehr universeller Gelehrter; allein es hätte anstatt seiner und seines Bruders WILHELM zusammen ein einziger HUMBOLDT auf die Welt kommen müssen, um einen Gelehrten der beiden Zonen darzustellen. Wie sich die theolotische Gelehrsamkeit gerne mit der historische oder philosophischen und philologischen, die juristische gerne mit der philologischen und historischen verbindet, dafür haben wir lebendige Belege, zum Teil in unserer nächsten Nähe; aber daß in diesen Buch- und Manuskripträumen auch die Retorte, die Waage und das Seziermesser zum Vorschein kommen, ist mir nicht gegenwärtig. Anderes werden wir gewahr, wenn der Blick ins Altertum und in vergangene Jahrhunderte zurückschaut. Von den Alten ist uns ARISTOTELES als derjenige geschildert, welcher weder am Himmel noch auf der Erde noch im Meer etwas unerforscht lassen wollte und zudem für jede Art der Forschung geboren schien. Dem Ende der antiken Welt schon näher ist er es, in welchem die der Teilung entgegengereifte Wissenschaft sich noch einmal zu sammeln, eins und bei sich sein zu wollen scheint. Zwar ist seine Physik weit von dem entfernt, was wir heute unter einer solchen verstehen; vielmehr eine Abstraktion von den natürlichen Dingen, als eine statische, optische, chemische Prüfung oder Analyse derselben. Allein wir sind versichert, daß er am unsichtbaren Ding des Staates, der Ethik, Rhetorik, Poesie, Seiten und Dinge gewahr wurde, die niemand vor ihm entdeckt hatte und vielleicht niemand nach ihm entdeckt haben würde, und ist erst neulich bekannt geworden, daß er sich bis zu den Verschiedenheiten der griechischen Stadt- und Kaufsrechte herabließ, so dürfen wir annehmen, daß er auch in der sichtbaren Welt weiter und schärfer als ein Anderer vor ihm eindrang, daß er in seinem verlorenen Werk über die Pflanzen diese mit derselben "Ausführlichkeit und staunenswerten Detailkenntnis" (ich zitiere mit den Worten eines Kollegen) beschrieben hat, wie die Tiere in dem auf uns gekommenen "Organon" und daß also so gut in der Botanik wie in der Zoologie manches erst "durch die allerneueste methodische Naturforschung" wiederentdeckt sein mag, was schon ARISTOTELES gesehen hatte. - Ob und wie weit wir die Universalgelehrten des Mittelalters mit ARISTOTELES in Verbindung bringen, ob wir sie (nach dem Vorangehen desselben scharf blickenden Kritikers) nur als Wiederkäuer des ARISTOTELES oder als einigermaßen selbständig denkende Wesen erachten dürfen, will ich zu entscheiden mir nicht anmaßen. Als sichere Tatsachen dürfen wir aber betrachten, daß (um einen Deutschen, überdies einen Lauinger zu nennen) ALBERTUS MAGNUS von "unermeßlicher Belesenheit" und dadurch zumindest "der bedeutendste Stofflieferant für seinie Mit- und nächste Nachwelt" gewesen ist; denn das räumt ihm auch die strengste Kritik unseres Freundes ein. Es mag darum auch einiges Wahres daran sein, wenn ihn einer seiner Schüler als "Quell der Physik und Theologie" bezeichnete oder wenn vor seinen 21 Folianten der Vers steht: Mundo luxisti, quia totum scibile scisti. [Der Welt hast du geleuchtet, weil du alles Wißbare gewußt hast. - wp] Darf ich aber wagen ihm außerdem einige Originalität beizumessen, so geschieht es im Hinblick darauf, daß er der Mann ist, an dessen Namen die Mit- und Nachwelt den Gedanken des Außerordentlichen und Geheimnisvollen anknüpfte, daß seine Schüler ihn erfahren in der Magie nennen, und daß die Bücher über Zauberei Scientia Alberti hießen. Denn daraus scheint mir - abgesehen davon, daß Zauberer und Wunderdoktoren von origineller Persönlichkeit zu sein pflegen - zu erhellen, daß er zumindest in Sachen der Natur nicht einzig aus ARISTOTELES geschöpft, sondern auch an jenen originellen Experimenten, aus denen die neuere Chemie und Mechanik hervorgegangen ist, sich nicht ohne maßgeblichen Einfluß beteiligt hat. - In der neueren Zeit war wohl niemand so ebenmäßig in beiden Reichen des Wissens bewandert wie GOTTFRIED WILHELM LEIBNIZ - er, der nie Professor gewesen ist und welchen gleichwohl oder vielleicht gerade darum alle Fakultäten und zwar nicht bloß die vier alten, sondern neben der juristischen auch die staatswirtschaftliche oder die staatswissenschaftliche, und den die eine wiiiie die andere Sektion der philosophischen Fakultät den ihren nennen können, und der in der einen dieser Sektionen nicht etwa bloß Mathematik, sondern auch Physik und Chemie, wie Geologie und der in der anderen nicht etwa bloß Philosophie, sondern ebensosehr Geschichte trieb, Philologie aber allerdings nicht sowohl zu studieren, als durch eine einzige Sprache überflüssig zu machen trachtete. Denn wenn in irgendeinem Gelehrten, so trat in ihm mit der Rezeptivität die Produktivität und mit der theoretischen Analge die Richtung aufs Praktische zusammen. Der Verfasser der Theodizee hat auch eine Rechenmaschine erfunden, an Verbesserung von Reisewaagen und Uhren, sowie an der Verdeutschung des Corpus Juris gearbeitet, Jahre lang die wilden Wasser in den Bergwerken des Harzgebirges zu bannen gesucht und den Umgang und das Lernen von Handwerkern nicht verschmäht.

LEIBNIZ war seines Zeichens zunächst Jurist und schrieb unter anderem über Bedingungen, einen Gegenstand der zur Stunde noch ein Problem für die Juristen bildet: meines Erachtens aber längst gelöst ist und zwar durch LEIBNIZ; denn, indem er das Wenn und das Wann trennte, wurde ihm klar, daß etwas, das ohne ein gewisses Ding nicht sein kann, gleichwohl vor diesem Ding sein kann. Sachverständige glauben, ohne die Namen NEWTONs und die Engländer zu kränken, LEIBNIZ als den Erfinder der Differenzialrechnung bezeichnen zu dürfen. VOLTAIRE schlug sich in diesem berüchtigten Prioritätsprozeß auf die Seite der Engländer und bemühte sich darum LEIBNIZ als einen Polyhistor zu zeichnen, welcher bei der Unermeßlichkeit seines Wissens fast doch nur ein abgeleitetes geistiges Leben geführt hat; allein damit ist er, der alles verlacht hat, selbst lächerlich geworden. Wo LEIBNIZ seinen Fuß hinsetzt, sproßt neues Leben. In der Physik wird er Urheber der Dynamik, von der man sagt, daß sie die Naturwissenschaften um ein Großes gefördert, wenn auch nicht ans Ziel geführt hat; er war es, der den Petrefakten und fossilen Überresten einer vergangenen Tierwelt gegenüber an die Stelle abergläubischen Staunes die vernünftige Betrachtung und in seiner Protogäa [erste Gestalt der Erde - wp] an die Stelle der mosaischen Genesis eine chemisch-physikalische Geschichte der Erde gesetzt hat. Aus demselben Harzgebirge, aus welchem seine Mineralogie, Paläontologie und Geognosie stammt, rühren auch seine vieljährigen Bemühungen um das deutsche Münzwesen her, in dem er selbst vielleicht ebenso sehr als irgendjemand, also nicht weniger als KOPERNIKUS, LOCKE und NEWTON studiert und eine Menge populärer Irrtümer entdeckt zu haben behauptet. Denn er, der Verfasser der berühmtesten Staatsschriften, und Urheber eines codex diplomaticus, war damals schon lange der uns namentlich heute wieder nahetretenden Ansicht, daß "der bei weitem wichtigste Teil der Staatswissenschaft die Staatswirtschaft ist"; aber man weiß, schreibt HUGO, soviel von ihm in anderen Fächern,
    "daß man oft vergißt, wie mannigfaltig er von Anfang an zur Rechtswissenschaft gehörte und wie erhebliche Bücher er auch teils über die Lehrart derselben teils über das Staatsrecht geschrieben hat."
Überall sonst neu und erfinderisch war LEIBNIZ nur in einer Richtung Anhänger des Alten, und noch von der Art der Scholastiker: darin, daß er mit all seiner Wissenschaft seinen Glauben nicht zu beseitigen, sondern zu rechtfertigen getrachtet hat. - Zeitlich näher steht uns der Mann, mit welchem sich einer meiner verehrten Vorredner vor wenigen Semestern beschäftigt hat: der Schweizer ALBRECHT von HALLER. Doch könnte bereits ihm jemand die Legitimation zum Eintritt in die Ruhmeshalle der Universalgelehrten streitig machen. Allerdings hat er vor den anderen etwas voraus, was sich mit der Gelehrsamkeit selten verbindet : er ist Dichter und Romanschreiber - und zwar nicht bloß Versemacher, sondern Poet, epochemachend in der Geschichte vaterländischer Dichtkunst. Aber wie der Akzent seiner Größe doch eher in seiner Wissenschaft als in seiner Poesie liegt, so überwiegt bei ihm (der an seinem Hochzeitstag in calculo differentiali gerechnet haben soll) doch auch in seiner Wissenschaft die naturwissenschaftliche Seite: obgleich er sich in seiner Vaterstadt um eine Professur in der Geschichte bewarb und auch gewiß kein Geschichtsprofessor geworden wäre, nicht so sehr deswegen weil er einem Freund, der sich bei ihm über die seltsamen und schwer zu behaltenden Namen der chinesischen Kaiser beklagte, dieselben sofort in chronologischer Folge hersagte; eher schon deswegen weil er, wie sein alter Biograf erzählt, "bei Tische, auf den Straßen, zu Pferd, beim Spazierengehen einen klassischen Skribenten vor sich hatte" und was kein Grammatikus gewußt und kein Burmann [zeitgenössischer Dichter bekannt für seine bizarren Verse - wp] gesucht, dabei sein Augenmerk war", ganz besonders aber darum, weil er Numismatik trieb und nach seinem eigenen Ausdruck in den Medaillen die ältesten Manuskripte, die besten Gewährleister der Sprache und der Geschichte erblickte. -

Noch schwerer ist es, wie früher bemerkt, in unserem Jahrhundert für eine ebenmäßige Beherrschung beider Wissensreiche öffentlich dokumentierte Beispiele anzuführen. Umso häufiger sehen wir, daß nicht etwa bloß Pedanten, sondern Männer, denen man weder Geist, noch Sinn für das große Ganze absprechen kann, sich ohne faustische Seelenleiden in den Bau einer Fachwissenschaft begraben. Das läßt sich auch erklären; denn die Extreme berühren sich. Je tiefer der Stollen einer Spezialwissenschaft getrieben wird, umso näher rückt er an die Universalität heran: freilich nicht an die bisher besprochene Universalität, welche das Universum aller Fachwissenschaften ist, sondern an die Universalität, welche in den einzelnen Dingen ist. Für uns Erdenkinder ist nichts allgemeines faßbar, außer in den einzelnen Dingen; selbst die Ideen des Guten, Schönen, Gerechten können wir nur in gewissen Spezialisierungen denken und sehen; geschweige denn, daß wir etwas Körperliches, wie das Licht, die Farbe oder irgendeinen Stoff oder ein Rechtsgeschäft irgendwo als Gattung oder anders als in der konkreten Erscheinung auftretend fänden. Folgerecht gibt es keinen Weg zum Allgemeinen, als den durch das Einzelne. Mag es sich, meine jungen Freunde, noch so schwellend und sehnend nach einem höheren Erkennen in Ihnen regen, auch an der Hochschule müssen Sie wieder beim Kleinen anfangen; wehe dem, der schwunghaft, aber gehaltlos den höchsten Zielen zustrebt: die sonnenverbrannten Flügel des Ikarus oder besser deutsch: Phrasenhaftigkeit, Hohlheit, Unbrauchbarkeit wären sein Los. Aber ebensowenig mögen wir bloße Magazine sein, in denen die Dinge zwar massenweise, aber sinnlos durcheinander liegen. Die einzelnen Dinge bloß als Einzelheiten gesehen wären Schemen, die uns schrecken, Schlacken, in den wir keine Erquickung finden, Massen, die uns niederziehen, statt aufrichten. Das Allgemeine ist nicht ohne die Einzelheiten, aber auch die Einzelheiten sind nichts ohne das Allgemeine. So wenig das Wissen ohne Begreifen etwas bedeutet und wie das Begreifen in der Versetzung des Besonderen in ein Allgemeineres besteht, so quillt Leben, Lohn und Freude daraus, daß uns aus der konkreten Erscheinung etwas allgemeineres, aus dem Niedrigen etwas Höheres entgegenleuchtet und emporzieht. Ausgenommen das Geschwisterpaar der Theologie und Philosophie erhebt sich nun zwar das Begreifen in keinem Spezialfach bis zum höchsten Begriff; allein wie das Leben Bewegung ist, so ist es nicht der Begriff, sondern das Begreifen, in dem wir unsere Genugtuung finden; objektiv, in der Geschichte der Wissenschaften, entscheidet über den Wert unserer Arbeiten deren Resultat: ober der neue Begriff, Satz, die neue Tatsache mehr oder weniger Einzelheiten erklärt, oder wie man instinktiv richtig sagt, von mehr oder weniger allgemeiner Bedeutung ist; subjektiv, in der Geschichte unserer Empfindungen erscheint die Spannung, mit der wir suchen und die Freude, Überraschung, mit der wir finden, als Befriedigung; in ihr steht der Schüler mit dem Meister auf gleicher Stufe; es ist ein und dasselbe Licht, das beiden aufgeht, jenem, indem er ein Allbekanntes verstehen lernt, diesem indem er ein Neues aufstellt; nicht die Wichtigkeit, sondern die Schwierigkeit des Problems bestimmt die Freude der Lösung - als ob die Götter ohne Mühsal nicht nur keinen Lohn, sondern gerechterweise auch die Höhe des Lohns nach der Größe der Anstrengung bestimmt hätten.

So mag uns klar werden, daß und warum dem Einzelnen innerhalb der vier Mauern seines Fachs wohl wird, und subjektives Bedürfnis viel weniger als man glauben sollte, einem alle Wissensfächer umspannenden Studium zutreibt. Allein nun frägt es sich, ob diesem subjektiven, ich möchte fast sagen egoistischen Genügen am Speziellen rücksichtslos Rechnung getragen werden darf, oder ob es Interessen gibt, welche uns ein gewisses Maß an Universalitätsbestrebung zur Pflicht machen. Da kann ich nun aber nicht umhin zu bemerken, daß die realistischen und humanistischen Studien nicht nur äußerlich, im Gegenstand, sondern auch innerlich, in ihrer Neigung und Abneigung, auseinandergehen. Dort überwiegt das Bestreben, noch körperliches zu suchen, wo man bisher geistiges zu haben meinte, während hier lieber von der leiblichen Erscheinung zu sinnlich unfaßbaren Potenzen fortgeschritten wird; setzt man hier lieber ein über Mensch und Natur Erhabenes an den Anfang der Dinge, so kommt man dort leicht dazu, von einem denkbarst Gedankenlosen, Materiellen auszugehen, und weil nichts höheres greifbar, den Menschen als Letztes, Oberstes, Höchstes zu denken. Hiernach besteht dann allerdings ein Interesse, daß diese beiderlei Studien das Tafeltuch nicht zwischen sich zerschneiden, daß sie vielmehr aufeinander Bedacht und Rücksicht nehmen, und das Geschlecht der Männer sich mehrt, in denen den Neigungen, Erwägungen, Konsequenzen beider Richtungen aufeinanderstoßen, sich abstoßen, und wenn möglich zur Versöhnung führen. Im anderen Fall könnte das Wissen und Erkennen selbst eher zu einer Quelle von Trübsal werden. Denn mit dem Materialismus hängt der Nihilismus zwar nicht notwendig, wohl aber natürlich zusammen; der Materialismus selbst aber verbreitet sich umso leichter, je leichter er zu fassen ist. Damit ist nicht gesagt, daß er um jeden Preis, selbst um den der Wahrheit, zu bekämpfen ist; allein einseitig mit demselben abschließen wäre nicht Wahrheit oder Wahrhaftigkeit, sondern Einseitigkeit und allenfalls auch Lieblosigkeit gegen die Mitmenschen.

Sollte dann in der Tat die Universalität als eine Verbindung der realistischen mit humanistischen Studien ein Bedürfnis unserer Zeit sein, so erscheinen die Universitäten zum dritten Mal in einer allgemein menschlichen und darum welthistorischen Mission. Da sie ihrem Inhalt nach von allem Anfang an Universalität sind, vertreten sie diese in drei Krisen; die Krisen der Universalität des Wissens, die zugleich Krisen des menschlichen Herzens sind, der menschlichen Vernunft und der menschlichen Gesellschaft.

Zwar hat die Universität ihrem Namen nach mit der Universalität nicht zu schaffen; denn dieser bedeutet nichts als Korporation, was sie stets gewesen ist, und was sie trotz der hochangewachsenen Zuschüsse, welche sie alljährlich zu ihrem eigenen Einkommen vom Staat empfängt, in wesentlichen Zügen noch heute ist. Der Sache nach aber zeigte sie sich uranfänglich als eine Lehrer- und Schülerzunft, auf Erforschung und Erlernung all dessen gerichtet, was nach dem geistigen Horizont der Zeiten als wissenswert erschien. Denn so greifbar auch das Band ist, durch welches sie, namentlich in ihren Legisten und Kanonisten, mit Staat und Kirche zusammenhing, und so leicht sie danach also nichts denn eine Pflanzschule von Staats- und Kirchendienern erscheinen konnte, so lag doch in dieser ihrer Nutzbarkeit nur eine Seite ihrer Wirksamkeit, nicht ihr Zweck selbst. Denn von staats- und kirchenwegen wäre man kaum zum Studium der heidnischen und republikanischen Alten gekommen; einen Staats- und Kirchenorganismus, an dem sich auch noch die Mediziner versuchen könnten, gibt es nicht und selbst die leges und canones wurden, wenn ich recht sehe, nicht im Dienst von Staat und Kirche, sondern darum in Angriff genommen, weil vermöge der Autorität, welche Kaiser und Pabst über die Gemüter übten, leges und canones neben den artes und der Medizin als das Wissenswerteste erschienen. So sehen wir dann an den Universitäten auch im Laufe der Zeit Lehrstuhl um Lehrstuhl erstehen, allerdings nicht ohne Konzessionen und Dotationen von oben, in der Tat aber doch durch das Postulat der fortschreitenden Wissenschaft selbst und ohne durchschlagende Rücksicht auf irgendein praktisches Bedürfnis. Die Rechtsgeschichte, die Volkswirtschaft, die Sprachenvergleichung, die Theorie der Künste und - vielleicht mit einziger Ausnahme dessen, was die Kriegswissenschaft lehrt - überhaupt alles was Theorie ist, wird von der Universität angezogen und findet in ihr ihren Sammel- und Schwerpunkt. Nur die Kunst selbst und alles was Ausübung, Praxis, Technik ist, bleibt prinzipiell von ihr ausgeschlossen oder findet an ihr nur accessorisch, zur Befestigung der Theorie, eine Stätte.

So lag von Anfang an und durch die Jahrhunderte herab der Akzent der Universitäten auf der Allseitigkeit. Zwar hat es den Anschein, als ob lange Zeit, ich will nicht sagen, irgendwelche Disziplinen, wohl aber gewisse Lehren, Spekulationen, Forschungen von den Universitäten grundsätzlich ausgeschlossen gewesen sind: so grundsätzlich als die professio fidei einst von den Promovenden und Professoren aller Fakultäten verlangt und als namentlich anno 1568 auch an unserer Universität jene päpstliche Bulle publiziert wurde, zufolge deren
    "Niemand Theologie, Kirchen- oder Zivilrecht, Medizin oder Grammatik lehren, noch auch jemand zu einem akademischen Grad promoviert oder als Rektor, Prokanzler und dgl. gewählt werden sollte, der nicht den Eid auf das Tridentinum [Konzil von Trient - wp] geleistet hat."
Allein in der Tat war, wenn man gerecht sein will, im Sinne der Zeit nicht sowohl die freie Forschung als das Verbrechen ausgeschlossen. Allerdings nicht mehr im 16. Jahrhundert, aber wohl im Mittelalter waren Wissen und Glauben noch Eins, der Abfall in den Augen der Welt wie der Kirche kein Produkt geistiger Freiheit, sondern die Folge moralischer Schwäche, ein Werk der Hölle und als Verbrechen nicht nur gegen den Himmel, sondern auch gegen die Welt und den Staat vom Staat bestraft. Die Universitäten gingen also stets auf alles mögliche, um eben deswegen aber nur auf das glaubensmäßige Wissen; denn ein anderes schien unmöglich. Allein die Welt ist hierbei nicht stehen geblieben. Nach langen, mancherorts fast bis in unsere Tage herabreichenden Kämpfen ist das Unmögliche möglich geworden, ist an den Universitäten neben der einen alten Autorität des Wissens eine zweite neue seßhaft und bis zu dem Grad mächtig geworden, daß, wenn man für die Zukunft von einer der beiden besorgt zu sein brauchte, eher an die der alten zu denken wäre. Nebenbei bemerkt braucht man nicht besorgt zu sein. Denn gleichwie der theologischen Fakultät klar ist, daß sie als Glied einer wissenschaftlichen Korporation rechtlich verpflichtet ist, allem Raum zu gönnen, was dieser Zweck mit sich bringt; wie sie Philosophie und Naturwissenschaften ohne Rücksicht auf deren Stand und Ergebnis als gleichberechtigt neben sich anerkennt, und in ihrem eigenen Fach nicht den Glauben an die Stelle des Wissens, sondern den Glauben zum Gegenstand des Wissens und Begreifens erhebt: so können andererseits auch die Philosophen und Naturforscher nicht übersehen, daß der Gottesglaube dem Menschentum wie die Sprache und das Recht angeboren sind und vielmehr mit Kunst abgestreift als mit Beweisen begründet werden muß, daß es kein würdigeres und für die Wissenschaft bedeutungsvolleres Objekt gibt als gerade ihn, daß das Vertrauen auf die eigenen Sinne und den bloßen Verstand auch ein Glaube ist, und also keine Fakultät voraussetzungslos, keine autoritätslos arbeitet, daß die Vervollkommnung der Mikroskope und der Scheidekunst zwar stets ein Neues, aber nicht das Letzte zeigt und also selbst von ihrem Standpunkt aus noch Raum bleibt für die Möglichkeit, daß nicht das Unbewußte der Schöpfer des Bewußten, nicht die Materie die Quelle der Idee ist.

Bis hierher sehen wir die Universitäten in zwei Phasen als Universalität; in erster waren sie die Universalität im Dogma, in zweiter sind sie es in und außerhalb des Dogmas. Aber von noch allgemeinerer Bedeutung als diese Krise zwischen der orthodoxen und der heterodoxen Wissenschaft scheint mir die zwischen den realistisch-materiellen und den humanistisch-ideellen Studien zu sein. Mögen die Universitäten Universalität auch in dieser dritten Phase sein und bleiben. Wenn jemals eine Neigung bestehen oder der Weg dazu angebahnt sein sollte, von jenen beiderlei Studien eines der Universität zu entfremden oder von ihr abzulösen, so wäre zu wünschen, daß dieser Weg, weil ein Abweg, verrammelt und jene Neigung im Keim erstickt würde.

Ich will nicht davon reden, daß mit einer solchen Trennung ein Institut, welches dem allumfassenden Wissensdrang der Vorfahren seinen Ursprung verdankt, und diesem mehr als irgendwo gerade in Deutschland treugeblieben ist, von seiner geschichtlichen Entwicklung abgedrängt würde; auch nicht davon, daß die äußere Trennung einer Legitimation der inneren gleichsähe, und die innere Einigung anstatt fördern erschweren würde; ich denke in diesem Augenblick nur an die studierende Jugend, der wir wünschen müssen, daß sie den Samen einer in Versöhnung von Geist und Materie wachsenden Wissenschaft in sich aufnimmt und - unsere Zukunft und Hoffnung, - in einer Werthaltung des Lebens selbst glücklich und andere beglückend heranreift.

Noch sind Sie, meine teuren Kommilitonen, gegen eine trübe, dem idealen Aufschwung der Kräfte entgegengesetzte Geistesrichtung durch den Sonnenschein der Jugend geschützt. Sie sind aber gegen dieselbe für alle Zukunft sich schützen in der Lage. In einem aristotelsischen Umfang zwar können nicht Alle universell werden; allein so weit, daß zumindest der Sinn und das Verständnis für das Ideale nicht weniger als für das Reale geweckt und gebildet wird, können es Alle. Daß Sie dies können und sollen, zeigt ihre Matrikel; denn diese hängt ordentlicherweise von einem Maturitätszeugtnis und dieses von der Absolvierung eines jener alten Gymnasien ab, an denen darum nicht bloß die alten Sprachen, Geschichte und Religion, sondern auch Mathematik, und darum nicht bloß Mathematik, sondern auch die alten Sprachen usw. gelernt werden, weil sie von altersher die Vorstufe der Universalität sind, weil der Universitätsstudierende nicht exklusiv bloß humanistische, sondern auch realistische und nicht bloß realistische, sondern auch humanistische Disziplinen studieren, und also den Schlüssel zu beiden Schatzkammern des Wissens haben soll. Gegen eine Zersplitterung haben Sie ein Korrektiv in der an die Meisten mit gebieterischer Notwendigkeit herantretenden Fach- und Berufswahl; außerdem aber dürfte sich eine gewisse Gegensätzlichkeit der Studien oder der Grundsatz empfehlen, daß ein jeder sich in dem seinem Berufsfach entlegensten Gebiet heimisch zu machen trachtet; daß also der Theologe, Jurist, Historiker, Philologe in irgendeinem Zweig der Naturwissenschaften die Mächte der Natur kennen lernt, um aus ihren unabweichlichen Gesetzen die Vorstellung eines Wesenhaften, Stetigen, Ewigen zu befestigen und dieses im eigenen Fach, inmitten der Willküren, Veränderlichkeiten und Anomalien, die den Produkten des Menschentums anhängen, suchen, finden und festhalten zu können; daß umgekehrt aber auch die Mathematiker, Chemiker, Physiker, Mediziner mit der Geschichte der Menschheit, ihrer Religion, Philosophie, Sprache, ihrer Sitte und ihrem Recht in Verbindung bleiben, um nicht zu vergessen, vielmehr fortschreitend zu lernen, daß die Materie und das Gesetz nicht alles ist, daß entgegen der in der Natur waltenden Notwendigkeit im Menschentum eine Freiheit zur Entfaltung kommt, die zwar einerseits die Quelle von Unregelmäßigkeiten und Verbrechen, andererseits aber die Schöpferin eines neuen Gesetzes, der Sitte und des Rechts, die Urheberin einer zweiten, von unserer Kunst erbauten und von unserer Wissenschaft erfüllten Welt ist; daß diese Freiheit nicht nur von der Materie und deren Gesetz verschieden, sondern auch in einem steten Kampf mit derselben begriffen ist, und nur im Kampf mit ihr und im Sieg über sie die Menschheit erzogen und Staaten gegründet hat. Unser Bestes, unser Alles ist ein Sieg der Freiheit über die Materie. War aber Freiheit notwendig, um diese zweite Welt zu gründen, so wird auch die erste nicht ohne einen Faktor zu denken sein, der im Kampf mit der finsteren Notwendigkeit dieses Licht schuf und alles worin wir atmen und leben, ohne selbst dieses Licht oder dieses sterbliche Menschenleben zu sein.

Ich schließe mit dem Wunsch, daß die akademische Freiheit an der Ludovica-Maximilianea auch im begonnenen Jahr sich in uns allen bewähren mag als das, was die kosmische Freiheit in der Natur und in der Menschenwelt war: streitbar und siegreich gegen die Materie - lichtzeugend und früchtetreibend - weitherzig und einträchtig.
LITERATUR: Alois von Brinz, Über Universalität [Rede gehalten beim Antritt des Rektorates der Ludwig-Maximilians-Universität gehalten am 25. November 1876], München 1876