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CARL PRANTL
Antisthenes
"... und so konnte auch Antisthenes dem Idealismus Platos dies entgegenhalten, daß er ja da, wo Plato z. B. die Idee eines Pferdes sehe, eben nur ein Pferd finden könne."

SOKRATES dringt überall und unablässig auf den Begriff, aber in einer dem Wesen des Menschen absolut adäquaten Weise, d. h. völlig richtig von der Selbsterkenntnis des menschlichen Erkennens ausgehend will er weder den Wissensbegriff ohne die Vielheit der Erscheinung, noch die empirische Mannigfaltigkeit ohne intelligible Einheit zulassen, sondern er beabsichtigt durch die von ihm aufgestellte Forderung ein In-Eins-Bilden beider Momente oder mit anderen Worten, das sokratische Prinzip enthält zugleich in innigster Durchdringung den apriorischen Begriff und die aposteriorische Induktion; dessen aber war sich eben auch ARISTOTELES klar bewußt, daß dem SOKRATES dieses Verdienst gebühre. Aber nicht bloß als Mittel zum Zweck etwa war nach des SOKRATES Ansicht die Induktion zur Bestimmung des allgemeinen Begriffs dienstbar und nicht etwa glaubte er auf dem Wege des trivialen Empirismus zum Allgemeinen aufsteigen zu können, sondern während er an das scheinbar Geringfügigste anknüpft und ihm nichts zu gering für begriffliche Fassung ist, stellt er überall die Frage um den Begriff in eeiner Weise an die Spitze, daß in der dialektischen Untersuchung zugleich von der höheren Allgemeinheit abwärts gearbeitet werden muß; d. h. SOKRATES scheint wohl von der richtigen Überzeugung durchdrungen gewesen zu sein, daß für den Menschen und für das menschliche Erkennen als menschliche es weder ein schlechthin vereinzelt Empirisches noch eine schlechthin abstrakt allgemeine Einheit des Idealen gibt, sondern daß das menschliche Erkennen alles Empirische augenblicklich unter allgemeiner Form ergreift und ebenso augenblicklich alles Ideale in empirischem Ausdruck ausspricht. Dies aber ist das Erkenntnis-Prinzip des Anthropologismus.

Aber SOKRATES war eben nur von diesem Prinzip belebt und durchdrungen und mehr hat eigentlich die Geschichte der Logik von ihm nicht zu berichten. Den Prozeß der Denkoperationen, in welchen das so beschaffene menschliche Erkennen sich notwendig entfalten muß, untersuchte SOKRATES noch nicht, er hatte nur vermöge seiner genialen Begabung für jede konkrete Anwendung seines Erkenntnis-Prinzips die persönliche Fertigkeit und Gewandtheit; d. h. er war im vollsten Sinne des Wortes eine pädagogische Persönlichkeit und jeder, mit welchem er sprach und welchen er hierdurch gleichsam zum Zögling im Gebiete des Erkennens machte, mußte von selbst die ganze sogenannte Lehre vom Urteil, Begriff und Schluß praktisch durchlaufen, ohne daß über diese Formen als Formen wäre reflektiert worden; gerade überall aber war e die ideale Seite des menschlichen Erkennens, vermittels deren SOKRATES stets das Allgemeine festhielt und es verstand, jede Partikularisierung abzuweisen; so daß er auf dem Gebiet der Denkoperationen eben jenes übte, was das erziehende Individuum an dem zu erziehenden Individum in allen Beziehungen zu üben hat.

Mit so extensiv wenig Worten wir hiermit den SOKRATES in der Geschichte der Logik zu erwähnen haben, da in ihm eben nur die Realpotenz aller philosophischen Logik vorliegt, ebenso intensiv mächtig war die Nachwirkung dieses umfassenden Keimes in der platonischen Dialektik und aristotelischen Philosophie.

Daß aber SOKRATES von seinen Zeitgenossen und selbst seinen Schülern teils gar nicht teils nur einseitig verstanden wurde, ist bei der ganzen Art und Weise der Griechen leicht erklärlich. Und während die Kyrenaiker fast ausschließlich nur die subjektive Praxis des individuell Annehmlichen hervorhoben und hierbei Sokratiker zu sein glaubten, zogen die Antisthener das Motiv des Wissens in der von ihnen gleichfalls nur praktisch verstandenen Lehre des SOKRATES bereits wieder in einen rhetorischen Doktrinarismus hinüber; die Megariker aber, welche sich allein auf die sokratischen Auffassungen des Wissens und Erkennens warfen, fielen mit denselben gänzlich in die Verranntheit der Abstraktion der Eleaten und in den bodenlosen Formalismus der rhetorischen Sophistik zurück. Nur PLATO erfaßte das Erkenntnis-Prinzip des SOKRATES wenigstens in einer Weise, daß er den Durchgangspunkt von diesem zu ARISTOTELES hinüber bilden konnte.

ARISTIPPUS und überhaupt die  Kyrenaiker  hatten von SOKRATES nichts anderes gelernt, als daß sie die Befriedigung des Subjektes mit Konsequenz und mit völlig bewußter Absicht im Genuß der objektiven Welt suchten; die Logik konnte in der Entwicklung ihrer Ansichten keine Stelle finden, sondern die unmittelbare sinnliche Wahrnehmung war ihnen von selbst ein dialektisch nicht weiter zu erörternder Ausgangspunkt und höchstens konnte im Dienst einer derartigen sensualistischen Ethik eben dies hervorgehoben werden, daß alles nur durch die Sinne seine Beglaubigung finde und daß demgegenüber dem subjektiven Eindruck nur die Namensbezeichnung des wahrgenommenen Objekt eine gemeinschaftliche sei.

Auch ANTISTHENES muß bei seinem früheren Lehrer GORGIAS jeden Sinn für eine tiefere spekulative Auffassung so weit verloren haben, daß er in seinem späteren Umgang mit SOKRATES trotz aller Lobeserhebungen desselben nur die gröblichste Verdrehung des sokratischen Prinzipes als Frucht des genossenen Unterrichts davontrug. Selbst schon die Titel seiner auf Logik bezüglichen Schriften haben das Gepräge der sophistischen Manier an sich und die Polemik gegen die idealistische Erkenntnislehre PLATOs trat mit aller Schärfe hervor und vereinigte sich schon in der Wahl des Titels mit jenem pöbelhaften Kynismus, welcher den Antistheneern überhaupt eigen ist. - Man kann wahrlich sagen, daß ANTISTHENES mit dem begrifflichen Erkennen, welches SOKRATES in der tiefsten Weise gefordert hatte, diesem seinem zweiten Lehrer davonlief und in demselben nur die Bestätigung und Stütze der unphilosophischen Ansichten seines ersten Lehrers erblickte. ANTISTHENES isoliert nämlich das begriffliche Erkennen mit der einseitigsten sprachlichen Abstraktion in die zersplittertste Partikularität des Einzelnen, indem er annimmt, es könne nur der einfach vereinzelte Begriff, als der eigentümliche logische Ausdruck eines jeden einzelnen Dinges ausgesprochen werden und es sei eine Mehrheit von Prädikaten, welche an das Ding in der Sprache herangebracht würden, eine Störung jener abstrakten begrifflichen Einheit. Hierdurch aber mußte notwendig aus dem Standpunkt einer solchen Vereinzelung sich eine Opposition gegen jedes definitorische Wissen erheben, welches durch den Reichtum der wesentlichen Prädikate einen Begriff zu erschöpfen und abzugrenzen strebt und folgerichtig wurde nun auch in der Tat der Ausspruch getan, daß das Aufstellen einer Definition unmöglich sei, denn das eine Definition aussprechende Urteil sei eben ein Zusammengesetztes, welches der schlichten Einfachheit des Dinges widerspreche und so könne wohl auch bei einer zusammengesetzten Wesenheit in einer sogenannten Definition eben die Zusammensetzung derselben ausgesprochen werden, hingegen die einfache Wesenheit müsse einfach bleiben und hier sei dann der logische Ausdruck des ihr Eigentümlichen eben bare einzelne Namensbezeichnung, nicht aber jenes, was man gewöhnlich Definition nenne. In diesem Sinne konnte dann ANTISTHENES wohl sagen, der Begriff sei es, welcher das innere Wesen des Dinges ausspreche, d. h. mit dieser Art der Leugnung des Definierens stehen wir auf dem dürrsten Nominalismus, welcher seinerseits nur an den gröbsten Empirismus appellieren kann, um die mit dem Sprachausdruck bezeichneten Objekte zur erreichen und so konnte auch ANTISTHENES dem Idealismus PLATOs - wahrlich nicht in aristotelischer Weise - dies entgegenhalten, daß er ja da, wo PLATO z. B. die Idee eines Pferdes sehe, eben nur ein Pferd finden könne. Übrigens werden wird diese nämliche Vermischung des Nominalismus und Empirismus in reichstem Maße bei den Stoikern wiederfinden, welche überhaupt an diesen ganzen neben-platonischen und neben-aristotelischen Standpunkt der kynischen und megarischen Logik wieder anknüpfen. - Man sieht aber auch sogleich ein, daß mit jener abstrakten Isolierung des Begriffes die Existenz oder das Verständnis des Urteiles auf das höchste gefährdet ist und in diesen Sinn hat ein anderer, häufig im Altertum angeführter Ausspruch des ANTISTHENES, nämlich: man könne sich nicht widersprechen, da ja der eigentümliche logische Ausdruck eines jeden Dinges nur einer sei und daher, wenn zwei Personen über den nämlichen Gegenstand sprechen, sie nur das Nämliche sagen können oder falls sie nicht das Nämliche sagen, sie eben nicht über den nämlichen Gegenstand sprechen, sich also auch nicht widersprechen. Ein närrischer Einfall wäre es, wenn man dem ANTISTHENES es zum Verdienst anrechnen wollte, daß er hiermit ausschließlich nur das identische Urteil "A = A" bestehen läßt. Eine weitere Begründung oder Ausführung einer Logik war auf solcher Basis natürlich nicht möglich und wir sehen, daß ANTISTHENES im Umgang mit SOKRATES nichts gelernt und nichts vergessen hat.
LITERATUR - Carl Prantl, Geschichte der Logik im Abendlande, Bd. 1, Leipzig 1855