Carl Prantl Julius DubocAnny AngelH. Höffding | |||
Der soziale Optimismus [2/2]
I. Der soziale Optimismus [Fortsetzung] Wie anders das Weltbild unserer heutigen Energetiker. Hier hat der junge FICHTE, den KANTs Freiheitslehre aus den Banden des spinozistischen Determinismus erlöst hat, das programmatische Wort gesprochen. "Jetzt sehe ich erst ein, daß die Erde nicht das Land des Genusses, sondern der Arbeit ist." Der Begriff Arbeit erfährt seit FICHTE eine durchgreifende Umwertung. Den Griechen war "Arbeit" zu schlecht für den Vollbürger, für FICHTE ist Arbeit gut genug für die sittliche Weltordnung (ordo ordinans), für Gott. FICHTE projizierte damit seine eigene titanische Arbeitskraft von seinem Ich auf das Welten-Ich: die Substanz. FICHTE vollzog damit nur jenen philosophischen Anthropomorphismus, dem SCHILLER schon die poetische Fassung gegeben hat: "In seinen Göttern malt sich der Mensch." Das gilt doppelt und dreifach vom Philosophen. Die gewaltige Kraftnatur, der impulsive Willensmensch FICHTE, verlegte genau so sein Naturell ins Universum und schuf damit den energetisch-ethischen Pantheismus, wie der kraftgeniale Phantasiemensch SCHELLING einen physikalisch-ästhetischen und der begriffsgeniale Verstandesmensch HEGEL den logisch-dialektischen Pantheismus ins Dasein rief. Wie nach biblischer Vorstellung Gott den Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen hat, so haben die Philosophen - in philosophiegeschichtlicher Beleuchtung gesehen - ihre Gottesbegriffe nach dem Ebenbild ihrer eigenen Persönlichkeit geschaffen. Jenes energetische Weltbild, das durch MACH und OSTWALD an der Schwelle des zwanzigsten Jahrhunderts die Gebildeten aller Stände, vor allem aber die naturforschenden Kreise zu ergreifen und den Materialismus völlig zu verdrängen beginnt, knüpft - gewollt oder ungewollt - an die große Tradition der philosopischen Klassik an. In Wirklichkeit ist die Verbindung zwischen der Naturphilosophie des 20. Jahrhunderts mit der des 19. Jahrhunderts geschichtlich nachweisbar. FECHNER und KARL ERNST von BAER sind die letzten Ausläufer der SCHELLINGschen Naturphilosophie, deren Nachwirkungen in unser eigenes Zeitalter hineinragen. OSTWALD selbst läßt SCHELLING volle Gerechtigkeit widerfahren. Von SCHELLING stammt dann auch der Gedanke von der Erfahrung der Kraft, wie folgende Erwägung dartut. Im Prioritätenstreit zwischen JOULE und ROBERT MAYER über das Gesetz der Erhaltung der Kraft machte der dänische Ingenieur A. COLDING seine Prioritätsansprüche, die auf das Jahr 1843 zurückgingen, geltend (HELM, Energetik, Seite 129). COLDING betont, er haben den Erhaltungsgedanken schon von OERSTED übernommen. OERSTED aber hatte ihn von SCHELLING. Damit wäre die geschichtliche Verbindungsbrücke von der Naturphilosophie der Gegenwart zu der SCHELLINGs geschlagen. Aber nicht in SCHELLING sehen wir den eigentlichen Energetiker, sondern schon in FICHTE. Und es scheint ein Akt der historischen Gerechtigkeit zu sein, wenn ich fordere, daß sich die heutige Energetik ernstlich darauf besinnt, daß FICHTEs "Philosophie der Arbeit" das energetische Weltbild einläutet. Ohne jene Umwertung des Begriffs "Arbeit", den wir FICHTE verdanken, wäre die Anwendung und Übertragung des Arbeitsbegriffs auf die Substanz nicht so mühelos vor sich gegangen. Das Weltbild FICHTEs beginnt nicht mit einer Behauptung. sondern mit einer Handlung, einer Tat. Die ursprünglichste Tat für den Menschen ist der Akt seines Selbstbewußtseins. Aus dieser "Tathandlung" wird nachher das Universum als ein System notwendiger Handlungen der Intelligenz abgeleitet. Alles Sein (Materie) ist für FICHTE nur Produkt des ursprünglichen Tuns (der Kraft). Den Ding-Begriff hat FICHTE - nach dem Vorgang von BERKELEY und HUME - zertrümmert. Körper und Atome sind für ihn keine Wirklichkeiten, sondern, wie für LEIBNIZ und KANT, nur ein Produkt von Kräften, d. h. Produkt von Masse und Geschwindigkeit (mv oder mv2). FICHTE stellt den ersten energetischen Satz auf: Was wir Dinge nennen, sind nur Produkte von Tätigkeiten, anders ausgedrückt: das Sein ist ein Produkt des Tuns. Die Welt als "Tat" - das ist das naturphilosophische Stichwort unseres Zeitalters. Der Kieler Botaniker J. REINKE hat in seinem Werk "Die Welt als Tat" (3. Auflage, 1904), sowie in seiner "Einleitung in die theoretische Biologie" (ebd.) die FICHTEsche Fassung der Energetik unserem Zeitalter nahe gebracht. REINKE selbst steht freilich dem transzendentalen Realismus durch EDUARD von HARTMANNs näher als FICHTE, wie er in seiner Abhandlung über KANTs Erkenntnislehre und die moderne Biologie (Juniheft 1904, Deutsche Rundschau) dartut. Das liegt indessen nur daran, daß ihm HARTMANN und KANT geläufiger sind als FICHTE. Ein Vergleich seiner Dominanten-Lehre mit FICHTEs Theorie des Conatus dürfte ihn davon überzeugen, daß FICHTE zu den intellektuellen Vorfahren seiner Weltanschauung gehört. Seit GALILEI und HOBBES spielt dieser Conatus oder impetus als Schaffensdrang, Tätigkeitstrieb, Gestaltungsrichtung in der sich ausbauenden Energetik eine große Rolle; LEIBNIZ' Monade, welche der Energetik die kräftigsten Impulse lieh, kennt diesen "Drang" als "tendences". Bei FICHTE nimmt der Conatus jene Biegung an, welche REINKE seinen "Dominanten" gegeben hat, - die immanente Entwicklungsrichtung. Das Wesen der Substanz ist eben die Unendlichkeit der Kraft. Jede Kraft bedarf zu ihrer Betätigung der Widerstände. Also gehören die Widerstände in der Natur wie die Widersprüche im Denken zum unabtrennbaren Wesen des Entwicklungsprozesses. Und wieder hat der alte HERAKLIT das erlösende Wort gesprochen: der Kampf ist der Vater und der König aller Dinge. Diese ewige Kampf nimmt bei FICHTE die Form des gegenseitigen Einschränkens und Begrenzens von Ich und Nicht-Ich, von Natur und Geist. Bei SCHELLING äußert sich diese coincidentia oppositorum [Zusammenfall der Gegensätze - wp] in der Gegensätzlichkeit aller Naturerscheinung in Polarität und Dualität, als positiver und negativer Pol usw. Bei HEGEL endlich, der den ganzen Weltprozeß logisiert und rationalisiert, kommt dieser Kampf als logischer Widerspruch des Begriffs zum Vorschein. Von hier führt eine gerade Linie zur Soziologie von MARX. Sein Dogma vom "Klassenkampf" als Vater aller sozialen Bewegungen ist nur eine spezielle Anwendung jener Widerspruchslogik nach dialektischer Methode, welche HEGEL aus HERAKLIT herausgelesen oder richtiger in ihn hineingelesen hat. Endlich ist der Darwinismus nur eine biologische Abschattung desselben heraklitischen Gedankens. Die heraklitische Formel verwandelt sich bei HOBBES in den Krieg Aller gegen Alle (bellum omnim contra omnes). Von HOBBES übernimmt der Nationalökonom MALTHUS die heraklitische Fassung, und von MALTHUS hat DARWIN die Formel vom Kampf ums Dasein eingestandenermaßen akzeptiert. Diese Kampfesformel verwandelt sich in der modernen Energetik in die Äquivalenzformel, welche nicht nur im Rahmen der Biologie Geltung beansprucht, wie das DARWINsche "struggle for life", sondern übergreifende Bedeutung fürs Universum gewinnt. Und diese Kampfesformel ist eine mächtige Stütze der optimistischen Weltbetrachtung. Denn der Kampf ist nicht Selbstzweck, sondern nur Mittel. Kämpfe sind, so hatte schon FICHTE gesehen, im Haushalt des Universums nötig; sie gehören wie zum Entwicklugnsgesetz der Natur, so zum Erziehungsplan des Menschengeschlechts. Hier bricht der Primat der praktischen Vernunft, den KANT schon eingeführt hatte, mächtig in die Energetik hinein. Das Ich ist theoretisch, um praktisch sein zu können, lehrt FICHTE. Der Mensch ist Intelligenz nur, um Wille sein zu können. Die Natur hat Sinn nur als versinnlichtes Material der Pflicht. Unsere Welt ist kein Sein, sondern nur ein Sollen, keine ewige Ruhe, sondern unendliche Bewegung, keine fertige Schablone, sondern eine unaufhörliche Aufgabe. Die Welt ist uns nicht gegeben, sondern aufgegeben! Hier liegen die Wurzelfasern des modernen d. h. energetischen Optimismus. Sieht man das Weltbild unter dem Gesichtswinkel des ewigen Werdens, des unendliche Prozesses, der ununterbrochenen Energieentfaltung an, so liegt für jeden einzelnen von uns ein Conatus, ein ungewöhnlicher Anreiz darin, am Werk des werdenden Gottes mitzuarbeiten. Mache dich frei; handle autonom; werde selbständig; erfülle stets deine Pflicht; richte dich in allen Lebenslagen nach deinem Gewissen; handle stets nach deiner Bestimmung, so ungefähr lauten die sittlichen Forderungen FICHTEs. Ringen, kämpfen, Ziele setzen, Aufgaben bewältigen, Widerstände errichten, aber nicht um schlaff und tatenlos die Hände in den Schoß fallen zu lassen, sobald das vorläufige Ziel errungen ist! Jene Trägheit, von welcher die Naturvölker heute noch allzumal befallen sind, ist in den Augen des energetischen Optimismus ein peccatum originale - die Erbsünde! So wenig das Universum jemals pausiert, in seinem Conatus, seiner Gestaltungsfülle und Schaffenskraft nachläßt, ebensowenig soll der Mensch auf dem faulen Ruhekissen des raschverwelkenden Lorbeers schlaff dahinträumen. Jede Aufgabe soll nur Staffel sein, von der man die nächsthöhere anstrebt, sobald diese erstiegen ist. Haben träge, morbide, degenerierende Völker ihre Gottesbegriffe nach ihrem eigenen Ebenbild passiv gestaltet und ihnen Ruhe, Starrheit, Unbeweglichkeit angedichtet - Nirwana, Sein, Materie - so werden sie der weltgeschichtlichen Nemesis [Gerechtigkeit - wp] für einen solchen seelischen Sündenfall nicht entrinnen. Da sie ihre Trägheitsideale auf ihre Götter übertrugen, um sich hinterher ihren Hang zur entnervenden Schlaffheit und beschaulichen Untätigkeit rechtfertigen und sanktionieren zu lassen, so werden sie mit der Zeit unfehlbar verkümmern, zerfallen, bis eine energische Barbarenhorde, die mit aktiven, willensmächtigen Impulsen genährt ist, über sie kommt und das morsche, mürbe Gebein achtlos mit Füßen tritt. Dann sollen die Götter an ihrem Untergang schuld sein. Die fast- und marklose Sippe übersieht dabei nur, daß sie es war, die ihren Göttern jene Eigenschaften gelieen, sich selbst also in ihnen vergöttlicht hat, um sich die eigene Trägheit durch eine erdichtete höhere Instanz legitimieren zu lassen. Die moderne Energetik warnt uns vor einem solchen "Faulbett des Absoluten" (HELM). Es existiert kein Absolutes, sagt der Energetiker HELM: nur Beziehungen sind unserer Erkenntnis zugänglich. Auch die Energie ist ihm daher kein Absolutes, sondern nur der zurzeit schlagendste Ausdruck quantitativer Beziehungen zwischen den Naturerscheinungen. Energetik ist daher reines "Beziehungstum" (vgl. dazu meinen "Sinn des Daseins", 1904, Seite 128f über das beziehliche Denken). Wenn Veränderungen eintreten, interpretiert HELM das ROBERT MAYERsche Energiegesetz "so besteht zwischen ihnen diese bestimmte mathematische Beziehung - das ist die Formel der Energetik, und gewiß ist das auch die einzige Formel aller wahren Naturerkenntnis. Was darüber hinausgeht, ist Fiktion." Nach der Energetik ist jeder Körper ein "dynamisches System" (HELM). CLAUSIUS stellte 1865 die Formeln auf: "die Energie der Welt ist konstant. Die Entropie der Welt strebt einem Maximum zu". Vom Energiegesetz, das wir ROBERT MAYER, HELMHOLTZ, JOULE und COLDING verdanken, unterscheidet HELM noch das Energieprinzip. Auch in der Energetik hat der Conatus, von welchem bereits die Rede war, seine feste Stellung. Abgesehen vom CLAUSIUSschen Satz, nach welchem die Entropie der Welt einem Maximum zustrebt, stellt HELM die Formel die Formel des Conatus auf: Jede Energieformel der Energetik wie folgt gegeben: "Das allgemeine Streben (=Conatus) in der Natur tendiert zur Zerstreuung (dissipation) der mechanischen Energie." Aus chronologischen Gründen ließe sich eine Abhängigkeit der bekannten HERBERT SPENCERschen Formel von der THOMSONschen sehr wohl rechtfertigen. Eine eventuelle Leugnung SPENCERs von einer Einwirkung THOMSONs käme als Gegeninstanz nicht in Betracht, da SPENCER alle Einflüsse wegwischen möchte. Die große Frage der "Gesetzeseinheit" im Naturganzen läßt eine energetische Lösung zu, welche der mechanisch-materialistischen Weltanschauung verschlossen ist. Die einzelnen Naturgesetze, die wir erkannt haben, müssen nach der materialistischen Welterklärung einem wirren Haufen gleichen, der sich zufällig zusammengefunden hat, wie etwa die zehn Kategorien bei ARISTOTELES nach der Interpretation KANTs. Aber ebensowenig wie sich die Kategorien im menschlichen Verstand willkürlich und zusammenhanglos nebeneinander gelagert haben, sondern aufs engste miteinander verwachsen sind, ja auseinander hervorgehen, genauso verhält es sich mit den Naturgesetzen oder Kategorien der Natur. Wie die Denkformen im menschlichen Gehirn gesetzmäßig zusammenhängen, so die einzelnen Naturgesetze extra mentem [aus dem Sinn - wp]. Nimmt man freilich mit KANT (Prolegomena § 37) an "der Verstand legt die Gesetze in die Natur hinein", oder "der Verstand schöpft seine Gesetze in die Natur hinein", oder "der Verstand schöpft seine Gesetze nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor", dann ist die Gesetzeseinheit der Natur kein Problem mehr. Denn nach KANT leihen wir unsere Einheit der naturgesetzlichen Einheit. Da nach ihm der Verstand der Ursprung aller Ordnung in der Natur ist, d. h. a priori gesetzgebend, so ist die Gesetzeseinheit der Natur nur eine hinausprojizierte Verdoppelung unserer eigenen Einheit. Die Biologen weigern sich indessen, dieses Kantische a priori bei aller Verehrung für KANT hinzunehmen. Selbst REINKE, der ein biologisches a priori, wie ich es im "Sinn des Daseins" und der "Wende des Jahrhunderts" etwa vertrete, gar wohl gelten läßt, entschlüpft das schroffe Wort, KANTs Fassung des a priori, nach welcher wir der Natur die Gesetze vorschreiben, nicht umgekehrt aus der Natur ablesen sollten, sei für ihn ein absurder Gedanke. OSTWALD vollends gibt alles a priori preis. Auch die nach KANT a priori gegebenen Formen der Erfahrung und der Erkenntnis stellen sich uns dar als durch Übertragung von Generation zu Generation festgelegte, durch Zweckmäßigkeit gesicherte Normen oder Regeln, nach denen wir unsere Erfahrung zu ordnen pflegen (Annalen der Naturphilosophie I, Seite 52) Für die Trias: FICHTE, SCHELLING und HEGEL war die Gesetzeseinheit noch leichter zu lösen als für KANT, dessen Spaltung des Universums in eine phänomenale und eine noumenale Welt die Ableitung dieser Gesetzeseinheit erschwerte, so daß de Kantische Kategorientafel zur Crux seiner Philosophie wurde. Seine Nachfolger waren ja Pantheisten, huldigten der Identitätshypothes, und so konnten sie die gewünschte Gesetzeseinheit der Natur in die vorweltliche Identität von Subjekt-Objekt rückwärtsprojizieren. Die Gesetzeseinheit der Natur wurde zur Zweckeinheit des Weltbewußtseins, heiße dieses nun: Ich mit FICHTE, Weltseele mit SCHELLING, endlich Logis mit HEGEL. Das Problem der Gesetzeseinheit erfährt hier eine grundsätzlich teleologische Lösung - und damit ist die Einheit erklärt. Anders beim Materialismus. Dieser lehnt alle Teleologie und Finalität konsequent ab. Während der deutsche Idealismus zwischen den Kategorien des Verstandes und den Naturgesetzen oder Kategorien der Natur entweder strengen Parallelismus oder direkt Identität walten läßt, fällt dieser Ausweg für den Materialismus fort, und daran scheitert er als Weltanschauung. Auf der einen Seite kann auch der Materialismus nicht leugnen, daß Gesetzeseinheit in der Natur existiert, auf der anderen aber ist es ihm unmöglich, einen zureichenden Erklärungsgrund für diese Einheit im Rahmen seiner Weltanschauung ausfindig zu machen. er muß die Tatsache der Gesetzeseinheit der Natur zugeben, ist aber außerstande, ihre Ursache anzugeben. Hier greift nun die Energetik helfend, ergänzend, verbessernd ein. KURT LASSWITZ, der Historiker der Atomistik, hat die philosophischen Schlußfolgerungen der Energetik treffend gezogen. Die erkenntnistheoretische Überlegenheit der Energetik gegenüber dem Materialismus beruth, nach LASSWITZ, darauf, daß "der Begriff der Materie in der Energetik den Sinn einer Funktion der Energie gewinnt" (Philosophische Monatshefte, 1893, Seite 13) "denn der Hauptpunkt der Frage ist immer der, wie die Natur sich als Größe im Raum objektivieren läßt, ohne die Beziehung auf die Einheit der Bestimmung ein Subjekt zu verlieren, d. h. wie Mechanismus möglich ist, ohne daß die Verbindung mit dem subjektiven Faktor vollständig verloren geht. Die mechanische Physik zerreißt scheinbar dieses Band durch Einführung der Masse als Grundlage des Geschehens vollständig, während die Energetik die Auffassung erleichtert, daß es die Einheit des Gesetzes ist, welche ebenso das körperliche Geschehen, die Einheit des Objekts, wie die Einheit des Subjekts bedingt" (ebd. Seite 181 und 182). Die eminente Überlegenheit der Energetik in der Herstellung nicht nur, sondern auch in der logischen Ableitung und Rechtfertigung der Gesetzeseinheit in der Natur springt in die Augen. Empfindungsveränderungen für Energieaustausch zu erklären, wird niemand Anstoß nehmen, wohl aber wird man die materialistische Deutung des psychophysischen Geschehens als Massen- oder Volumenänderung vielfach ablehnen. Der psychophysische Parallelismus erhält von Seiten der Energetik dankenswerten Zuzug und erwünschte Bereicherung. LASSWITZ gelangt zur Forml: "Ich nehme eine Veränderung des Potentials der psychophysischen Energie als das Korrelat der psychologischen Empfindung in Anspruch." (Archiv für systematische Philosophie, 1895, Seite 51). Der universal Optimismus saugt aus der energetischen Weltdeutung neue Säfte. Es ist kein purer Zufall, daß LEIBNIZ, der Stammvater der Energetik, zugleich Begründer des universalen Optimismus als Weltanschauung ist. In der energetischen Weltdeutung liegt eine Handhabe für eine optimistische Wertung des Daseins. Denn die Energetik besagt: das Universum befindet sich im ruhelosen Werden, im ewigen Aufstieg, im unablässigen Fortschritt. Jedes evolutionistische System ist daher notgedrungen optimistisch. Entweder ist die Welt mit den Neuplatonikern ein Abstieg vom Vollkommenen zum Unvollkommenem, ein Abfall von der Reinheit und Fleckenlosigkeit des Urdaseins zur Sündhaftigkeit und Verfehlung des Naturzustandes, und dann entsteht jenes pessimistische Weltbild, das während des Mittelalters das Leben verdüsterte, alles Streben vergällte, alle Zuversicht in die eigene Kraft lähmte, dafür aber eine pessimistische Optim ins Dasein rief. Anstelle kraftstrotzenden Lebens, tatenfreudiger Erhebung, jugendfrischer Initiative und energiebelebter Unternehmungslust, trat ein flaches Heiligkeitsideal, eine blutleere Jenseitssehnsucht, ein hypchondrischer Ekel an aller Leiblichkeit, ein hypnotisches Hinstieren auf welke Paradiesfreuden. Geht der Weg "nach unten", ist Gott selbst dekadent, die Substanz in hoffnungsloser Auflösung und Zersetzung begriffen: was bleibt da für den Menschen übrig? Ein melancholischer Gott wird immer ein entartetes Geschlecht zeitigen. Anders die Energetiker und Evolutionisten. Ihr Weg geht seit HERAKLIT nicht nach unten, sondern nach oben. Das Leben ist nicht etwa, was überwunden werden muß, sondern das einzige in der Welt, was Sinn und Wert hat. Für die Energetiker FICHTE und SCHELLING, die wir als Inspiratoren der heutigen Energetik erwiesen zu haben glauben, sind Gott, Welt und Leben ein und dasselbe. Das Universum lebt. Die Natur ist nur erstorbenes, schlafendes, embryonales Leben. Alles Tote und Starre, alles Mechanische und Materielle ist ein Austausch von Kräften. "Einzig die Energie," sagt OSTWALD (Naturphilosophie, Seite 152) "findet sich ohne Ausnahme in allen bekannten Naturerscheinungen wieder, alle Naturerscheinungen lassen sich in den Begriff der Energie einordnen. Alles,w as wir von der Außenwelt wissen, kennen wir in der Gestalt von Aussagen über vorhandene Energie." Auch die energetische "Naturphilosophie" OSTWALDs mündet in ein optimistisches Bekenntnis: "Mit der Breite der Grundlage nimmt auch die Sicherheit des Bestandes des persönlichen Glücks zu und so kann der Mensch auf keine Weise besser für sich selbst sorgen, als indem er in möglichst weitem Umfang für andere sorgt." Aus mündlichen Mitteilungen OSTWALDs ist mir zudem bekannt, daß dieser Führer der Energetiker sich mit einer Theorie des Glücks trägt, welche dem energetischen Optimismus feste Stützen leihen dürfte. Wie ich die energetische Weltauffassung für den Optimismus nutzbar zu machen suche, ist in meinem "Sinn des Daseins" dargelegt. Daß die Energetik so gut wie jede Weltauffassung anthropomorphisierend verfährt, wird von mir nicht nur nicht bestritten, sondern nachdrücklich betont (Seite 20): "Verdoppelungen unseres Ich und ein objektivierendes Gegenüberstellen dieser von uns vollzogenen Verdoppelung als Ideal oder Musterbild vollziehen natürlich auch wir, nur verdoppeln wir nicht die passiven, sondern die aktiven Züge des Menschen, nicht Trägheit und Ruhe, sondern Kraft und Energie ... Wir Heutigen, die wir den Sinn des Daseins anhand der Wissenschaft zu enträtseln gelernt haben, substanzialisieren das Tun, die Kraft, die Energie - die Arbeit." Der Kantische Primat der praktischen vor der theoretischen Vernunft, FICHTEs Tun um des Tuns willen, SCHOPENHAUERs exzessiver und WUNDTs gemilderter Voluntarismus haben der Energetik tüchtig vorgebaut, nachdem MALEBRANCHE und LEIBNIZ die Ansätze dazu gegeben haben. Läßt man den philosophiegeschichtlichen Blick ins Mittelalter zurückschweifen, so entdeckt man einen sattelfesten Energetiker am Ausgang des 13. Jahrhunderts in DUNS SCOTUS, dessen Fundamentalsatz: voluntas est superior intellectu [Der Wille ist dem Verstand vorgeordnet - wp] den Hauptgedanken des Voluntarismus vorausnimmt. Nur verhält sich der Voluntarismus zur Energetik ähnlich wie die Alchemie zur Chemie. OSTWALD und MAC sind durch die harte Schule der Naturwissenschaft hindurch gegangen; sie haben schaffend und gestaltend, teilweise sogar umgestaltend in den Gang des Naturwissens eingegriffen, während SCHOPENHAUER in diesen Fächern nur zu Gast saß. Seine Abhandlung über den "Willen in der Natur" schmeckt bedenklich nach Dilettantismus. Sein Voluntarismus gehört freilich unter die Vorläufer der Energetik, aber in keinem anderen Sinn wie die Astrologie eine Vorläuferin der Astronomie ist. In SCHOPENHAUERs voluntaristischer Metaphysik herrscht das mystische, in MACH-OSTWALDs Energetik hingegen das logische Element vor. Haben wir die Motive bisher aufgedeckt, welche die Energetiker zu einer optimistischen Deutung des Universums drängen, so fehlt zum Schluß noch ein Hinweis auf den sozialen Optimismus. Der universale Optimismus unterscheidet sich von sozialen darin, daß jener eine nach Oben gerichtetet Entwicklungsrichtung (Conatus oder Impetus) aus der Natur, dieser aus der Geschichte herausliest. Der Kampf in der Natur, wie er sich in den zwiespältigen Erscheinungen von Attraktion und Repulsion, von positivem und negativem Pol, von Affinität und Verbindungswiderstand offenbart, hat nach der Energetik seine Synthese in der Äquivalenzformel. Was uns als Kampf erscheint, stellt sich als Austausch von Energien dar. Die Herstellung des Gleichgewichtszustandes ist das Ziel dieses Kampfes. SPENCER hat nun gezeigt, wie sich in der Geologie und Geophysik, in der Astronomie und Astrophysik, in Fauna und Flora dieser Naturprozeß zwischen Integration des Stoffes und Dissipation [Zerstreuung - wp]von Bewegung abspielt, bis allüberall der Gleichgewichtszustand hergestellt ist. Der universale Optimismus hat also darin seine naturwissenschaftliche Stütze, daß in der Natur selbst offenkundig Alles auf Harmonie, d. h. auf Herstellung des Gleichgewichts unter den polar entgegengesetzten Kräften, deren Symbol der Magnet ist, angelegt sein muß. Eine parallele Gegensätzlichkeit tritt uns in den sozialen Erscheinungen entgegen. Auch hier ist, wie HERAKLIT schon gesehen hat, der "Kampf König und Vater aller Dinge." Was in der Physik Attraktion und Repulsion heißt, nennen wir in der Soziologie: Liebe und Haß, Sympathie und Antisympathie. DARWIN findet die Formel vom Kampf ums Dasein, SPENCER den Zusatz vom Überleben des Passenden, MARX formuliert die volkswirtschaftliche Theorie vom Klassenkampf. Jedes Individuum mach an seinem eigenen Körper diesen ewigen Kampf durch. Es handelt sich, wie ich an anderer Stelle ausgeführt habe, um einen uralten, dem Anschein nach unentwurzelbaren Widerstreit in der Menschennatur. Als Individuen streben wir nach möglichster Freiheit in unserer Selbstbehauptung, als Gattungsexemplar ringen wir ebenso unausgesetzt nach Vereinheitlichung und Nivellierung. Daraus erwächst jener ewige Widerstreit zwischen "Freiheit und Gleichheit", den ich im 20. Kapitel vom "Sinn des Daseins" behandelt habe. Im Juliheft 1904 des "Archiv für Geschichte der Philosophie", führt GEORG JÄGER treffend aus (Seite 559): "Individualismus und Sozialismus sind Antinomien, notwendinge und keine willkürlichen Formen des Denkens. Sie begegnen uns in jeder Epoche trotz des Scheins innerer Einheit einer bestimmten Entwicklungsstufe. Kein sozialistisches System kann durchgedacht werden bis zu einer völlig einheitlichen Ausprägung. Unzerstörbare Ansprüche des Individuum lösen, um ihr Dasein und Recht zu sichern, den gesellschaftlichen Absolutismus ab. Kein Individualismus kann den Gedanken an das Gemeinwohl aus seinen Zweckbestimmungen entfernen." Aus diesem ewigen Klassenkampf zwischen Individuum und Gesellschaft auf der einen, zwischen Gesellschaft und Staat auf der anderen, zwischen Berufen, Klassen, Kasten, Ständen, Interessengruppen, Konfessionen und Staaten untereinander auf der dritten Seite, folgerte BENJAMIN KIDD (Soziale Evolution, Seite 73), daß die Interessen des sozialen Organismus und die der jeweiligen Individuen sich jederzeut wie die ärgsten Feinde gegenüberstehen, so daß in diesem Konflikt geradezu der Kernpunkt in der Geschichte der Menschheit stecke. Diesem trostlosen sozialen Pessimismus KIDDs setzen wir nun aufgrund der energetischen Weltanschauung vollbewußt und zielsicher unseren sozialen Optimismus entgegen, der mit dem individuellen so wenig identisch ist, daß man individueller Pessimist, aber daneben sozialer Optimist sein kann. Der individuelle Pessimist schließt eben die Rechnung seiner Weltbewertung nach den kleinen Ziffern ab, die ihm aus seiner persönlichen Lebenserfahrung zur Verfügung stehen, und da kann es sich sehr wohl fügen, daß ein erheblicher Unlustüberschuß herausspringt. Anders der soziale Optimist. Sein Kalkül gründet sich auf die gewaltigen Vergleichsziffern von Paläontologie und allgemeiner Kulturgeschichte. Der soziale Optimist verfolgt den homo sapiens von der Epoche des Mammuts und Rentiers und begleitet ihn durch alle Stadien der Wildheit und Barbarei. Von Menschenfressertum - früher die Regel - findet der soziale Optimist in unserem Kultursystem keine Spur mehr. Von der Grausamkeit der Kriegführung vermag er seit dem roten Kreuz und dem Haager Vertrag nicht mehr so viel wie früher zu entdecken. - Und mag auch das Meiste noch frommer Wunsch sein; es ist doch Vieles erreicht. Von den religiösen Verfolgungen früherer Jahrhundert mit Autodafe [Glaubensgericht - wp] und Tortur, mit Bartholomäusnacht und anderen Metzeleien sieht man noch da und dort einen atavistischen [überholten - wp] Rückfall wie in Kischinew oder Armenien; aber die härtesten und rohesten Formen kirchlicher Unduldsamkeit sind doch gewichen. Die Hörigkeit der Frau, die Rechtlosigkeit des weißen Sklaven, die Schutzlosigkeit des Kindes, die politische Unmündigkeit des gesamten arbeitenden Volkes - all das ist auf der ganzen Linie unseres Kultursystems in völliger Umformung begriffen. Hungersnöte, welche ganze Provinzen dezimierten, Seuchen, die verheerend über ganze Länder hereinbrachen, haben wir durch die Gewalt unserer Organisation hintangehalten. Es ist auch nur ein gleißender Irrtum, daß wir im Begriff sind, körperlich zu verkümmern. Professor MAX GRUBER hat jüngst in seiner Schrift "Führt die Hygiene zur Entartung der Rasse?" (1904) dargetan, daß nicht bloß die Sterblichkeit auffallend abgenommen, sondern daß die mittlere Körperlänge der Europäer erheblich zugenommen hat. Von einer allgemeinen Degeneration zu sprechen, sei unwissenschaftlich. Das Gegenteil ist der Fall. Man vergleich nur die Rüstungen in den historischen Museen mit unserem heutigen Menschenschlag. Wir schließen auf allen Gebieten des öffentlichen wir privaten Lebens gegen die vorangegangenen Geschlechter mit erheblichen Gewinnziffern ab. Die politische Freiheit ist im Westen unserer Kultur zur Selbstverständlichkeit geworden. Die soziale Gleichheit ist die offenkundige Tendenz, von welcher das 20. Jahrhundert ebenso beherrscht wird, wie das 19. von der nationalen, das 18. von der politischen, das 17. von der wissenschaftlichen, das 16. von der religiösen und das 15. von der künstlerischen Idee. Das Versicherungswesen in allen seinen Auszweigungen gewährt einen persönlichen Schutz, wie ihn frühere Generationen kaum geahnt haben. Die persönliche Würde und Unverletzlichkeit hat sich zur Gemeinplätzlichkeit durchgerungen. Hieß also die Formel des sozialen Optimismus von jeher: Perfektibilismus (Vervollkommungsfähigkeit), so müßte man die Augen vor der Wucht der hier aneinandergereihten Tatsachen geflissentlich verschließen, wollte man verkennen, daß wir uns sozial in einem ständigen Aufstieg zu Höherem, Vollkommenerem, Daseinsfroherem befinden. Wir sind uns sehr wohl bewußt, daß wir nur das erste Zipfelchen des sozial Erreichbaren gelüftet haben. Wir sind noch lange nicht am Ziel - zu unserem Glück - sondern auf der ersten Staffel. Der Klassenkampf geht nicht etwa seinem Ende entgegen - er fängt recht eigentlich erst an. Aber wir sehen darin keinen Grund zur Trübsalbläserei und Schwarzmalerei, sondern im Gegenteil einen Ansporn zu höchster Kraftentfaltung und einen Stachel zum Heraustreiben unserer Maximalleistungsfähigkeit. Jenen Kirchhofsfrieden des SPENCERschen kommenden Geschlechts wollen wir nicht; das ist kein Ideal, sondern ein Schreckbild. Die Natur selbst ist ein ewiges Ringen, die Geschichte ein einziges großes Schlachtfeld, also ist der soziale Kampf in der allgemeinen Natur- und Weltenordnung begründet. Nur haben sich unsere Kampfesformen gemildert, gesittet, geschmeidigt. Nicht mehr erhebt sich Faust gegen Faust, sondern in gegliederter Schlachtordnung wird der Kampf zum Austrag gebracht. Gegen die parasitären Feinde unseres Lebens kämpft in geschlossener Phalanx die Medizin, gegen die äußeren Feinde die disziplinierte Armee, die heute ihre Direktiv ebenfalls von der Wissenschaft, der Kriegswissenschaft, empfängt. Und so wird dann auch der soziale Kampf, dessen Beschwichtigung dem 20. Jahrhundert als zu lösende Aufgabe zufällt, von der Wissenschaft ihre Parole empfangen. Ein energetischer Optimist, JOSEPH POPPER-LYNKEUS meint ("Das Recht zu leben und die Pflicht zu sterben", 3. Auflage, Seite 123): Was der Europäer (und der Nordamerikaner) vor anderen Menschengruppen voraus hat, was ihn als angenehmen Trieb erfüllt und ihm Macht gibt, ist eben seine Wissenschaft, deren Anwendung: die Ideen der Administration und Organisation. In unserer stark ausgebildeten Fähigkeit zu organisieren sehe ich in der Tat das Hauptargument, gleichsam das logische Rückgrat des sozialen Optimismus. Denn das große Geheimnis aller Erfolge des menschlichen Bewußtseins ist sein Ordnungssinn. Ordnung heißt aber nichts anderes als Kraft- und Zeitersparnis. Durch sinnreiche Methoden bringen wir es mittels unseres Ordnungssinns fertig, mit einem Minimum von Anstrengung ein Maximum an Leistung zu bewältigen. Man denke nur an die mathematische Begriffsbildung, etwa an die "Funktion" oder an das "Potential", an die physikalischen oder chemischen Formeln, an die Klassifikationen unserer beschreibenden Naturwissenschaft, an die Erfindung der doppelten Buchhaltung - lauter Ordnungsprinzipien, die uns in den Stand setzen, mit vergleichsweise geringem Aufwand von Arbeit die schwierigsten, alle Einzelkraft des Menschen übersteigenden Aufgaben zu lösen. Dem Ordnungssinn im Einzelfall korrespondiert der Gesetzesbegriff für die Gattung. Denn Gesetz heißt nichts anderes als: der höchste Grad von Ordnung. Naturgesetze bedeuten: Ordnung im Kosmos, logische Gesetze: Ordnung im Gehirn unter den Vorstellungen, religiöse Gesetze (Offenbarungen): Ordnung des Verhältnisses der Menschen zu ihrem Gott, moralische Imperative: Ordnung der nicht erzwingbaren seelischen Beziehungen der Menschen untereinander, gesellschaftliche Gebote (Takt): Ordnung der ebenfalls nicht erzwingbaren Umgangsformen gesitteter Menschen, Rechtsgesetze: Ordnung unter den erzwingbaren Handlungen der Menschen, endlich und insbesondere soziale Gesetze: Ordnung der erzwingbaren wirtschaftlichen Gütererzeugung und Güterverteilung. Wie alle sozialen Imperative, d. h. die im Namen Gottes, des Königs oder des Volkes an alle Bürger ergehenden öffentlichen Befehle, so haben auch soziale Gesetze keinen anderen Sinn und Zweck, als die Herstellung einer allgemeinen, alle Glieder eines bestimmten Kollektivums - Religionsgemeinschaft, Volkstum, Nationalität, Staat - gleicherweise umspannenden gemeinsamen Ordnung. Die Ordnung der Natur ist eine unbewußt-zweckmäßige, die der Vernunft eine bewußt-zweckmäßige. In der Natur herrscht zwischen Zweck und Mittel kein genau abgepaßtes, sondern nur ein ungefähr zutreffendes, in den Bewußtseinsschöpfungen der menschlichen Gattungsvernunft dagegen ein scharf abgezirkeltes und fein ersonnenes Maßverhältnis. Dort wird das Verhältnis von Zweck und Mittel inadäquat, hier adäquat zum Ausdruck gebracht. Die natürliche Ordnung, auf welche uns die Laissez-faire-Männer, die Manchester-Liberalen verweisen, können wir nicht akzeptieren. ELIAS METSCHNIKOFF hat uns eines Besseren über die "natürliche" Ordnung belehrt. Schon HELMHOLTZ hat das Märchen von der Vollkommenheit der Naturgebilde gründlich zerstört, als er mit seinem Augenspiegel zum erstenmal ins Auge, dieses angebliche Modell eines natürlichen Kunstwerks, zu blicken vermochte. Vollends deckt jetzt METSCHNIKOFF die Disharmonien in der Struktur der Menschen auf. Die für den Fortbestand des Menschen wichtigsten Funktionen der Verdauungs- und Fortpflanzungsapparate sind nichts weniger als vollkommen. Der Mensch ist nach METSCHNIKOFF eine der letzten Arten, die auf der Erde erschienen sind. Die ersten Menschen waren vermutlich geniale Kinder anthropoider Eltern; aber im Vergleich zu diesen Vorfahren hat er ungeheure Fortschritte gemacht, Dank seiner Kunst, welche die Vollkommenheit der Natur in vielen Beziehungen übertrifft. Aber vieles an ihm ist disharmonisch, so seine Haare, so die Entartung seines Instinks bei der Nahrungswahl. Der gesellige Instinkt ist eine erworbene Eigenschaft vergleichsweise späten Datums. Er ist auch noch zu schwach entwickelt, um in der menschlichen Lebensführung als treuer und ausreichender Führer zu dienen. Einen Adelsbrief höherer Abstammung vermag METSCHNIKOFF den Menschen nicht auszustellen. "Der Mensch ist eine mit großer Intelligenz ausgestattete Art der Affenmißgeburt, fähig, sehr weit fortzuschreiten." Gegen die Disharmonien der Natur weiß nun die medizinische Wissenschaft systematisch anzukämpfen. Die soziale Medizin aber ist heute im Werden begriffen. Unsere Versuche, des Klassenkampfd und seiner Härten Herr zu werden, sind heute nicht viel geschickter und wirksamer, als etwa der Stand der Medizin vor dem Auftreten des PARACELSUS. Man glaube also nicht, daß der soziale Optimismus den augenblicklichen Stand der Soziologie für geeignet hält, die gewaltigen Gegensätze von Kapital und Arbeit, die heute mit elementarer Wucht aufeinanderprallen, wissenschaftlich auszugleichen. Wir sind uns vielmehr voll bewußt, daß wir hier irrend, suchend, tastend von Experiment zu Experiment schreiten. Allein so wenig ein individueller Optimist im Recht ist, wenn er eine Weltanschauung aufgrund der minimalen Ziffern seiner persönlichen Lebenserfahrung zurechtzimmern will, ebensowenig wird der soziale Optimist den augenblicklichen Stand der Soziologie als tröstenden, lindernden Balsam gegen alle brennenden Wunden des Gesellschaftskörpers empfehlen. Wohl aber wird der soziale Optimist mit dem Schlußwort METSCHNIKOFFs sagen: "Wenn es wahr ist, so kann dieser Glaube nur der Glaube an die Macht der Wissenschaft sein." Die menschliche Wissenschaft ist nicht nur dazu da, die Natur zu korrigieren, wie METSCHNIKOFF zeigt, sondern vorzugsweise dazu, die Geschichte zu korrigieren. Frühere Generationen, welche weder eine Statistik, noch eine Nationalökonomie, noch endlich eine Soziologie als wissenschaftliche Hilfsmittel besaßen, wären am brudermörderischen Kampf von Kapital und Arbeit elend zugrunde gegangen; sie wären einer solchen sozialen Epidemie schutz- und rettungslos preisgegeben. Wie uns heute indessen die ärztliche Wissenschaft gegen Seuchen hilft, indem sie uns Vorbeugungsmaßregeln vorschreibt, wie wir deren Verbreitung oder Ausbrechen verhindern können, so werden uns die sozialen Wissenschaften Mittel an die Hand geben, dem Konflikt von Kapital und Arbeit und seinen unausbleiblichen Folgen vorzubeugen. Die Herstellung des sozialen Gleichgewichts aber muß möglich sein, da die Tendenz allen Naturgeschehens auf die Erreichung der Gleichgewichtslage gerichtet ist. Das soziale Geschehen ist ja nur ein Spezialfall des Weltgeschehens und wird daher denselben Prinzipien unterworfen sein. Diese sozialen Prinzipien können und müssen ermittelt werden. Wir sind fieberhaft daran, sie aufzusuchen, die Formel zu packen, die uns das soziale Gleichgewicht gewährleisten könnte. Der soziale Optimismus glaubt wir an die Existenz dieser Formel, so an die Wahrscheinlichkeit ihrer baldigen Auffindung. Und in diesem, von SOKRATES inspirierten Glauben, daß Wissen und nur dieses Macht sei, gehen wir frohbeschwingt und leichtbeflügelt an die Kleinarbeit im Sozialen. Mag auch nicht alles Bestehende, mit HEGEL zu sprechen, vernünftig sein, so möchte der soziale Optimismus doch daran arbeiten, daß wenigstens alles als vernünftig Erkannte bestehe, alles Unvernünftige hingegen mit Stumpf und Stiel ausgerodet werde. Dieselbe soziale Vernunft, die uns vom Anthropoiden und Kannibalen zum heutigen westeuropäisch-amerikanischen Kulturtypus emporgezüchtet hat, wird auch am Werk sein, die Gebrechen und Gebreste unserer sozialen Einrichtungen zur Heilung zu bringen. Wie die Medizin eine Anzahl spezifischer Heilmittel gegen eine Reihe organischer Erkrankungen gefunden hat, so sucht der soziale Optimismus die Spezifika gegen soziale Schäden. Freilich laufen wir Gefahr, Elixiere zu brauchen und Tränklein zu bereiten, die von Zünftigen als Humbug und Scharlatanerie ausgegeben werden. Aber ist es PARACELSUS besser ergangen? Der soziale Optimismus hat die nötige Dosis Resignation in Bezug auf seine Gegner, daneben aber das unerschütterliche Zutrauen zur Richtigkeit des eigenen Standpunktes, wie die felsenfeste Zuversicht, daß die menschliche Gattungsvernunft am Ende aller Enden die Schäden, an denen wir heute kranken, sieghaft überwinden wird. Und deshalb mühen wir uns in tausendfältigen Versuchen um ein soziales Heilserum gegen das schmerzhafte Leiden unseres Kultursystems - den weltgeschichtlichen Konflikt von Kapital und Arbeit. |