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MORIZ BENEDIKT
Die Hypnose-Frage

"Ich rief damals den Kollegen zu: Wehe, wenn einmal die Versuchsobjekte von Nancy ihre Memoiren schreiben würden, ein schallendes Gelächter würde in der Welt ertönen."

Ich ergriff erst 9 Jahre nach meiner letzten Publikation über die Frage der Hypnose auf dem internationalen Kongreß in Paris, August 1889 zu diesem Gegenstand das Wort, als ein ernster Forscher, LADAME, einen Fall von angeblich geheilter sexueller Perversität mitteilte. Ich machte damals darauf aufmerksam, da es sich zunächst um ein therapeutisches Thema handelte, daß man vor allem die Wirkungen der Hypnose von denen der hypnotischen Suggestion schiebe. Erst wenn hypnotische Versuche resultatlos seien, könne man zu hypnotischer Suggestion übergehen, und wenn diese dann wirke, dann sei der Beweis für sie erbracht. Ich machte aber darauf aufmerksam, daß auch hier eine ungeheure Quelle der Täuschung fließe; daß z. B. bei Leuten mit perverser Geschlechtsneigung der Umstand, daß sie sich an einen Arzt wenden, schon ein Beweis ihres moralischen Katzenjammers sei und dies allein genüge, wenn ihn der Arzt durch irgendetwas aufrecht erhält, um Heilung hervorzurufen.

Die Heilungen aber, die berichtet werden, beruhen wohl zum größten Teil auf einem Irrtum, weil der Kranke, wenn er nicht geheilt wird, das tut, was er früher getan hat. Er treibt sein Laster im geheimen fort und belügt und betrügt den Arzt mit der Aussage: er sei geheilt. Sind doch die Lüge und die Geheimhaltung für seinen Existenzkampf unbedingt notwendig. Das was für diese Kategorie von Kranken gilt, gilt auch für die Morphinisten und Alkoholiker etc. Ich rief damals den Kollegen zu: Wehe, wenn einmal die Versuchsobjekte von Nancy ihre Memoiren schreiben würden, ein schallendes Gelächter würde in der Welt ertönen. Ich will hierbei bemerken, daß ich den Wert der Suggestion als Heilmittel nicht erst aus der Zeit der hypnotischen Suggestion kannte, daß ich sie, wie seit Jahrtausenden jeder denkende Arzt, längst angewendet habe und daß die Suggestion im wachen Zustand den Wert hat, den Menschen psychisch in Bezug auf Intelligenz und Willensenergie zu heben, während ihn die hypnotische Suggestion in einen Zustand verminderter Existenz versetzt. Ich habe meine Erfahrungen in einer Reihe von Artikeln in der "Internationalen klinischen Rundschau" im selben Jahr unter dem Titel "Aus der Pariser Kongresszeit (1899)" niedergelegt und eine große Reihe von Beispielen suggestiver Beeinflussung im wachen Zustand mitgeteilt.

Es möge hier folgendes Zitat seinen Platz finden:
    "Meine therapeuthische Erfahrung geht dahin, daß hysterische Konvulsionen in der Regel eine gute Prognose haben, freilich unter Verfahrensweisen, die fast für jeden Fall wechseln. Bald sind diese psychologisch sozialer Natur, und unter diesen spielt psychische Beeinflussung, d. h. Suggestion ohne Hypnose, die Hauptrolle, bald beruhen sie auf Aufsuchung der meist latenten lokalen Reize und auf der lokalen Behandlung derselben.

    Bald sind Zerstreuung, bald Isolation, bald Ruhe, bald Bewegung, bald Kälte, bald Wärme, bald Magnetotherapie, bald Elektrizität in irgendeiner Form, bald Points de feu [Brennpunkte - wp], bald Hypnose, bald Meidung derselben, bald Anwendung des CHAPMANschen Prinzips, bald äußere oder innere Metallotherapie etc. etc. angezeigt. Unwirksam bleibt gewöhnlich die Schablone!

    Die Prognose trüben in fataler Weise vor allem Narkotika, lang fortgesetzte hypnotische Versuche, welche die Kranken zu Medien erziehen und zur Schaustellung.

    A priori unheilbar sind nur jene Konvulsionärinnen, bei denen die Hystero-Epilepsie der Ausdruck einer geschlechtlichen Metamorphose genuiner Epilepsie oder von "Degeneration" ist.

    Diese letzteren beiden Kategorien von Individuen sind aber gewöhnlich deutlich kephaloskopisch "stigmatisiert" und ihre Differentialdiagnose bietet in der Regel keine unüberwindliche Schwierigkeit.

    Ich will an diese Erinnerungen eine Reihe von anderen knüpfen, welche für die Lehre von der Suggestion ohne Hypnose lehrreich sind und welche zeigen, wie wichtig eine richtige psychologische Einsicht für die Therapie der Hysterie ist.

    Ein Kollege aus der Provinz schickte mir zu Anfang der Siebziger-Jahre sein 16-jähriges Töchterlein mit vehementen, Tag und Nacht auftretenden phonetisch-respiratorischen Krampfanfällen mit Schrei- und heftigem, alarmierenden Exspirationskrampf [Ausatmungs-; wp]

    Die Mutter war sehr nervös, aber geistig und ethisch so glücklich veranlagt, daß es nicht zur Hysterie kam. Die Tochter gut erzogen, hatte Morbillen [Masern - wp] und heftigen Lungenkatarrh überstanden und war enorm herabgekommen. Schon das Geräusch eines auf den mit Teppich belegten Tisch gestellten Tellers rief einen Anfall hervor.

    Alle Versuche der Beruhigung mißlangen; nur Klistiere von Chloralhydrat brachten Nachtruhe. Die Anfälle erschreckten nicht nur die Umgebung, sondern auch mich, der doch durch das Fegefeuer zahlreich beobachteter hysterischer Anfälle hart gesotten war.

    Ich wagte nicht, die Kranke allein zu lassen, und teilte mit einem Kollegen die Tag- und Nachtwache. Die Respiration [Atmung - wp] konnte nur dadurch im Gang erhalten werden, daß man der Kranken fortwährend zurief, tief einzuatmen. Eines Abends, kurz vor der Ablösung und der Verabreichung des Chloralhydrats erfolgte ein ungewöhnlich heftiger Anfall. Die Mutter rang verzweiflungsvoll die Hände. Da rief ich ihr zu: "sie möge sich beruhigen, die Komödie könne 10 Jahre andauern, ohne Gefahr zu bringen."
Bald darauf verließ ich die beiden Damen.

Das Wort Komödie hatte einen peinlichen Eindruck gemacht und ich machte in diesem Moment absichtlich keinen Versuch, ihn abzuschwächen.

Als ich am anderen Morgen erschien, fand ich zwei mißmutige Gesichter.

Lächelnd ging ich nun an die Erklärung, warum ich von einer "Komödie" sprach. Eine Tragödie sei das Schauspiel der Anfälle nicht, weil immer ein guter Ausgang eintrete. Dafür könne es als Komödie bezeichnet werden, weil ein Zeitpunkt eintrete, in dem die Kranken mit den Anfällen ihr Spiel treiben können. Sie können dieselben, wenn sie korrupt sein, hervorrufen oder wenn sie korrekt sind, unterdrücken.

Es mußte die Szene geändert werden, da die Schreikrämpfe das Hotel alarmierten; die Kranke wurde in eine Maison de santé [Pflegeheim - wp] transferiert. Dort berief ich Abends einen Kollegen, der Vorstand eines pneumatischen Kabinetts war, zur Konsultation.

Ich fragte ihn, ob er es unternehmen wolle, die Kranke in ein Kabinett einzuschließen, da ich bei leichteren Fällen günstige Erfolge von der pneumatischen Therapie gesehen habe.

Im Angesicht eines Anfalls wies der Kollege mein Ansinnen zurück.

Als wir uns entfernten, begleitete uns die nach Trost ringende Mutter ins Vorhaus. Als sie zurückkehrte, fragte die Kranke ängstlich, ob ich den Moment schon für gekommen halte, wo sie die Anfälle unterdrücken könne. Die Mutter hatte die Geistesgegenwart, das zu bejahen. Darauf erklärte die Kranke, sie brauche kein Chloraklistier mehr. Sie schlief ein, um des anderen Morgens mit einem Anfall zu erwachen. Da erklärte die Mutter, sie habe die Komödie satt, sie reise ab und lasse sie allein.

Darauf kleidete sich die Kranke an, besuchte die Bildergalerie und kehrte Abends in die Heimat zurück. Als sie der Papa auf dem Bahnhof empfing, hatte sie in ihrer Erregung den letzten Anfall. Ich konnte die Geschichte der Kranken durch viele Jahre verfolgen.

Sie erblühte und heiratete ohne weiteren Anfall. Das ist keine Nancyer Geschichte von gestern auf heute, sondern ein durch Jahre konstatierter Heilerfolg.

Heiterer war eine zweite Backfisch-Geschichte.

Ich erhielt eine telegraphische Einladung zu einer Konsultation aus einer Provinzstadt mit der Bitte, rasch zu kommen. da es sich um eine heftige Kephalalgie [Hirnentzündung - wp] und wahrscheinlich eine Menengitis [Hirnhautentzündung - wp] handle.

Ich eilte mit Dampfesflügeln ans Krankenbett.

Der Anblick der Kranken entlockte mir ein latentes Lächeln; ich hatte sofort den Eindruck einer Hysteropathie.

Ich bat den Kollegen und die Mutter, das Zimmer zu verlassen, da ich mit der Kranken ein intimes Gespräch zu führen habe.

Ich erklärte der Patientin, daß sie nicht krank, sondern schwer leidend sei, daß sie ein Geheimnis habe, das sie mir beichten müsse, und daß die Beichte eine sofortige Rekonvaleszenz bewirken werde. Ich hatte es getroffen. Die Naive von 16 Jahren gestand nun, daß sie vor Sehnsucht brenne, ins Institut zurückzukehren, um dort weiter zu lernen, daß die Mama dies aber nicht gestatte. Darüber sie sie gekränkt und krank geworden. Ich schellte dem Kammermädchen, befahl ihr, die Kleider für die Kranke zu bringen und versprach letzterer, ihrem Wunsch Gewährung zu verschaffen, wenn sie sofort das Krankenlager verlasse und mit mir zu Tisch ginge.

Wie war die Familie im Salon überrascht, als die schwer Kranke mit mir erschien und bis zum Abend, zwar ermüdet und schwach bei uns ausharrte. Nach Jahren erinnerte mich eine junge Frau, die bereits unter der Bürde zweier Kinder seufzte, an ihre damalige "Rettung".

Diese "Menengitis" ruft mir eine andere ins Gedächtnis, welche zeigt, wie tief der Arzt in die Psychologie und die Lebensgeschichte einer Patientin eindringen muß, um zu wirken, und um den Wert seiner Heilmethoden zu beurteilen. Die Psychologie ist ein Instrument, dazu geeignet, um uns Einblick zu verschaffen und eine Waffe, um zu wirken.

Vor einer Reihe von Jahren wurde ich ins Hotel zu einer Kranken gerufen, die mir sagte, sie habe soeben eine Menengitis überstanden, und sie leide noch an heftigen Kopfschmerzen. Ich antwortete ihr, sie hätte ihre Ärzte zum Besten gehalten, sie sei von einem heftigen, aufregenden Kummer heimgesucht, der ihre Kopfschmerzen bis zu Delirien und Bewußtlosigkeit gesteigert habe.

Pikiert sagte die Patientin, wie ich dies behaupten könne. Ich antwortete ihr, wenn ich die Nerven einer Dame kenne, kenne ich auch ihren Lebensroman. Die Aufschriften der einzelnen Kapitel, die Namen, die Daten und der Ort der Handlung interessieren mich nicht weiter.

Am selben Nachmittag erschien die Patientin mit ihrem "Mann" in meiner Ordination, um sich einer elektrischen Kur zu unterziehen. Nach ihr trat eine andere Klientin ein und fragte mich, wer der Begleiter der früheren Patientin sei. Ich erklärte ihr, diese Dame nicht weiter zu kennen, der Begleiter sei mir als ihr Mann vorgestellt. Sie erwiderte: "Sie ist meine Schwägerin und er ist nicht mein Bruder."

Am anderen Tag bat mich die Patientin, ich möchte ihr einen Gynäkologen empfehlen, um zu wissen, ob sie gravid [schwanger - wp] sei oder nicht und am nächstfolgenden Tag erzählte sie mir freudestrahlend, der Gynäkologe habe ihr versichert, daß sie nicht in der Hoffnung sei. Nun schritt die Rekonvaleszens rasch fort und ihre "Meningitis" wurde bald durch ein kostbares Zeugnis völlig aufgeklärt. Wenige Wochen später erschien ihr wirklicher Mann und konsultierte mich, weil er seit eineinhalb Jahren vollständig impotent sei. "Sapienti et non sapienti sat!" [Wahre Weisheit und nicht genug Weisheit - wp] Jedenfalls war hier die negative Suggestion des Gynäkologen von größerem Wert als die angewendete physikalische Heilmethode.

Eine andere Krankengeschichte soll zeigen, wie wichtig es ist, in das geheime Geschlechtsleben nervöser Kranker Einsicht zu bekommen.

Vor Jahren wurde ich in eine Provinzstadt gerufen und fand in einer guten Familie ein heranreifendes Mädchen, die seit mehreren Monaten während des ganzen Tages kontinuierlich an einem respiratorisch-phonetischen Krampf litt. Sie empfing mich mit der wenig schmeichelhaften Versicherung, ich werde sie nicht kurieren. Sie war verwaist und lebte bei Verwandten. Der jetzige Anfall datierte einige Monate zurück in die Epoche, wo ihr Vater starb und sie vom Land in die Stadt übersiedelte. Sie hatte schon früher solche Anfälle gehabt, welche nur zum Teil mit heftigen Gemütsbewegungen zusammenhingen. Mehr konnte ich nicht eruieren. Ich traf meine therapeutischen Anordnungen und bemerkte dem Ordinarius, der ein geistreicher Weltmann war, es liege hier ein Geheimnis vor, dessen Eruierung ich ihm als dem alten Freund der Familie überlasse, da es inopportun sein dürfte, selbst zu versuchen, den Schleier zu lüften. Alle üblichen therapeutischen Methoden ließen absolut im Stich und einige Monate später kam die Patientin mit ihrer Tante, die bei ihr die Mutterstelle vertrat, nach Wien. Ich nahm die Tante bei Seite und erklärte ihr, meine Vermutung gehe dahin, daß die Ursache der Erkrankung darin liege, daß die Patientin geschlechtlich mißbraucht worden sei. Viele Kollegen wären ebenso erstaunt über meine Vermutung gewesen, wie es die betreffende Dame war, aber weniger entrüstet. Ich habe aber oft gesehen, daß durch den geschlechtlichen Mißbrauch nicht erwachsener Mädchen und durch frühzeitige gewaltsame Masturbation solche Zustände entstehen. Ich trug der Dame auf, die Patientin ins Verhör zu nehmen, überzeugt, daß diese derart überrascht, beichten werde. Wenige Minuten darauf kam die Dame tränenden Auges zurück, sagte mir, ich hätte recht vermutet, die Patientin sei in ihrem zehnten Jahr durch längere Zeit von ihrem Hofmeister mißbraucht worden, fast in Gegenwart der Mutter, welche bei offener Tür im Nebenzimmer war. Seitdem verspüre die Patientin ein fortwährendes brennendes Jucken in der Scheide, welches ihr bei den geringsten Emotionen die Krankheit hervorrufe; dieselbe sei in letzter Zeit gesteigert worden, als ihr in Gesellschaft in der Stadt der Schänder, der inzwischen Karriere gemacht hatte, fort und fort begegnet sei. Als ich dann bei der Kranken eintrat, erklärte diese sofort, jetzt sei sie überzeugt. daß sie wieder gesund werde. Ich möge ihr noch sagen, ob jeder Arzt, der sie sehe, die Ursache ihres Leidens erraten werde und ob sie je werde heiraten können. Ihre erste Frage verneinte ich rundwegs, auf ihre zweite Frage bemerkte ich ihr, daß nicht alle Männer die Klarheit der Ärzte und die Routine der Routiniers über Virginität haben. Sie werde es schon treffen, um über die Krise hinüberzukommen. Ich konnte später die gesunde glückliche und ihrem Mann niemals verdächtige Frau lange Zeit beobachten.

Begreiflicherweise war mit der Last des Geheimnisses weder die schmerzliche Hyperästhesie [Überempfindlichkeit für Berührung - wp] der Vagina noch der Krampf beseitigt. Der ärztliche Psychologe hat seine Schuldigkeit getan, der Therapeut mußte jetzt zur Herrschaft kommen. In Kautschuk gehüllte Eisstücke wurden durch lange Zeit in der Vagina angewendet und führten bald zur Heilung; der Psychrophor [Kühlsonde für die Harnröhre - wp] war damals noch nicht erfunden. Die Bekämpfung solcher Hyperästhesien und des Pruritus [Juckreiz - wp] der Vagina ist eine wichtige Aufgabe des Therapeuten bei der Behandlung der Hysterie. Es ist eine sehr merkwürdige Tatsache, daß solche Zustände von Mädchen auch ihren Müttern gegenüber, von Frauen dem Manne und dem Hausarzt vis-á-vis, auch wenn sie die Kranken moralisch nicht im mindesten kompromittieren, verheimlicht werden. Umsomehr, wenn an der Ursache des Leidens ein Makel haftet. Errät der Arzt den Zustand, geht er mit einer bestimmten diplomatischen Feinheit und Delikatesse vor, so kann er sicher sein, daß mit dem Geständnis nicht zurückgehalten wird. Mit der Erkenntnis ist jedoch die Kunst nicht erschöpft. Die Bekämpfung dieser Zustände fordert das ganze Wissen, das ganze Können und die Erfindungsgabe des Therapeuten heraus. Außer dem Psychrophor sind Einlagen von Karbolsäure, Ätzungen mit Nitras argenti [Silbernitrat - wp] und mit dem Paquelin [Gerät zur Durchtrennung von Gewebe durch Hitze - wp], Bepinselungen mit Kokain, Irrigation [Durchspülung - wp] mit Schwefeläther und lokale Faradisation [Elektrotherapie - wp] vereinzelt, neben- und nacheinander, wirksam.

Ich schließe hieran eine andere interessante Krankengeschichte. Es ist mehr als 25 Jahre, daß mich eine Dame aus Russland, die nach einer abgelaufenen Gonitis [Kniegelenksentzündung - wp] an einer furchtbaren Gonalgie litt, konsultierte. Das Fräulein, von sehr mäßiger Intelligenz, hatte eine jung-russische Erziehung erhalten, d. h. sie hatte eine Menge Weisheit und Wissen in sich aufgenommen, ohne sie verdaut zu haben, war aber voll überspannten Ehrgeizes. In ihrer Familie waren starke ökonomische Erschütterungen vorgefallen, und mit jeder derselben war die Gonalgie rezidiviert [Rückfall - wp]. Ich diagnostizierte  "lokale Hysterie"  auf der Basis eines vorausgegangenen pathologischen Prozesses. Ein berühmter Chirurg und ein berühmter Physiologe, die der Konsultation beiwohnten, waren nicht wenig über meine Diagnose überrascht. Aber gerade bei dieser Patientin hatte ich die Gelegenheit, diese Form der Hysterie noch einmal zu beobachten. Bei Prädisponierten kann nämlich, sowie jedes lokale Trauma, jeder pathologische Prozeß lokale hysterische Erscheinungen hervorzurufen, die dann leicht irradiieren [ausstrahlen - wp] und desto leichter Reflex-Neurosen erzeugen, je  latenter  die Lokalsymptome sind.  Die Aufsuchung und Beseitigung dieser lokalen Ursachen der hysterischen Reflex- und Irradiationis-Neurosen ist ja die wichtigste Aufgabe des Therapeuten bei der Hysterie.  Mehrere Jahre später überstand die Kranke, wahrscheinlich nach Verletzung des Blinddarmes, eine schwere Peritonitis [Bauchfellentzündung - wp] mit mäßigem Exsudat [entzündliche Absonderung - wp]. Das Fieber verschwand endlich, das Exsudat nahm allmählich bis zum Verschwinden ab, aber es blieb eine furchtbare Schmerzhaftigkeit am Ausgangspunkt der Exsudation zurück. Monate lang lag die Patientin unbeweglich mit dem Eisbeutel an der schmerzhaften Stelle. Das Ordnen des Bettes von Zeit zu Zeit war eine schwierige Affäre. Vier Personen mußten die Kranke im Leintuch in die Höhe heben und auf den Boden stellen, damit das Lager gerichtet werden könne. Ich diagnostizierte wieder eine Lokalhysterie auf Basis eines pathologischen Prozesses. Eines schönen Tages kam ich zur schwierigen Umbettungsprozedur. Die Patientin stand im Hemd auf einem Teppich in der Mitte des Zimmers jammernd und wimmernd, einerseits, weil sie für den Moment des anästhesierenden Eisbeutels entbehrte, und andererseits vor der Rückexpedition ins Bett zitternd. Da erklärte ich aufs Entschiedenste, die Kranke müsse allein ins Bett zurückzugehen. Sie heulte und erklärte dies für unmöglich.

Darauf bemerkte ich, sie könne nun bis zum jüngsten Gericht im Hemd im Zimmer stehen bleiben und so ihre Bekannten empfangen; ich dulde es nicht, daß sie jemand berühre.

Endlich raffte sich die Kranke auf und gehorchte. Als diese wenigen und wichtigen Schritte gelangen, sagte ich ihr, jetzt möge sie sich ankleiden und in den Salon kommen. Auch das vermochte die Kranke, und an demselben Nachmittag ging sie auf dem Ring spazieren.

Solche psychologische Gewaltakte dürfen gegen die Kranken nur in geeigneten Momenten geübt werden; werden sie zur Unzeit versucht, so sind sie schädlich Attentate auf die Gesundheit. Die Patienten sind dann voll Erbitterung wegen ungerechter Zumutungen und sie schließen mit Recht, daß man ihren Zustand verkenne. Es gehört ein gewisser Grad künstlerisch-psychologischen Instinktes dazu, um den richtigen Moment zu treffen.

 Diese psychische Beeinflussung wirkt günstig auf den Allgemeinzustand der Kranken. Sie lernen die große Bedeutung vom Zusammenhang des Willens und der moralischen Kraft mit der Gesundheit kennen, und dies führt zur geistig-hygienischen Selbstgymnastik. Das gleiche therapeutische Resultat durch Hypnose und Suggestion aber demoralisiert die Kranken, weil sie das zerschmetternde Bewußtsein bekommen, das willenlose Werkzeug eines ärztlichen Kunststückes zu sein. 

Der Arzt muß sich des absoluten Zutrauens und der strengen Disziplinierung eines Kranken versichern, wenn er eine gesicherte Basis für die therapeutischen Einriffe gewinnen will. So kam mir jüngst ein junges Weib zur Beobachtung, die früher Mutter als gescheit und willensstark wurde. Sie litt an hysterischer Inappetenz und Brechneigung und vollständiger psychischer Haltlosigkeit. Ich schickte sie in eine Spezialheilanstalt für Nervenkranke; sie ging aber nach einigen Stunden durch und kam wieder zu mir. Da erklärte ich ihr, sie sei unwürdig des Mitleides und der Unterstützung ihrer Angehörigen, sie verdiene es, moralisch und physisch zu verkommen etc. etc. So spielte ich den Aesculapius tonans [donnernder Gott der Heilkunst - wp]. Das arme Geschöpf stand zitternd und bebend vor mir, flehte mich an, ich möge sie nicht verlassen, sie werde tun, was ich von ihr verlange. Nun war ich ihrer sicher und schritt an die Behandlung. Sie wurden in protahierten [ausgedehnten - wp] Bädern gefüttert und vertrug und verdaute im nassen Medium die Speisen. Die Hyperästhesie die Pharynx [Rachen - wp] und des Magens wurde durch Anlegen des metallischen Magneten bekämpft und Kefir als Nährmittel dann verabreicht, wenn die Kranke nicht im Bad war. So müssen sich richtige psychologische Behandlung und Therapie die Hand reichen, wenn überhaupt oder in möglichst kurzer Zeit Heilung erzielt werden soll. Die Kranke war in drei Wochen genesen.

Ich könnte solche lehrreiche Beispiele aus den Erinnerungen meiner Praxis häufen. Sie bilden für den Physiologen ein lehrreiches Material, weil sie ihm Beziehungen zwischen Gehirn und Körper aufdecken, von denen er früher nichts wissen wollte. Es ist das wichtigst Verdienst der modernen hypnotischen Versuche, die Aufmerksamkeit der Physiologen auf diesen Punkt gelenkt und wie wir hoffen, bewirkt zu haben, daß dieses Thema nicht mehr aus der Literatur verschwinde. In der ganzen zeitgenössischen Literatur wurde kaum etwas Neues mitgeteilt. Die "natur-philosophische" Schule hatte die Tatsachen und ihre Bedeutung studiert und gewürdigt. Aber selbst die besten Schriftsteller dieser Schule gerieten leicht ins Phantasieren und die wissenschaftlichen Kapellmeister, aus denen ja das Gros der jeweiligen zeitgenössischen Zelebritäten besteht, lehnten mit pharisäischer Verlogenheit und pharisäischem Hochmut ab. Die Meister aber blieben vorsichtig abseits; sie scheuten sich, mit so einem gefährlichen Material zu hantieren. Mit klassischer Unbefangenheit und kritischer Nüchternheit hat HACK TUKE in seinem Werk "Geist und Körper" (Übersetzung von Kornfeld, Jena 1888) das ganze historische Material zusammengetragen. Ich kann den Praktikern die Lektüre des Werkes nur aufs dringendste empfehlen.

Ich will nun einige Fälle mitteilen, bei denen die Hypnose zur Verwendung kam. Im Jahre 1878 sah ich eine Dame, die unter dem Schrecken des polnischen Aufstandes vom Jahre 1863 und unter dem noch größeren Schrecken der Repression viel gelitten hatte. Bald nach seiner Freilassung starb ihr Mann und ihre Gesundheit wurde in dieser Epoche schwer geschädigt. Sie litt an furchtbaren hysterischen Stenokardien [Herzschmerzen - wp]. Nach einigen therapeutischen Versuchen entschloß ich mich zur Anwendung der Hypnose und zwar nach der Methode von LASÉGUE, mit der ich schon (siehe "Elektrotherapie" 1868, Seite 417) seit langer Zeit experimentiert hatte, nämlich durch Auflegen der Hand auf die Augen und leichtem Druck auf die Bulbi [Augäpfel - wp]. Es gelang, die Patientin in einen lethartischen Zustand zu versetzen, aus dem sie sich spontan nicht herausreissen konnte, obwohl ihr Bewußtsein vollständig intakt war. Ich ließ sie manchmal durch mehrere Stunden so liegen und erweckte sie dann durch Anblasen. Ihre Beweglichkeit erhielt sie erst wieder, nachdem ich sie aufgestellt und ihr einen mechanischen Impuls zum Vorwärtsschreiten gegeben hatte. Der Erfolg war ein höchst befriedigender, indem die Anfälle bis auf den heutigen Tag nur mehr bei ungewöhnlichen Emotionen und vereinzelt auftraten. Sehr lehrreicht war mir nun eine psychologische Beobachtung, die ich bei der Kranken machte. Das Gefühl, daß ich sie so total lahmlegen konnte, impressionierte ihr psychologische Verhalten mir gegenüber mit instinktiver Intensität. Im Salon, bei Diners, auf Promenaden etc., war sie mir gegenüber psychisch frei; trat sie jedoch in mein Kabinett als Patientin ein, dann verlor sie ihre Denk- und Willenskraft, auch wenn sie wußte, daß von einer Hypnotisierung nicht die Rede sei. Ich habe die Kranke oft Jahre lang nicht gesehen und noch in den jüngsten Tagen war sie von dieser psychischen Gebundenheit noch nicht befreit. Kein Wunder! Die Männer der Wissenschaft haben keine Ahnung vom Mechanismus hypnotischer Wirkungen; es ist daher noch weniger Wunder, wenn diese Einwirkung auf Laien mystisch wirkt und ihnen das Gefühl einer vernichtenden Abhängigkeit gegenüber dem Arzt imprägniert. Diese Beobachtung ist keine vereinzelte; sie ist vielmehr typisch und warnt uns davor, mit der Hypnose zu spielen oder sie zu mißbrauchen. Wir nehmen oft durch Hypnose ein Symptom weg und vermehren die Disposition für das Auftreten anderer und schwererer.  Das Krankenzimmer soll aber keine Wechselstube sein, in der man für ein Symptom andere und verhängnisvollere oder gar dauerndes Siechtum eintauscht. Die handwerksmäßig betriebene Hypnose ist gemeinschädlich und unwürdig. 

Ich füge eine andere Krankengeschichte an, welche uns die Wirkung hypnotischer Prozeduren von einer anderen Seite zeigt.

Eine Dame in mittleren Jahren erkrankte schwer, nachdem sie ihre Diphteritis gefährlich erkrankten Kinder mit großer Aufopferung und unter heftigen Aufregungen gepflegt hatte. Die Symptome hatten einige Ähnlichkeit mit der Polyarthritis, da eine weit verbreitete Arthralgie [Gelenkschmerzen - wp] mit Schwellungen einzelner Gelenke vorhanden war. Fieber fehlte im ganzen Verlauf; es bestanden Anämie, Ovarialgie [Eierstockbeschwerden - wp], Rachialgie [Rückenschmerzen - wp] und Insomnie [Schlaflosigkeit - wp].

Ich bezog alle Symptome auf Hysterie; ich versuchte die Anwendung des metallischen Magneten zur Bekämpfung der Rachialgie - ohne Erfolg. Nach einigen Tagen begann ich mit hypnotischen Prozeduren, welche die Kranke außerordentlich beruhigten, ohne Hypnose zu erzeugen. Psychisch beruhigt wurde die Kranke vom ersten Tag an dadurch, daß ich ihr im Ton vollster Sicherheit sozusagen suggerierte, sie werde nach einer Woche am Sonntag aus dem Bett steigen, am zweiten Sonntag beim Tisch sitzen und am dritten die Messe besuchen können. Trotzdem keine Hypnose vorhanden war, sagte ich ihr, sie werde zu einer bestimmten Stunde einschlafen, zu einer bestimmten Stunde aufwachen und verlängerte von Tag zu tag die zugesicherte Schlafzeit bis zur normalen. Statt mit Angst der schlaflosen, schmerzensreichen Nacht entgegenzusehen, beruhigte sich die Kranke mit allem Aufwand ihres Willens einige Zeit vor der angekündigten Schlafstunde, da sie blindes Vertrauen in meine Worte setzte. Neben dieser psychischen Beeinflussung wandte ich einige Karbolinjektionen in der Umgebung der schmerzhaften und am meisten geschwellten Gelenke an und bekämpfte ihre Uraturie [stark saurer Harn - wp] durch alkalische Wässer. Die Rekonvaleszenz trat genau nach meinem Kommando ein, nur daß ein heftiges Schneegestöber den Kirchengang verhinderte. Mit der Arthralgie verschwand auch die Spinalirritation etc. Eine Eisenkur stellte dann nachträglich die Patientin vollständig her.

Daran möge sich eine Krankengeschichte reihen, welche den Wert des wichtigsten Substituen der Hypnose darlegen soll.

Als ich gerade in einer Vorlesung betonte, wie grundlos es sei, anzunehmen, wahre Epilepsie könne durch Schreck entstehen und daß die Konvulsionen, die allenfalls bei einer solchen Veranlassung, z. B. auch durch Schreck beim Anblick eines epileptischen Anfalls entstehen, hysterischer Natur seien, stellte sich ein Mann vor, der angab, seit einigen Jahren an epileptischen Anfällen zu leiden und daß dieselben durch einen Schreck bei einer Feuerbrunst entstanden seien. Auf dem Angesicht des einen oder anderen Zuhörers malte sich eine gewisse Schadenfreude. Da untersuchte ich den Kranken.

Es litt an hochgradiger Rhachial- und Intercostal-[Brustkorb-; wp] Empfindlichkeit.

Ganz enorm war seine "Ovarialgie". Druck auf die betreffende Gegend der linken Seite rief nicht nur Schmerz hervor, sondern eine gegen den Magen und Pharynx aufsteigende Empfindung und er klagte überhaupt über jene Empfindung, die wir als Bolus hystericus [Kloß im Hals - wp] bezeichnen.

Ganz außerordentliche Angst empfand der Kranke vor einem Druckversuch der rechten "Ovarialgegend". Schon bei der Annäherung der Hand geriet der Kranke in große Aufregung, und bei Beginn des Drucks brach ein fürchterliher epileptischer Anfall aus, der den Charakter der von mir als "Straßen-Epilepsie" bezeichneten Form hatte.

Ich erfuhr aber auch, daß er Lach- und Weinkrämpfe hatte. Ich füge hinzu, daß mich der Mann überraschte, als er sich als Epileptiker vorstellte.

Er war bereits durch mehrere Wochen zu mir in die Privatordination gekommen, da er einen kleinen Knaben mit spinaler Kinderlähmung täglich - circa einen halben Kilometer weit - trug, und obwohl er täglich eine Reihe von Anfällen hatte, war ihm beim Hin- und Hertransport des Kranken nie ein Unfall zugestoßen und erscheute sich offenbar, um nicht um seinen Lebensunterhalt zu kommen, mir früher sein Leiden einzugestehen.

Daß es sich hier um virile hysterische Konvulsionen handle, ist wohl kein Zweifel und der Umstand, daß er zur Zeit seiner Beschäftigung die Anfälle zurückhalten konnte, spricht nicht weniger als die früher genannten Symptome für diese Form des Leidens. Er wurde nun jener Therapie unterzogen, welche mir bei hysterischen Konvulsionen ausgezeichnete Dienste geleistet hat, nämlich der Magnetotherapie. Der Kranke wurde auf den Bauch gelagert und ein energisch wirkender englischer Magnet - in ein Tuch eingewickelt - nacheinander unter die beiden "Ovarial-Regionen" geschoben. Merkwürdigerweise löste die erste Applikation - wahrscheinlich durch mechanischen Druck - einen Anfall aus.

Aber nach wenigen Applikationen wurden die Anfälle seltener und leichter und nach einer Therapie von zirka drei Wochen blieben die Anfälle aus. Es sei bemerkt, daß der Magnet später auch an der Wirbelsäule appliziert wurde.

Die Indikation zur Fortsetzung der Magnetotherapie in solchen Fällen erhält man gewöhnlich von der ersten Sitzung an, da die Rhachialgie und Ovarie - letztere auch ohne lokale Applikation - abnehmen und schwinden.

Noch sicherer wirkt der Magnet bei mehr lokalen hysterischen Prozessen: Anästhesien, Kontraktionen, lokalen Lähmungen etc.

Deshalb habe ich gerade in den letzten Jahren den Magneten der Hypnose und Suggestion vorgezogen.

Letztere degradiert den Menschen, ersterer nicht. Die Magnetotherapie reduziert also die Indikation für die hypnotische Therapie sehr wesentlich und auch in den Fällen, wo der Magnet Hypnose erzeugt, verliert diese  physikalische  Einwirkung bei den Kranken das Ominöse der mysterischen Einwirkung der Hypnose.

LITERATUR - Moriz Benedikt, Hypnotismus und Suggestion, Leipzig und Wien 1894