ra-2Der Optimismus als WeltanschauungDer soziale OptimismusAnny Angel     
 
CARL PRANTL
Über die Berechtigung
des Optimismus


"Sie werden ja als wahrhaft Studierende gewiß frei sein von jener vielfach verbreiteten Oberflächlichkeit und Blasiertheit, welche ohne alle Ahnung eines tieferen Lebensgehaltes lediglich das Pikante aufsucht und schließlich die auch hierin wieder abgestumpften Nerven nur noch pessimistisch durch  erquickenden Verdruß  aufzustacheln vermag. Aber wenn der Pessimismus seinerseits selbst mit dem Anspruch auftritt, gegenüber einer allgemeinen Seichtigkeit und einer illusorischen Träumerei der gewöhnlichen Menschen zum ausschließlichen Besitz der wahren Tiefe des Lebens vorgedrungen zu sein, wenn er Methode angenommen hat und im stolzen Gewand wissenschaftlicher Darlegung einherschreitet, ja sich selbst als einzig sachgemäße Philosophie verkündet, so ist die Sachlage bereits ernster, indem gerade auch für die Jünger der Wissenschaft eine Verlockung gegeben ist, sich durch Anschluß an diese jüngste Errungenschaft der Philosophie vollends auf den Boden der modernen Zeit zu stellen."

Hochansehnliche Versammlung!

Wenn es durch eine ältere Vorschrift und durch ununterbrochenes Herkommen dem jeweiligen Rektor obliegt, im Namen der höchsten Bildungsanstalt an die Studierenden eine aneifernde Ansprache zu richten, so wird der Redner wahrlich nicht die vergebliche Absicht verfolgen, in die Seelen der akademischen Jünglinge gleichsam wie in ein leeres Gefäß neue ungehörte Pflichtgedanken von Außen hineinzutragen und hierdurch eine völlige Umwandlung zu bewirken. Welche die Pflichten seien, die Sie übernehmen, ist Ihnen schon oft durch Andere gesagt worden und haben Sie Sich auch Selbst oft gesagt. Es ließe sich ja überhaupt die Ansicht vertreten, daß jede Ermahnungsrede in gewissem Sinne je nach Befund der Begabung des Hörers entweder, falls demselben das Richtige mangelt, erfolglos, oder aber, wenn er genügende Tüchtigkeit besitzt, überflüssig sei. Doch "wer hat, dem wird gegeben", d. h. jedes Besitztum ist entwicklungsfähig und trägt die Möglichkeit einer Steigerung der Erträgnisse in sich. Anzuknüpfen also an Vorhandenes und dasselbe anzufachen, um die Empfänglichkeit in Tätigkeit umzusetzen, dürfte wohl kaum ein zweckloses Unternehmen sein.

Indem ich somit den Vorrat desjenigen überblicke, was Sie, meine jungen akademischen Freunde, seit kürzerer oder längerer Zeit bereits als Vorhandenes hierher gebracht haben, so ist derselbe immerhin leidlich groß, so daß mir die Wahl eines Anknüpfungspunktes schwer werden könnte. Sie haben in ihren Vorstudien, wenn auch vielfach ungeahnt, eine Fülle einzelner idealer Güter in sich aufgenommen, deren jedes einer weiteren Erweckung und Darlegung reichlichen Raum gäbe; - doch hierauf soll meine Rede nicht abzielen. Im Allgemeinen aber haben Sie, Dank Ihren Eltern, Erziehern und Lehrern, eine sittliche und geistige Stufe erreicht, welche Ihnen, sei es erst jüngst oder bereits früher, in amtlichem Stil durch ein Zeugnis der Reife bestätigt wurde; diese Reife jedoch ist oder war, wie Sie wohl Selbst fühlen, immerhin noch eine sehr relative, welche etwa der Reife einer Knospe zu vergleichen wäre. Und eben nun in Ihrem selbsteigenen Wunsch, daß diese hoffnungsreiche Knospe sich entfalte und dereinst zur erfreulichen Frucht gedeihe, möchte ich den glimmenden Funken wählen, welchen anzufachen mir gestattet sei.

Ich glaube nämlich sicher annehmen zu dürfen, daß Sie Alle nicht ohne freudige Begeisterung die Schwelle der Universität betraten und hieran eine, wenn auch unbestimmte, Erwartung knüpften, daß kraft eigenen Tuns sich Ihre spätere Zukunft möglichst günstig gestalten werde. Dies ist der Boden, auf welchen ich mich mit Vergnügen stelle, um Sie einzuladen, eine kurze Weile dem bescheidenen Rauschen eines Wellenschlages der Philosophie Gehör zu schenken, wenn ich zu Ihnen über  die Berechtigung des Optimismus  zu sprechen gedenke, welchem ja, wie bekannt, seit längerer Zeit als Modekrankheit eine pessimistische Weltanschauung gegenüber getreten ist.

Wohl bin ich mir hierbei der Schwierigkeit meiner Aufgabe bewußt und muß von vornherein milde Nachsicht beanspruchen, insofern es nicht gelingen kann, ein Problem, dessen Besprechung in der Literatur nahezu eine kleine Büchersammlung bildet, in dem engen Rahmen einer Rede allseitig begründet zu erledigen. Wenn ich mich auf einige Gesichtspunkte und Fingerzeige, welche vielleicht auf Weiteres und Tieferes hinweisen könnten, beschränken muß, so sei auch für diese eine freundliche Aufnahme erbeten.

Gerne möchte ich voraussetzen, muß aber jedenfalls lebhaftest wünschen, daß Sie, meine jungen Freunde, nicht bereits Selbst von jener Denkweise angekränkelt sind, welche nicht nur aus einer weit verbreiteten philosophischen Literatur, sondern auch aus Werken der deutschen oder der italienischen Poesie oder selbst aus populären Schriften über Geographie, Völkerkunde und Kulturgeschichte, ja in neuester Zeit sogar aus einem eigenen Pessimistenbrevier geschöpft werden kann. Nicht daß ich etwa der Meinung wäre, es solle Ihnen diese zur Zeit einmal vorhandene Strömung vorenthalten bleiben, sondern ganz abgesehen von der Frage über die Wahl geeigneter oder geigneterer Lektüre geht mein Wunsch dahin, daß Ihre geistige Begabung solchen ansteckend wirkenden Einflüssen den richtigen Widerstand entgegensetzen möge; und ich möchte eine Erfüllung dieses Wunsches schon darum erwarten, weil es mir nicht wahrscheinlich dünkt, daß Sie mitten in den Frühling Ihres Lebens einen erstarrenden Winter hätten einziehen lassen. Auch werden Sie ja als wahrhaft Studierende gewiß frei sein von jener vielfach verbreiteten Oberflächlichkeit und Blasiertheit, welche ohne alle Ahnung eines tieferen Lebensgehaltes lediglich das Pikante aufsucht und schließlich die auch hierin wieder abgestumpften Nerven nur noch pessimistisch durch "erquickenden Verdruß" aufzustacheln vermag. Aber wenn der Pessimismus seinerseits selbst mit dem Anspruch auftritt, gegenüber einer allgemeinen Seichtigkeit und einer illusorischen Träumerei der gewöhnlichen Menschen zum ausschließlichen Besitz der wahren Tiefe des Lebens vorgedrungen zu sein, wenn er Methode angenommen hat und im stolzen Gewand wissenschaftlicher Darlegung einherschreitet, ja sich selbst als einzig sachgemäße Philosophie verkündet, so ist die Sachlage bereits ernster, indem gerade auch für die Jünger der Wissenschaft eine Verlockung gegeben ist, sich durch Anschluß an diese jüngste Errungenschaft der Philosophie vollends auf den Boden der modernen Zeit zu stellen.

Einzelnen Ausrufen, Sentenzen und Sprüchen, welche in größerer und kleinerer Tragweite, mit geringerer oder stärkerer Heftigkeit Klagen über die Vergänglichkeit der Dinge und über die Leiden des Menschenlebens kundgeben und somit an den Pessimismus stiller oder lauter anklingen, begegnen wir nahezu in allen Zeiten und bei allen Völkern, so daß man auch sammelnde Zusammenstellungen versuchte, um einen allerdings sehr fadenscheinigen Induktionsbeweis für die angebliche Allgemeingültigkeit derartiger Grundsätze zu gewinnen. Und wenn es sodann in der Blütezeit unserer Romantik einzelne Personen waren, welche sich für die auserwählten Verzweifelten hielten und den Weltschmerz als ein nur ihnen zustehendes Privilegium beanspruchten, so verblieben solche Vertreter einer bloß subjektiven Stimmung immerhin noch ebenso in der Minderheit, wie jene mannigfachen Klagerufe sich doch nur als die notwendigen Schattenstriche eines lichtvoll glänzenden Gemäldes erweisen. Den Pessimismus ingegen zu einem objektiv auftretenden System den Pessimismus zu erheben, war erst der Neuzeit vorbehalten, in welcher das allgemeine Weltgesetz der Welt-Nichtigkeit sowohl von der bahnbrechenden Philosophie entdeckt wurde, als auch zugleich berufen sein soll, künftig in der Überzeugung der Massen den Grundzug zu bilden.

Man preist die Pflanzen und die Tiere glücklich, weil sie nicht zum Bewußtsein des Weltelends gelangen, dem Menschen aber, welcher höchstens im traumlosen Schlaf an der vegetabilisch-animalischen Seligkeit teilnimmt, wird das Dasein selbst als ein Unglück zugewiesen, sowie als höchstes Ziel die Einsicht in die Unvernünftigkeit des Lebenwollens, denn durch die Wahrheit werde der ganze Umkreis jener Jllusionen beseitigt, durch welche den gewöhnlichen Menschen das Leben noch als erträglich erscheine. In Wirklichkeit sei ja jede Willensäußerung aus einem Bedürfnis entsprungen und trete als eine der Befriedigung desselben dienende Anstrengung auf, jede Anstrengung aber sei ein schmerzliches Übel und ebenso hinwiederum jede Befriedigung nur ein vorübergehender Ruhepunkt und folglich ansich illusorisch; je gerade mit Steigerung der menschlichen Intelligenz steigere sich die Empfindlichkeit für Bedürfnisse und somit die Tantalusqual einer fortwährenden Nichtbefriedigung derselben. Ergebe sich sonach, daß im ganzen Menschengeschlecht stets die Summe des wenigen Glückes weit überragt werde von der Summe des weitverbreiteten Unglücks, so sei in einer Welt, welche sich in ihrer gesamten Einrichtung als die möglichst schlechteste erweise, das Leben ein Geschäft, welches die Kosten nicht decke.

Solcher Art lautet in Kürze die Weltanschauung des modernen Pessimismus, so daß den ruhigen Beobachter selbst nahezu eine gleich entsprechende Stimmung überkommen könnte, insofern er an einen drohenden Niedergang der Kultur zu denken geneigt sein müßte, da bei aufsteigender Kultur noch nie derlei Nihilismus zu einer solch systematischen Gestaltung gelangt ist.

Was nun wollen wir erwidern? oder richtiger: Was können wir in begründeter Weise entgegenstellen? und folglich: Wie müssen wir den gegen unser ganzes Dasein gerichteten Angriff der Verzweiflung abwehren?

Indem wir uns hier an einer Stätte der Wissenschaften befinden, dürfte wohl diejenige unter denselben, welche sich nach allgemeiner Annahme mit den letzten und umfassendsten Fragen beschäftigen soll, die Verpflichtung in sich fühlen, auch für das "Lebenwollen" des Menschen eine schließliche Stütze aufzuweisen und zwar wird hierbei die Philosophie zur Lösung des Problems womöglich einen Ausgangspunkt zu gewinnen suchen, welcher keinem Zweifel unterliegt und sich sonach als taugliche Basis für eine weitere Begründung erweist.

Schlicht und populär möge die Formel lauten: "Der Mensch wird Optimist sein aus dem Gefühl des eigenen Wertes" oder wie es SCHILLER in edler schönerer Weise ausdrückte:
    "Das Spiel des Lebens sieht sich heiter an,
    Wenn man den sichern Schatz im Busen trägt."
Doch indem wir hinzufügen, daß wir bei der genaueren Frage um diesen Schatz eben an den allgemeinen Wert des Menschenwesens denken, sind wir einer philosophischen Erwägung um Vieles näher gerückt, wenn auch zugegeben werden muß, daß das Gefühl, ein Mensch zu sein und sich wahrhaft als solchen betätigen zu wollen, in tausend Abstufungen dunkler oder heller, unreifer geahnt oder reifer gedacht, beschränkter oder umfassender, ja auch verschobener oder zutreffender auftreten kann.

Indem nun die Philosophie dem alten Imperativ  gnothi sauton  [Erkenne dich selbst! - wp] folgend den Wert des Menschen zu erfassen versucht, ist sie ebenso unwillkürlich als unweigerlich auf eine Vergleichung desselben mit anderen uns erfahrungsmäßig bekannten Wesen hingewiesen. Hierbei aber glaubt sie  einen  unbestreitbaren Punkt zu entdecken; nämlich wenn man auch noch so sehr entweder in sentimentaler Bewunderung die Tiere zum Menschen hinaufrückte, indem man in ihnen Künstler oder selbst Staatenbildner entdecken wollte, oder aber in materialistischem Stumpfsinn die Menschen zum Tier herabdrückte, indem man alle Heterogenität der menschlichen Entwicklung verneinte, verbleibt doch der unwidersprechliche Unterschied, daß in des Menschen psychischer Begabung die Fähigkeit liegt, in und neben den Sinneseindrücken des räumlich Ausgedehnten auch die Intensität des Zeitverlaufes selbst erfassend festzuhalten. So kann der Mensch und zwar nur der Mensch zählen und den Faden reiner Sukzession derartig fortspinnen, daß von jenem, womit der jeweilige Zeitteil erfüllt ist, abgesehen und somit eine Unabhängigkeit vom materiellen Einzelbefund betätigt wird. Die entscheidende Folge hiervon ist, daß der Mensch zum unwandelbaren Bewußtsein gelangt, im Wandel der Eindrücke der nämliche zu sein und zu bleiben, der er vorher war, d. h. zu einem die Persönlichkeit in sich schließenden Ich-Bewußtsein, in welchem die Unterscheidung und zugleich Wechselbeziehung zwischen Subjekt und Objekt ermöglicht ist. So läge in einem eigenartigen Zeitsinn oder Kontinuitätssinn eine greifbare Fassung jenes unbeschreiblichen Etwas, wodurch im Unterschied vom Tier alle menschliche Entwicklung bedingt ist; denn durch eine solche Begabung allein setzt sich die tierische Perzeption der Umgebung in die denkende menschliche Wahrnehmung um, erhebt sich das befangene animalische Wollen zur weitgreifenden Beabsichtigung und Zielsetzung und steigert sich die Verlautbarung der Tiere zur gedankenhaltigen Sprache der redenden Menschen. Der Mensch ist nicht bloß Verzehrer und Benützer der materiellen Umgebung, er ist auch Werkmeister, Umbildner, Verbesserer des Vorliegenden, ja Schöpfer unzähliger Dinge und Verhältnisse, sowie mannigfacher Gesetze, welche erst mit der allmählichen Entfaltung des Menschenwesens in Erscheinung traten. Kein Tier steckt Samenkörner in die Erde, kein Tier macht Feuer, kein Tier fertigt sich Werkzeuge, Geräte oder Waffen an, kein Tier schmückt sich, kein Tier - doch wozu eine weitere Aufzählung allbekannter Dinge!

Daß der Mensch auf Sinnesfunktionen angewiesen ist, hat auch der Idealismus, selbst wenn er die Existenz objektiver Dinge bestritt, nie bezweifelt, und ohne Nerven vermag der Mensch Nichts von Allem, was er leistet, zu betätigen, aber auch nicht ohne die Empfänglichkeit eines Zeitsinns, welcher ein nicht konkret Materielles in wirkliche Wirksamkeit treten läßt und hierdurch die Basis aller Äußerungen der sämtlichen idealen Impulse ist. Jawohl unentbehrlich - nicht etwa nur als lästige Erbschaft überkommen - sind uns die Worte "Ideales" oder "Idealität" zur Bezeichnung desjenigen, was sich im Vergleich mit den Tieren im Menschen als Andersartiges entwickelt. Auf eine volle Darlegung der segensvolle Reihe der idealen Funktionen im Menschenleben muß hier allerdings verzichtet werden, insofern hierzu das ganze System der sogenannten Geistesphilosophie erforderlich wäre; aber einige Blicke in das Walten der erwähnten Begabung dürften vielleicht bereits genügen, um ein Ergebnis zu erreichen, welches uns im Allgemeinen den Wert des Menschenwesens, um welchen wir oben fragten, erkennen läßt, so daß die gleiche Grundlage auch für Übriges gültig wäre.

Es mag sein, daß die Tiere bei ihrer vielbesprochenen Zuchtwahl von einem gewissen Gefühl der Schönheit geleitet seien; aber abgesehen davon, daß bei einer solchen Ausdrucksweise bereits eine nicht unbestreitbare Übertragung menschlicher Empfinungsart mitspielt, liegt solchen tierischen Motiven eben doch nur eine selbstsüchtige Freude am selbsteigenen Einzelwesen zugrunde, und wir werden nicht irren, wenn wir dem Tier die Fähigkeit absprechen, z. B. eine Landschaft als solche schön zu finden. Der Mensch hingegen, welcher, wie bemerkt, Subjekt und Objekt unterscheidet und beides im Zusammenwirken erfaßt, trägt ein ideales Gefühl auch in die objektive Umgebung hinein und kann hierbei selbst die Erwägung seiner realen Bedürfnisse geradezu beiseite setzen. Wir finden ja z. B. ein Gletschergebirge zum Entzücken schön, während wohl niemand die Gletscher als eine sehr nützliche Einrichtung bezeichnen wird, oder man braucht kein NERO zu sein, d. h. ein NERO, wie ihn die Sage darstellt, um sogar bei einer Feuersbrunst trotz allem auch eine momentane Empfindung des Schönen auftauchen zu lassen. Ein unsagbares Etwas heißt uns in die objektive Naturbetrachtung ästhetische Motive hineinlegen, um dieselben sodann im Kunstschönen durch mannigfaltigste Selbsttat als einen geistigen Gewinn daraus davonzutragen, welcher weit über den individuellen Egoismus des Genießens emporragt, indem er von der gemeinschaftlichen idealen Begabung einer Mitwelt mitempfunden wird.

Desgleichen sucht ja gewiß jedes Naturwesen sein Dasein zu erhalten und somit seinen ihm eigentümlichen Zweck zu erfüllen, - ein Tatbestand, bezüglich dessen das jüngst in Übung gekommene Wort "Zielstrebigkeit", welches vielleicht auch in der anorganischen Natur (bei chemischer Wahlverwandtschaft und bei Kristallisation) seine Geltung bewähren dürfte, kaum durch ein besseres ersetzt werden kann. Jedenfalls aber wirkt in der Tierwelt auch dieser Impuls lediglich im Dienst des selbsteigenen Einzelwesens, und wir befürchten nicht, auf Widerspruch zu stoßen, wenn wir sagen, daß kein Tier die Zielstrebigkeit anderer Naturding anerkennt, sondern jedes rücksichtslos, soweit seine Macht reicht, nur seine animalischen Zwecke verfolgt. Der Mensch aber vermag auch in dieser Richtung die objektive Außenwelt und die subjektiv eigene Sphäre unterscheidend festzuhalten und in Beziehung zu setzen. Indem er für beide gemeinschaftlich aus seinem Zweckbewußtsein schöpfend den Begriff des Guten als des dem wahren Wesen Nützlichen erfaßt, erblickt er in seiner sämtlichen Umgebung ein teleologisches Wirken und erkennt ebenso in seiner eigenen Zielstrebigkeit den Imperativ, die Menschenwürde allseitig aufrechtzuhalten, wobei sich die bewußte Fügsamkeit unter das Allgemeine zur sittlichen Idee gestaltet, vermöge deren seit Menschengedenken die ausschließlich Geltendmachung egoistischen Strebens im nämlichen Maß von der Mitwelt verurteilt wurde und wird, in welchem andererseits durch die jeweilige Auffassung des Menschenideals der Einzelne sich geleitet und gehoben findet.

Ebenso ferner wird jeder Unbefangene zugestehen, daß auch die Tiere Kausalitätsschlüsse machen, und zwar sowohl rückläufige, z. B. wenn ein Tier erspäht, woher ein Angriff gekommen sei, als auch Erwartungsschlüsse, in Folge deren es von Furcht oder von hoffender Begierde ergriffen wird. Und wenn man sonach in Kürze sagt, daß auch die Tiere denken, so möge hierüber nicht der Wortstreit zur Hauptsache gemacht werden, wenn es uns auch ratsamer erscheint, bei Tieren von einer Auffassung zu sprechen und das Denken für uns Menschen zu reservieren. Im tatsächlichen Befung ist ja ersichtlich, daß auch jene tierischen Schlußfolgerungen lediglich dem selbstischen Selbsterhaltungstrieb des Einzelwesens dienen und wir werden sonach nicht fehlgreifen, wenn wir dem Tier sowohl die Befähigung als auch das Bedürfnis absprechen, über den objektiven Befund der Dinge als objektiver wissentlich nachzudenken. Des Menschen Begabung aber führt im Laufe der Kultur zu einem allumfassenden sowohl das eigene Ich als auch die ganze uns zugängliche Welt umspannenden Wissendurst, in dessen jeweiliger Befriedigung sowohl der Forscher als auch die der Wahrheit bedürftige und für dieselbe empfängliche Mitwelt den höchsten Sieg idealen Strebens feiert, - ein Gebiet, welches für uns hier an dieser Stätte schwerlich einer weiteren Lobpreisung bedarf.

Ziehen wir aus diesen wenigen Strichen eine Summe, so wird bereits der Wert des Menschen nicht mehr zweifelhaft sein. Er besteht darin, daß in den psychischen Kräften desselben eine Entwicklung ermöglicht ist, in welcher ein subjektives Ichbewußtsein eine wesenseinheitliche Wechselbeziehung mit der Objektivität betätigt und dabei zugleich kraft einer Allgemeinheit die Einzelindividuen umfaßt und überragt. Dieses Allgemeine, mag es in leisen keimartigen Anklängen oder in reicherer Gestaltung, mag es in Sitte und Sittlichkeit oder in Recht und Staat oder in Kunst, Religion und Wissenschaft auftreten, bezeichnen wir mit dem einheitlichen Begriff des Idealen, welcher uns sonach als untrennbar vom Menschenwesen gilt. Vergleichbar jenen Blumen, welche erst nach Tagesanbruch bei vollem Sonnenschein ihre Blütenblätter entfalten, bedürfen auch alle wahrhaft menschlichen Antriebe der belebenden Kraft jener zentralen Leuchte, durch welche unser ganzes sinnliches Dasein erhellt ist. Sich in der dem eigenen Wesen einwohnenden Begabung wirklich als Mensch zu fühlen und wirksam als solchen zu betätigen, - darin liegt der letzte unentreißbare Grund des Optimismus. Der Mensch träg die Fähigkeit idealer nicht-tierischer Impulse in sich, und sowie überhaupt das erstrebte Ziel in der Verwirklichung der potenziellen Anlage besteht, so wird auch beim Menschen die Entwicklung des ganzen vollen Gehaltes als beglückendes Gut zu suchen und, soweit sie erreicht ist, mit heiterer Genugtuun zu begrüßen sein.

Es ist eine klägliche wohlfeile Weisheit, alle Ideale als Jllusionen zu bezeichnen. Menschliche Kultur ja ist eine Tatsache, und nur eine vorgefaßte Meinung kann die fortschreitende Entwicklung derselben verneinen wollen; Kultur aber ist ohne ideale Ziele ebenso unerklärlich als unmöglich; folglich ist es wirklich selbst eine Jllusion, jene sogenannten Jllusionen beseitigen zu wollen, und demjenigen, der dies unternimmt, verbleibt nur der nackte Nihilismus einer Abnegation des Lebenwollens. Das ist eben die Beschränktheit und Niedrigkeit der pessimistischen Anschauung, daß sie folgerichtig durchgeführt alles abstreift, was erhebend und adelnd wirkt. Pessimist kann nur sein, wem das Gefühl des letzten idealen Funkens und hiermit jeder Halt derartig abhanden gekommen ist, daß alle Tatkraft nicht etwa nur vorübergehend gelähmt, sondern einem völligen Erstickungstod erlegen ist. Allerdings ist in den verschiedenen literarischen Erscheinungen des Pessimismus zuweilen auch ein ansich rühmliche Bekämpfung des Egoismus zutage getreten, insofern sowohl im Allgemeinen der Verzicht auf das Lebenwollen den selbstischen Neigungen Abbruch tun muß, als auch insbesondere die Forderung der Freundeshilfe gegen die feindlichen Naturgewalten betont wurde; aber da letzteres jedenfalls wieder eine Anstrengung und folglich Schmerz in sich trägt, wird der konsequente Pessimist es vorziehen müssen, sich nicht weiter zu bemühen, sondern passiv ruhig im Nirvana aufzugehen und hierdurch das absolute Unbewußte in desselben eigener Befreiung von der verzweiflungsvollen Weltexistenz zu unterstützen.

Wenn hingegen jede Zielstrebigkeit nur als eine Kraftäußerung und als ein Tun zu denken ist, so werden auch die idealen Impulse des Menschen nicht in einem Dahinträumen bestehen, sondern Tätigkeit allein führt zum Gefühl der Befriedigung über ein erstrebtes Ziel. Alle Ideen haben ja nur soviel Wert, als sie Kraft der Verwirklichung in sich tragen. Gewinnen wir so als vollgültige und umfassende Formel die Forderung, "aus dem Vorhandenen das Bestmögliche zu machen", so kann die Berechtigung des Optimismus nicht mehr bestritten werden. Unter dem "Vorhandenen" verstehen wir die gesamte Summe der äußeren natürlichen und menschlich-geschichtlichen Umgebung nebst der eigenen Begabung des Individuums nach all seinen Seiten; im Wort "machen" liegt uns die unweigerliche und unerläßliche Forderung der Selbsttätigkeit, und das "Bestmögliche" wird zweifellos den mannigfachen idealen Zielen entsprechen. Sowie der Magnet seine Kraft verliert, wenn er längere Zeit nicht in der passenden Richtung liegt, so bedarf der Mensch idealer Zwecke, wenn er nicht zu einer Stufe herabsinken soll, auf welcher nur das Animalische im Rest bleibt. In der Richtung aller geistigen Ziele liegt es, daß das Wollen über das Können geht, denn letzteres selbst wird durch ersteres allmählich gesteigert, indem der Wille unablässig das Ziel höher rückt, So ist es die Arbeit, welche in beseligender Überwindung der Schwierigkeiten zu jenem Adel der Gesinnung und zu jener Energie führt, welche als Herrin ihrer selbst und des ganzen Lebens ihre Befriedigung erreicht und jeden Pessimismus grundsätzlich ausschließt. Für jene Anschauung, wonach in der Arbeit durchaus Nichts als eine schmerzliche Last erblickt werden will, gestehen wir einfach überhaupt kein Verständnis zu haben. Durch Arbeit sind ja alle Individuen und Völker groß geworden, wenn sie es geworden. Wenn jeder in seinem Wirkungsgebeit, sei dasselbe größer oder kleiner, stärker oder schwächer, tiefer oder seichter, sich zweckentsprechend betätigt, wird er seines eigenen Wertes nicht bloß bewußt, sondern auch froh sein. In solchem Grundsatz stimmen unsere beiden großen nationalen Dichter überein, wenn wir bei dem einen (SCHILLER) lesen:
    "Erst dann genieß' ich meines Lebens recht,
    Wenn ich mir's jeden Tag aufs neu erbeute"
und bei dem anderen (GOETHE):
    "Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben,
    der täglich sie erobern muß."
Immer aber ist es der allgemeine Menschenwert, auf welchen wir uns hierbei berufen, und die idealen Zwecke sind es, deren Verwirklichung den berechtigten Optimismus mit sich bringt. Ausgeschlossen daher bleibt der Individualismus einer sich selbst bespiegelnden Eitelkeit, welche nur für äußere Vorzüge ein Verständnis besitzt, ausgeschlossen auch der Egoismus des Hochmutes, welcher die Mitmenschen verachtend sich im individuellen Alleinbesitz des Seinsollenden wähnt und ausgeschlossen und auch selbstverständlicher Weise die höhnische Freude, welche einen Wert darin legt, das Unschöne, das Unsittlich, das Unrecht und das Unwahre zu verwirklichen d. h. überhaupt nur in positivem Gegensatz gegen die idealen Zwecke den Trieb selbständiger Tätigkeit zu verwerten. Und ebensowenig werden wir den Galgenhumor als berechtigten Optimismus gelten lassen, daher auch schwerlich es freudig begrüßen, wenn die pessimistische Literatur in einer ihrer extremsten Erscheinungen zu einer derartigen fröhlichen Stimmung umschlägt und uns auffordert, "eine Harlekins-Jacke aus dem Leichentuch zu machen, da auf dieser langweiligen Lehmkugel es noch das vernünftigste sei, unvernünftig zu sein."

Den Hohn, welchen etwas Pessimisten über unsere Ansicht ergießen könnten, indem sie mit einem ihrer hervorragendsten Meister den Optimismus geradezu als eine ruchlose Denkweise bezeichnen, dürfen wir wohl mit einem mitleidigen, aber ruhigen Lächeln erwidern, insofern uns nach unbefangenster Erwägung es sich bewahrheitet, daß irgendein idealer Sinn dem Menschen wesentlich und folglich unverwüstlich einwohne, so daß die jüngst beliebte Weltverteuflung wohl nie geistiges Gemeingut werden könne, sondern einigen wenigen eigentümlich bevorzugten Denkern zu ihrem besonderen idealen Vergnügen vorbehalten bleiben möge.

Die Frage, ob die Welt wirklich objektiv die bestmögliche sei, liegt völlig außerhalb unserer Erwägung; man spricht dabei so gerne von der Welt und denkt eben doch eigentlich nur an das Pünktchen Erde, und zugleich mißt man die Güte derselben ja nur nach dem Maßstab dessen, was uns gut und zuträglich zu sein dünkt, also immer nach unseren eigenen Interessen. Und wenn dann hierbei jene Frage in Anbetracht des zahllosen Mißlichen, welches unserem eigenen Leib anklebt und den uns umgebenden Naturdingen einwohnt, geradezu verneint werden muß, so erblicken wir hierin nur das Zugeständnis, daß das goldene Zeitalter oder die sogenannte paradiesische Existenz lediglich poetisches Ideal ist, durch welches wir uns eben über das konkret Materielle erheben, d. h. daß im wirklichen Dasein nicht mühelos noch tatenlos durch bloßes Genießen die Zielstrebigkeit des Menschen ihre Erfüllung findet, sondern Tausende kleinerer und größerer chaotischer Hemmnisse durch eigene Menschenkraft zu überwinden sind. Somit begründen wir auch den Optimismus wahrlich nicht auf ein quietistisch genüßliches Behagen am Vorhandenen, sondern in die zweckvolle Bewältigung und Beherrschung des Gegebenen mußten wir die wesentliche Betätigung des Menschen verlegen. Mag die Welt, d. h. näher die Erde, qualitativ beschaffen sein wie sie will, wir stellen für uns das erreichbar Höchste her. Dies genügt uns.

Desgleichen verzichten wir darauf, die bei einem solchen Kampf sich erhebende Summe des Glücks und des Unglücks, des erfreuenden Gutes und des drückende Übels festzustellen. Wir stehen hierbei vor einer Sachlage, bei welcher wir entschieden gegen den vielbenützten Satz, daß Zahlen sprechen, einen Einwand erheben müssen. Zahlen sprechen nämlich nur, wo und soweit sie eben können. Wer aber darf sich vermessen, es in Zahlen auszudrücken, wie ein und derselbe Tatbestand von den Menschen je nach Alter, Geschlecht, leiblicher Gesundheit, psychischer Anlage, Erziehung, Gewohnheit, Bildung und Berufsklassen in unzähligen Abstufungen mehr oder minder als glückliches Wohlbehagen oder als mißliches Übel empfunden wird. Durch die qualitative Entstehung und Verschiedenheit der Lust- und Schmerzgefühle wird jede quantitative Gruppierung derselben in einem endlosen Wechsel durchkreuzt und durchstrichen sich als völlig hinfällig erweisen. Vollends aber uns das ungetrübte Glück der Tiere gegenüberzustellen, muß den Bewunderern des Unbewußten überlassen bleiben.

Daß der menschliche Wille es nicht vermag, den unermeßlichen Gewalten der Natur allseitig zu gebieten, daß es an ungezählten größeren und kleineren regelmäßig bestehenden oder wiederkehrenden Übeln, ja auch an gräßlichen und entsetzlichen Katastrophen nicht gebricht, wird auch der auf die idealen Ziele blickende Optimist nicht verneinen, und wenn wir uns die individuelle Lage einzelner wahrhaft Unglücklicher vergegenwärtigen, deren ganze Tatkraft durch unverschuldetes äußerstes Elend verschiedenster Art gelähmt sein kann, so werden wir uns wahrlich nicht der doktrinären Übertreibung schuldig machen, zu fordern, daß der Mensch auch in einem tatsächlich hoffnungslosem bleibenden Zustand sich an freudig heiterem Optimismus stärke. Aber trotzdem zweifeln wir, ob er berechtigt sei, sich dem Pessimismus als einem System objektiver Weltanschauung hinzugeben. Trost ist ebenso sehr ein vieldeutiges Wort wie ansich ein gar relatives Ding. Wir geben zu, daß es kaum ein Trost ist, sich gegenüber vielen Glücklicheren als eine der mannigfach vorkommenden Ausnahmen zu wissen, sowie ja überhaupt das Vergleichen in einer solchen Beziehung eher drückend als anregend wirken mag; aber etwas tröstlicher kann bereits der Sinnspruch eines unbekannten Autors betreffs der  socii malorum  [Brüder im Bösen - wp] gedeutet zu werden, und wenn damit etwa des HORATIUS "Nil admirari" [Nicht beeindrucken lassen - wp] in Anwendung auf die selbsteigene Individualität verbunden wird, so kann sich bei einer im Übrigen normalen Anlage die "Resignation" ergeben, in welcher nicht ohne Blick auf das Allgemeine immerhin noch die Menschenwürde aufrecht erhalten bleibt und die Gefahr, in derselben zu sinken, abgewendet ist. Und auch das wird je nach den Umständen genügen müssen.

Doch während hiermit auch jener Fälle gedacht werden mußte, in welchen das Bild des Lebens in düsteren Farben erscheint, befinde ich mich hier in der erfreulichen Lage, zu einer akademischen Jugend zu sprechen, welche in der Vollkraft ihrer Entwicklungsfähigkeit freudigen Herzens ein hoch gestecktes Ziel zu erreichen bemüht ist. "Es wächst der Mensch mit seinen größeren Zwecken", - dies fühlen Sie bereits als Erlebnis in Ihrem Innern, und werden, wie ich hoffe und wünsche, es noch in oftmaliger Wiederholung von Neuem erleben. Sie tragen ideale Wünsche in Sich, bei welchen Sie nicht etwa mit geträumter Befriedigung ein müßiges Spiel treiben, sondern in welchen die wirksame Triebfeder eines zwecksetzenden Wollens Ihnen den Pfad der Entwicklung zu Besserem und abermals Besserem erschließt. So ruft Ihnen SCHILLER zu:
    "Rastlos vorwärts mußt Du streben, Nie ermüdet stille stehen."
Nicht berechnen werden Sie Ihre Zukunft, wohl aber im Vertrauen auf den Wert Ihrer eigenen Kräfte mit unbefangenem optimistischen Frohsinn Sich einer Arbeit hingeben, deren Erfolg die Erfüllung Ihrer Wünsche mit sich bringen soll.

Wohl wird bei gar Manchem von Ihnen in  einer  Beziehung ein drückendes Gefühl die Freude des Strebens begleiten oder durchkreuzen, nämlich daß der selbsteigene Erwerb der unerläßlich äußeren Lebensbedingungen erst noch einer späteren Zukunft anheimgegeben bleibt und Sie zur Zeit von der liebenden Beihilfe der Ihnen näher oder nächst Stehenden abhängig sind, ja vielfach denselben Sorge und Bedrängnis verursachen. Darum auch werden Sie die Ihnen so zu Gebot stehenden Mittel nicht unnütz vergeuden, sondern zu Ihrer eigenen Beruhigung auch in Ihrer freudig heranblühenden Jünglingsperiode den Ernst des Lebens nicht vergessen, welcher vom wahrhaften Wert des Menschen und somit vom richtigen Optimismus gar nicht getrennt werden kann.

Ein grämliches Dahinbrüten oder einen blasierten Verzicht auf jede heitere Stunde wird wahrlich derjenige nicht empfehlen, welcher den Pessimismus bekämpfen will. Die idealen Genüsse und Erholungen, welche vom modernen Leben und der jetzigen gebildeten Gesellschaft dargeboten werden, sind vom Streben nach allseitiger Berufsbildung nicht nur nicht ausgeschlossen, sondern wirken fördernd, befreiend, ermutigend und belebend, sofern sie nich als alleiniger Selbstzweck, sondern als dienstbare Momente in der Entwicklung des ganzen vollen Menschenwesens gelten. In einem solchen Sinn leiten Sie Ihr eigenes Gemüt dazu, die Farben harmonisch zu mischen und dem Ernst die Heiterkeit beizugesellen.

In Ihrer Arbeit aber, - denn daß es sich auch um Arbeit handelt, steht uns zweifellos fest - winken Ihnen freudig erregend die idealen Ziele des der Wissenschaft zugewendeten Strebens. In einer segensvollen innigen Vereinigung bieten Ihnen die Universität sowohl den wissenschaftlichen Stoff für sogenannte praktische Berufe als auch zugleich die formellen Behandlungsweise, durch welche der Beruf des Meisters der Wissenschaft ermöglicht wird; denn wenn auch diese beiden Richtungen in der persönlichen Wahl der Lebensstellung sich scheiden, so beruth doch die Lebensader unserer höchsten Bildungsanstalten gerade darin, daß sie sich vor und über der zur Trivialität gewordenen Scheidung zwischen Theorie und Praxis bewegen, indem sie in mannigfachem Grade eine Wechselbeziehung derselben darbieten, deren Beherrscherin selbst eben nur die Wissenschaft ist und bleibt.

So erwarten Sie von dem Ihnen hier gebotenen je nach freier Wahl befriedigende Ergebnisse für die mannigfaltigsten Berufsarten, in deren jeder Sie Sich auf dem Boden einer nie stillestehenden, sondern stets wenn auch unmerklich fortschreitenden Entwicklung sowohl der realen Verhältnisse als auch der wissenschaftlichen Auffassung befinden werden. Was Sie von hier aus den verschiedenen Fakultäten als Erworbenes mit Sich fortnehmen, ist ein nach dem jetzigen Stand der Wissenschaft für Sie bereitetes geistiges Kapital, welches durch Untätigkeit nicht nur, - wie betreffs der edlen Metalle richtig gesagt wird -, tot liegen, sondern geradezu allmählich dahinschwinden würde, wohingegen jede Beschäftigung mit demselben bereits zu einer Rente führt, welche sozusagen unabsichtlich admassiert [nicht ausgeschüttet - wp] wird. Diese dient dann von Schritt zu Schritt sowohl der eigenen Fortbildung als auch dem erwähnten allgemeinen Entwicklungsgang, und hieraus kann die beseligende Befriedigung in das Gemüt des Tatkräftigen zurückströmen, nicht vergeblich, sondern sachgemäß und zweckentsprechend in der Mitwelt zu wirken, indem in Wissenschaft und Leben die Errungenschaft der auf der Vergangenheit fußenden Jetztzeit ihrer stets gesteigerten Verwertung für die Zukunft entgegengeführt wird.

Es gibt für die studierende Jugend, welche das Bewußtsein solcher Ziele in sich trägt, kaum ein treffenderes poetisches Symbol, als den schönen hellenischen Mythus der Epigonen-Sage. Wie die Sieben vor Theben mutig kämpfend fielen, ohne die Stadt erobert zu haben, ihre Epigonen aber waren es, welche schließlich siegreich dort einzogen, so wiederholte sich seit dem Beginn der Kultur unablässig in den Generationen der Menschheit ein solcher Wechsellauf von Kampf und Sieg. Immer gab es, auch jetzt gibt es, und stets wird es etwas geben, was noch geistig zu erobern ist, und jedes Jahrhundert, ja wohl jedes Jahrzehnt hat in Anknüpfung an die Leistungen früherer Zeit wahrlich den einen oder anderen Punkt, welcher als uneinnehmbar galt, schließlich bewältigt, während zugleich anderes der Tatkraft künftiger Geschlechter überlassen werden muß.

Fühlen Sie Sich, - dies möchte ich Ihnen zurufen -, und betätigen Sie sich als Epigonen, indem Sie sich aufgrund des bisher Erreichten weitere Ziele Ihrer künftigen tatenreichen Entwicklung setzen; dann werden Sie Sich im Gefühl des eigenen Wertes einem berechtigten Optimismus nicht verschließen.

Und wenn Sie auch für uns, Ihre sämtlichen Lehrer, ein Gleichnis gestatten wollen, so möchte ich eine in manchen Büchern früherer Jahrhunderte sichtliche Titelvignette wählen, nämlich das Symbol der aufopfernden Liebe, den Storch, welcher seine Jungen mit seinem eigenen Herzblut nährt. Falls Sie das Vertrauen hegen, daß wir Ihnen wirklich in einer solchen Hingebung unsere innersten Kräfte widmen, werden Sie an der Universität nicht ohne Begeisterung in dem freudigen Bewußtsein verweilen, daß Sie Sich auf dem Weg befinden, aus dem Vorhandenen das Bestmögliche zu machen.
LITERATUR - Carl Prantl, Über die Berechtigung des Optimismus, Rede an die Studierenden beim Antritt des Rektorats der Ludwig-Maximilians-Universität, gehalten am 29. November 1879, München 1879