ra-2 K. KromanJ. KaftanF. Klingler    
 
HERMANN STAEPS
Das Problem der Willensfreiheit
vom Standpunkt des Sollens

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"Daß der böse Handelnde trotz besserer Einsicht gegen sein Gewissen, ja mit Vergewaltigung der besseren und sittlich höheren Motive gehandelt hat, macht ihn schuldig."

"Die möglichst geschlossene Kausalreihe ist das Rückgrat der Wissenschaft."


Infolge des Schwergewichts der rein empirischen Betrachtungsweise, der man das menschliche Handeln unterwirft, findet in der Behandlung ethischer Probleme der normative Gesichtspunkt zu wenig Beachtung. Wo aber letzterer zur Geltung kommt, da erscheint die sittliche Norm in der Reihe der menschlichen Handlungen nur als ein fettgedruckter Buchstabe oder in der Kette der geschlossenen Kausalreihe nur als ein Glied von besonders wertvollem Metall. So sind bei WINDELBAND ("Präludien") die Normen (die logische, ethische und ästhetische Norm) scharf unterschieden von der theoretischen Erklärung unserer Handlungen, wie sie in kausaler Bedingtheit verlaufen: Jene Normen sind indes nichts anderes, als besondere Formen der Verwirklichung von Naturgesetzen. Deutlicher sind bei HENSEL (PAUL HENSEL, "Hauptprobleme der Ethik", Leipzig 1903, Seite 103) zwei Gesichtspunkte voneinander geschieden, der Wertgesichtspunkt der Wahrheit vom normativen Gesichtspunkt der sittlichen Handlung. Wir nehmen nach HENSEL die Anordnung der Wirklichkeitsinhalte in Kausalreihen zu dem Zweck vor, um sie erkennen zu können, stellen dagegen unsere Handlungen unter den normativen Gesichtspunkten, wenn wir sie als sittlich gut oder böse beurteilen. Dort will ich sie erkennen und ihre Willensimpulse aufzeigen, hier messen an der Norm des Pflichtgebots; dort fallen sie als reiner Wirklichkeitsinhalt unter die Kategorie der Kausalität, hier werden sie auf ihre ethische Beschaffenheit hin geprüft. Ferner hebt HENSEL ausdrücklich hervor, daß die Verschiedenheit dieser beiden Betrachtungsweisen nicht bedingt ist durch eine verschiedene Natur der Gegenstände, sondern lediglich durch eine verschiedene Art unserer Stellungnahme zu den Gegenständen. Unter dem normativen Gesichtspunkt, der die menschlichen Handlungen nach dem Geschehen-Sollen wertet, dürfte auch eins der Grundprobleme der Ethik, das Freiheitsproblem, einer befriedigenderen Lösung entgegengehen. Bisher steht das Problem der Willensfreiheit in Verbindung mit folgenden Fragen: Ist Freiheit das Vermögen, unseren Willen auch gegenüber allen möglichen Hindernissen durchzusetzen oder ist die Willensfreiheit ein Postulat, gefordert durch die Tatsache des Sittengesetzes? Ist der menschliche Wille deshalb frei, weil es ein Bewußtsein der Verantwortung unserer Taten oder ein Reue- und Schuldgefühl gibt? Hat der Indeterminismus Recht mit seiner Lehre von der Bestimmungslosigkeit des menschlichen Willens und schließt die deterministische Auffassung jede Art von Freiheit aus? - Der Gang nachfolgender Untersuchung des Freiheitsproblems soll durch alle diese Fragen hindurchgehen und schließlich vom angedeuteten normativen Gesichtspunkt aus in den Versuch einer Lösung hineinführen.

Nach KUNO FISCHERs Auffassung "Über die menschliche Freiheit" (Prorektoratsrede, 3. Auflage, Heidelberg 1903), die zwei Arten der Freiheit annimmt, die natürliche und die moralische und erstere auf die Sphäre unserer Macht oder unseres Könnens gründet, kann man zu der Frage gelangen: Ist Freiheit das Vermögen, unseren Willen auch gegenüber allen möglichen Hindernissen durchzusetzen? Das ungehinderte Wirken in seinem Element ist nach KUNO FISCHER die natürliche Freiheit eines jeden Wesens. Das Element des Menschen ist Vernunft- oder Geistesfreiheit; diese übt er aus innerhalb der Grenzen des Könnens und Dürfens, d. h. innerhalb seiner Fähigkeiten und Kräfte einerseits und innerhalb seiner Befugnisse und Rechte andererseits. Also Freiheit ein Wirken, das weder über die inneren, durch die Natur jedem Wesen gesteckten Schranken, noch über die äußeren, die Grenzen des Dürfens und Nichtdürfens hinaus will. Dieser Auffassung könnte man entgegenhalten, daß die Sphäre der Macht nicht gleich der Sphäre des Erfolges ist. Denn der Erfolg tritt nicht immer da ein, wo scheinbar die Macht, etwas durchzuführen, vorhanden ist. Nach dem Erfolg gesehen, stehen die zukünftigen Ereignisse nicht in unserer Macht. Das Bewußtsein der Macht kann uns über den zu erwartenden Erfolg sehr oft täuschen. Indes läßt man auch die ungehinderte Entfaltung der menschlichen Fähigkeiten und Kräfte, Befugnisse und Rechte gelten als ein Freiheitsbewußtsein ähnlich dem des Vogels in der Luft, des Fisches im Wasser, so erheben sich doch gegen die zweite Art von Freiheit, die sogenannte moralische Freiheit, erhebliche Bedenken. KUNO FISCHER stellt hier das Freiheitsproblem ausschließlich auf die Beantwortung der Frage ein: Kann der Mensch seinen Charakter ändern? Diese Frage wird bejaht und ihre Bejahung auf den Glauben des Christentums gegründet, der uns das GOETHEsche "Stirb und Werde" erstreben lehrt als ein Ziel, nach dem alle tiefen Geister voll Sehnsucht und Heimweh ausschauen. Damit verliert sich nun das Freiheitsproblem ganz in das noch schwierigere der christlichen Wiedergeburt. Aber auch die Einstellung des Problems auf obige Frage hat große Bedenken. Es wäre doch zunächst empirisch zu beweisen, daß der Charakter des Menschen wirklich radikal böse sei, um einer Umänderung an seiner Wurzel zu bedürfen; sodann: wo ist "die tiefe und verborgene Quelle, woraus der Wille entspringt", wo "steht die Freiheit und führt das Steuer und lenkt den Willen?" Endlich aber bliebe immer noch die Frage offen, ob und wie der Mensch jene heroische Tat der Neugeburt frei vollziehen könne.

Auch damit ist die Freiheit nicht bewiesen, wenn sie einfach aufgrund der Tatsache des Sittengesetzes postuliert wird. Denn es kann sehr gut möglich sein, daß alle Menschen im Zustand der Unfreiheit sind und dennoch das Sittengesetz in ungeschwächter Kraft bestehen bleibt. Das Kantische Wort "Du kannst, denn du sollst" würde uns nur noch tiefer in die unüberbrückte Kluft zwischen Sein und Sollen hineinführen.

Ferner geht es nicht an, die Freiheit zu behaupten aufgrund der Verantwortlichkeit. Denn das Gefühl der Verantwortung ist genau besehen unabhängig von der Freiheit oder Unfreiheit des Willens. Unfreien Wesen - zeigt RIEHL "Der philosophische Kritizismus" II, 2, "Determinismus und praktische Freiheit" - spreche man mit Recht jede Verantwortung für ihr Tun ab; noch viel weniger aber könne man einem im Sinne des Indeterminismus freien Wesen die Handlungen als verantwortliche zurechnen, da hier das Subjekt der Verantwortlichkeit fehle und ein nach freier Willkür handelndes Wesen keinen verantwortlichen Charakter habe. Unsere Handlungen sind daher nicht deshalb frei, weil es solche eines verantwortlichen Wesens sind, sondern im Gegenteil durch das Gefühl der Verantwortung gebunden und bestimmt. Eine willkürliche Handlung entzieht sich jeder Verantwortlichkeit. Zurechnung und Verantwortlichkeit haben deshalb mit der Willensfreiheit unmittelbar nichts zu tun.

Man könnte nun endlich die Willensfreiheit retten mit Hilfe des Schuld- und Reuegefühls. Aber auch bei Reue und Schuld ist ein unfreier Zustand sehr gut denkbar und nachzuweisen. Der die böse Tat Bereuende kann zwar nie sagen, daß er anders hätte handeln können. Dieses "hätte anders handeln Können" ist nie zu beweisen, da hierzu zwei ganz gleiche Wesen erforderlich wären, die von denselben Motiven beeinflußt entgegengesetzte Handlungen hervorbringen müßten. Vielmehr mußte die böse Tat ebenso wie die gute mit Notwendigkeit so erfolgen, wie sie wirklich erfolgt ist, mit Notwendigkeit, d. h. kausal bedingt. In der Kette der Handlungen kann unter den jeweiligen Umständen keine Handlung anders verlaufen, als sie wirklich verlaufen ist. Aber wohl kann man von einer bösen Tat sagen, daß sie anders hätte verlaufen  sollen.  Daß der böse Handelnde trotz besserer Einsicht gegen sein Gewissen, ja mit Vergewaltigung der besseren und sittlich höheren Motive gehandelt hat, macht ihn schuldig.
    "Darin gerade liegt der Schmerz der Reue, daß wir die schlechte Handlung als die notwendige Folge unseres Charakters erkennen, - daß wir erfahren, wir haben so handeln müssen, weil wir so sind." (WINDELBAND, Präludien, Normen und Naturgesetze)
Das Schuld- und Reuegefühl zeigt uns die Tat nur im Spiegel des sittlich Guten und geht auf den Willen und den Charakter des Menschen, aber nicht auf den Intellekt. - Aber gehen wir nun zu einem Kardinalpunkt im Problem der Willensfreiheit über, zu der Frage nach Indeterminismus und Determinismus, auf deren Beantwortung das ganze Problem zu ruhen scheint. Da ist zunächst mit dem sogenannten liberum arbitrium indifferentiae [Vermögen, sich für eine Sache wie für das Gegenteil frei zu entscheiden. - wp], d. h. mit der beliebigen, willkürlichen Entschließung in einem indifferenten, durch kein Motiv beeinflußten Zustand nichts anzufangen, da hierdurch das physische und moralische Leben dem Zufall, der Willkür und Gesetzlosigkeit preisgegeben wird. Mit dieser Art von Willensfreiheit ist u. a. RIEHL, ("Determinismus und praktische Freiheit", in "Der philosophische Kritizismus" II, 2) streng genug ins Gericht gegangen. Er schreibt:
    "Existierte diese eingebildete Fähigkeit wirklich, wäre nicht jede Willensäußerung durch ihre Ursachen, also in erster Reihe durch den Charakter des Handelnden und die selbstbewußten Motive seines Handelns völlig bestimmt, so müßte ein jeder von uns vor dem Gedanken an seine eigenen Handlungen im nächsten Augenblick erzittern. Wie könnte er auf die Kraft seines Charakters, die Festigkeit seiner Grundsätze vertrauen, wenn nicht Charakter und Grundsätze den Willen beherrschten und das Handeln notwendig machten! Das physische Leben des Menschen ist vielem ausgesetzt, was der Mensch als für sich und seine Zwecke zufällig betrachtet; der Indeterminismus würde auch noch unser moralisches Leben der Zufälligkeit überantworten und zwar einer wirklichen, nicht bloß scheinbaren Zufälligkeit".
RIEHL verrät auch dem indeterministischen Metaphysiker getrost den letzten Schlupfwinkel, wo er die Freiheit der Indifferenz unterbringen könnte, nämlich den Ort, wo ein vollständiger empirischer Nachweis der Ursachen unserer Handlungen nicht mehr möglich und daher nicht mehr zu erwarten ist, wo der Leitfaden der Untersuchung in die schwer durchdringliche Verbindung unserer Neigungen und Fähigkeiten, in die angeborene Naturanlage, in die Vererbung und schließlich in den universellen Zusammenhang aller Dinge hineinführt. Daß aber hier trotzdem Freiheit denkmöglich und in diesem sogenannten metaphysischen Schlupfwinkel ein weites, unentdecktes und frü die heutige wissenschaftliche Forschung vielleicht undurchdringliches Feld vorhanden ist, zeigt LOTZE, bei dem überhaupt eine tiefer gefaßte Stellung und eine feinsinnigere Auffassung des Problems zutage tritt. LOTZE sucht den Indeterminismus mit dem Kausalgesetz in Einklang zu bringen. Die Unvollendbarkeit der Kausalreihe soll uns das Recht nehmen, jedes Ereignis als Wirkung einer in den vorhergehenden Ereignissen begründeten Ursache aufzufassen. Warum sollte, fragt LOTZE, das ursachlose Vorhandensein einer Tatsache sich nur auf den übrigens doch niemals erreichbaren Anfang der Welt beschränkt und nicht auch innerhalb ihres Verlaufes an jedem Punkt möglich sein? Statt zu jeder Wirkung die Ursache zu denken, will LOTZE umgekehrt zu jeder Ursache ihre Wirkung denken. Die Betrachtung der sittlichen Welt führe ebenso notwendig zu dieser Annahme, wie die Untersuchung der Natur zur Annahme des Kausalnexus.

Der Wille könne außerdem nur auf die Verwirklichung seiner Absicht rechnen, wenn der erste Tatbestand, den er mit Freiheit setzt, mit unfehlbarer Gewißheit einen zweiten und dritten nach sich zieht. Denn einmal in den von stets neu einströmenden Fluten gebildeten Wirbel hineingezogen, seien die Willenshandlungen den Gesetzen unterworfen, die alles Geschehen beherrschen. In diesem kausalen Zusammenhang aller Handlungen bliebe nun nach LOTZE die Möglichkeit eines ganz neuen Anfangs an irgendeinem Punkt und damit die Möglichkeit einer Willensfreiheit bestehen. Den Einwurf aber, daß ein freier Entschluß ganz unerklärlich sei, widerlegt LOTZE, indem er sagt, es würde sinnlos sein, zu behaupten, was wir nicht erklären können, könne auch in Wirklichkeit nicht vorkommen."Es versteht sich schließlich ganz von selbst, daß der Entschluß des Willens, sofern er von keinen Bedingungen nach allgemeinen Gesetzen abhängt, unerklärlich sein muß." Im übrigen ist nach LOTZE von einem Willen nur da zu reden, wo die Seele sich nicht als beobachtendes Bewußtsein zu den Ereignissen der Triebe und des Wollens, sondern als handelndes Wesen verhält. "Nur da sind wir überzeugt, es mit einer Tat des Willens zu tun zu haben, wo im deutlichen Bewußtsein jene Triebe, die zu einer Handlung drängen, wahrgenommen werden, die Entscheidung darüber jedoch, ob ihnen gefolgt werden soll oder nicht, erst gesucht und nicht der eigenen Gewalt dieser drängenden Motive, sondern der bestimmenden, freien Wahl des von ihnen nicht abhängigen Geistes überlassen wird. So nahe zeigt sich der Begriff der Freiheit mit dem des Willens verknüpft; denn in dieser Entscheidung über einen gegebenen Gegenstand besteht allein die wahre Wirksamkeit des Willens." (HERMANN LOTZE, Mikrokosmus, Band I, Kap. II, 1) In den "Grundzügen der praktischen Philosophie" finden wir die gleiche Ansicht und zwar da, wo die Begriffe Schuld und Verdienst definiert werden.
    "Schuld ist die Hervorbringung dessen, was weder sein mußte, noch sein sollte, Verdienst aber die Erzeugung dessen, was sein sollte, aber auch sein konnte." "Wenn daher beide Begriffe nicht überhaupt als Täuschungen verbannt werden sollen, schließt sich an sie ganz natürlich die Annahme einer Freiheit des Willens an, die es ihm möglich ließ, zwischen zwei möglichen, aber nicht notwendigen Entschlüssen zu wählen."
Es bleibt für LOTZE nach Ausschluß anderer Meinungen (wie die von KANT und SPINOZA "nur die vielfach verspottete von einer solchen Freiheit des Willens zurück, wonach der zwischen zwei entgegengesetzten Entschlüssen wählen kann, ohne durch irgendein Motiv zur Wahl gezwungen zu werden". Indes ist nach LOTZE nur der Entschluß, nur das Wollen frei und die unbeschränkte Freiheit des Wollens ist nicht zu verwechseln mit der grenzenlosen Freiheit des Vollbringens, da jede Handlung, einmal wirklich geworden, in den Kreis der den allgemeinen Naturgesetzen unterworfenen Ereignisse eintritt und der Spielraum der Freiheit durch die unverrückte Ordnung allen Geschehens begrenzt und beschränkt ist. Da ist in kurzem LOTZEs Lehre von der Willensfreiheit. Einige kritische Bemerkungen dürften gerechtfertigt erscheinen.

Das Verhältnis der Schuld zur Freiheit, sowie die Möglichkeit zweier verschiedener Handlungen in einer und derselben Person ist bereits oben besprochen, bedarf daher hier keiner Erwägung. Was nun die Unvollendbarkeit der Kausalreihe, das ursprüngliche Sein der Welt und die Richtung der Bewegung in ihr als ursachlose Tatsachen angeht, auf die LOTZE die Möglichkeit eines ganz neuen Anfangs an einzelnen Punkten des Weltlaufs gründet, so führt eine solche Betrachtung höchstens zu den Kantischen Antinomien der reinen Vernunft (zuer ersten und dritten Antinomie), nicht zu einem ursachlosen Geschehen überhaupt. Aus der einmal angenommenen Kausalreihe kommt man auch nicht durch Umkehrung des Verhältnisses von verursachter Wirkung in das von bewirkender Ursache heraus. Zwar hat LOTZE darin unzweifelhaft Recht, daß er sagt, es wäre sinnlos zu behaupten, was wir nicht erklären können, könne auch in Wirklichkeit nicht vorkommen. Aber indem man das Freiheitsproblem in das Gebiet des Denkmöglichen hineinschiebt, schiebt man es aus der wissenschaftlichen Betrachtung hinaus. Allerdings ist es berechtigt, neue Anfangspunkte im menschlichen Geschehen als möglich zu erklären, d. h. solche, die sich aus vorhergehenden Ursachen gar nicht oder nur sehr unzureichend erklären lassen. Aber das gilt nur für den augenblicklichen Stand unserer Wissenschaft; es liegt wissenschaftlich gesehen daran, daß noch nicht alle Ursachen, die eine Wirkung herbeigeführt haben, erkennbar oder nicht bewußt geworden sind. Gerade im Herbeibringen aller Erklärungsursachen besteht die wesentliche Arbeit der Wissenschaft. Die möglichst geschlossene Kausalreihe ist das Rückgrat der Wissenschaft. Mithin dürfte der Versuch LOTZEs, Freiheit und Kausalität zu vereinigen, ein verfehlter bleiben; er ist aber immerhin bedeutungsvoll und anregend für weitere Forschung. LOTZE selbst stellt auch diesen Versuch noch als Problem hin.
    "Daß die Gesamtheit aller Wirklichkeit nicht die Ungereimtheit eines überall blinden und notwendigen Wirbels von Ereignissen darstellen könne, in welchem für Freiheit nirgends Platz sei: diese Überzeugung unserer Vernunft steht uns so unerschütterlich fest, daß aller übrigen Erkenntnis nur die Aufgabe zufallen kann, mit ihr als dem zuerst gewissen Punkt den widersprechenden Anschein unserer Erfahrung in Einklang zu bringen. Wir leugnen nicht, daß diese Aufgabe der Wisenschaft noch weit von der klaren Lösung entfernt ist, die wir für sie wünschen und ohne hier in Untersuchungen einzugehen, deren Führung schwer und deren Ergebnis zweifelhaft sein würde, mögen wir der gewöhnlichen Überzeugung nur einzelne Punkte zu wiederholter Überlegung einwerfen." (Mikrokosmus I, Bd. 2, 5)
Wenn LOTZE auch hiermit bedeutsame Anregungen gegeben hat, so ist die Willensfreiheit selbst in dieser Gestalt doch nicht viel mehr, als die Tatsache einer bewußten Willkür des menschlichen Handelns. Daß Aber Willkür eine vernünftige Freiheit ausschließt, haben wir oben gesehen. Beim Indeterminismus suchen wir daher die Freiheit vergebens. "Auf die kurze Frage: "Determiniert oder nicht?" heißt daher die kurze Antwort: "Determiniert!" (KUNO FISCHER, "Über die menschliche Freiheit", Seite 28) Diesem kurzen "determiniert" ist nichts hinzuzufügen. Es bleibt indessen noch zu untersuchen, ob der Determinismus der Freiheit wiederstreitet. Wir treffen den Begriff des Determinismus richtig, wenn wir ihn mit RIEHL ("Der philosophische Kritizismus") gleichweit entfernt halten einerseits vom Fatalismus, andererseits vom Indeterminismus. Jener steht auf der Annahme, daß der Wille keine Wirkung hat; er schließt gewissermaßen den Willen vom Lauf der Begebenheiten aus und glaubt, der Gang der Welt nehme seinen Lauf, ob der Mensch wolle oder nicht wolle; er bedenkt nicht, daß der Mensch mit seinem Willen auch zur Ordnung der Welt gehöre und wirken könne. Der Indeterminismus dagegen nimmt dem Willen die Ursache und glaubt an die absolute Spontaneität der Handlungen. In der Mitte zwischen beiden steht der Determinist "mit der Lehre, daß der Wille sowohl Ursachen hat, als Wirkungen herbeiführt. (Vgl. RIEHL, "Der philosophische Kritizismus" II, 2 "Determinismus und praktische Freiheit") der Fatalismus ruht, wie RIEHL zeigt, auf einer Jllusion des Verstandes, der die Naturgesetze hyostasiert, die als das prius vor allen Dingen und Vorgängen gegeben seien, unter welche sich dann alle Begebenheiten unterwerfen sollen, während es doch der Verstand ist, welcher der Natur Gesetze vorschreibt. "Gesetze sind die Beziehungen der Dinge, die Formen der Vorgänge unter verallgemeinerten oder vereinfachten Umständen gedacht. Die allgemeine Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen ist zunächst ein Postulat der Erkenntnis der Natur, die regulative Idee, unter deren Leitung die Erkenntnis derselben steht."

Das sind bekanntlich Gedanken, die ihren Ursprung bei HUME und KANT haben; mit ihnen mag sich der Fatalist abfinden.
LITERATUR - Hermann Staeps, Das Problem der Willensfreiheit vom Standpunkt des Sollens, Archiv für systematischen Philosophie, Bd. X, Leipzig 1897