ra-2ra-1 von EhrenfelsM. SchelerK. KromanA. Ritsch    
 
FRITZ KLINGLER
Sollen und Wert
als Grundbegriffe der Ethik

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"Der Erkenntnistheoretiker kommt zum Begriff des Wertes, wenn er sein Problem, die Wahrheit, die sich dem bloßen psychischen Denkprozeß gegenüber als ein Mehr darstellt, als ein zu erfassender Gegenstand der Erkenntnis, - wenn er diesen Gegenstand näher zu bestimmen sucht. Dann sieht er sich, um den Sinn der psychischen Erkenntnisvorgänge deuten zu können, zu der Annahme gezwungen, daß im Erkennen ein Anerkennen liege, und zwar das Anerkennen eines transzendenten Gegenstandes oder der Wahrheit."

Zweiter Teil
Erkenntnistheoretische oder psychologische
Begründung des Sollensbegriffs

Die Begründbarkeit der Ethik auf dem Sollensbegriff ist erwiesen, und damit ein fester Punkt auf dem Weg, auf dem sich eine Ethik zu entfalten hat, gewonnen. Man kann von ihm aus nach zwei Richtungen gehen, und je nachdem, ob man die eine oder die andere für die wichtigere hält, entstehen zwei Auffassungsweisen der Ethik. Es ist nämlich damit, daß sich die Ethik als Normwissenschaft schlechthin als notwendig und deshalb als begründbar ergeben hat, noch unbestimmt: erstens, welches das inhaltlich einzelne Sollen ist, zweitens, wie das Sollen selbst, das Verpflichtetsein überhaupt begründet werden kann. Sieht man die Hauptaufgabe der Ethik in der Beantwortung jener ersten Frage, so gilt sie einem wesentlich als praktische Wissenschaft, während die Behandlung der zweiten Frage ihr den Charakter einer theoretischen Disziplin gibt.

Da sich jedoch kein materiales Prinzip der Ethik aufzeigen ließ, so scheint es von vornherein fraglich, ob der erste Weg gangbar ist; denn wenn man als den Inhalt des Menschenwertes die Kulturgüter bezeichnet, so erheben sich in dieser Hinsicht die zwei - schon angedeuteten - unüberwindlichen Schwierigkeiten: erstens sind sie von historisch bedingter nur empirischer Geltung, und zweitens kann ihre Aufzählung keine vollständige sein, da sie nicht nach einem Prinzip abgeleitet sind und demnach kein System bilden. Die Ethik wird also nach dieser Richtung nur gehen können, wenn sie alle Ansprüche als eine apriorische Wissenschaft zu gelten aufgibt und in die Empirie eintritt. Diese würde alsdann tatsächlich vorhandene Werte aufweisen, die unter Prinzipien der Wissenschaft, Kunst, Rechtsordnung usw. geordnet, in diesen zu höheren Einheiten zusammengefaßt wären. Allerdings ist dadurch unser Sollen überhaupt auch wiederum nicht vollständig bestimmt; es geschähe dies nur nach einzelnen Richtungen hin, und durch die ihnen zugrunde liegenden Voraussetzungen und die darauf aufgebauten Wert- oder Normensysteme im Einzelnen bestimmt sind. Diese einzelnen Sollen haben zwar ihre gemeinsame Quelle und finden ihre Begründung im Pflichtbegriff, der sagt: als Mensch, für den der Menschenwert gilt, sollst du wahr denken, Schönes schaffen, das Recht verwirklichen, wobei es diesen Einzelgebieten überlassen bleiben muß, ihren obersten Wert zu bestimmen; aber damit ist der Begriff des Menschenwertes nicht vollständig distributiert. Es liegen zwischen diesen in Systeme gebrachten Werten in der Empirie noch große Gebiete eines reichen Werterlebens, und außer den Handlungen, die durch diese Normen bestimmt sind, bleibt noch die Fülle jenes Handelns zu normieren, das gewöhnlich der Ethik im üblichen engeren Sinne zugewiesen wird. Indem sie es unter anscheinend inhaltlich bestimmte Moralprinzipien: etwa der Lust oder des Nutzens oder der maximalen Lebensentfaltung bringt, entlehnt sie dem empirischen Werterleben allgemeine Gesichtspunkte, von denen man unser Handeln geleitet denken kann. Da dies nur  mögliche  Gesichtspunkte und günstigstenfalls bis zu einem gewissen Grad erklärende und insofern wissenschaftliche Hypothesen sind, nirgends aber Allgemeingültigkeit für sich in Anspruch nehmen können, ist klar. Eine solche empirische Ethik wird man also bis zu einem gewissen Grad anerkennen, und solange kein allgemeingültiges inhaltliches Moralprinzip aufgezeigt ist, auch für notwendig halten müssen. Wird doch damit allein das Problem der Normierbarkeit unseres Einzelsollens überhaupt zum Gegenstand wissenschaftlicher Behandlung, wenn sich auch leicht zeigen läßt, daß ihre bisher aufgestellten Prinzipien nirgends ausreichen und nur nachträglich in die Tatsachen hineingedeutet sind.

Auch wenn man ihre Geltung zugeben wollte, so wäre damit nur eine sehr relative Bestimmtheit unseres Einzelsollens erreicht; denn Begriffe wie Lust, Sympathie, Nutzen sind so  weit,  daß sie unser Handeln nur innerhalb sehr vager Grenzen bestimmen und normieren können. - Trotz dieser Schwierigkeiten und der bisherigen Erfolglosigkeit einer solchen empirischen und im strengsten Sinn praktischen Ethik läßt sich die Forderung selbst, die von ihr eine inhaltlich bestimmte Weisung für jedes Handeln verlangt, nicht leugnen; man man sie auch ohne die Ethik zu befriedigen oder von anderen Gesichtspunkten aus zu erklären und sich mit ihr abzufinden suchen. So wird man sich vielleicht, von der Unfähigkeit der Ethik dieses Problem zu lösen überzeugt, der Religion zuwenden, um hier den Gehalt und die innere Sicherheit zur Bestimmung und Entfaltung unseres Wesens zu finden. - Man kann das Problem auch als eine unentrinnbare Antinomie unserer geistigen Organisation ansehen, denn einerseits ist der von uns schlechthin unabhängige Fluß der Wirklichkeit, und andererseits sind bestimmte Denkformen gegeben, durch die jener nie vollkommen gefaßt werden kann. So könnte die Idee des Sittlichen als eine formale Bestimmtheit in der Wirklichkeit zwar eine Richtung - die sittliche - unseres Seins anzeigen, aber die Einzeltat würde, in jenem metaphysischen Fluß des Geschehens geboren, auch vollkommen darin verbleibend weitertreiben und von den formalen Bestimmungen des Sittlichen nie in seiner Einzigartigkeit erzeugt und von ihnen umfaßt und geleitet werden können. Es bestünde zwischen der Intention der sittlichen Begriffe: die ganze Wirklichkeit zu normieren, und der unendlichen und deshalb unfaßbaren Natur dieser ein unauflösbarer Widerstreit. Und die Ethik, welche diesem Verlangen auch im kleinsten Handeln nicht vom Ungewissen getrieben, sondern vom Gewissen, dem Inbegriff der sittlichen Prinzipien, geleitet zu werden, entsprechen will, wäre dann ein eitles Bemühen, das den Fluß der Wirklichkeit durch Netze formen und bewegen wollte, die doch immer zu weit sind.

Die Bestimmung unseres Einzelsollens könnte demnach nur scheinbar eine inhaltliche sein, in Wirklichkeit wäre sie immer nur formal, und der Unterschied zwischen Formalem und Inhaltlichem nur ein relativer. Für eine derartige Auffassungsweise wäre der Gegensatz zwischen formalem und inhaltlichem Moralprinzip, zwischen Formal- und Inhaltsethik aufgehoben.

Doch wie man sich auch hierzu stellen mag, die Tatsache, daß wir eine Normierung im einzelnen verlangen, ist jedenfalls gegeben, und damit die Stelle für eine praktische Wissenschaft bezeichnet. Es ist also wohl begründet, wenn eine empirische Ethik hier einsetzt. Sie kann, hauptsächlich auf die Geschichtswissenschaften gestützt, die tatsächlich vorliegenden und einmal anerkannten Werte aufstellen und versuchen, ob sie nach höheren Gesichtspunkten zu ordnen sind. Sie wird dabei jedoch bald auf apriorische Elemente stoßen und sich damit an eine theoretische Wissenschaft, welche die Aufgabe der Behandlung dieses Apriorischen übernimmt, verwiesen sehen. Ja, schon für den ersten Schritt, den sie tut, setzt sie ein Apriori, ihren eigenen Boden: den Begriff des Sollens, die Grundlage für jede ethische Erwägung voraus. Daß es überhaupt etwas wie einen Wert gibt, mit der merkwürdigen Eigenart, daß überall, wo wir diesen Begriff anwenden, ein Sollen für uns entsteht, daß es einen Wert- und damit einen Pflichtbegriff gibt, das ist die Voraussetzung, die auch die empirische Ethik machen muß, bevor sie überhaupt an ihre Arbeit gehen kann. Allerdings wird sie sich dieser ihrer Fundierung meistens nicht bewußt; wo das jedoch der Fall ist, wird sie zugeben müssen, daß die Begründung dieses Begriffs prinzipiell, in systematischer Hinsicht ihrer Arbeit, dem Normieren des Einzelsollens, vorauszugehen habe. Um im oben gebrauchten Bild zu bleiben: man wir den Weg zur Bestimmung des einzelnen Handelns, - was immer noch als die umfassende Gesamtaufgabe der Ethik bezeichnet werden kann, - erst gehen können, wenn die andere Richtung zuvor begangen ist, und es sich gezeigt hat, wie der Wert- oder Sollensbegriff mit dem Wesen unserer Erkenntnis überhaupt zusammenhängt, und wie er in ihm begründet ist. Man wird in dieser Hinsicht mit SCHLEIERMACHER fordern müssen, die Ethik "von einem Mittelpunkt des menschlichen Wissens aus zu beschreiben. (1)

Einen solchen Mittelpunkt aufzuzeigen, war unser bisheriges Bestreben. Wir glauben ihn im "Sollen schlechthin" gefunden zu haben, ob mit Recht, wird sich nun, bei der Begründung dieses Begriffes im Wesen unserer Erkenntnis überhaupt, zeigen müssen. Mit anderen Worten: es zeigte sich uns, indem wir auf die in der Erfahrung vorliegenden Ethiken und auf das Wesen unserer Geistigkeit die Reflexion richteten, daß eine Wissenschaft, die das Sollen schlechthin zu ihrem Gegenstand hat, notwendig sei. Und nun gilt es, diese Notwendigkeit zu begreifen, indem man die apriorische Grundlage der Ethik, den Grundbegriff des Sollens, im Zusammenhang mit dem Wesen unserer Erkenntnis überhaupt begreift und begründet. Durch diese Begründung soll erreicht werden, daß der Begriff des Sollens, sein ganzer Inhalt, nicht als ein abgerissenes Einzelnes dasteht, sondern mit der Gesamtheit unserer Erkenntnisse in einen Zusammenhang gebracht, und dadurch das Bedürfnis des Verstehens befriedigt wird, das - mit jedem Bewußtseinsinhalt auftauchend und unser ganzes geistiges Leben treibend - als letzte Tatsache hinzunehmen ist.

Im ersten Teil gingen wir von den tatsächlich vorliegenen verschiedenen Ethiken aus und sahen, daß ihnen allen als Fundament die Erkenntnis zugrunde liegt, daß es sein Sollen gibt. Ein Zweifel daran ist sinnlos, weil sich das Sollen auf Werte gründet, die - im Begriff des Menschenwertes zusammenfaßbar - nicht hinweggedacht werden können, ohne daß unser Erleben allen Sinn verlieren, ja überhaupt nicht mehr sein würde. Trotzdem sich also das Sollen als absolut notwendig und eine Wissenschaft, die diesen Begriff in einem System entfaltet, als möglich ergeben hat, steht dieses Gedankengebäude noch ganz isoliert und deshalb im obigen Sinn unbegründet und unverständlich da. So ist die Forderung zu verstehen, die es in den Zusammenhang unseres Wissens überhaupt gestellt und damit tiefer begründet wissen will.

Dieses unser Wesen kommt uns in Erkenntnissen zum Bewußtsein. Eine Begründung in unserem Wesen kann deshalb nur das In-Zusammenhang-bringen einer Erkenntnis mit anderen sein. Der Zusammenhang unserer Erkenntnisse ist zweifach geartet und kann in zwei Reihen zerspalten werden, entsprechend der zweifachen Natur der Erkenntnisse selbst. Diese bestehen erstens aus einem Gegenstand der Erkenntnis, einem Gedanken oder Sinn, der erfaßt wird, und zweitens aus der Erkenntnis dieses Gegenstandes, d. h. dem Akt oder dem Denken, das erfaßt. Das Sollen als eine Erkenntnis hat deshalb auch diesen Dualismus in sich. Es ist erstens ein Sinn, der erfaßt wird, und zweitens das psychische Erlebnis dieses Erfassens. Natürlich ist beides in Wirklichkeit nicht auseinanderzureißen, sondern nur die zerspaltende Natur unserer Reflexion bewirkt dies und bewirkt dadurch, was wir "verstehen" nennen. Um dieses Verstehen weiterzuführen, müssen die Reihen des Gespaltenen unter sich in einen Zusammenhang gebracht werden durch eine Verknüpfung, welche die zweierlei Elemente entsprechend in zwei Reihen ordnet, erstens den Zusammenhang der Gedanken und zweitens den Zusammenhang der psychischen Erlebnisse schafft. Jenen hat die Erkenntnistheorie (2), diesen die Psychologie zu ihrem Gegenstand. Es ist nun klar, von welch prinzipieller Bedeutung es ist, ob man eine Erkenntnis in dieser oder in jener Reihe begründet, ob man in dieser oder in jener Wissenschaft die letzte Grundlage erblickt. Man glaubt sie nämlich nicht dualistische nebeneinander, wie die Elemente unserer Erkenntnis hier parallel aufgezeigt wurden, bestehen lassen zu können. Und in der Tat dürfte es auch schwer sein, sie vollkommen auseinander zu halten; denn an einem früheren oder späteren Punkt scheint die eine doch stets auf die andere zurückzuführen, und zwar behält dabei die Psychologie meistens die Oberhand, weil sie dem gewöhnlichen Denken mehr entgegenkommt und anschaulicher ist. Man sagt: auch der Gedanke ist schließlich nur ein Gedachtwerden. Solche psychologistischen Auffassungen trifft die entgegengesetzte Anschauung mit dem vernichtenden Vorwurf, vor dem es kaum ein Entrinnen gibt: sie müßten rettungslos in einen Relativismus münden. Dem gegenüber hat allerdings die andere Seite einen festen Halt am zeitlos geltenden Sinn. Daß man jedoch mit diesem objektiven Geist dem physischen Sein gegenüber gleichsam ein drittes Reich schafft, darin wird der Gegner eine Ausnahme erblicken, die notwendig zu Metaphysik führt.

Ob die psychische Reihe und die Reihe der rein gedanklichen Geltung unabhängig voneinander sind oder eine auf die andere zurückzuführen ist, ob diese Zweiheit unserer Erkenntnis irreduzibel ist oder nicht, kann vorläufig dahingestellt bleiben. Bei der Begründung des Sollensbegriffs im einen oder anderen Reich wird diese Frage wieder auftreten. Diese Zweiheit bietet sich der Reflexion jedenfalls unmittelbar dar, und es ist also zunächst zu untersuchen, wie sich die  Sollenserkenntnis  in sie zerspaltet,  welches  bei ihr diese beiden Momente sind, und  wie sie  alsdann im entsprechenden Zusammenhang  begründet sind.  Kurz, es ist zu sehen, was beide Zusammenhänge, was Erkenntnistheorie, bzw. Psychologie für die Begründung und damit für das Verstehen des Sollensbegriffs leisten.

Wie im Sollensbegriff die zwei Monate, aus denen jede Erkenntnis besteht, auseinandertreten, zeigte sich bei der Begründung der Ethik auf dem Sollensbegriff, die dadurch geschah, daß er eingestanden fundamentale Begriff der Ethik, der des Menschenwertes, sich aus dem des Sollens ergab. Allerdings traten sich beide Momente nicht so scharf als zwei prinzipiell verschiedene Erkenntnisbestandteile gegenüber. Und das war auch nicht nötig, denn dort handelte es sich nicht um eine kritische Zergliederung des Sollensbegriffs. Er wurde vielmehr in einem unmittelbar verständlichen Sinn: in bestimmter Weise sich verhalten müssen, genommen. Daß aber in der Notwendigkeit, sich in bestimmter Weise zu verhalten, eine Zweiheit nebeneinander hergeht, wird deutlich, wenn man auf das Wesen der Ableitung achtet. Sie stützte sich darauf, daß es notwendige und allgemeingültige und deshalb unbedingte, von aller Verwirklichung unabhängige Werte geben müsse. Die Notwendigkeit eines bestimmten Verhaltens, das Sollen in seinem ganzen Umfang, d. h. daß es überhaupt so etwas wie ein Sollen gibt, hat demnach seine Hauptquelle, aus der wir die Berechtigung seiner Geltung ableiten, in transzendenten (3) Werten. Zu der Erkenntnis, die wir im Sollensbegriff ausdrücken, gehört also erstens als ihr Gegenstand ein Wert. Dieses erste Erkenntnismoment ist aber selbst nur möglich, d. h. wir können von diesem Wert nur wissen, insofern er aus seiner Transzendenz herausgetreten, sich in uns verwirklicht hat und bewußt geworden ist. Dieses dem Geist Immanentsein ist offenbar ein psychisches Phänomen, eine eigenartige Bestimmtheit unseres Bewußtseins, welche als Voraussetzung das ganze Wesen unseres geistigen Menschseins bedingt. Mit ihr ist das zweite Moment bezeichnet, das zur Sollenserkenntnis gehört. Es ist rein psychologischer Natur, denn diese durch Werte hervorgerufene eigenartige Bestimmtheit unseres Bewußtseins ist im Zusammenhang mit unserer Psyche überhaupt zu betrachten und somit Aufgabe der Psychologie. Demgegenüber ist die Aufgabe, jene Werte ohne alle Rücksicht auf ihre Immanenz, rein in ihrer Bedeutung für den transzendenten Sinnzusammenhang, zu betrachten, der Erkenntnistheorie zuzuweisen. (4) Nachdem so das psychologische und das rein gedankliche Moment der Sollenserkenntnis sich gegenübergestellt sind, ist nun zu sehen, wie beide in den entsprechenden Zusammenhängen begründet sind, d. h. was Psychologie, bzw. Erkenntnistheorie für ihre Erklärung leisten.

Während die Erkenntnistheorie mit dem Begriff des Wertes jenes gedankliche Moment bestimmt faßt, sieht sich die Psychologie in der eigentümlichen Schwierigkeit, ihren hier vorliegenden Gegenstand, den wir bisher als eine Bestimmtheit unseres Bewußtseins durch Werte bezeichneten, nur sehr unbestimmt umschreiben zu können. Sie versucht es im Begriff "Werthaltung" (5), sagt damit aber auch nur, wie unser obiger Ausdruck, daß unser Bewußtsein durch Werte auf eigenartige Weise bestimmt werde. Sie drückt also nur aus, daß mit diesem Begriff ganz allgemein das psychologische Korrelat zu einem Wert gemeint sei: unser immanentes Haben und "Halten" eines Wertes.

Wenn so die Psychologie kein bestimmt umrissenes Bewußtseinsphänomen mit ihren eigenen psychologischen Begriffen als den Gegenstand, von dem hier auszugehen ist, bezeichnen kann, sondern einen erkenntnistheoretischen Begriff voraussetzen muß, an den alle seine psychischen Entsprechungen ohne eine bindende Zusammenfassung nur angeheftet werden, so wird man zunächst das logische Moment, das im Sollensbegriff eingeschlossen ist: den Wertbegriff, begründen müssen.

RICKERT sieht in ihm geradezu den Grundbegriff der Erkenntnistheorie, denn er bestimmt sie "als die Wissenschaft von den theoretischen Werten". "Ihr Problem sind nur die Werte, die gelten müssen, wenn Antworten auf Fragen, was ist, überhaupt einen Sinn haben sollen." (6) RICKERT stellt also hier den Begriff des Wertes in einen Gegensatz zu dem des Seins, oder besser, erst stellt ihn diesem voran. "Der Begriff des Seins ist nicht der einzige, dem wir "Etwas" unterordnen können, sondern neben ihm steht außer dem Nichts, als zweiter umfassender Begriff des Nichtseienden, der des Wertes. Wir brauchen dieses Wort, das einen Begriff bezeichnet, der sich ebensowenig wie der des Seins weiter definieren läßt, hier zunächst für all das, was nicht ist und doch zum Etwas und nicht zum Nichts gehört." Mit diesen Bestimmungen scheint die Erkenntnistheorie schon am Ende ihrer Möglichkeiten, den Wertbegriff zu erklären, angekommen. Um dennoch verstanden zu werden, kann sie noch zweierlei tun.

Erstens kann sie auf das ja allen bekannte Erlebnis hinweisen: denn was "Wert" ist, könne nur erlebt werden. - Es ist jedoch klar, daß wir damit wieder ins Psychische zurückgewiesen werden. - Es ist jedoch klar, daß wir damit wieder ins Psychische zurückgewiesen wären und in einen von der Psychologie zur Erkenntnistheorie, von dieser aber wieder in jene zurücklaufenden Zirkel geraten würden. Sagt doch die Psychologie: mein hier (in der Sollenserkenntnis) vorliegender Gegenstand ist der Komplex jener Bewußtseinsphänomene, der durch den Begriff des Wertes bezeichnet wird; und die Erkenntnistheorie sagt: ein Wert ist jenes nicht weiter zu Definierende, das nur in den bekannten Bewußtseinsphänomenen erlebt werden kann. Wenn die Erkenntnistheorie zuletzt nur zu dieser Art der Erklärung greifen könnte, wenn es richtig wäre, daß unserem Bedürfnis, zu verstehen, nur durch ein letzthinniges Verweisen auf psychisch Erlebtes Genüge getan werden kann, so wäre dieser Zirkel allerdings unvermeidlich, und die Erkenntnistheorie damit in eine gefährliche Abhängigkeit von der Psychologie geraten. Sieht man jedoch genauer zu, was durch diese Berufung auf ein psychisches Erlebnis für die Erklärung geleistet wird, so zeigt sich, daß der Trieb, zu verstehen, nur dadurch zur Ruhe gebracht wird, daß man ihm - drastisch ausgedrückt - sagt: diesen Begriff erlebst du eben so, auf die bekannte Weise, und damit sei zufrieden. Wenn deshalb der Begriff nicht vorher verstanden wäre, so würde durch diesen Hinweis wenig gebessert. Ja, gerade umgekehrt, diese vielerlei psychischen Regungen, die wir beim Wertbegriff erleben, sind nur verständlich, wenn wir sie unter diesem Begriff zusammenfassen.

So scheint der Erkenntnistheorie nur die zweite Art des Erklärens und Verstehens zuzukommen, die sich auf keinerlei subjektive psychische Erfahrungen beruft, vielmehr die psychische Seite ganz außer acht läßt und nur Halt und Ruhe findet in dem unverrückbar festen, ineinandergreifenden und sich gegenseitig tragenden Sinngefüge unserer Begriffe. Daß die Begriffe in ihrer Verknüpfung einen allgemeingültigen und notwendigen Sinn haben, diese Tatsache ist einfach hinzunehmen und muß genügen, um das ganze Verstehen darauf aufzubauen; und das Problem ihres Immanentwerdens wird als etwas für sich beiseite gestellt. In diesem Sinngefüge stehen nun gleichsam als gesetzmäßig gliedernde, aber nicht aus dem Erfahrungsmaterial bestehende Pfeiler, eine Anzahl apriorischer Begriffe oder Einheitsbegriffe. Ein solcher ist der Wertbegriff. Wenn man ihn aber so auffaßt, so kann seine Begründung nur darin bestehen, zu zeigen, daß er in der Tat als Voraussetzung für den Gedankenzusammenhang aus diesem, wenn er sinnvoll bleiben soll, nicht hinweggedacht werden kann. Das geschieht aufs klarste und unanzweifelbarste, wenn man den Wertbegriff, wie vorhin angedeutet, dem Begriff des Seins voranstellt, sodaß man in den Werten und ihrer notwendigen Geltung das Fundament hat, das "begrifflich allen Wissenschaften, ja ihrem als seiend oder wirklich angenommenen Material vorangeht". (7)

Nun glaubt RICKERT allerdings, da dies nur von gewissen begrifflichen Erkenntnismomenten gilt, daß man im Wertbegriff eine scharfe Scheidung vornehmen müsse zwischen dieser theoretischen Bedeutung und aller praktisch-ethischen (Wert gleich irgendein reales oder sittliches Gut), die er außerdem haben kann, und an die man sogar in erster Linie denkt. Kommt man dagegen mit einer nach ethischen Gesichtspunkten orientierten Betrachtungsweise an den Wertbegriff heran, so sieht man ihn in einen viel weiteren Zusammenhang verwoben, aus dem die speziell modifizierte Bedeutung, in der er nur eine Zusammenfassung der erkenntnistheoretisch-logischen Axiome darstellen soll, nicht herausgelöst werden kann, zumal in diesem weiteren Zusammenhang auch erst seine zentrale Stellung sichtbar und damit seine Bedeutung für die Erkenntnistheorie und Logik tiefer begründet wird.

Der Erkenntnistheoretiker kommt zum Begriff des Wertes, wenn er sein Problem, die Wahrheit, die sich dem bloßen psychischen Denkprozeß gegenüber als ein Mehr darstellt, als ein zu erfassender Gegenstand der Erkenntnis, - wenn er diesen Gegenstand näher zu bestimmen sucht. Dann sieht er sich, um den Sinn der psychischen Erkenntnisvorgänge deuten zu können, zu der Annahme gezwungen, daß im Erkennen ein Anerkennen liege, und zwar das Anerkennen eines transzendenten Gegenstandes oder der Wahrheit. Diese kann also dem Denken gegenüber nur als ein Etwas, das Anerkennung fordert, für uns ein Sollen bedeutet, d. h. als ein Wert bestimmt werden. Oder in einem anderen Gedankengang: der Sinn - eines wahren Satzes etwa - gehört weder zu einem physischen noch zu einem idealen Sein; was aber "in keiner Weise ist" und doch nicht zum Nichts gehört, das kann nur in der "Sphäre des Wertes" liegen, und so kann der Sinn "nur als Wert verstanden werden" (8) Ebenso sind "Identität und Widerspruchslosigkeit, wie die Logik dartun kann, transzendente Werte. Sie gelten als Voraussetzungen des positiven Sinnes unbedingt und sind unter keinen Seinsbegriff zu bringen." (9)

Überalle hier gebraucht der Erkenntnistheoretiker den Wertbegriff, um die Geltung anderer Begriffe oder Gesetze zu begründen und um das Verstehenwollen zur Ruhe zu bringen, aber auch stets kommt er dahin erst nach einer kürzeren oder längeren Interpretation der unmittelbar gegebenen Wirklichkeiten. Auf dem ersten, dem psychologischen Weg der Erkenntnistheorie, wird vom Akt des Erkennens ausgegangen. Er ist einfach gegeben und so, wie er erlebt wird, hinzunehmen. In diesem unmittelbaren Erlebnis ist aber noch nirgends etwas von einem Wert zu verspüren, wir können es nur als einen Akt des Anerkennens oder Verneinens beschreiben. Und so führt dieser Weg streng genommen nur bis zum Sollen, was RICKERT auch deutlich hervortreten läßt. Das heißt, der Begriff des Anerkennens entfaltet sich, wenn man ihn so schlechthin nimmt, ohne ihn in ein psychisches Geschehen und den transzendenten Gegenstand zu zerspalten, nur bis zu dem des Sollens, weil eben in diesem auch noch das psychische und das transzendente gedankliche Moment ungetrennt nebeneinander hergehen und beide von ihm mitbezeichnet werden. Erst wenn man am Sollensbegriff nicht Halt macht, sondern ihn weiter zu begründen sucht, kommt man zum Wertbegriff, in den sich jener als  eine  Bedeutung, die transzendente, neben den psychischen Momenten des Sichverpflichtetfühlens zerspaltet. Warum man gerade auf diesen Begriff rekurrieren muß, warum man in ihm den Halt und die Ruhe findet, die die anderen noch nicht geben können, das zu beantworten wird die Aufgabe sein, die eine Begründung des Wertbegriffs - welche ihrerseits von der des Sollens gefordert wird - zu leisten hat. Und diese Aufgabe wird nur zu lösen, d. h. die Bedeutung des Wertbegriffs wird nur zu begreifen sein, wenn man ihn in den ganz weiten, das Bewußtseinsleben überhaupt umfassenden, ethischen Zusammenhang stellt, und nicht den Begriff des theoretischen Wertes als etwas ganz Eigenartiges für sich betrachtet, sondern ihn als eine Sonderart von Werten überhaupt betrachtet, von Werten, die stets unsere Bewußtseinsbewegungen leiten müssen und in diesem Sinne "praktisch" sind.

Hier war jedoch nur darauf aufmerksam zu machen, daß der Wertgedanke erst an einer vom wirklichen Erkenntniserlebnis weit entfernten Stelle der Interpretation zur Erklärung zugezogen werden muß.

Noch deutlicher ist dieser Sprung, durch den der Wertbegriff zur Erklärung herbeigeholt wird, auf dem zweiten Weg. Dort wird der Sinn eines wahren Satzes z. B. - d. h. die zweite Wirklichkeit, die absolut sicher gegeben sein kann, - als das, was auf keine Weise zum Sein gehört, unmittelbar der Sphäre des Wertes eingeordnet. Der Schluß, den man zieht, ist also der: der Sinn ist kein Sein; außer dem Sein gibt nur noch Werte; folglich ist der Sinn ein Wert. An der Richtigkeit dieses Schlusses kann keinerlei Zweifel bestehen, wenn der Obersatz richtig ist, d. h. wenn in der Tat der Wertbegriff diese umfassende Bedeutung hat, daß er kontradiktorisch zu dem des Seins steht. Daß man jedoch diesen Schluß ausdrücklich ziehen muß, um einleuchtend zu machen, daß der Sinn ein Wert ist, zeigt, daß man nicht in der folgerechten, vom Begriff selbst geforderten geraden Linie seiner Entfaltung geblieben ist, sondern durch einen Sprung Neues, Unerwiesenes aufgenommen hat. Denn offenbar kann man eben nicht ohne weiteres sagen: der Sinn ist ein Wert, sondern man muß zuvor ausdrücklich alles Nichtseiende, das doch nicht Nichts ist, unter den Wertbegriff bringen. Das Motiv und die Berechtitung hierzu, die doch beide im Wertbegriff liegen müssen, sind vor einer Untersuchung des Wesens dieses Begriffes nachzuweisen. Es gehört dies ohne Zweifel zur Aufgbe der Erkenntnistheorie. Allerdings scheint sie sich ihr dadurch zu entziehen, daß sie ihn - wie vorher schon zitiert - als einen apriorischen, nicht weiter zu definierenden einfach hinnimmt. Dann müßte er sich jedoch der Reflexion ebenso unmittelbar darbieten und seinen Gehalt darlegen wie der des Seins und sich hinsichtlich seiner Reinheit dem Seinsbegriff überhaupt ganz analog verhalten. Während dieser jedoch in seiner starren Abstraktheit, mit der er alles Konkrete, ja alles nur dem Konkreten ähnlich Gedachte (wie alles Geistige) umschließt, geradezu das Muster eines reinen philosophischen Begriffes ist - "der erste Triumph des Begriffs" (10) -, weil an ihm auch nicht mehr die leiseste Spur einer sinnlichen Einzelheit und Vieldeutigkeit haftet, ist ganz im Gegenstz dazu der Wertbegriff noch so schwer empirisch belastet, daß er sich gar nich zur abstrakten Höhe des Seinsbegriffs scheint erheben zu können, um eine ganze Schicht der Geistigkeit zu bezeichnen, von der sich das Sein als ein Gesondertes erst abhebt und von der es getragen wird. In diesem Bild ist zugleich auch schon der Grund dieser seiner Erdenschwere angedeutet. Während sich mit den Eleaten der Seinsbegriff schon in seienr ewig unveränderlichen, starrgewordenen Bestimmtheit und Einzigartigkeit losgerungen hat von der Masse des Konkreten zur reinen Form seiner Apriorität, hat sich die Wendung vom äußerlich mehr oder weniger Sichtbaren zum innerlich zwar nicht als seiend, aber auch nicht als Nichts Bezeichenbaren - man möchte sagen zum innerlichen Gesetz - erst mit SOKRATES und PLATO angebahnt. PLATO ringt nach einem Ausdruck, um von den Ideen das dinghafte Sein der Wirklichkeit fernzuhalten und ihnen doch ein Dasein abgesondert von den Dingen zu sichern. (11) So löst sich erst unbestimmt nach und nach unter dem Sein ein noch weiterer Gedankenring los, der jenen trägt und erst sinnvoll macht, insofern er das leistet, was wir erklären nennen: die Rede vom Sein hat nur einen Sinn, wenn Werte gelten.

Es scheint demnach selbstverständlich, daß der Wertbegriff - weil er der tiefere, noch mit dem innersten Erleben verwachsene, und deshalb erst später rein sichtbar gewordene ist - sich dem Bewußtsein nicht mit der gleichen selbstverständlichen Klarheit wie der des Seins darstellt, weil er dessen Abgezogenheit und Kristallhelle noch nicht hat. Deshalb darf sich die Erkenntnistheorie nicht damit begnügen, ihn als einen apriorischen, nicht weiter zu definierenden Besitz hinzunehmen. Wenn man, wie LOTZE, vom Seinsbegriff herkommt und die anderen Formen der Wirklichkeit auszudrücken sucht, so ist es vielleicht gerechtfertigt, eine derselben mit dem Begriff "gelten" für letzthin bezeichnet zu halten, und man mag "diesen Begriff als einen durchaus nur auf sich beruhenden Grundbegriff ansehen, von dem Jeder wissen kann, was er mit ihm meint, den wir aber nicht durch eine Konstruktion aus Bestandteilen erzeugen können, welche ihn selbst nicht bereits enthielten". Steigt man jedoch vom Wertbegriff auf und hat erkannt, daß in ihm die Begründung und Rechtfertigung des Seins liegt, so ist Sein und Gelten nicht mehr parallel geordnet, sondern jenes nur ein mehr oder weniger in die Sphäre des Sichtbaren und Konkreten getretenes Gelten. Und dieses ist nicht aus irgendwelchen Bestandteilen, die selbst schon irgendwie Wirklichkeit haben mußten, "konstruiert", sondern es ist die Äußerungs- und Darstellungsweise dessen, was der Wertbegriff umfaßt. Das Gelten haften den Werten an oder ist ihnen immanent. Deshalb ist der Wertbegriff die Voraussetzung und Erklärung des Seins sowohl, als des "Geschehens", "Bestehens" und "Geltens". Für diese Tatsache, daß in ihm jenes tiefe Erstaunen über das Wunder, daß überhaupt etwas wirklich ist - vom Gelten bis zum Sein -, zur Ruhe kommt, wäre die Ausdrucksweise KANTs und der Erkenntnistheorie die: der Wertbegriff bedeutet die Möglichkeit für alle jene Wirklichkeiten. Und diese stellen in der Begriffsfolge "Gelten", "Bestehen", "Geschehen", "Sein" ein Dichterwerden des Bezogenseins seines Inhaltes auf uns, ein Sichtbarwerden und Veräußerlichen von Werten dar. Da nun jedem apriorischen Begriff eine Wirklichkeit, und zwar die des Geltens, zukommt, dieses sein Gelten aber einen weiteren Gedankenzusammenhang erst möglich macht, so ist alle Möglichkeit oder das Wesen des Apriorischen im Wertbegriff zusammengefaßt. Er ist die Quelle, aus der heraus die Apriori überblickt und verstanden werden können. Insofern ist es unscharf, ihn einfach als apriorischen Begriff zu bezeichnen. Gewiß ist er apriori in dem Sinne, daß er aller Erfahrung vorhergeht, aber das macht nicht sein Wesen und seine Leistung aus, sondern daß er das Wesen des Apriorischen zusammenfaßt und einen einheitlichen Gesichtspunkt aufstellt, unter dem es zu betrachten ist, das leistet der Wertbegriff. er gilt nicht nur ebenso apriori wie der Begriff des Seins und der der Kausalität, sondern daß diese, und alle ihnen gleichzusetzenden, unser Denken möglich machen, ist wiederum nur möglich und verständlich, wenn wir Werte in ihnen erblicken. Daß dabei der Wertbegriff auch gelten muß, ist selbstverständlich und ihm mit allen anderen apriorischen Begriffen gemein. Darin liegt aber kein Zirkel, wie LOTZE vom Begriff des Geltens als solchem allerdings mit Recht sagt: wir könnten ihn durch nichts erzeugen, was "ihn selbst nicht bereits enthielte". Alles womit wir das Gelten umschreiben wollen, muß schon zuvor gelten. Der Wertbegriff, der das Gelten erklären soll, muß zwar auch gelten, aber dieses Gelten haftet an ihm gleichsam als ein Akzidenz [Merkmal - wp], das nicht unter zeitliche Betrachtung gestellt werden, also nicht vorher oder nachher sein kann, sondern wie eine Substanz auch nichts anderes ist als die Summe ihrer Akzedenzien und diese dennoch durch jene  zusammen gefaßt werden müssen, um  er faßt, d. h. begriffen werden zu können, so ist auch der Wertbegriff nichts anderes als das Gelten selbst, aber trotzdem wird dieses nur, in jenem zusammengefaßt, verständlich. Mit anderen Worten: der Wertbegriff sagt mit jedem Auftreten immer zugleich. "ich gelte, kraft meines Ausgesprochenwerdens und der mir immanenten Bedeutung". Das sagt er. Aber sagt er nur das und wirklich nichts weiter, wie die Erkenntnistheorie meint? oder besser: so darf sie nur meinen, wenn sie den Begriff des"theoretischen" Wertes bildet, mit ihm nur die apriorischen Fundamente der Erkenntnistheorie und Logik zusammenfassen und ihn in einen Gegensatz zum Praktischen stellen will. Wir kommt es aber dann, daß wir das Gelten alles Apriorischen in ihm besser zu verstehen und in ihm dessen Möglichkeit zu erblicken glauben? daß wir seinem "ich gelte" eher zu glauben geneigt sind, als dem Geltungsanspruch der einzelnen apriorischen Begriffe und Gesetze selbst? Wenn er in der Tat nicht mehr bedeutete und aussagte als die nackte Tatsache des Geltens, so wäre das schlechterdings nicht einzusehen. Es muß in ihm ein Mehr liegen, und dieses Mehr ist es, dem die erklärende Kraft innewohnt. (12) Dies leugnet man aber gerade, wenn man durch das Attribut "theoretisch" den Wertbegriff auf die Zusammenfassung der erkenntnistheoretisch-logischen Voraussetzungen einschränkt. diese gelten nur; sie machen Theorie möglich und dieses Moment will man alsdann allein bezeichnen, dies meint man nur, wenn man den Begriff "theoretische Werte" bildet. Er soll nur eine Zusammenfassung all dessen sein, was Theorie möglich macht. Warum aber bezeichnet man dieses Geltende als Wert und sieht darin eine Erklärung, wenn man doch zugleich durch das Beiwort "theoretisch" fordert, daß von allen Bedeutungen, die außer dem theoretischen Gelten im Wertbegriff mitschwingen, abzusehen sei? Wenn man jedes Mehr ablehnt, so kann nur noch das Gelten im Begriff ausgedrückt werden, und wozu dann überhaupt den Wertbegriff, wenn man damit nur einen tautologischen Ausdruck für das Gelten schafft? Trotzdem besteht die Erkenntnistheorie mit Recht auf diesem Ausdruck und erblickt in ihm einen neuen, die Tatsache des Apriori erklärenden und deshalb fundamentalen Begriff. Daß es jedoch nicht angeht, den Wertbegriff so ungeklärt einfach der Reflexion zu entnehmen, haben wir oben gezeigt. er ist zu sehr empirisch belastet, als daß man in ihm ohne weiteres einen "reinen" apriorischen Begriff erblicken müßte. Wenn man deshalb auch der Erkenntnistheorie zugibt, daß sie ihn begründet hat, insofern sie ihn als die notwendige Voraussetzung der apriorischen Begriffe, als deren Möglichkeit dargetan und damit auch als ihren Grundbegriff erkannt hat, so ist jedoch, was dem allem vorherzugehen hat, der Grund und die Berechtigung zu seiner Bildung, d. h. sein Ursprung und sein innerstes Wesen, noch nicht aufgezeigt. Diese Aufgabe als solche bleibt bestehen, auch wenn man der Überzeugung ist, daß sie nicht zur Erkenntnistheorie gehört, weil sie über diese hinausführt und in ihr nicht gelöst werden kann. Man sagt etwa: Dieser könne es ja gleichgültig sein, wie uns ein Begriff zukomme, wenn sie ihn nur als notwendig und allgemeingültig erweisen könne. Es ist jedoch klar, daß eine Einsicht in diese Notwendigkeit nur gewonnen werden kann, wenn uns der Begriff in seiner ganzen Verwurzelung und Verästelung, in der Sinnsphäre, die ihn lebendig macht und nährt, vor Augen steht.

Man glaubt nicht selten, daß diese Klärung und Verdeutlichung durch das Ausgraben seiner Genesis erreicht werde. Und bis zu einem gewissen Grad ist das auch der Fall, insofern sich der darauf gerichteten Aufmerksamkeit eine Stammbedeutung darstellt, von der alles nicht organisch dazugehörige Beiwerk abfällt. Aber die eigentlichen Erkenntnisse, die wir dabei erlangen, berichten über psychologische Wandlungen und Entwicklungen. Sie sind nicht der Art, daß sie uns etwas vom inneren Wesen des Begriffs erschlössen. Sie verfolgen den Begriff nur in seinem Wachstum und gehen bestenfalls bis zu seinem ersten Auftreten zurück. Wie jedoch das Heraustreten der Pflanze im Keim von Zufälligkeiten abhängt, die nichts am Wesen des Samenkerns, an dessen Bedeutung und Aufgabe im Naturreich ändern, so ist auch das  Ausgesprochenwerden  des Begriffs eine Zufälligkeit, die nur eintreten kann, wenn der Sinn des Wortes, das mit ihm Gemeinte, schon da war und seine Stellung in der Natur des Erkennens hatte. So wäre es gewiß verfehlt, wenn man vom Wertbegriff sagen wollte, er habe zuerst ein konkretes Gut, Habe und Besitz, dann Geld und Geldeswert, dann alles was in dieser Art "gilt": Ansehen, öffentliche Meinung und Moralität und endlich das Abstrakteste, die logische Wahrheit, selbst bezeichnet. Von all dem kann man nur sagen, daß es Werte seien, wenn zuvor der Sinn des Wertbegriffs gegeben ist. Sie alle, diese Anwendungen, erklären ihn nicht, sondern setzen ihn schon voraus. Von diesem genetischen Aufweisen des Ursprungs des Begriffs ist mithin für die Lösung unserer Aufgabe nichts zu hoffen. "Als ob die psychologische Frage nach der Entstehung der bezüglichen begrifflichen Vorstellungen oder Vorstellungsdispositionen für die fragliche Disziplin das geringste Interesse hätte". "Es handelt sich um Einsicht in das Wesen des Begriffs". (13) Und "zu diesem Ziel können wir nur durch Vergegenwärtigung des Wesens gelangen". In dieser Hinsicht zeigte sich uns bisher soviel klar, daß der Wertbegriff mit dem bloßen Gelten, d. h. durch die Definition: ein Wert ist alles, was gilt, - nicht genügend umschrieben ist. Es muß in ihm ein Mehr liegen, welches das Gelten gerade erst verständlich macht, weil ihm diese Wirklichkeitsform von Natur aus selbstverständlich zugehört .Aber Werte können auch noch die Wirklichkeitsformen des "Bestehens", des "Geschehens" und des "Seins" annehmen, und so muß jenes Mehr, in dem ihr Wesen beschlossen liegt, ein Etwas sein, das in allem Gelten, Bestehen, Geschehen, Sein gleichbleibt.

Weil ein Wert sowohl ein Ding, als auch ein Ereignis, ein Verhältnis und ein logisches Erkenntnismoment sein kann, so kann er doch im Grunde nichts von all dem sein, sondern nur etwas, das in diese verschiedenen Formen eingeht. - Wenn man nun zunächst diese betrachtet, so ist auch begreiflich, d. h. dem Wesen unserer Natur entsprechend, was wir vorher von der Genesis des Begriffs sagten: daß er zuerst als Bezeichnung für greifbare Güter auftritt, dann auch die bewegt gewordenen Wirklichkeiten des Geschehens, dann die nicht mehr seh- und greifbaren des irgendwie Bestehens und endlich auch des ätherisch in eine höhere Gesetzlichkeit verflüchtigten Geltens bedeutet. Damit ist der Weg der Einkehr des Geistes in sich gekennzeichnet: von der bloß äußerlichen als roher Tyrannis erlebten Abhängigkeit von Werten bis zum innerlichsten, nicht minder festen Gebundensein und Bestimmtsein durch Werte. Dieses stets gleiche Erlebnis von Werten, das wir vorher psychologisch als ein Gefühl des Ergriffenseins beschrieben und als das psychische Korrelat zum Wertbegriff bezeichnet haben, ist - wenn man es bis in seine feinsten und vergeistigsten Formen als dasselbe wiedererkennt - das Grunderlebnis unserer Psyche überhaupt. Es ist, wenn man sich nicht nur von Gewalt und Geld abhängig fühlt, sondern jeden Inhalt unseres Bewußtseins aus einer Gesetzlichkeit heraus bindend erlebt, das religiöse Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit.

Wenn dieses eine psychische Grunderlebnis allen Werten gegenüber dasselbe bleibt, so muß das logisch so gedeutet werden, daß bei allem Klären und Verinnerlichen des Begriffs mit ihm etwas gemeint und in der Intention erfaßt ist, was in allen einzelnen Wertformen gleicherweise vorhanden und durch alle Stufen der Wirklichkeit hindurch, vom Gelten bis zum Sein, wie die Erkenntnistheorie will, sondern auch dem Gelten vorhergehen und es allererst möglich machen muß. Wie das Gelten als die Gesetzlichkeit des Seins diesem vorhergeht, so muß noch tiefer das Gelten selbst und damit alle Wirklichkeit durch das Fassen ihrer Gesetzlichkeit begriffen werden. Da man nun das Gelten und alles Geltende besser zu verstehen glaubt, wenn man es Wert nennt, so muß die Grundgesetzlichkeit aller Wirklichkeit in ihrem Wertcharakter liegen, d. h. der Wertbegriff muß es verständlich machen, daß es etwas wie eine Wirklichkeit gibt, daß das eigenartig Geltende wirklich ist, so wirklich wie das Bestehende und Geschehende und wie das wahrnehmbare Sein. Der Wertbegriff muß alle diese Momente in sich enthalten und sie müssen aus ihm deduzierbar sein; sie müßten aus ihm folgen als die Gesetzlichkeit der Wirklichkeit. Die Wirklichkeit muß wert sein und das Wesen des Wertbegriffs muß demnach dies sein: die Wirklichkeit möglich zu machen.

Da diese aus den zwei Gegebenheiten des Bewußtseins und seiner Inhalte, des Ich und der Erfahrungsgegenstände, des Ich und des Nichtich sich entwickelt, so muß der Wertbegriff erklären, wie das möglich ist, wie sie zusammen wirken können, welche Beziehung sie verkettet und welches demnach die Einheit in dieser Zweiheit ist. Mit anderen Worten, man verlangt vom Wertbegriff, daß er das Subjekt-Objekt-Problem, den Dualismus unseres Erkennens verständlich mache, indem er ihn fasse und in sich begreife. Man muß dies verlangen, und alle Erkenntnistheoretiker tun es - obgleich vielleicht unbewußt, nur der inneren Notwendigkeit des Begriffszusammenhangs folgend -, wenn sie von den zwei Voraussetzungen der Erkenntnistheorie: daß es ein Erkennen, also ein Bewußtsein, und daß es einen Gegenstand der Erkenntnis gibt, die letztere dadurch zu erklären suchen, daß sie diesen Gegenstand der Erkenntnis, das Transzendente, einen Wert nennen. Denn das Fortschreiten zu diesem Begriff und das Ruhefinden in ihm wäre unmöglich, wenn er das Erkennen nicht verständlicher, d. h. das Subjekt und das Objekt nicht zusammenbringen und eine Beziehung zwischen ihnen bedeuten würde, welche das ganze daraus sich entwickelnde Wesen unserer Geistigkeit begrifflich faßt.

In der Tat scheint er dies nicht nur wirklich zu leisten, sondern in diesem Sinn sich auch ganz historisch entwickelt zu haben. Indem wir dies in einigen Strichen andeuten, wird auch klar,  wie  er den obigen Anfordernungen genügt.

Für die vorkantische Erkenntnistheorie standen sich Subjekt und Objekt mehr oder weniger fremd und unversöhnlich gegenüber, sodaß entweder die Gegenstände in das Subjekt eingehen mußten, um sich dort abzubilden, oder das Subjekt die Gegenstände als bloße Vorstellungen träumen mußte. Diese naiv realistische Starrheit ist geschwunden. Es wurden die versteinert unbeweglich seienden Dinge in Beziehungen und Funktionen aufgelöst, nicht nur - wie es die Naturwissenschaft tat - in der Welt der Dinge unter sich, sondern schon die Voraussetzungen, welche die Erkenntnistheorie aufstellte, machten das Erkennen der Dinge, und in diesem Sinne die Dinge selbst, bereits zu Funktionen, zu einem Formen und Gestalten, zu Phänomenen des Ich. Dieses Flüssigwerden der starren Seinsbeziehungen scheint sich bis zur Beweglichkeit und dem inneren Leben von Wertbeziehungen zu verfeinern und zu ätherisieren. Deshalb ist der Wertbegriff jetzt der letzte, das Seiende und unser Verhältnis zu ihm, die Beziehungen zwischen Ich und Nichtich fassende und erklärende Begriff. Und zwar läßt er sowohl für eine im letzten Grund realistische (ich denke an KANT) als auch für eine konsequent idealistische (FICHTE, HEGEL) Überzeugung Raum. Wenn bei KANT zuletzt das Rätsel offen bleibt, warum wir zufällig so glücklich sind, immer mit der gerade passenden, richtigen Form den momentan vorliegenden Erfahrungsstoff zu treffen und ihn auf fassen zu können, d. h. wenn KANT an der Grenze unseres Denkens, jenseits des gestalteten Phänomens ein Ding ansich annehmen muß, das den letzten rätselhaften Anstoß gibt, die Denkformen entsprechend - d. h. richtig, sodaß sie Wahrheit geben - in Tätigkeit treten zu lassen, so ist diese wunderbare Kraft, uns zu affizieren, nicht anders denkbar, als daß hier ein Wert vorliegt. Besser gesagt: der Begriff des Wertes ist eben das Denkmoment oder der Ausdruck, welcher diese Tatsache des Affiziertwerdens faßt und demnach das Aussichherausgehen und Bewegen des Bewußtseins erklärt. Man kann sich demnach jene zweite Voraussetzung der Erkenntnistheorie - daß es einen transzendenten Gegenstand der Erkenntnis gibt, so vorstellen, daß - realistisch und zugleich stark psychologisch gedacht - ein Wert draußen, jenseits des Denkens, steht und das Bewußtsein affiziert. Aber man kann auch konsequent idealistisch und rein logisch den Wert für den Begriff ansehen, der die psychologische Hilfsvorstellung des Affiziertwerdens verdrängt, indem er sie erklärt. "Erklärt" natürlich in dem Sinne, wie jeder Begriff erklärt. Nicht als ob wir mit diesem Einfangen in den Begriff die Sache selbst verstanden, gleichsam in uns hineingetrunken hätten, sondern er umgreift sie nur und begreift sie so in sich.

Die FICHTEsche Anschauung vom Entfalten und sich aus sich herausentwickeln, vom eigenen Sich-Inhalte-setzen des Bewußtseins wäre dann so zu verstehen, daß das Bewußtsein +überhaupt, das farblose Ich, die Fähigkeit und Funktion habe, sich Werte zu setzen, oder vielmehr dieses rätselhafte Sichentwickeln und Leben des Ich im Nichtich wäre nichts anderes als eine Entfaltung der Wertfunktion selbst. Der Wertbegriff schlösse es in sich, daß ein Objekt für ein Subjekt, Inhalte für ein Bewußtsein, ein Nichtich für ein Ich da sein muß. Diese Notwendigkeit, daß sich das Ich die Welt schafft, wäre erklärt - erklärt in dem obigen Sinn -, insofern diese Grundtatsache unseres Denkens, daß es in der Zerspaltung von Subjekt und Objekt fortschreiten muß, in einen Begriff gefaßt ist, dessen immanentes Wesen es ist, sich in diese Beziehungen zwischen einer Zweiheit zu entfalten. Er überwindet den Dualismus von Ich und Nichtich, indem er die Möglichkeit des Sichberührens, des Auseinanderhervorgehens, des Einsseins beider begreiflich macht, begreiflich insofern wir einen Begriff für diese Tatsache haben, ganz wie wir populär sagen, wir verstünden etwas, wenn wir Worte dafür haben und erst dort nicht mehr begreifen, wo wir keine Worte mehr haben.

Man kann sich also das Ich vorstellen als das Kantische Ich oder als das FICHTEsche Bewußtsein überhaupt oder ebensowohl auch als die Vernunft im Sinne HEGELs. Dann könnte man in der Terminologie und im Sinne des letzteren etwa sagen: die Vernunft muß Wirklichkeit werden, weil beide durch die Wertbeziehung verknüpft und geeint sind, und weil es demnach im Begriff dieser letzten Einheit, des Absoluten, liegt, sich - da es Wert, der Wert schlechthin ist - in der Vielheit der Wertbeziehungen von Vernunft zur Wirklichkeit zu entfalten. Die Vernunft mußte ihre Odyssee antreten, weil sie nur die eine Seite des Wertbegriffs darstellte, das leere Ich, das da sein muß, um ergriffen zu werden, um zu erleben. Und dieses ergreifende Erleben ist die Wirklichkeit, die andere Seite, die der Wertbegriff verlangt. Damit isti das Absolute, der Wert, ganz; die eine Seite hat die ihr korrespondierende andere gefunden. Das Ich, das sich vorher nicht sah, erkennt sich in seinem Spiegelbild, und die Gesetzlichkeit des einen ist die Gesetzlichkeit des andern. Es ist  eine  Gesetzlichkeit des Geistes, sein Wesen: Wert zu sein, d. h. ein Auseinanderhervorgehen zu bedeuten, Leben zu sein.

Wenn dies das Wesen des Wertbegriffs ausmacht, wenn man so oder ähnlich seine Leistung beschreibt, so ist damit aufgezeigt, wie er mit dem Wesen unserer Erkenntnis überhaupt zusammenhängt, und wie er in ihm begründet ist. So scheint damit die Aufgabe gelöst, die sich dieser zweite Teil der Arbeit gestellt hatte: zu sehen, wie das Sollen selbst, das im ersten Teil als die notwendige Grundlage der Ethik aufgezeigt wurde, begründet werden könne. Wir sahen, der objektive Sinn des Sollens, das was in diesem Begriff erfaßt wird, ist der Wertgedanke, die Tatsache, daß Werte vorhanden sind. Es zeigte sich ferner, daß wir die ganze objektive Geistigkeit notwendig so denken müssen, als sei sie eine Wertbeziehung zwischen einer Vernunft und einer Welt von Inhalten; d. h., der Wertbegriff muß uns die ganze Welt des Notwendigen und Allgemeingültigen, des Apriorischen und Transzendenten, der wir uns gegenübersehen, verständlich machen. Und eben deshalb ist er selbst absolut notwendig und unangreifbar. Damit ist auch erwiesen, daß die Ethik begründbar und notwendig ist, weil sie die einzelnen Werte, die Menschenwerte oder Kulturgüter in einem System als den Inhalt des Wertbegriffs zu entfalten hat. Da dieser objektive Gehalt noch in keine allgemein anerkannte Reihe, d. h. nach einem apriorischen Prinzip hat abgeleitet werden können, so wird die Ethik nur erst insoweit den Anspruch erheben können, eine apriorische Wissenschaft zu sein, als sie ihren Grundbegriff, das Sollen, nach dieser objektiven Seite hin sicherstellt, indem sie zeigt, daß es überhaupt Werte gibt -, was sich jetzt als das Wesen unserer objektiven Geistigkeit überhaupt herausgestellt hat. Sie wird jedoch als empirische Wissenschaft gelten müssen, solange sie diesen objektiven Gehalt nur aufsuchen und nicht nach einem allgemeingültigen Prinzip ableiten kann; und sie wird empirische Wissenschaft bleiben, wenn sie noch länger das Immanentwerden des objektiven Gehalts beim Individuum, d. h. die psychologische Seite des Sollensbegriffs, darstellen will. Letzteres sollte man ruhig der Psychologie überlassen. Wenn man jedoch jene erste Aufgabe einer anderen, theoretischen Disziplin zuweisen will, etwa einer allgemeinen Wertwissenschaft, so vergißt man gewöhnlich, daß diese Wissenschaft auf ethischem Boden ruht. Man hält die Werttheorie für eine ausschließlich erkenntnistheoretisch-logisch orientierte Disziplin, die möglichst weit von der Ethik abzurücken ist, weil man glaubt, theoretische und praktisch-ethische Werte dürften nichts gemein haben. So übersieht man, daß nichtsdestoweniger beides Werte sind, und  alle  Werte und damit unsere objektive Geistigkeit nur verstanden werden kann als die Beziehung zwischen der Vernunft und ihren Inhalten. Und dieses Gebundensein des Ich an seinen Taten ist  die ethische Tatsache  schlechthin.

Wer diesen weiten Sinn von "ethisch" nicht anerkennt, dem müssen seine Handlungen schließlich nur Handbewegungen sein; und wer dadurch eine allgemeine Ethisierung - auch des Denkens - fürchtet, der will nicht entschlossen an eine schlechthinnige Bindung des Ich an Normen und damit an eine Überwindung des Relativismus heran.
LITERATUR - Fritz Klingler, Sollen und Wert als Grundbegriffe der Ethik und ihre Begründung, Straßburg 1911
    Anmerkungen
    1) FRIEDRICH SCHLEIERMACHER, Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre, Berlin 1803, Seite 28
    2) Es könnte vielleicht richtiger scheinen, diese Wissenschaft als erkenntnistheoretische oder reine Logik zu bezeichnen, weil alsdann der Gegensatz zwischen Psychologismus und Logizismus schärfer hervorträte. Da sich jedoch später zeigen wird, daß dieser Sinnzusammenhang ein Zusammenhang von Werten ist und deshalb einer allgemeinen Wissenschaft angehört, so wäre diese Bezeichnung zu eng; denn die Logik hat es nur mit  theoretischen  Werten zu tun, während es ja gerade unsere Aufgabe ist, zu zeigen, daß dieser Wertzusammenhang nur unter ethischen Gesichtspunkten verständlich ist. Es ist deshalb richtiger, für die Wissenschaft, deren Stelle und Aufgabe sich hier zeigte, vorläufig den Namen Erkenntnistheorie zu gebrauchen, obgleich damit kein scharfer Gegensatz zur Psychologie bezeichnet ist; denn in der gegenwärtigen Gestaltung der Erkenntnistheorie sind ja Logik und Psychologie, wenn auch nur als Transzendentalpsychologie, gleicherweise vertreten. Auch die übliche Formulierung der Kontroverse: "Erkenntnistheorie oder Psychologie?", die denselben Gegensatz wie oben ausdrückt, nimmt hierauf keine Rücksicht.
    3) Den Ausdruck im Sinne RICKERTs gebraucht.
    4) Man muß sich dabei allerdings gegenwärtig halten, daß der Begriff dieser Wissenschaft in dem bestimmten Sinn zu nehmen ist, der sie zu einer der Psychologie entgegengesetzten Disziplin macht, und der im Namen der "Erkenntnistheorie" nicht eindeutig zum Ausdruck kommt, insofern eben jede Erkenntnis auch ein psychisches Moment enthält, das natürlich in der Psychologie seine Erklärung findet. Wenn es so gerechtfertigt sein mag - was RICKERT in seinen "Zwei Wege der Erkenntnistheorie", Kantstudien XIV, zeigt -, daß in einer Erkenntnistheorie, die wirklich ist, was ihr Name sagt, psychologische und "reine", nur den transzendenten Sinn betreffende Erörterungen nebeneinander hergehen, so ist doch andererseits klar, daß eine Begründung des Sollens im Wesen unserer Erkenntnis überhaupt beide Gebiete, die Psychologie und die Erkenntnistheorie im engeren Sinne, möglichst scharf auseinanderhalten muß. Denn es handelt sich hier in erster Linie nicht darum, zu zeigen, wie aus den zweierlei Elementen die Sollenserkenntnis zustande kommt, sondern wie diese Elemente im enstprechenden Zusammenhang, dem sie angehören, begründet werden können. Nur so kann deutlich werden, ob es für die Ethik eine theoretische Grundlage gibt, und welches diese ist, Erkenntnistheorie oder Psychologie.
    5) Vgl. ALEXIUS MEINONG, Psychologisch-ethische Untersuchungen zur Werttheorie, Graz 1894, Seite 66f
    6) HEINRICH RICKERT, Zwei Wege der Erkenntnistheorie, Kantstudien XIV, Seite 208
    7) RICKERT, a. a. O. Seite 208
    8) RICKERT, a. a. O. Seite 203f
    9) RICKERT, a. a. O. Seite 214
    10) GEORG SIMMEL, Hauptprobleme der Philosophie, Seite 44
    11) LOTZE führt in seiner Logik (2. Auflage, Seite 511f) aus, daß der "allgemeine Begriff von Bejahtheit oder Position" im Deutschen am besten durch das Wort "Wirklichkeit" bezeichnet werde. "Denn wirklich nennen wir ein Ding, welches ist, wirklich auch ein Ereignis, welches geschieht, wirklich ein Verhältnis, welches besteht, wirklich wahr nennen wir einen Satz, welcher gilt." Und mit Geltung wäre alsdann auch die Wirklichkeit auszudrücken, die PLATO als das Wesen der Ideen ansah und für die er immer nur den mißverständlichen Ausdruck des Seins fand.
    12) Es ist gewiß richt, was LASK (Bericht über den III. internationalen Kongreß für Philosophie, Heidelberg 1909, Seite 672) sagt: der höchste Punkt in der gesamten Begriffswelt des Nichtseienden, des Wertes und des Sinns, ist der Begriff des objektiven Geltens ansich. Aber warum stellt man diesen Begriff des Geltens in die "Begriffswelt" des Wertes? Das täte man nicht, wenn man darin nicht eine erklärende Subsumption erblickte.
    13) EDMUND HUSSERL. Logische Untersuchungen I, Seite 245