D. KoigenL. ZunzR. Treumannvon HumboldtW. Hasbach | ||||
Das Problem der Demokratie [1/2]
I. Radikaler Sozialismus und moderne Sozialpolitik 1. "Utopie" und "Umsturz" Manch einer ist ohne Zweifel der Ansicht, daß nichts einfacher sein kann, als Stellung zu den Theorien der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung und zu ihren praktischen Bestrebungen zu nehmen. Es gibt soziale Utopien, die sich dadurch kennzeichnen, daß sie ohne jegliche Berücksichtigung der entscheidenden Züge der gegenwärtigen Organisation und Evolution der Gesellschaft konstruiert sind. Kann jemand, der die wissenschaftlichen Grundlagen der sozialdemokratischen Theorien kennt, behaupten, daß sie dermaßen ganz und gar in der Luft schweben? Hat es nicht eher den Anschein, als ob die Anhänger der "materialistischen Geschichtsauffassung" ein wenig zu sehr mit einer geradlinigen Fortsetzung der jetzt herrschenden sozialen Entwicklungsbewegungen rechnen und über den "Utopismus", der in der Befähigung des Menschen zur Selbstbestimmung zumindest einen der entscheidenden sozialen Evolutionsfaktoren sieht, viel zu abfällig urteilen? Und wie verhält es sich mit dem "Umsturz", den der Marxismus prophezeit hat? Er soll ja nur darin bestehen, daß die innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft schon gereifte sozialistische Gesellschaftsorganisation schließlich die leblose Schale veralteter Gesetzesformen und schädlicher Klassenprivilegien sprengt, die dann alles sein soll, was noch von der privatkapitalistischen Gesellschaftsordnung übrig ist. Dies ist ja eine Revolutionstheorie, welche offensichtlich auf der Erfahrung basiert, die man damals machte, als die bürgerliche Gesellschaft innerhalb des vermorschten Rahmens der feudal-absolutistischen Standesvorrechte und sozialwirtschaftlichen Beschränkungen zum Durchbruch gelangt. Sind die sozialdemokratischen Auffassungen der jetzt vor sich gehenden Gesellschaftsentwicklung "Utopismus" und "Umsturz", so gibt es keinen anderen Ausweg als zuerst die allgemeine Berechtigung des sozialen Utopismus und Umsturzes anzuerkennen und dann genau zu untersuchen, wieviel Wahrheit und Irrtum im speziellen Utopismus der Sozialdemokratie und in ihren speziellen Umsturzbestrebungen liegen kann. Die einzige Alternative wäre der gar zu naive und unwissenschaftliche Glaube, daß gerade die bestehende Gesellschaftsordnung die allerletzte ist, die in der Geschichte der Menschheit vorkommen wird. Man müßte dann zumindest nach den Kennzeichen dieser "bestehenden" Gesellschaftsordnung fragen. Sie verwandelt sich ja mit schwindelnder Fahrt unter unseren eigenen Augen. Es hat in dieser Verbindung ein gewisses Interesse, sich daran zu erinnern, daß ADAM SMITH, der unbestreitbar größte und unvergleichlich einflußreichste wissenschaftliche Vertreter dre liberalen Nationalökonomie, in seinem 1776 zuerst veröffentlichten, noch heute außerordentlich lesenswerten Werk über "Die Natur und die Ursache des Nationalwohlstandes" ausdrücklich seine eigenen Theorien über Gewerbefreiheit und Freihandel als Utopien bezeichnet, die sich niemals würden verwirklichen lassen, nicht einmal in seinem eigenen Vaterland. Überdies verdient es beachtet zu werden, daß sein theoretischer Angrifff gegen den Merkantilismus kaum weniger heftig war als die sich gegen den wirtschaftlichen Liberalismus richtenden Angriffe der heutigen Sozialdemokraten. Man betrachte einige Aussprüche, die er um das Jahr 1775 herum niedergeschrieben hat.
"Die Konsumtion ist der einzige Zweck aller Produktin und der einzige Sinn, den sie hat; und die Interessen des Produzenten sollten nur soweit berücksichtigt werden, wie es zur Förderung der Interessen der Konsumenten notwendig ist. Dieser Grundsatz ist so vollkommen selbstverständlich, daß es eine Ungereimtheit wäre, ihn noch beweisen zu wollen. Aber im Merkantilsystem werden die Interessen des Konsumenten fast immer denen des Produzenten geopfert; und in diesem System scheint die Produktion, nicht die Konsumtion, als der einzige Zweck und der innerste Sinn der Industrie und des Handels betrachtet zu werden." (2) Ich erlaube mir, stark zu argwöhnen, daß der gute ADAM SMITH, wenn er gerade jetzt leben und wirken würde, der Sozialdemokratie recht nahe stehen würde und durchaus kein "bürgerlich" oder "kapitalistische" rechtgläubiger Anhänger der individualistischen Lehren im "Wealth of Nations" sein würde, sondern daß er eher wohl die auf soziologischem Grund ruhende Ethik der im Jahr 1759 zuerst veröffentlichen genialen Abhandlung "The Theory of Moral Sentiments" sehr nachdrücklich auf die wirtschaftliche Politik anwenden würde. Wir wiederholen ja alle täglich, daß jeder große Mann, sowie auch jeder unbedeutende Mensch, "ein Kind seiner Zeit" ist. Doch wir vergessen regelmäßig, daß damit eingestanden wird, daß man sich auf ihn unmöglicherweise noch hundert Jahr nach seinem Tod als denjenigen berufen kann, welcher jetzt die Anschauungen aufstellen und verteidigen würde, mit welchen er damals hervorgetreten ist und für welche er damals energisch gekämpft hat. Wenn KARL MARX gerade jetzt wirken würde und derselbe geniale Soziologe und Sozialökonom wäre, als welcher er sich in der Zeit von 1845 bis 1865 erwiesen hat, so hätte er ganz gewiß eine wesentlich andere Auffassung der Organisation der privatkapitalistischen Produktion und ihrer Entwicklungstendenzen als die in seinem Buch "Das Kapital" ausgesprochene, und er wäre sicherlich kein "Marxist". Er soll ja sogar bei Lebzeiten geleugnet haben, daß er "Marxist" ist, indem man ihm den humoristischen Ausruf "moi, je ne suis pas marxiste" in einer Unterhaltung mit einigen französischen "Parteigenossen" zuschreibt. Übrigens wissen wir, daß MARX die älteren Programme der marxistischen Sozialdemokratie nicht in allem und jedem billigte und daß es ihm nicht gelang, ihre Urheber dazu zu bewegen, den "Marxismus" in eine genauere Übereinstimmung mit MARX selber zu bringen. Es gibt keine ungereimtere Weise, das Werk eines großen Mannes zu fördern und sein Andenken zu ehren, als sich unter ganz anderen Zeitverhältnissen als denen, welche die Art seiner Auffassungen und seiner Vorschläge wesentlich bestimmten, zu seinem sklavischen Nachbeter oder buchstabengläubigen Ausleger zu machen. Was man in den orthodoxen marxistischen Kreisen viel zu wenig bedent, das ist eben der Umstand, daß wir jetzt ein weit größteres Stück der kapitalistischen Gesellschaftsentwicklung überblicken, als MARX es 1845-65 tun konnte, und daß ein so außerordentlich begabter Gesellschaftsforscher wie MARX ohne jeglichen Zweifel seine Auffassung sehr durch die Züge hätte beeinflussen lassen, welche das soziale Entwicklungsbild des Jahres 1910 wesentlich vom sozialen Entwicklungsbild des Jahres 1850 unterscheiden. Möglichst von diesen neuen Zügen abzusehen und die wichtigeren Fortschritte der Gesellschaftsforschung nach den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts unbeachtet zu lassen, das charakterisier gerade den orthodoxen Marxismus, denn hierin liegt ja die Orthodoxie, das Festhalten an den Lehren, welche MARX in seinen Veröffentlichungen aus den Jahren 1847 und 1867 formulierte. Dadurch aber macht man sich zum Bekenner einer Masse in unserer Zeit offensichtlich unhaltbarer wissenschaftlicher Anschauungen, von denen es absolut undenkbar ist, daß ein Mann der Wissenschaft, wie MARX es war, ihnen heutzutage hätte huldigen können. Wer könnte auf den Gedanken verfallen, einen der großen Naturforscher des 18. Jahrhunderts durch sklavisches Festhalten an seinen damaligen Anschauungen in unseren Tagen zu ehren? Es gibt also auch innerhalb der revolutionären Sozialdemokratie eine Schue, welche man daran erinnern muß, daß sich eine soziologische Entwicklungstheorie durch allgemeines Gerede über "Utopien" und "Umsturz" (in diesem Fall eine Umwälzung der Revolutionstheorien und der Revolutionstaktik der Jahre 1840-1860) nicht widerlegen läßt. Das, was einem sozialistischen Forscher und Denker der fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts als Utopie erschien, kann der in unserer Zeit lebende mit völliger Berechtigung als höchst realistisch ansehen. Und die Umsturztheorie des älteren Forschers kann sich dem jüngeren mit verhängnisvollen Mängeln behaftet erweisen, mit Mängeln, welche jene Theorie zu einer Utopie in gerade dem Sinne machen, den das Wort bei den Gegnern der Sozialdemokratie hat. Aber diesen letzteren müssen wir von Neuem erklären, daß derjenige, welcher nicht von vornherein die Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit zugibt, daß die Gesellschaftsverhältnisse unserer Nachkommen in hundert Jahren sich als gewaltig "utopisch" und radikal "umstürzlerisch" erweisen werden, ganz einfach jenseits jeder möglichen vernünftigen Diskussion über diesen Dinge steht. Ich werden in der Folge sowohl das hervorheben, was mir als die wesentlichen Mängel des "Utopismus" und "Revolutionismus" der Sozialdemokratie erscheint, wie auch das betonen, was ich als die wissenschaftlich und politisch wertvollen Züge darin ansehe. MIt den vorhergehenden Reflexionen habe ich nur angeben wollen, daß es meiner Meinung nach nichts anderes sein kann als reine Philistertorheit oder auch Unfähigkeit zu evolutionistischem Denken auf sozialem Gebiet, wenn man dadurch zu einem Vernunfts- und Wahrheitskern der sozialdemokratischen Arbeiterbewegungen zu gelangen sucht, daß man ihre "extremen Tendenzen" und ihren "Utopismus" zuschreibt. Wir würden dann all das in der Hand behalten, was Vorurteil und Unwissenheit als "realistisch", "praktisch" und "gemäßigt" in der Theorie und Praxis der Sozialdemokratie betrachten mögen. Welcher sich seiner sozialen Verantwortung bewußter Staatsbürger kann sich aber einbilden, daß hierin der tragende geistige Inhat und die wirkliche Wahrheitsmission einer derartigen Volksbewegung zu finden sind? Wenn die soziale Revolutionsbewegung innerhalb einer Gesellschaftsklasse, deren soziale Funktionen und soziale Lage das ganze Gesellschaftssystem immer mehr charakterisieren, seit über fünfzig Jahren beständig zugenommen hat, dann ist nichts anderes zu erwarten, als daß sich das Wiederherstellen der Ruhe und des Friedens in der Gesellschaft als unauflöslich mit einer tiefgehenden Veränderung der Lage dieser Gesellschaftsklasse und der ganzen Organisation der Gesellschaft verknüpft erweisen muß. Aber worin müssen die wesentlichen Züge dieser sozialen Veränderung bestehen? In genau den Veränderungen, welche das Programm der marxistischen Sozialdemokratie andeutet? Oder nur teilweise aus ihnen und teilweise aus Zügen, welche jenes Programm entweder gar nicht oder nur in undeutlicher Weise berührt? und Sozialismus Bevor ich hier zur näheren Diskussion der Theorien und der Praxis der Sozialdemokratie schreite, will ich noch einige Punkte hervorheben, welche mir nach einem mehr als 25-jährigem Studium der einschlägigen Literatur und der hierher gehörenden sozialen Bewegungen nicht nur für die Beurteilung der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung, sondern auch für die der sozialistischen und demokratischen Entwicklungstendenzen unserer Gesellschaft und ihrer sozialwirtschaftlichen und politischen Evolutionsrichtung überhaupt eine zentrale Bedeutung zu haben scheinen. Durch diese vorbereitende Untersuchung glaube ich, das Problem der Sozialdemokratie in seinen richtigen Zusammenhang mit dem allgemeinen modernen Gesellschaftsproblem, das zugleich wirtschaftlich und politisch, allgemein sozial und kulturell ist, bringen zu können. Eine Frage, die genauer untersucht werden muß, ist die, ob die Sozialdemokratie radikal sozialistisch ist. Wenn sich herausstellt, daß dem so ist, dann bleibt zu untersuchen, ob dieser Radikalismus ein gänzlich grundloser Utopismus ist oder ob er als ein notwendiger oder wissentlich erklärbarer Zug des Strebens der modernen Arbeiterklasse nach sozialer Freiheit betrachtet werden muß. Andererseits kann es sein, daß in der Sozialdemokratie eine Richtung vorhanden ist, welche mit nur partieller, wenn auch ziemlich umfassender Sozialisierung des Produktiveigentums rechnet. Anders liegt die Frage, ob die Theorie und die Praxis der Sozialdemokratie wirklich demokratisch sind. Müssen sie es werden, wenn sie es nicht schon sind? Ist der radikale Demokratismus notwendig? Worin wird er in der Zukunft eventuell bestehen müssen? Worin weichen eventuell die Taktik und die Ideale der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung von einem wirklichen Demokratismus ab? Wie verhält sich schließlich die Sozialdemokratie zur modernen Sozialpolitik? Welcher Art sind die zentralen Ideen und Wirkungen dieser? Wie verhalten sie sich zu einem notwendigen Fundament der Gesellschaft überhaupt und besonders zu den fundamentalen Zügen derjenigen Gesellschaftsordnung, welche als das Resultat eines Strebens nach radikaler Überwindung der verhängnisvollen Mängel des gegenwärtigen Gesellschaftszustandes erwartet werden kann? Es gibt einen tiefen inneren Zusammenhang zwischen diesen Dreien - Sozialismus, Demokratismus und Sozialpolitik - der gewöhnlich gänzlich übersehen oder viel zu wenig beachtet wird. Der Theoretiker und Praktiker der bürgerlichen Sozialpolitik stehen in den meisten Fällen ziemlich verständnislos vor der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung. Ihnen fehlt die Verbindung mit dem inneren Leben dieser Bewegung, deren wirkliche treibende Kräfte sie infolgedessen nicht fassen. Als Ersatz müssen sie eine Erklärung aus rein äußeren Symptomen zurechtkonstruieren - eine Erklärung, worin die bürgerlichen Lebensinteressen und Gesichtspunkte auf unkontrollierte Weise ganz einseitig eine Hauptrolle spielen werden, natürlich mit der Folge, daß man Sozialdemokratie und Sozialpolitik als einander entgegengesetzte Bestrebungen mit ganz entgegengesetzten Idealen auffaßt. Die Sozialpolitik gilt nun als eine bürgerliche Spezialität, deren eigentliche und wichtigste Aufgabe es ist, die bestehende Gesellschaftsordnung dadurch zu erhalten, daß sie gewisse Mißverhältnisse, welche die Existenz dieser Ordnung bedrohen könnten, beseitigt. Die Sozialdemokratie betrachtet man dann als den unversöhnlichen Feind dieser bestehenden Gesellschaftsordnung und aller notwendigen Fundamenten jeglicher Gesellschaftsordnung. Dieser Weisheit letzter Schluß ist also, daß die Sozialpolitik zwar ein Mittel zum Bekämpfen der Sozialdemokratie ist, aber keineswegs ein Mittel, um zu einer Gesellschaftsordnung zu gelangen, welche der gegenwärtigen wesentlich unähnlich ist. Eigentümlicherweise gibt es innerhalb der Sozialdemokratie eine Auffassung, welche in der Hauptsache mit dieser Anschauung der bürgerlichen Welt übereinstimmt. Das heißt, daß man der Sozialpolitik keine tiefere Bedeutung für den Emanzipationskampf der Arbeiterklasse und für die Evolution der Gesellschaft nach der Richtung des Sozialismus und des Demokratismus hin zuschreibt. Mit Sozialpolitik oder ohne sie, meint man, geht es doch, wie es gehen muß, dem materialistischen Gesellschaftsentwicklungsgesetz gemäß; und die Hauptsache ist nur, daß das Proletariat zu einem großen Umsturz bereit da steht, wenn die Zeit endlich gekommen ist. Die Revolutionsstimmung der Arbeiter ist wichtiger als die materiellen Vorteile, welche die Sozialpolitik ihnen möglicherweise verschaffen kann. Und es besteht die Gefahr, daß derartige Vorteile die revolutionäre Energie schwächen werden. Es ist besser, das Elend innerhalb der Arbeitermassen wachsen zu lassen, während zugleich die kapitalistische Gesellschaft zu ihrem Fallen heranreift, denn das Elend, der extreme Proletarismus, erschafft Revolutionäre, unversöhnliche Feinde der bestehenden Gesellschaftsordnung. Neben diesen extremen Richtungen gibt es sowohl unter den Bürgerlichen wie auch unter den Sozialdemokraten Gruppen sozialer Forscher und Politiker, welche das Wesen und die Aufgaben der Sozialpolitik ganz anders auffassen. Der wesentliche Zug dieser Anschauung ist, daß die Sozialpolitik als ein unentbehrlicher Zug jeder lebensfähigen modernen Gesellschaftsordnung - sei sie nun kapitalistisch oder soziaistisch - betrachtet wird. Daher das Paradoxon, daß der sozialistische Politiker in der Sozialpolitik einen notwendigen und sehr effektiven Faktor des sozialen Revolutionsprozesses sehen kann, während der bürgerliche Sozialpolitiker auch in diesem Fall die Sozialpolitik als "gesellschaftserhaltend" in rein bürgerlichem Sinn betrachtet; ganz einfach aus dem Grund, weil er nicht an die Möglichkeit irgendeiner wesentlichen Abweichung vom jetzigen privatkapitalistischen Regime glaubt. Ihm erscheint die Sozialpolitik notwendig, um die einzig mögliche Gesellschaftsordnung, die kapitalistische, in einem gesunden Zustand zu erhalten. Der sozialistische Sozialpolitiker dagegen meint, daß die Sozialpolitik durchaus nicht das Leben der kapitalistischen Gesellschaft verlängern kann, sondern vielmehr ihren Fall beschleunigen muß, daß sie aber zugleich auch der sozialistischen Zukunftsgesellschaft als Fundament notwendig ist und deshalb, auch von rein sozialistischen Gesichtspunkten aus, soviel wie möglich schon in der bestehenden Gesellschaft entwickelt werden muß. Diese Anschauungen haben bisher im Mutterland der modernen Sozialpolitik - in England, das auch, neben Frankreich, das Mutterland des modernen Demokratismus und des Sozialismus ist - ihre klarste Ausprägung gefunden. In den Werken von SIDNEY und BEATRICE WEBB wird die Entstehung des sozialpolitischen Prinzips sowohl innerhalb der englischen Gewerkvereinsbewegung wie auch in Verbindung mit der Arbeiterschutzgesetzgebung dargelegt. Dasselbe Prinzip tritt neuerdings in den Bestrebungen hervor, die Armenpflege durch ein System sozialpolitischer Eingriffe in das materielle Dasein der besitzlosen, um niedrige Löhne dienenden Arbeiterbevölkerung zu ersetzen - Maßregeln, welche das Hinabsinken in Armut und wirtschaftliche Hilflosigkeit verhindern sollen. In diesem System sozialpolitischer Institutionen müssen eine großangelegte, konsequent durchgeführte Arbeiterversicherung (Versicherung gegen Krankheit, Unfälle, Invalidität und Arbeitslosigkeit), eine Alterspensionierung und wirksame Maßregeln hinsichtlich zureichender Pflege, Erziehung und Fachbildung der Kinder auch der ärmsten Klassen Hauptzüge sein. Der eigentliche Sinn des sozialpolitischen Prinzips ergibt sich vielleicht am deutlichsten, wenn wir es den sozialwirtschaftlichen Grundgedanken der Armenpflege, der Wohltätigkeit und des liberalen Systems der unbeschränkten wirtschaftlichen Konkurrenz und Eigentumsfreiheit gegenüberstellen. Die Armenpflege datiert aus dem Mittelalter und war ursprünglich eine kirchliche Barmherzigkeitseinrichtung. Als nach der Reformation die Kirche in den protestantischen Ländern des größeren Teils ihrer Güter beraubt wurde, ist die Armenpflege vom Staat in der Form eines gesetzlichen Zwanges für die Gemeinden, Armenhäuser usw. einzurichten, übernommen worden. Der Zweck der modernen staatlichen Armenpflege ist ganz derselbe wie der Zweck der kirchlichen Armenpflege des Mittelalters - nämlich der, daß Kinder, Kranke, Greise, Idioten oder andere zur Selbstversorgung gänzlich unfähige Personen, wenn sie ohne Vermögen sind und weder von Verwandten noch von anderen Unterstützung erhalten, auf Kosten der Steuerzahler vor dem Verhungern geschützt oder überhaupt davor bewahrt werden müssen, daß sie in der äußersten materiellen Not verkommen. Doch eher, als bis sich solche Gefahren wirklich eingestellt haben, darf die Armenpflege nicht eingreifen. Überdies gibt die Armenpflege ihre Hilfe wie ein Almosen und in möglichst abschreckender Form, wozu unter anderem gehört, daß ein unter der Armenordnung Stehender gewisse bürgerliche Rechte einbüßt und unter die Vormundschaft der Armenbehörden gestellt wird. Der Umstand, daß jemand der Armenpflege anheimgefallen ist, bedeutet also, daß der Betreffende selber, oder seine Versorger, bereits tief unter das wirtschaftliche Niveau, welches die niedrigsten durchaus genügenden Lebensverhältnisse seiner Gesellschaftsklasse bezeichnet, herabgesunken ist. Auf dem Weg, der ihn in diesen Zustand des Elends hinuntergeführt hat, sind er und seine nächsten Angehörigen in vielen Fällen schon längst moralische wie auch physische Ansteckungsherde gewesen. Auch da, wo dies nicht der Fall ist, liegt ein sozialpathologischer Zustand vor - weil die betreffenden Individuen schlechteren Lebensverhältnissen verfallen sind als diejenigen, welche man vom Gesichtspunkt der Gesellschaft aus als die niedrigsten befriedigenden betrachten kann. Und hieran ändert die Armenpflege absichtlich nichts durch ihr Eingreifen. Im Gegenteil, sie steigert sogar den sozialpathologischen Zug durch eine gesetzliche Degradierung der Armenunterstützungsempfänger, seien sie nun redliche Leute oder unredlich und arbeitsscheu oder bloß infolge einer Krankheit oder ihres Alters hilflos. Die Armenpflege-Institution ist ihrem ganzen Wesen nach total unfähig, dem Herabsinken unter ein gesundes wirtschaftliches Minimum vorzubeugen. Und anstatt die Gesunkenen planmäßig wieder zu heben und aufzurichten, straft und degradiert sie sie, so daß es ihnen, rein psychologisch und sozial gesehen, nach der Behandlung im Armenhaus oft schwerer wird, sich sozial und wirtschaftlich zu erheben, als es vielleicht der Fall war, ehe sie mit der Armenpflegefalange1.html in Berührung kamen. Die Armenpflege hilft uns nicht im Geringsten, das wirtschaftliche Elend als soziale Massenerscheinung zu beseitigen - genau ebensowenig, wie die private Wohltätigkeit und die Gewerbefreiheit es tun. Die Massenarmut weicht nur einem Einschreiten gegen ihre Ursachen - das hat sie mit allen Krankheiten, physischen wie auch sozialen, gemeinsam. Dieses vorbeugende sozialpolitische Eingreifen ist der Gegensatz des alten Ideals des Liberalismus, der gänzlich unregulierten wirtschaftlichen Konkurrenz, und ist der Gegensatz der privaten Wohltätigkeit, welche auch dann, wenn sie "geordnet" ist, stets eine sehr willkürliche, außerordentlich unvollständige und die Unterstützungsempfänger in hohem Grad entwürdigende Form der Behandlung des Armutsproblems ist. Das sozialpolitische Prinzip ist der Grundsatz, daß die Gesellschaft als Ganzes von Zei zu Zeit hinsichtlich der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Lage der wenig bemittelten Klassen gewisse Minimalforderungen aufstellt und durch ein System sozialer Institutionen, erforderlicherweise auch mittels gesetzlichen Zwanges, die untersten Klassen auf diese Minima erhebt, sowie ihrem Herabsinken unter dieses Niveau für die Zukunft vorbeugt. Diese "nationalen Minima" der Sozialpolitik sind keine Armenpflege- oder Hungergrenze- und Elendsminima, welche der Sozialpathologie angehören, sondern sind Minima völliger Gesundheit, Kraft und Selbständigkeit, Bildung und Lebensglücks. Diese Lebensniveaus an Bildung und sozialer Stellung, sowie an Leistungsfähigkeit, Einkommen, Wohnungsverhältnissen, Arbeitsverhältnissen und Erholung, das Geborgensein bei Krankheit, Arbeitsmangel und Alter sind Minima in dem Sinne, daß die Gesellschaft als Ganzes es nicht zugeben will, daß sie unterschritten werden, und bereit ist, sie mit aller Macht zu stützen, während sie jedes Überschreiten dieser Minima als nationalen Fortschritt begrüßt. Sie sind zufällige Minima, da sie den augenblicklichen wirtschaftlichen und ethischen Kräften der Gesellschaft angepaßt sind, aber zugleich besteht auch die Absicht, sie zu heben, sowie die Vergrößerung jener Kräfte es erlaubt. Die Sozialpolitik geht von der Erfahrung aus, daß absolutes Privateigentum an materiellen Produktionsmitteln und die unregulierte Erwerbskonkurrenz, obwohl sie gewisse Formen wirtschaftlichen Fortschritts kräftig fördern, durchaus nicht imstande sind, in allen Schichten der Gesellschaft Wohlstand zu verbreiten, sondern anstatt dessen den großen Mitbürgermassen Besitzlosigkeit, drückende wirtschaftliche Abhängigkeit und Armut als unveränderliches Erbteil anweisen. Der Grundgedanke der Sozialpolitik ist, daß diese von der jetzigen Gestaltung des wirtschaftlichen Individualismus unzertrennlichen Mißverhältnisse durch die Gesellschaft als Ganzes bekämpft werden können und müssen. Sie können erst bekämpft werden, weil moderne wirtschaftliche Technik und moderne wirtschaftliche Organisation groß, noch nicht ausgenutzte Möglichkeiten zu einem allgemeinen Wohlstand in sich tragen. Sie müssen bekämpft werden, weil die soziale Lage der besitzlosen und ärmeren Klassen unter modernen Bevölkerungs- und Produktionsverhältnissen mit der Erhaltung körperlicher und geistiger Volksgesundheit und einem erforderlichen Maß an sozialem Frieden unvereinbar ist. Die fundamentale Methode der Sozialpolitik ist die Errichtung wirtschaftlicher und kultureller Schranken gegen Armut, Versumpfung, Unkultur und die drückende, entwürdigende Abhängigkeit eines Mitbürgers vom anderen. Das Besitzen und Benutzen materieller Produktionsmittel darf keine ganz unregulierte Privatangelegenheit sein, wie es im wirtschaftlichen System des Liberalismus ist. Denjenigen, welche Grund und Boden und Kapital besitzen, soll die Gesellschaft klar machen, daß diese Produktionsmittel nicht nur im Dienst der nationalen Produktion angewendet werden müssen, sondern auch auf die der Gesellschaft dienliche Art und Weise anzuwenden sind. Hierzu gehört in erster Linie, daß die Lohn- und Arbeitsverhältnisse aller dienenden, ausführenden Produzenten mit Berücksichtigung des fundamentalen Interesses eingerichtet werden, welches die ganze Nation daran hat, daß jene, die unteren Gesellschaftsklassen, in Wohlstand leben können und nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Wirklichkeit die Rechte freier Bürger genießen. Die Sozialpolitik fordert, daß der Wohlstand und die wirtschaftliche Freiheit der ganzen Masse der Produzenten, also auch der Handarbeiter, die ersten, fundamentalen Forderungen beim Planen und definitiven Anordnen jeglicher wirtschaftlicher Produktionstätigkeit sein müssen. Da diese Anforderungen durch den absoluten Privatkapitalismus und die völlig unregulierte Konkurrenz nicht erfüllt werden können, müssen diese sozialwirtschaftlichen Institutionen soweit umgestaltet oder verdrängt werden, wie es sich als nötig erweist, um den Wohlstand aller und den Anteil aller an der Verantwortung für die Organisation und Leitung der Produktion zu erreichen. Die sozialistischen Minima an Kinderpflege, Jugenderziehung, Hygiene des häuslichen Lebens und der Arbeit, Versicherung und Pensionierung, Leistungsfähigkeit, Arbeitsfreiheit, Arbeitspflicht, Einkommen und Kultur führen ganz gewiß zum Verlust der "Freiheit", in physischem und moralischen Elend zu leben, enthalten aber auch für alle die Garantie der einzigen wirklichen Freiheit - der Freiheit, in Wohlstand zu leben. Die typisch liberale, privatkapitalistische Gesellschaft basiert im Grunde auf dem Recht und der Freiheit eines jeden, ein so kleines Einkommen zu erwerben, wie er will - und nicht nur auf dem Recht und der Freiheit eines jeden, ein so großes Einkommen zu erwerben, wie es ihm beliebt. Dem reinen Liberalismus ist es niemals klar geworden, daß es gesellschaftsgefährlich kleine Einkünfte sowie gemeingefährlich große Einkünfte gibt und daß die Gesellschaft aus dem reinen Selbsterhaltungstrieb früher oder später zu diesen beiden Typen von Privateinkommen Stellung nehmen muß. Die Bedenken, welche liberale Nationalökonomen gelegentlich bei der Diskussion über diese Fragen in der Theorie geäußert haben, sind durch die liberale Wirtschaft und die liberale Politik in der Praxis regelmäßig beiseite geschoben worden. Es fällt allen echt liberalen Ökonomen und Politikern außerordentlich schwer, bis zu den wirklichen Prinzipien der Sozialpolitik durchzudringen. Man bleibt viel zu oft bei einer Auffassung stehen, die eine Art unmöglichen Mittelweges zwischen Wohltätigkeit (wenn nicht manchmal geradezu Armenpflege) und Sozialpolitik einschlägt. Und dies ist sowohl von prinzipiellen wie auch von historischen Gesichtspunkten aus gerade kein Wunder, denn die Sozialpolitik ist sozialistischen Ursprungs - ist in ihrer Idee ein Ableger der sozialistischen Theorien und Bestrebungen, besonders derer der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in England. Aber auch BISMARCKs Sozialversicherungsinitiative in Deutschland in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts hatte eher eine Ideenverbindung mit dem Sozialismus als mit dem Liberalismus. Seltsam ist nur - und dies ist etwas, womit wir uns in der Folge weiter beschäftigen müssen - daß die Sozialdemokratie nach 1850 die praktische Bedeutung der Sozialpolitik in hohem Grad unterschätzte und ihren inneren Zusammenhang mit dem Sozialismus übersah. Der Grundfehler des liberalen Verhaltens gegen die Sozialpolitik ist natürlich die Ungeneigtheit, sie zum Regulator jeglicher Eigentumsverwendung und Produktion, auf Kosten der "Freiheit" des Besitzes und der Unternehmung, zu machen. Außerdem übersieht man, daß die Sozialpolitik bezweckt, allen normal leistungsfähigen und pflichtgetreuen Produzenten wirklichen Wohlstand als wirtschaftliches Minimum zu garantieren. Man läßt sich hier auf liberaler sozialpolitischer Seite ganz denselben Fehler zuschulden kommen wie die Armenpflege-Institution überhaupt - z. B. die schwedische Armenpflegeverordnung aus dem Jahre 1871, wenn sie in ihrem dritten Paragraphen verfügt:
Die Sozialpolitik verlangt von jedem arbeitsfähigen und zum reifen Alter gekommenen Gesellschaftsmitglied, daß es nicht nur sich und die Seinigen versorgt, sondern daß es sich und seine Angehörigen sowohl einem gewissen Lebensminimum gemäß wie auch im Übrigen auf eine die Gesamtheit wirklich befriedigende Art und Weise versorgt. Wer das nicht kann oder nicht will, der darf sich nicht der "Freiheit" erfreuen, zu versumpfen, ein Schmarotzerleben zu führen oder auf das Armenhausniveau herabzusinken und andere mit herabzuziehen. Die Sozialpolitik will es allen und jedem möglich machen, sich nach den gesetzlichen Mindestforderungen zu versorgen. Dies ist nicht nur der Kern der sozialpolitischen, sondern zugleich der Kern der sozialistischen und demokratischen Forderungen. Ohne festgestellte Wohlstands-, Kultur- und Freiheitsminima und ohne Konzentration der organisierten Kräfte der Gesellschaft auf die Aufgabe, diese Lebensminima der Nation durchzusetzen und von Zeit zu Zeit zu erhöhen, ließe sich die Existenz einer sozialistisch-demokratischen Gesellschaft überhaupt nicht denken. Die einzig denkbare Alternative wäre das Gezwungensein aller zum Leben auf gleiche Weise - eine ebenso undemokratische wie fortschrittsfeindliche Idee und nicht weniger freiheitsverneinend wie der autokratische oder oligarchische Despotismus. Indessen wissen wir, daß man dem Sozialismus und dem Demokratismus oft vorgeworfen hat, daß sie nach dem Nivellieren aller zum selben materiellen und geistigen Lebensniveau strebten. Man behauptet, daß sie eher das Verbot, daß der Einzelne sich über dieses Niveau erhebt, als das Verbot, daß er darunter herabsinkt, betonten. Das Körnchen Berechtigung, das in dieser Auffassung liegen mag - die jedoch in der Hauptsache nichts anderes als ein Irrtum oder eine Verdrehung der Wahrheit ist - scheint mir vor allem darin zu suchen zu sein, daß sich die Sozialdemokratie bisher gegen die innersten Zwecke der modernen Sozialpolitik ziemlich verständnislos und kühl verhalten hat und es überhaupt unterlassen hat, diejenige Seite des sozialistischen Programms zu entwickeln, welche in einem klar und deutlich ausgesprochenen Anerkennen der Notwendigkeit der Politik der wirtschaftlichen Lebensminima bestehen muß. Nicht nur ihre Notwendigkeit als Vorbereitung zur sozialistischen und demokratischen Gesellschaftsordnung muß anerkannt werden. Das Errichten und Aufrechterhalten eines vollständigen Systems nationaler Lebensminima ist ohne sozialistische Eigentums- und Produktionsreformen undenkbar. Staat und Kommune bedürfen größerer Einkünfte denn jemals zuvor, wenn sie die hierhergehörigen Erziehungs-, Bildungs-, Versicherungs- und Schutzaufgaben sollen durchführen können. Diese gewaltigen Staats- und Kommunaleinnahmen lassen sich nicht einzig und allein auf dem Weg der Besteuerung aufbringen, sondern müssen immermehr durch Staats- und Kommunaleigentum und staatliche und kommunale Produktionstätigkeit vervollständigt werden. Die moderne Sozialpolitik treibt also zu sozialistischen Eigentums- und Produktionsreformen. Und wenn die prinzipiell sozialistische Gesellschaft diese Eigentums- und Produktionsinstitutionen übernimmt, dann übernimmt sie auch die sozialpolitischen Institutionen, um derentwillen Eigentum und Produktion teilweise sozialisiert worden sind. Die Sozialpolitik wird die Brücke schlagen zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Es ist ohne Zweifel ein Fehler der sozialdemokratischen Theorie, daß sie diesen bedeutungsvollen Zug in der modernen Gesellschaftsentwicklung viel zu wenig beachtet hat. Anstatt dessen ist man entweder mit phantastischer Rede von einem ganz radikal durchgeführten Sozialismus hervorgetreten oder auch mit allerlei unbestimmten Behauptungen, daß wir eigentlich nicht wissen können, wie der (jetzt auf einmal in ungeheurer Ferne gedachte) sozialistische Zukunftsstaat dereinst geordnet werden wird. Ein Schwanken zwischen viel zu geringer und viel zu großer Bescheidenheit in den sozialistischen Prinzipienfragen! Die Frage, ob die Sozialdemokratie prinzipiell radikal und intransigent [unversöhnlich - wp] in ihren sozialistischen Forderungen ist, ist nicht leicht zu beantworten- denn teils widersprechen die sozialdemokratischen Urkunden einander, teils führen sie in diesem Punkt eine ziemlich undeutliche oder zweideutige Sprache. Wenn wir, wie es sich gebührt, uns zuerst zu den unvergleichlich wichtigsten der ältesten sozialdemokratischen Bekenntnisschriften - dem von KARL MARX im Jahre 1847 verfaßten "Kommunistischen Manifest" - wenden, so finden wir darin unter anderem folgende Erklärung:
"Es kann dies", heißt es weiter, "natürlich zunächst nur geschehen mittels despotischer Eingriffe in das Eigentumsrecht und in die bürgerlichen Produktionsverhältnisse, durch Maßregeln also, die ökonomisch unzureichend und unhaltbar erscheinen, die aber im Laufe der Bewegung über sich selbst hinaus treiben und als Mittel zur Umwälzung der ganzen Produktionsweise unvermeidlich sind. Diese Maßregeln werden natürlich je nach den verschiedenen Ländern verschieden sein. Für die fortgeschrittenen Länder werden jedoch die folgenden allgemein in Anwendung kommen können.
2. Starke Progressivsteuer 3. Abschaffung des Erbrechts. 4. Konfiskation des Eigentum aller Emigranten und Rebellen. 5. Zentralisierung des Kredits in den Händen des Staates durch eine Nationalbank mit Staatskapital und ausschließlichem Monopol. "Sind im Laufe der Entwicklung die Klassenunterschiede verschwunden und ist alle Produktion in den Händen der assoziierten Individuen konzentriert, so verliert die öffentliche Gewalt den politischen Charakter. Die politische Gewalt im eigentlichen Sinn ist die organisierte Gewalt einer Klasse zur Unterdrückung einer anderen." "An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines Jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist." (3) Nun unterscheidet man gewöhnlich zwei Arten gesellschaftlichen Eigentums: Staatseigentum und anderes Kollektiveigentum. Im ersteren Fall ist die ganze Gesellschaft durch ihre zentralisierte Zwangsmacht (den Staat) Eigentümerin. Im zweiten Fall sind größere oder kleinere Gruppen einzelner, frei assoziierter Personen Eigentümer. Offenbar ist diese letztere Art "Gesellschaftseigentum" ein Zwischending zwischen Privateigentum und wirklichem Gesellschaftseigentum. Ist die besitzende Assoziation sehr groß, so kann sie allerdings den Charakter einer "Gesellschaft" im soziologischen Sinn haben. Aber sie kann ja auch sehr klein sein. Ist es "Gesellschaftseigentum", wenn zwei oder drei nicht miteinander verwandte, aber assoziierte Personen gemeinsames Eigentum haben? Und ist es "Privateigentum", wenn eine aus 200 Personen bestehende Familie gemeinsames Eigentum hat? Und wie sollen die in getrennten, besitzenden Gruppen frei assoziierten Produzenten ohne ein Eigentumsrecht ihre Eigentumsrechte bestimmen, abgrenzen und gegeneinander schützen können? Muß es nicht eine Staatsmacht als Quelle und Schützer eines solchen Eigentumsrechtes geben? Ist es anzunehmen, daß ein sozialistischer Staat assoziierten Individuen ein Eigentumsrecht auf Grund und Boden und Kapital zugestehen wird, ohne sich selber ein Obereigentumsrecht vorzubehalten, wodurch die Nation als Ganzes das Recht und die Macht erhalten würde, die kollektiven Eigentumsverhältnisse den höchsten gemeinsamen Interessen aller gemäß zu ordnen? Dann aber ist ja das "freie Gesellschaftseigentum" im Grunde nichts anderes als ein modifiziertes Staatseigentum. Und die Hauptsache ist wohl immer, daß das Recht und die Macht einzelner Personen oder einzelner Gruppen oder Assoziationen in Übereinstimmung mit ihren Sonderinteressen unbeschränkt über Grund und Boden und Kapital zu verfügen, aufgehoben wird, d. h. daß man alles unbeschränkte, individuelle und kollektive Privateigentum an Grund und Boden und Kapital prinzipiell abschafft. Eine sozialistische Gesellschaft, die gegen besitzende Produzentenassoziationen rechtlich wehrlos wäre, wenn diese ihr "Gesellschaftseigentum" zum Nachteil der ganzen Nation oder zum Schaden der Gesellschaft, als Ganzes betrachtet, mißbrauchen würden - das wäre ein sonderbar unvollkommener Sozialismus. Einerseits ist es klar, daß einer sozialistischen Nation nicht mit einer Verstaatlichung des Eigentums gedient werden kann, die solcher Art ist, daß sie zu einer wirtschaftlich und sozial schädlichen Konzentration der Produktionsorganisationen zwingt. Doch ebenso klar ist es, daß eine sozialistische Nation nicht zulassen kann, daß eine irgendwie erhebliche Menge an Grund und Boden und Kapital nach dem liberalen Privateigentumsprinzip ("Ich mache mit dem Meinen, was mir beliebt.") besessen und angewandt wird - nicht einmal dann, wenn es sich um freie Produzentenassoziationen handelt. Es ist jedoch offensichtlich, daß MARX an der angeführten Stelle des "Kommunistischen Manifestes" sich die Übertragung alles materiellen Produktionseigentums an den Staat als Übergangsform und die Abschaffung des Staates, der durch eine "Assoziation" ersetzt wird, als den endgültigen Zustand gedacht hat. Nun ist aber leider diese letzte Idee durch MARX in außerordentlich unklarer Weise angedeutet worden, wie sie auch offenbar bei ihm nicht mit irgendeiner besonders eindringlichen Wirklichkeitsanalyse oder Forschung verbunden gewesen zu sein scheint. Er sagt, daß der Klassenstaat nach der proletarischen Revolution verschwinden wird - eine Behauptung, über welche sich schon viel sagen ließe. Und er gibt uns nicht zu verstehen, welche staatlichen Elemente anderer Art jene "Assoziation, die "an die Stele der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen" treten wird, eventuell kennzeichnen müssen. Tatsächlich bedient sich MARX hier einer Terminologie, die sich kaum verteidigen läßt, da sie eher zur Verwirrung als zur Ordnung der Begriffe beitragen dürfte. Er behauptet, daß "die politische Gewalt im eigentlichen Sinn die organisierte Gewalt einer Klasse zur Unterdrückung einer anderen" ist, und er versteht unter dem Wort "Staat" ausschließlich eine soziale Organisation, welche eine solche "politische Gewalt im eigentlichen Sinne" ausübt. Demnach könnten wir, wenn die wirtschaftliche Gewalt der einen Gesellschaftsklasse über die andere abgeschafft worden wäre, nicht mehr von einem "Staat" reden. Doch gibt MARX zu, daß es auch in diesem Fall eine "öffentliche Gewalt" geben muß, obgleich sie ihren politischen Charakter verloren" hat. Wie sollen wir nun diese "öffentliche Gewalt" benennen, welche existiert, nachdem der Monopolisierung der öffentlichen Gewalt durch eine wirtschaftliche Herrscher- und Unterdrückerklasse ein Ende gemacht worden ist? Das Wort "Assoziation" läßt sich nicht zur Bezeichnung der "öffentlichen Gewalt" anwenden, denn es hat entweder eine umfassendere Bedeutung (soziale Organisierung im allgemeinen) oder auch die dem Wort "Staat" gerade entgegengesetzte Bedeutung (freie und private Organisation im Gegensatz zur öffentlichen Zwangsorganisation). Ohne Zweifel ist es wirklichkeitsgetreuer und sprachlich und begrifflich richtiger, die Worte "Staat" und "Politik" die öffentliche Gewalt und Gewaltausübung im allgemeinen bezeichnen zu lassen und zwischen dem wirtschaftlich ausbeuterischen Klassenstaat, der wirtschaftlich despotischen Politik einerseits und dem wirtschaftlich demokratischen Staat, der wirtschaftlich demokratischen Politik andererseits zu unterscheiden. Aber dieser Sprachgebrauch setzt voraus, daß man weiß, was man unter "Demokratie" zu verstehen hat - eine Frage, auf welche ich noch zurückkommen werde. Auch kann gefragt werden, ob wir unter sozialen "Klassen" nur Gruppen von Unterdrückern und Unterdrückten verstehen dürfen. Mir scheint, daß die "Assoziation", von welcher MARX spricht, ein Staat sein muß - obwohl ein Staat, der durch seinen wirtschaftlichen Demokratismus dem gegenwärtigen ausbeuterisch-despotischen Privateigentumsstaat so unähnlich wie nur möglich ist. Unter einem Staat verstehe ich eine Gesellschaft, die über eine absolute zentralisierte, nach außen hin unabhängige und in allen Eventualitäten durchaus wirksame Zwangsmacht verfügt, die in letzter Hand als Mittel dienen kann, um äußere und innere Gesellschaftsangelegenheiten nach Recht und Gesetz zu ordnen. Der Staat kann sowohl demokratisch, wie autokratisch und oligarchisch konstituiert sein. In jedem Fall gelangt man zu dem Schluß, daß MARX im "Kommunistischen Manifest" radikaler Sozialist ist - woraus jedoch keineswegs folgt, daß er, der nach dem Verfassen dieses Werkes noch 36 Jahre gelebt hat, es auch sein ganzes Leben hindurch geblieben ist. Er hat sich aber, meines Wissens, in seinen späteren Schriften nicht deutlich über diese Fragen ausgesprochen. Und gewiß ist, daß das "Manifest" bis auf den heutigen Tag tiefe Spuren im Gedankenleben der Sozialdemokratie hinterlassen hat. Unter den Massen nicht selbständig forschender und denkernder sozialdemokratischer Parteimitglieder dürfte die große Mehrzahl sich vorstellen, daß die sozialistische Eigentums. und Produktionsumwälzung alles Produktiveigentum und alle Produktion umfassen muß. Innerhalb des radikalen Flügels der sozialdemokratischen Partei aller Länder spielt dieser sozialistische Radikalismus eine fundemantale Rolle - neben dem politischen Radikalismus, welcher in die gleichfalls aus dem "Kommunistischen Manifest" geschöpfte Theorie der "revolutionären Diktatur des Proletariats" ausmündet. Die offiziellen Parteiprogramme sprechen sich jedoch in Bezug auf das radikale Durchführen des Sozialismus nicht völlig klar aus, obwohl sie mir in der Hauptsache der radikalen Auffassung Ausdruck zu geben scheinen. In dem noch geltenden Programm der deutschen sozialdemokratischen Partei, das auf dem Erfurter Parteitage im Jahr 1891 angenommen worden ist, lesen wir Folgendes:
Werfen wir einen Blick auf das Programm der schwedischen sozialdemokratischen Arbeiterpartei, welches der Parteikongreß im Jahr 1897 angenommen hat, finden wir ein sehr unklares Hinundherschwanken zwischen dem sozialistischen Radikalismus und einem neuen Standpunkt.
"Der Kampf auf dem nationalen und dem internationalen Arbeitsmarkt zwischen Arbeitern und Arbeitkäufern ... wird erst dann aufhören, wenn die Arbeiterklasse aufgehört hat, eine Lohnarbeiterklasse zu sein." "Dies aber kann nur geschehen durch die Aufhebung des privatkapitalistischen Monopols auf die Produktionsmittel und ihre Verwandlung in ein gemeinsames, der ganzen Gesellschaft gehörendes Eigentum und ein Ersetzen der planlosen Warenproduktion durch eine sozialistische, den wirklichen Bedürfnissen der Gesellschaft entsprechende Produktion." "Die Sozialdemokratie will daher auch die politische Organisation der Arbeiterklasse durchführen, sich in den Besitz der öffentlichen Gewalt setzen und allmählich alle Produktionsmittel - die Transportmittel, die Wälder, die Bergwerke, die Eisenhütten, die Fabriken und den Grund und Boden - in gesellschaftliches Eigentum verwandeln." In den Programmpunten, die wir gegenwärtig auf der Titelseite der Zeitung "Der Sozialdemokrat", dem führenden Organ der schwedischen sozialdemokratischen Partei, finden, lesen wir die Behauptung, daß "die Kooperation die Entbehrlichkeit der Kapitalistenklasse zeigt". Ein wenig vorsichtiger ist die Fortsetzung formuliert.
"Diese sozialistische Umgestaltung zur Sicherung und Entwicklung der geistigen und der materiellen Kultur durchzuführen, das ist die weltgeschichtliche Aufgabe des Klassenkampfes der Arbeiter."
Als ein die ganze marxistische Sozialdemokratie gerade jetzt charakterisierendes Symptom betrachte ich KARL KAUTSKYs Aussprüche in seiner interessanten Schrift "Die soziale Revolution" (4). In der Abhandlung "Am Tag nach der Revolution" sehen wir den streng marxistischen Forscher von der Annahme ausgehen, daß die soziale Revolution ganz plötzlich dem Proletariat alle Macht in den Schoß werfen würde; aber wir finden auch, daß er sich durchaus kein plötzliches oder auch nur innerhalb absehbarer Zeit vollständiges Übergehen des privaten Produktionseigentums in sozialistisches Produktiveigentum vorstellt. Es geht von der Annahme aus, daß es eine der ersten Maßregeln des Proletarierstaates sein wird, allen Lohnarbeitern bei Arbeitslosigkeit und Arbeitseinstellungen die nötigen Existenzmittel zu garantieren - freilich soweit, wie ich sehen kann, ohne anzugeben, wie der Staat es anfangen soll, die enormen Massen an Lebensmitteln usw., deren es hierzu bedarf, zu beschaffen. Es handelt sich nämlich um einen Dauerkampf gegen die privatkapitalistischen Unternehmer, der diese nicht nur zwingen würde, sich mit den Lohn- und Arbeitsbedingungen der Arbeiter einverstanden zu erklären, sondern sie auch noch überzeugen würde, daß es unmöglich oder gar zu wenig lohnend ist, den Betrieb nach einem privatkapitalistischem System weiter fortzusetzen. Ihr materielles Produktiveigentum würde in ihren Händen wertlos werden, und der einzige Vorteil, den sie dann aus ihm ziehen können, würde darin bestehen, daß der Staat, die Gemeinden oder die Arbeiter und ihre Konsumvereine es ankaufen und sie als Rentiers leben lassen wollten. Neben diesem "freiwilligen" Verkauf privatkapitalistischen Privateigentums könnte ein Zwangsverkauf in Frage kommen - wie in der gegenwärtigen Gesellschaft - wenn die Interessen der Gesellschaft es erfordern und die privaten Besitzer sich nicht von selber zum Verkauf anbieten, z. B. in gewissen Fällen wirklicher Monopole infolge einer Kartell- und Trustbildung. Jedenfals aber keine Konfiszierung, sondern Ablösung. Indessen ist es mir gänzlich unklar, wie KAUTSKY sich bei diesen kolossalen Übertragungen materiellen Eigentums die Preisbildung gedacht hat. Wenn die Käufer - der Staat, die Gemeinden und die Arbeiterassoziationen - willkürlich den Preis herabdrücken, so wird das Verfahren ja doch einer partiellen, willkürlich durchgeführten Konfiszierung des privatkapitalistischen Privateigentums gleichkommen. Es fragt sich nun, ob hierbei die Willkür nicht ein größeres Übel ist als die Konfiszierung, die in vielen Fällen eine klare und deutliche Berechtigung haben kann - z. B. wenn ein Trust lange Zeit sein Eigentum durch eine monopolistische Preispolitik vergrößert hat, welche tatsächlich, wenn auch nicht rechtlich, mit einer Konfiszierung eines Teils des Eigentums der Konsumenten zum Vorteil der Trustherren gleichbedeutend gewesen ist. Der nächste Schritt wird, nach KAUTSKY, eine Steuerpolitik sein, welche der Gesellschaft dasjenige überträgt, dessen sie von den Geldeinkünften und den Geldkapitalien, welche die ehemaligen Privatkapitalisten beim Verkauf ihres Produktiveigentums erhalten oder vor diesem besessen haben, unmittelbar bedarf. Dies wird also eine Konfiszierung auf dem Umweg einer Besteuerung sein, welcher teils den Vorteil mit sich bringt, daß die kleineren Anteilbesitzer an den großen Privatunternehmungen in ungestörtem Besitz ihre Ersparnisse gelassen werden können, teils aber den, daß die Konfiszierung beliebig langsam und mit aller wünschenswerten Rücksichtnahme geschehen kann. Jedoch ist KAUTSKY ganz entschieden der Ansicht, daß die kleinbürgerlichen Unternehmungen Privateigentum bleiben sollen, vor allem in der Landwirtschaft. Die proletarische Staatsmach wird überhaupt gar nicht den Wunsch haben, derartige kleine Unternehmungen zu unternehmen, sagt er. Nie hat ein Sozialist, der ernst zu nehmen ist, gefordert, daß die Bauern enteignet werden sollen oder daß ihr Eigentum geradezu konfisziert werden soll. Es wird vielmehr aller Wahrscheinlichkeit nach jedem Kleinbauern gestattet werden, seine Wirtschaft so weiter zu führen, wie er sie bisher betrieben hat. Der Bauer hat von einem sozialistischen Regime nichts zu fürchten. Die verschiedenen Arten von Produktiveigentum - staatliches, kommunales, kooperatives und privates Eigentum - können in der sozialistischen Gesellschaft nebeneinander existieren. Diese Ansichten KAUTSKYs sind gerade der Gegensatz eines sozialistischen Radikalismus. Es läßt sich dabei sogar bemerken, daß KAUTKSY die Notwendigkeit, daß der sozialistische Staat über ein durchaus zeitgemäßes Nutzbarmachen der materiellen Produktionsmittel, besonders des im Privatbesitz bleibenden Bodens, wacht und es eintrenden Falles erzwingt, recht schwach betont hat. Die Nation kann es deshalb, weil eine große Masse des Bodens unter kleine Besitzer verteilt ist, nicht gleichgültig mit ansehen, daß dieser Boden weniger intensiv bewirtschaftet wird und einen geringeren Betrag gibt, als es dem augenblicklichen Standpunkt der Technik nach möglich wäre. Wenn Faulheit und Kulturlosigkeit innerhalb der Klasse kleiner Landwirte überhandnehmen würden, so daß diese Klasse sich nur notdürftig ernähren kann und ungebildet bliebe, so ließe sich dies, wie ich meine, nach sozialistischer Anschauung keineswegs als eine "Privatangelegenheit" der betreffenden Klasse betrachten. Dieses rein sozialpolitische Moment in einer sozialistischen Produktioinspolitik scheint mir eine viel zu kleine Rolle bei KAUTSKY zu spielen und vielleicht sogar seinen Sozialismus ein bißchen "gemäßigter" zu machen, als er streng genommen sein sollte. Was nun seine Spekulationen über die Organisation der Produktion und der täglichen Arbeit in der sozialistischen Gesellschaft anbetrifft, so bilden sie unzweifelhaft den schwächsten Teil seiner in vielen Hinsichten so wertvollen Untersuchung. Er hebt hervor, daß gerade hier die Stelle ist, wo die eigentlichen Schwierigkeiten des Sozialismus anfangen. Aber er liegt zu sehr in den Banden einseitiger marxistischer Auffassungen der Funktionen des kapitalistishen Unternehmers, um bis auf den Grund dieser Schwierigkeiten des sozialistischen Produktionsproblems hinabdringen zu können. Das heißt mit anderen Worten, daß KAUTSKY den Unterschied zwischen der erfindenden, experimentierenden, organisierenden und leitenden Arbeit (der Arbeit des Unternehmers) einerseits und der bloß ausführenden, dienenden und gehorchenden Arbeit (der Arbeit des ausführenden Lohnarbeiters) andererseits nicht gründlich genug analysiert. Freilich sind die technischen Erfinder oft die abgelöhnten Diener der "Kapitalisten" und mancher dienende Handarbeiter hat Erfindertalente, die mehr oder weniger verwertet werden. Doch ohne die Einwilligung und Mitwirkung der organisierenden und leitenden "Kapitalisten" werden weder die Erfindungen des Ingenieurs noch die des gewöhnlichen Arbeiters wirtschaftlich verwertet - und werden sie dies nicht, so existieren sie in volkswirtschaftlichem Sinn überhaupt nicht. Der Unternehmer ist das Oberhaupt der eigentlichen Wirtschaft, und es ist notwendig, angeben zu können, wie seine Funktionen in der sozialistischen Gesellschaft aufrechterhalten und weiter entwickelt werden sollen. Ebenso notwendig, wie angeben zu können, wie alle die verschiedenen Klassen unentbehrlicher ausführender Arbeiter bei ihrer Arbeit festgehalten oder zu genügend intensiver, ausdauernder und disziplinierter Arbeit angespornt werden sollen. Es erscheint mir ein unvermeidlicher Gedanke - welcher allem Anschein nach auch KAUTSKY nicht fremd geblieben ist - daß die Einkünfte der arbeitsfähigen und arbeitspflichtigen Mitbürger in allem Wesentlichenvom wirtschaftlichen Wert, den ihrer Arbeitsleistungen für die Gesellschaft haben werden, abhängig gemacht werden müssen und daß der Steigerung der einzelnen Einkünfte keine andere Grenze gesetzt werden darf als eben dieser Wert. Ein genialer Erfinder und Organisator kann sich in einer sozialistischen Gesellschaft reichlich eines jährlichen Einkommens von ein- bis zweihunderttausend oder mehr Mark wert erweisen - ganz wie in der jetzigen Gesellschaft. Dagegen muß, dem sozialpolitischen Prinzip nach, die Höhe der Einkünfte eine untere Grenze haben. Diese darf niemals so tief liegen, daß der Einkommensempfänger unfähig wird, so zu leben und zu arbeiten, daß die Gesellschaft seine Lage als ein gesundes Minimumniveau an Konsum, Arbeit und Kultur billigen kann. Wer nicht, obgleich er dazu befähigt ist, wenigstens in Übereinstimmung mit diesem Minimum zu arbeiten und leben will, den muß die Gesellschaft nach denselben Grundsätzen behandeln wie den Kranken und den Verbrecher - mit einem heilsamen humanen Zwang. Für die körperlich und geistig Begabten dagegen muß es besondere Regeln und Institutionen geben, welche ihnen, trotz ihrer unnormal schwachen Arbeitsfähigkeit, eine gesunde Existenz sichern. Der sozialistische Radikalismus - oder der Glaube, daß das Privateigentum an materiellen Produktionsmitteln vollständig ausgerottet werden muß, damit die charakteristischen Übelstände der gegenwärtigen wirtschaftlichen Gesellschaftsordnung verschwinden könnten - scheint mir dem primitiven, jetzt endgültig veralteten Stadium der Entwicklung der modernen sozisalistischen Theorie anzugehören, da er mit einigen der jetzt zum größten Teil widerlegten und aufgegebenen Anschauungen des frühesten Marxismus auf das Engste zusammenhängt. Der ältere Marxismus enthielt bekanntlich den Glauben, daß eigene innere, unvermeidliche Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft zu einer relativ nahe bevorstehenden sozialwirtschaftlichen Generalkrise führt, welche die tote kapitalistische Schale der Gesellschaft sprengen wird, um den bereits fertigen, rein sozialistischen Kern ans Tageslicht treten zu lassen. Den Umschwung von völligem Kapitalismus zu völligem Sozialismus dachte man sich demnach sowohl nahe bevorstehend wie plötzlich und vollständig oder radikal - obschon, wie gesagt, durch eine sprunglose, organische Entwicklung im eigenen Rahmen des Kapitalismus vorbereitet. Diesen zum großen Teil aus KARL MARXens "Kommunistischem Manifest" hergeleiteten sozialistischen Entwicklungsradikalismus hat die Sozialdemokratie aufzugeben begonnen, weil die sozialwirtschaftliche Entwicklung während der letzten fünfzig Jahre nicht in allem die Hauptzüge, die MARX voraussagte und worauf er seine Katastrophentheorie gründete, aufgewiesen hat. Besonders hervorzuheben ist hier ja MARXens sogenannte "Verarmungstheorie", nach welcher der wirtschaftliche Druck und das wirtschaftliche Elend unter den besitzlosen Lohnarbeitern beständig zunehmen muß, während die wirtschaftlichen Mittelklassen verschwinden und der Hände, in denen sich der Reichtum anhäuft, immer weniger werden. Die kapitalistischen "Expropriatoren" - deren schließliche "Expropriierung" zugunsten der ganzen Gesellschaft, mittels eines Proletarieraufstandes, uns in die fertige sozialistische Gesellschaft hineinführen würde - sind allerdings immer reicher geworden, haben aber nicht an relativer Anzahl abgenommen. Und die Lebenshaltungen der Arbeiter sind zu gleicher Zeit gestiegen, während die wirtschaftlichen Mittelklassen bedeutungsvolle Faktoren unseres Gesellschaftslebens geblieben sind. Was dagegen beständig zugenommen hat, ist der Umfang des Großbetriebes (MARXens "Konzentrationstheorie"), die Zusammenorganisierung der großen Unternehmungen, die sozialwirtschaftliche Macht der Konzernchefs [Großbetriebsleiter - wp] und die mehr oder weniger wirtschaftliche Abhängigkeit aller übrigen Gesellschaftsbürger von ihnen. Diese Konzentration und Großorganisierung der Produktion und diese unverantwortliche wirtschaftliche Leitermacht einer geringen Minderheit, sowie diese wirtschaftliche Abhängigkeit und Ohnmacht der großen Mehrzahl sind dasjenige, was wir zuerst ins Auge zu fassen haben, wenn wir die wirklichen Entwicklungstendenzen nach einer sozialistischen Richtung hin, wie sie sich in unseren Tagen ausnehmen, beurteilen wollen. Die Gesellschaft muß die sich konzentrierende wirtschaftliche Gewalt streng regulieren, kontrollieren und teilweise selber übernehmen, um nicht ein willenloses Opfer dieser Gewalt zu werden, dadurch daß unverantwortliche Privatpersonen sie ausüben. Und hierzu kommt noch, daß der Schwerpunkt der wirtschaftlichen Macht schon deshalb in der Hand der Gesellschaft liegen muß, weil die ganze Entwicklung der privatkapitalistischen Gesellschaft gezeigt hat, daß die Massenarmut sich durch Privateigentum, freie Unternehmertätigkeit und unregulierten Wettbewerb durchaus nicht ausrotten läßt, sondern daß es hierzu eines zielbewußten, planmäßigen Eingreifens der Gesellschaft als Ganzes bedarf. Der mehr oder weniger weitgehende Sozialismus scheint mir als unentbehrliche Stütze einer Sozialpolitik, welche die Massenarmut vollständig wird beseitigen können, ja sogar als die einzige durch die jetzige wirtschaftliche Evolution kenntlich gemachte effektive Stütze, notwendig zu sein. Der liberalen und der übrigen bürgerlichen Nationalökonomie und Politik unserer Tage, wie auch der älteren pessimistischen Schule, deren Führer ROBERT MALTHUS war, ist dies die tollste Utopie. Allein schon das Reden vom Besiegen der Armut wird von dieser Seite her in der Regel wie ein Stück frecher Demagogie angesehen. Es steht also fest, daß die Sozialdemokratie die einzige politische Partei ist, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Armut in radikaleer Weise zu bekämpfen - d. h. die Armut als soziale Massenerscheinung und soziale Institution gänzlich auszurotten. Diese radikale Feindschaft gegen die Armut ist der Kern in allem politischen, sozialen und wirtschaftlichen Radikalismus, der mir wert zu sein scheint, daß man theoretisch und praktisch für ihn kämpft. Eigentümlicherweise nennt sich heutzutage derjenige Liberalismus radikal, der in seinem Eintreten für eines der charakteristischsten Prinzipien des Liberalismus, den wirtschaftlichen Individualismus - die Unbeschränktheit des Privateigentums und das Freibleiben der privaten Unternehmungslust und der Konkurrenz von gesetzlicher Regulierung - nicht radikal ist, sondern anstattdessen allerlei sozialistische Reformvorschläge in sein Programm aufnimmt. Das Wort politisch "radikal" erhält dann die Bedeutung einer Übergangserscheinung zwischen prinzipiellem Liberalismus und prinzipiellem Sozialismus. Dies ist jedoch nicht die Bedeutung, in welcher ich mich hier des Wortes "radikal" bediene. Ich bezeichne damit einfach die möglichst folgerichtigen und aufgrund der Erscheinungen dringenden Bestrebungen innerhalb irgendeiner wirtschaftlichen oder politischen Schule. |