ra-2D. KoigenL. ZunzR. Treumannvon HumboldtW. Hasbach    
 
GUSTAF FREDRIK STEFFEN
Das Problem der Demokratie
[2/2]

"Behalten wir nur den Arbeitern gegenüber unsere wirtschaftliche und soziale Machtstellung, so gelingt es uns ganz sicher, unsere Gewinninteressen auf die Dauer zu schützen und zu fördern - selbst wenn wir gezwungen sein sollten, gelegentlich wirschaftliche Opfer zu bringen, um die Versuche der Arbeiter, unsere Machtsphäre zu beschneiden, zu vereiteln."

"Derjenige, welcher will, daß das Wort Sozialismus nichts weiter bezeichnet, als die Umwandlung aller Produktionsmittel in gesellschaftliches Eigentum, sucht uns zu zwingen, darin das eigentliche Kriterium des Sozialismus zu sehen - d. h. in einem Gesellschaftszustand, dessen Möglichkeit oder schließliche Entstehung sich absolut nicht wissenschaftlich beweisen läßt, wohl aber sehr starke wissenschaftliche Gründe gegen sich hat."

"Unter dem Schein, Maßregeln, die zu einer unerträglichen oder unhaltbaren Gesellschaftsordnung führen müssen, zu bekämpfen, kann der Sozialistenfeind seine eigenen Parasiten- und Machtinteressen mit großem Pathos verteidigen."


4. Der sozialpolitische Radikalismus

Radikaler Feind der Not und der Armut, der wirtschaftlichen Sklaverei und der wirtschaftlichen Tyrannei und des wirtschaftlichen Chaos sein, das ist also meiner Ansicht nach notwendigerweise dasselbe wie Sozialist sein. Denn ich halte es für erwiesen, daß die Armut und die drückende wirtschaftliche Abhängigkeit der Massen und der Mangel an gesunder Organisation unseres ganzen wirtschaftlichen Gesellschaftslebens Übelstände sind, die sich wirksam bekämpfen lassen, aber nur durch tiefgehende sozialistische Reformen.

Etwas ganz anderes ist es, dogmatisch radikaler Sozialist zu sein. Ich glaube sowohl die Notwendigkeit einer Umgestaltung der Gesellschaft nach sozialistischer Richtung hin beweisen zu können, wie auch die Unmöglichkeit eines innerhalb theoretisch überblickbarer und praktisch absehbarer Zeit radikal durchgeführten oder vollständig exklusiven Sozialismus.

Mir ist das Ziel die Hauptsache - das Ziel, zu dessen Erreichung mir der Sozialismus ein unentbehrliches, durch die sozialwirtschaftliche Entwicklung bedingtes Mittel erscheint. Dieses Ziel ist die radikale Beseitigung der Massenarmut und der wirtschaftlichen Ausbeutung. Die Frage, wieviel Sozialismus zur Erreichung dieses Ziels erforderlich sein wird, ist mir Nebensache. Es genügt mir, zu wissen, daß der Sozialismus überhaupt notwendig ist und daß wir seiner als eines partiellen, vielleicht dominierenden, aber nicht exklusiven Prinzips bei der sozialwirtschaftlichen Organisierung der Gesellschaft bedürfen, sowohl jetzt wie in all der Zukunft, von welcher wir und irgendwie begründete Vorstellungen zu machen vermögen.

Unter "Armut" verstehe ich die sozialwirtschaftliche Krankheitserscheinung, welche darin besteht, daß die großen Massen kein genügendes Einkommen zur gesunden Befriedigung ihrer materiellen und geistigen Bedürfnisse und zur Entwicklung ihrer körperlichen und geistigen Kräfte haben. Infolge der unzureichenden Einkünfte der Eltern werden die Kinder schlecht gepflegt oder an Leib und Seele unterernährt. Im Verhältnis zu ihren angeborenen Anlagen erhalten große Massen dieser Kinder, wenn nicht gar die allermeisten, zu wenig Erziehung und eine ungenügende Fachausbildung. Sie werden vor der Zeit in eine Erwerbsarbeit gepreßt, welche sie verkrüppelt, anstatt ihnen den festen Grund zu Unabhängigkeit und Wohlstand zu geben. In Ermangelung eigener materieller Produktionsmittel wie auch einer durch sorgfältige Fachbildung erlangten höheren persönlichen Fähigkeit, bleiben sie auf Lebenszeit Lohnsklaven der Besitzer der materiellen Produktionsmittel und der Organisatoren des Produktionsprozesses.

Die bisweilen unwirtschaftlichen Haushaltungsmethoden der Armen und ihre manchmal ungesunden oder lasterhaften Konsumtionsgewohnheiten sind zum großen Teil eine Folge ihrer Armut und ein Zug dieser Armut. Erst nachdem wir diese Klassen einige Generationen hindurch von der Armutspest befreit haben, können wir erfahren, was für ein Menschenmaterial im Grunde in ihnen steckt. Erst dann kann von einem wirksamen Bekämpfen ihrer "freiwilligen" oder unter allen Verhältnissen angeborenen Schwächen und Ungesundheiten die Rede sein.

Was wir von der Armut in der modernen Gesellschaft wissen, ist nicht, daß alle Armen Menschen sind, welche unter allen sozialen Verhältnissen unfähig wären, etwas anderes zu sein als arm. Wir wissen nur, daß die allermeisten unter ihnen ihre Armut geerbt haben, daß sie zur Armut erzogen sind und daß die ganze Produktion im Hinblick auf ihre Armut organisiert ist - d. h. mit Berücksichtigung ihres Mangels an höherer Berufsbildung, ihres Gezwungenseins, um Lohn zu dienen und ihrer Unfähigkeit, sich etwas anderes als einen niedrigen Existenzlohn zu erzwingen. Wir wissen, daß die Armut sie zu wenig effektiven Produzenten gemacht hat, aber wir wissen nicht, ob sie von Natur notwendigerweise so wenig effektive Produzenten sein müssen. Und wir wissen, daß ihre Schwäche als Produzenten dazu beiträgt, ihre Armut zu verewigen.

Die soziale Armut - die Massenerscheinung, welche einen Grundbestandteil der wirtschaftlichen Organisation der modernen "kapitalistischen" Gesellschaften bildet - liegt nicht an irgendeiner "durch die Natur bedingten" Unfähigkeit unsererseits, die notwendigen materiellen Nutzbarkeiten in genügender Menge für die Bedürfnisse der vorhandenen Bevölkerung zu produzieren. Wir produzieren unzureichende Mengen an Nahrungsmitteln, Kleidungsstücken, Wohnungen usw., weil die Armut der Massen bei uns eine soziale Fundamentalinstitution ist.

Ansich kann die "Verbesserung der Produktion" die Armut der Massen nicht entfernen. Das Beseitigen der Armut der Massen erfordert andere Eingriffe in den wirtschaftlichen Zustand und die wirtschaftliche Organisation der Gesellschaft. Erst in dem Maße, wie jene, die Armut unmittelbar bekämpfenden Sozialreformen durchgeführt werden, wird es möglich, die Produktion so zu verbessern und zu erweitern, wie es ein allgemeiner Volkswohlstand erfordert.

In dieser Auffassung trenne ich mich von allen nur "liberalen" Nationalökonomen und allen einseitigen wissenschaftlichen "alten" und "neuen" Anhängern der Bevölkerungslehre des ROBERT MALTHUS.

Die sozial bedingte Massenarmut ist nicht in letzter Hand durch "Überbevölkerung" verursacht und könnte daher auch durch keine noch so gründliche Reduktion der vorhandenen Volksmenge abgestellt werden.

Wenn die Bevölkerung eines Landes, z. B. Schwedens, von fünf Millionen auf fünftausend Individuen reduziert werden würde, so könnten wir, wenn es den Besitzenden beliebt, die große Mehrzahl in ganz denselben Kontrast zwischen Reichtumsmacht und Lohnsklaverei haben. Dazu ist nur nötig, daß die reduzierte Bevölkerung genau denselben Typus der Eigentumsinstitutionen und sozialwirtschaftlichen Gewohnheiten, den wir gegenwärtig wahrnehmen, behielte. Wenn fünfzig Familien allen Grund und Boden und alles Kapital Schwedens besäßen, und die ganze übrige Bevölkerung nur aus 4500 Individuen bestände, so spricht alle Wahrscheinlichkeit dafür, daß zumindest 4000 dieser Individuen eine wirkliche Armenklasse bilden würden. Natürlich vorausgesetzt, daß die fünfzig Besitzerfamilien wirklich den Willen und Macht hätten, dieselbe wirtschaftliche Rechtsordnung, die gegenwärtig in Schweden tatsächlich aufrechterhalten wird, auch ferner aufrechtzuerhalten - ohne daß die viertausend Armen Revolution machen oder alle zusammen auswandern. Wenn die fünfzig eigentumbesitzenden Familien dieselbe Liebe zum bloßen Besitzen und dieselbe stumpfe Gleichgültigkeit gegen wirtschaftliche, soziale und kulturelle Fortschritte hätten, die ein großer Teil der Bauernklasse Europas gegenwärtig tatsächlich aufweist, so würden sie es vorziehen, lieber selber arme Arbeiter auf einem winzigen Teil ihrer großen Grundbesitzungen zu sein, als den Besitzlosen eine wesentliche Linderung ihrer gedrückten Lage und ihrer untergeordneten sozialen Stellung zu gönnen.

Dagegen läßt sich nicht einwenden, daß das wirtschaftliche Gewinnmotiv der Eigentumbesitzenden unter allen Verhältnissen ihre unwirtschaftliche soziale Trägheit und ihre unwirtschaftliche Machtgier besiegen müßte. Erstens ist der Mensch im allgemeinen nichts weniger als eine vollkommene wirtschaftliche Maschine, obgleich in vielen Fällen ein mehr oder weniger hoch entwickeltes Gewinninteresse sein Hauptinteresse werden kann; sondern er ist nur zu oft ein machtgieriges, abergläubisches, vorurteilsvolles soziales Faultier. Zweitens zeigt das Betragen der Millionäre und der Großbetriebsleiter unserer Tage bei großen Konflikten mit den Lohnarbeitern, daß auch den jetzigen wirklichen wirtschaftlichen Generalen, jenen sogenannten typischen economic men, die Macht das primäre Interesse ist und der weitere Gewinn das sekundäre. Übrigens ist es ja klar, daß derjenige, welcher die zureichende Macht hat, sich stets Gewinn genug verschaffen kann. Das Argument lautet im allgemeinen so:
    "Behalten wir nur den Arbeitern gegenüber unsere wirtschaftliche und soziale Machtstellung, so gelingt es uns ganz sicher, unsere Gewinninteressen auf die Dauer zu schützen und zu fördern - selbst wenn wir gezwungen sein sollten, gelegentlich wirschaftliche Opfer zu bringen, um die Versuche der Arbeiter, unsere Machtsphäre zu beschneiden, zu vereiteln."
Auswanderung als Heilmittel gegen diejenige Armut und Lohnsklaverei, welche die westeuropäisch Gesellschaft charakterisieren, anzuempfehlen, ist gleichbedeutend mit grober Unkenntnis des wirklichen Wesens der Armut und ihres Zusammenhangs mit unserer wirtschaftlichen Gesellschaftsordnung, sowie auch mit grotesker Überschätzung des Einflusses, den die Konkurrenz heutzutage auf die Lohn- und Preisbildung hat. Die Bevölkerungsverminderung bringt höchstens einigen Arbeitergruppen ganz temporäre Vorteile, führt aber nicht ansich zu irgendeiner günstigen Umorganisierung des wirtschaftlichen Gesellschaftslebens - sondern eher zum Gegenteil. Das Hemmen der Volksvermehrung wirkt auf die Gesellschaftsordnung mit allen ihren tiefsten Mängeln direkt konservierend.

Der orthodox maltusianische Nationalökonom und Auswanderungstheoretiker läßt sich mit einem Arzt vergleichen, welcher den Patienten dadurch zu "heilen" versucht, daß er (z. B. durch einen Aderlaß) ein allgemeines Herabsetzen der Intensität der Lebensprozesse (der gesunden wie auch der krankhaften) hervorruft, anstatt wirklich nur gegen die kranken Lebensprozesse einzuschreiten. Wer den Arbeitern zum Auswandern rät - nicht nur in einer kurzfristigen Periode akuter Krise, sondern überhaupt, um eine "Überbevölkerung" zu verhindern - der leitet ihre soziale Aufmerksamkeit und ihr sozialpolitisches Streben vom richtigen Gegenstand beider weg. Dieser Gegenstand ist ganz einfach die Tatsache, daß wir gewohnheitsmäßig und systematisch ebensowohl Armut wie Reichtum, ebensowohl geringwertige Menschen wie vollwertige und ebensowohl soziale Fesseln wie Mittel zu sozialer Freiheit produzieren.

Unter sozialpolitischem Radikalismus verstehe ich die sozialwirtschaftliche Anschauung und sozialpolitische Bestrebung, welche bis auf die Wurzel eines fundamentalen sozialwirtschaftlichen Reformproblems - des Armutproblems - geht.

Was den Sozialismus anbelangt, so ist er eine durch das Entwicklungsstadium der Produktion bedingte Form des Kampfes der ganzen Gesellschaft um ihren Wohlstand und damit des Kampfes gegen die Armut der Massen, wo diese als soziale Grundinstitution existiert. Der moderne Sozialismus strebt danach, daß die Organisation der Produktion, ihre Regulierung durch die Gesellschaft und ein gesellschaftlich reguliertes und begrenztes Eigentumsrecht oder vollständiges Gemeinsamkeitseigentum da eingeführt werden, wo die jetzige Gesellschaft Planlosigkeit, blinden Wettbewerb und unbeschränkte, nicht durch die Gesellschaft kontrollierte private Eigentumsmacht aufweist.

Welcher Unterschied besteht nun zwischen einem sozialistischen Radikalismus und sozialpolitischem Radikalismus?

Der Unterschied ist der zwischen einer direkten sozialen Anschauung und Taktik und einer indirekten.

Der sozialpolitische Radikalismus stellt sich den sozialwirtschaftlichen, rechtlichen, politischen und kulturellen Übelständen unmittelbar entgegen. Er macht nicht das vollkommene Einführen des Sozialismus zum Hauptgegenstand seines Interesses, sondern konzentriert es ganz auf das soziale Übel selbst. Er benutzt den Sozialismus als sozialwirtschaftliches Mittel, aber unterwirft sich ihm nicht wie einem Selbstzweck.

Das Letztere tut der radikale Sozialist tatsächlich. Er vergißt, daß eine gewisse Organisatioin der Gesellschaft (etwas anderes ist der Sozialismus ja nicht) nichts anderes sein kann als ein Mittel zur Hebung des menschlichen Lebens und daß eben dies allein das ist, worauf es wirklich ankommt. Der Irrtum des radikalen Sozialisten hat seinen Grund in dem Glauben, daß es (von MARX) wissenschaftlich bewiesen ist, daß der Sozialismus radikal (oder ganz vollständig) sein muß, wenn er überhaupt existieren soll. Einen solchen Beweis hat aber weder MARX noch sonst jemand geführt oder führen können - obgleich MARX sich offenbar durch die HEGEL entlehnte Vorstellung beherrschen ließ, daß die soziale Entwicklung wesentlich dadurch charakterisiert wird, daß in jeder Entwicklungsepoche ein sozialer Zustand in sein eigenes Gegenteil umschlägt. Eine derartige Idee aber hat keinen Platz in der modernen Evolutionswissenschaft und ist auf keinem Gebiet irgendwie durch die Forschung bestätigt worden. Überdies scheint es mir unleugbar zu sein, wenn es auch manchmal bestritten wird, daß der sozialistische Radikalismus sich auf MARXens Theorie über die kapitalistische Ausbeutung des Lohnarbeiters stützt, eine Theorie, die ihrerseits direkt aus seiner Werttheorie abgeleitet ist. Diese aber ist durchaus keine allgemeingültige Werttheorie und, wie ich glaube, in ihrer Grundauffassung wissenschaftlich unhaltbar. MARX bedarf ihrer allerdings nicht zu seinem Sozialismus, wohl aber ist sie seinem sozialistischen Radikalismus und dem seiner Anhänger notwendig.

Alle soziale Entwicklung ist eine Verwandlung, in welcher sehr viele der alten Gesellschaftsverhältnisse mehr oder weniger verändert erhalten bleiben, aber in welcher das kommende Neue stets wesentlich unvoraussagbar ist, ausgenommen dann, wenn es im Verwirklichen einer Willensanstrengung besteht, die schon in den technisch, sozial und kulturell tätigen Menschen fertig vorhanden ist.

Unser Glaube, daß die Gesellschaft der Zukunft immer sozialistischer werden wird, hat zunächst zwei Gründe. Der eine ist die Tatsache, daß der Sozialismus durchaus keine gänzlich neue soziale Erscheinung ist, sondern zum Teil schon in der kapitalistischen Gesellschaft der Gegenwart existiert und sowohl dadurch wie auch durch die fortschreitende soziale Entwicklung in mechanischer Weise auf die Gesellschaft der Zukunft übertragen wird und sich in ihr steigern muß. Der andere ist unsere Überzeugung, daß der Hauptfehler der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung darin besteht, daß sie zu wenig Organisation der Produktion den wirklichen Bedürfnissen der Nation gemäß aufweist und daß sie den einzelnen Besitzern der Produktionsmittel eine zu große, unkontrollierte Freiheit zu egoistischer Machtausübung zugesteht. Daher brauchen wir mehr gesellschaftliche Regulierung der Produktion und mehr Beschränkung der privaten Eigentumsmacht - d. h. mehr Sozialismus.

Hinter diesen unmittelbaren Gründen unseres Glaubens an eine sozialistische Geselschaftsentwicklung gerade in unserer eigenen Zeit gewahren wir gewisse, den modernen Privatkapitalismus kennzeichnende Entwicklungsfaktoren, die KARL MARX auf meisterhafte Weise analysiert hat - wenn er auch die hierhergehörigen Forschungsprobleme nicht ganz endgültig hat lösen können. Ich meine die eigentümliche Gestaltung und das Zusammenwirken moderner Produktionstechnik und moderner privatkapitalistischer Produktionsorganisation samt der Gestaltung der Bevölkerung und der Verteilung des Eigentums, die wir als die eigentlichen Charakterzeichen unserer Zeit beobachten können. Zuletzt sind es wohl die Umwälzungen der Technik und das Wachsen der Bevölkerungsmassen, was die Entwicklung zum Sozialismus fast mechanisch beschleunigt - ohne deshalb, wie die "materialistische Geschichtsauffassung" meint, die einzigen endgültigen Ursachen eines mit Naturnotwendigkeit kommenden Sozialismus zu sein. Dieser geht auch aus einer rein geistigen Evolution hervor, die nicht bloß eine Widerspiegelung der Milieuveränderungen und der materiellen Vorgänge ist, sondern ihr ganz selbständiges Dasein hat.

Wir müssen uns davor hüten, den Begriff Sozialismus zu einem unbeweglichen Dogma zu machen. Dieser Begriff muß sich mit der Gesellschaft- und Geistesentwicklung entwickeln können. Als seinen Kern braucht er nichts anderes zu umfassen als das Prinzip des völlig wirksamen Eingreifens der Gesellschaft in die Anwendung des materiellen Produktiveigentums und in die Gestaltung der Einkommensverteilung und der Konsumtion, soweit wie sich dies zur Erlangung des höchstmöglichen allgemeinen Wohlstandes in einem gegebenen Zeitabschnitt als nötig erweist.

Daß die Gesellschaft als Ganzes Produktionsmittel besitzt und Produktion betreibt, ist nur eine Form des Sozialismus. Daß die Gesellschaft Produktion und Eigentumsanwendung, die im übrigen in Privathänden geblieben sind, wirksam und tiefgehend reguliert, das ist eine andere Form des Sozialismus. Daß die Produktionstätigkeit der Gesellschaft mit der privaten Produktionstätigkeit konkurriert, um sie zu zwingen, daß sie gewisse sozial wünschenswerte Normalleistungen prästiert [leistet - wp], das ist eine dritte Form des Sozialismus. Daß die Gesellschaft gewisse Minima der Arbeitslöhne und Arbeitsbedingungen, der Versicherung gegen Arbeitslosigkeit, Krankheit und Indivudualität, der Alterspensionierung, der Wohnungsverhältnisse, der Kinderpflege, Erziehung und Fachbildung usw. aufstellt und das Erwerbsleben dazu zwingt, sich nach diesen Minimalforderungen einzurichten, das ist noch eine Form des Sozialismus - und eine der am unmittelbarsten wirksamen.

Jedesmal, wenn das Interesse der ganzen Gesellschaft einen Schritt in der Richtung einer vollstänidgeren Organisierung der Produktion den latenten und aktuellen Bedürfnissen gemäß bestimmt und hierdurch die Begrenzung oder Aufhebung der privaten Eigentumsmacht bewirkt, haben wir es mit einem Schritt weiter in der sozialistischen Evolution der Gesellschaft zu tun.

Derjenige, welcher will, daß das Wort "Sozialismus" nichts weiter bezeichnet als "die Umwandlung aller Produktionsmittel in gesellschaftliches Eigentum", und darunter versteht, daß nicht nur alle Arten von Produktionsmitteln sozialisiert werden sollen, sondern daß auch alle diese Arten ganz und gar sozialisiert werden sollen - der beraubt das Wort Sozialismus allen Zusammenhangs mit der sozialen Wirklichkeit, selbst wenn er betont, daß diese Umwälzung "allmählich" geschehen soll. Er sucht uns zu zwingen, das eigentliche Kriterium des "Sozialismus" darin zu sehen, daß alle Produktionsmittel ganz und gar sozialisiert werden - d. h. in einem Gesellschaftszustand, dessen Möglichkeit oder schließliche Entstehung sich absolut nicht wissenschaftlich beweisen läßt, wohl aber sehr starke wissenschaftliche Gründe gegen sich hat.

Der Sozialismus als wachsender Bestandteil einer wirtschaftlichen Gesellschaftsordnung, die im Übrigen eine Art gesetzlich geregelten Privatkapitalismus mit immer höherer Organisation und immer mehr zunehmenden Demokratismus oder wirtschaftlichen Konstitutionalismus bleibt - ein solcher Sozialismus ist eine lebendige, unwiderlegliche Wirklichkeit. Gegen den Sozialismus zu kämpfen, wenn das Wort in dieser Bedeutung genommen wird, ist politischer Unsinn. Aber der radikale Sozialismus ist keine Wirklichkeit, sondern nur ein Dogma. Wäre der Sozialismus nur ein solches unbewiesenes und der Wissenschaft widerstreitendes Dogma, so müßte man ihn allerdings bekämpfen.

Der radikale Sozialismus gleicht darin dem älteren Christentum, daß er die Tendenz hat, das Interesse auf ein Millenium zu konzentrieren, welches dem Elend der Welt mit einem Schlag ein Ende machen würde, während dieses Elend folglich in der Gegenwart als wesentlich unheilbar gelten darf. Und es hat unzweifelhaft seine tiefenseelischen Gründe, daß der moderne Sozialismus und das Urchristentum dieselben utopischen Züge aufweisen, welche sich einem energischen, praktischen Reformstreben teilweise hindernd in den Weg gestellt haben. Nichts zeigt jedoch die unbezwingliche Lebenskraft des Sozialismus in unserer Zeit deutlicher als die Tatsache, daß die radikalsozialistischen Anschauungen innerhalb der Arbeiterbewegung immermehr in den Hintergrund geschoben werden und daß es ihnen nicht mehr erlaubt wird, eine von einem sozialpolitischen Radikalismus inspirierte Reformarbeit zu verhindern.

Die sozialistische Arbeiterbewegung wendet diese Mittel nicht mit der Vorstellung an, daß wir nichts weiter tun können, als das Armutselend innerhalb einer absehbaren Zeit werden radikal beseitigen können. Dieser Glaube ist, wie ich schon hervorgehoben habe, meiner Meinung nach durchaus keine Utopie - obgleich es sicherlich eine Utopie wäre, ihn ohne Sozialismus verwirklichen zu wollen. Und ganz gewiß lassen sich viele sozialdemokratische Arbeiter nur eine Verwechslung der Begriffe zuschulden kommen, wenn sie von einer vollständigen (oder radikalen) Einführung des Sozialismus reden, aber im Grunde die vollständige (oder radikale) Beseitigung der Armut und der Lohnsklaverei, mit dem Sozialismus als hauptsächlichem Mittel, meinen.

Es ist jedoch in hohem Grad wünschenswert, daß nicht nur die radikalsozialistischen Dogmen, sondern auch die radikalsozialistischen Phrasen aus der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung verdrängt werden - denn sie erleichtern den Gegnern in hohem Grad den "gesellschaftserhaltenden" (d. h. den die Armut und die Lohnsklaverei erhaltenden) Kampf gegen alle tiefeinschneidenden sozialen Reformen. Man glaubt oder stellt sich, als ob man glaubt, daß diese Reformen nichts anderes sein können als Etappen auf dem Weg zum absoluten Sozialismus. Unter dem Schein, Maßregeln, die zu einer unerträglichen oder unhaltbaren Gesellschaftsordnung führen müssen, zu bekämpfen, kann der Sozialistenfeind dann seine eigenen Parasiten- und Machtinteressen mit großem Pathos verteidigen.

Sind wir uns darüber einig, daß es sich hinsichtlich der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung im Grunde und ganz unmittelbar um nichts anderes handelt als darum, die bestehende Gesellschaftsordnung so umzugestalten, daß sie aufhört, die Armut der Massen und ihre wirtschaftliche und soziale Abhängigkeit als fundementale wirtschaftliche Institution zu haben, und sind wir uns darüber einig, daß diese Umgestaltung nach keiner anderen Richtung hin als der sozialistischen und demokratischen vor sich gehen darf - dann wird es nicht die Aufgabe des praktischen Politikers sein, unter allen Verhältnissen und eventuell mit Aufopferung der Wohlfahrt gegenwärtiger Generationen auf eine absolut sozialistische Gesellschaft loszusteuern, sondern er hat die weit freudigere Aufgabe, unmittelbar mit der Riesenaufgabe, die Gesellschaft ganz armutsfrei und fundamental demokratisch zu machen, zu beginnen.

Unlösbar sind diese Aufgaben gewiß für diejenigen, welche keinen politischen Arbeitsplan besitzen, der sich auf eine tiefgehende Kenntnis des gegenwärtigen Aufbaus und der gegenwärtigen Entwicklungstendenzen der wirtschaftlichen und politischen Gesellschaft gründet. Außerdem bedarf es des guten Willens zum Ausrotten all des sozialen und kulturellen Klassenunterschiedes, der seinen Grund in einer sozialen Erbklasse armer, unerzogener und abhängiger Mitbürger hat. Ohne unsere sozialen Reformprinzipien - unsere sozialistischen und demokratischen Prinzipien - kommen wir nicht von der Stelle. Aber wir müssen unsere Prinzipien beständig mit der lebendigen Wirklichkeit in Berührung halten und müssen den festen Willen haben, ihre Entwicklung zu Wahrheit und Wirklichkeitstreue beständig weiter zu treiben.

Alle bürgerlichen Parteien oder Nicht-Sozialisten sind sich darüber einig, daß die Armut sich absolut nicht ausrotten läßt; und innerhalb des konservativen und reaktionären Lagers ist man außerdem auch noch fest davon überzeugt, daß das Arbeiten an der Ausrottung der Armut ebenso gottlos und "gesellschaftsauflösend" ist wie das Arbeiten an der Verwirklichung des radikalen Demokratismus. Es fehlt also nicht an Leuten, welche in den Sozialdemokraten tolle Utopisten und Gesellschaftsauflöser sehen werden, auch wenn diese aufgehört haben, sich als prinzipielle Vorkämpfer für die absolut sozialistische Gesellschaftsordnung auszugeben.

Indessen sind in unserer Zeit mächtigere Kräfte in Bewegung als je zuvor - wirtschaftliche, politische, soziale und kulturelle Kräfte - welche teils die Möglichkeit zum Abheben des Armutsjochs und zum Fortschreiten des Demokratismus vergrößern, teils diese fundamentalen Gesellschaftsreformen direkt verwirklichen. Die Entwicklung der Produktion, welche sich in der Zunahme des Nationalvermögens und des Nationaleinkommens pro Kopf der Bevölkerung zeigt, beweist, daß wir es trotz aller gegenwärtigen wirtschaftlichen Planlosigkeit und Schmarotzerei mit einer außerordentlich effektiven und entwicklungsfähigen Produktionsweise zu tun haben. Die Arbeiterbewegung und die Sozialpolitik ziehen aus diesem Umstand Vorteile und verhelfen großen Arbeitergruppen zu dauernd gehobenen Lebenshaltungen. Der politische und soziale Demokratismus macht beständige, wenn auch nicht überall gleichmäßige Fortschritte - was in nicht geringem Maß der wirtschaftlich-politischen Organisationsbewegung der Arbeiter zu verdanken ist.

Wenn der sozialpolitische Radikalismus seine Theorie in die Praxis umsetzen will, findet er also das Terrain wohl vorbereitet und sein eigenes Werk schon in vollem Gang. Er findet das sozialpolitische Mittel in voller Anwendung - z. B. dann, wenn der Staat durch Gesetz und Autorität auf dem Arbeitsmarkt mittels des Festsetzens gewisser Minima der Arbeits- und Lohnbedingungen regulierend eingreift. Die Aufgabe ist also zunächst die, ein sozialistisches und demokratisches Reformprogramm auszuarbeiten, das vorurteilslos mit allen vorhandenen Entwicklungstendenzen und Reformbestrebungen in sozialistischer und demokratischer Richtung hin rechnet und sie in Übereinstimmung mit unserem unerschütterlichen Vorsatz, die Armutsintstitutionen und die Armutsgewohnheiten radikal aus dem Gesellschaftsgebäude und aus dem Gesellschaftsleben auszumerzen, in systematischer Weise ergänzt.

Ein derartiges Reformprogramm - oder, wenn man so will, Revolutionsprogramm, denn es handelt sich ja darum, auf dem Weg von Reformen zu einer fundamentalen Revolutionierung der Gesellschaftsordnung zu gelangen - wird das ganze "politische Programm" der Sozialdemokratie einschließen - natürlich mit den Veränderungen, die eine zunehmende Einsicht in das Wesen des Sozialismus und des Demokratismus notwendig machen kann. Aber daneben ist ohne Zweifel noch verschiedentlich mehr erforderlich, als gegenwärtig in jenem "politischen Programm" enthalten ist.


5. Die moderne Sozialpolitik

Wenn das soziale Übel, das wir ausrotten wollen, im Grunde darin besteht, daß die große Mehrzahl der heranwachsenden Generation in Armut geboren, zur Armut erzogen wird und daß ihr sowohl der Zugang zu den materiellen Produktionsmitteln wie auch zu den kulturellen versperrt bleibt, so ist es offenbar, daß wir zuerst eine radikale Verbesserung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Lebensverhältnisse der Kinder zum Ziel unserer Bemühungen machen müssen.

Wir müssen das Recht der Kinder auf das vollste Maß an wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Leistungsfähigkeit, das ihre angeborenen Anlagen gestatten, sozialisieren. Es ist im Grunde keine bessere soziale Ordnung, die Armut die Kinderscharen gewisser Gesellschaftsklassen verheeren zu lassen, als die schwarzen Pocken oder die Tuberkulose unter ihnen wüten zu lassen. Tatsächlich hat die Gesellschaft das stärkste positive Interesse an der richtigen Pflege und Entwicklung jedes einzigen Kindes, denn bessere Produzenten und Mitbürger, als wir uns durch die richtige Pflege der jetzt aufwachsenden Generation schaffen, können wir in den nächsten Jahrzehnten nicht erhalten.

Die soziale Institution, die "arme Kinder" heißt - d. h. vernachlässigte, unterernährte, unvollständig erzogene Kinder und kümmerlich in ihrem Beruf ausgebildete junge Leute - können wir unmittelbar und innerhalb relativ weniger Jahre aus der Welt schaffen. Wir müssen es durch das Gesetz zu einer Pflicht der Gesellschaft machen, dafür zu sorgen, daß kein einziges Kind unter einem bestimmten Minimum, das von Zeit zu Zeit erhöht werden muß, gepflegt, erzogen und zu seinem Beruf ausgebildet wird.

Die wirtschaftlichen Mittel hierzu müssen zum großen Teil auf dem Weg der Besteuerung aufgebracht werden - natürlich vor allem durch eine Besteuerung der reichen und wohlhabenden Klassen. Der Einwendung, daß die Kapitalakkumulation sich dann gar zu sehr vermindern würde und die Fortschritte der Produktion dadurch gehemmt werden würden, muß man mit dem Hinweisen darauf begegnen, daß es sich hier unter anderem gerade darum handelt, ein Produktionsmittel für die Volkswirtschaft zu produzieren - nämlich möglichst effektive menschliche Arbeitskraft. Die persönliche Arbeitsfähigkeit innerhalb der Nation ist rein wirtschaftlich noch wertvoller als diejenigen materiellen Produktionsmittel, die wir gewöhnlich "Kapital" nennen. Die Geldmittel, welche auf die Pflege, Erziehung und Berufsausbildung der Kinder der Armen verwendet würden, wäre von volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten aus eine besonders gute "Kapitalanlage".

Übrigens sei daran erinnert, daß in vielen Ländern der Staat von alters her zum großen Teil für die Kinder der in besseren Verhältnissen lebenden Klassen die Kosten der höheren Elementarbildung und Berufsbildung bestreitet - durch unsere höheren Schulen, unsere Universitäten, unsere technischen Hochschulen, unsere Kriegsschulen usw. Der Staat bezahlt wohl jetzt in der Regel wenigstens zwanzigmal mehr für die Erziehung eines der Knaben und Jünglinge der oberen Klassen als für die Erziehung eines der Unterklasse angehörenden. Das Prinzip der Sozialisierung der Erziehung der Jugend ist also schon anerkannt - obgleich in einseitiger Weise zugunsten der besser gestellten Klassen.

Das Aufrechterhalten eines gesetzlichen Minimums an Kinderpflege und Erziehung würde verlangen, daß man die Häuslichkeiten der armen Leute durch öffentliche Kinderpflegeinstitutionen ergänzt und die Volksschule verstaatlicht und zur fundamentalen Kindererziehungsanstalt der ganzen Nation ohne Klassenunterschied ausbaut. Der gegenwärtig in den oberen Klassen herrschende, erklärte Widerwille, ihre Kinder mit den vernachlässigten, verrohten Kindern der Arbeiter auf denselben Schulbänken sitzen zu lassen, muß auf die einzig gerechte und wirksame Weise bekämpft werden - nälich dadurch, daß man gründlich dafür sorgt, daß keine vernachlässigten, durch die Not und eine mangelhafte Bildung der Eltern verrohten und durch ungenügende Erziehung in ihrer Entwicklung zurückgebliebenen Kinder mehr aufwachsen dürfen.

Eine Tatsache, welche die soziale Forschung mit jedem Jahr immer klarer und deutlicher zeigt, ist die entscheidende Bedeutung der Wohnungsverhältnisse und der Wohnungsunkosten im Privatleben und in der Haushaltung der modernen Lohnarbeiter. Die zu engen und zu schlechten Wohnungen, das Schlafgängersystem, die Unmöglichkeiten überhaupt, aus gewöhnlichen Arbeitslöhnen genügend Wohnraum zu bestreiten, das alles sind Verhältnisse, welche dem Familienleben fast der ganzen modernen Arbeiterklasse sowie ihrer hygienischen und ethischen Lebenshaltung ihr Gepräge aufdrücken. Auch hier ist eine "Sozialisierung" notwendig. Auch hier bedarf es einer Aufstellung gewisser Minimalforderungen von seiten der Gesellschaft und eines Durchsetzens dieser Forderungen mittels der wirtschaftlichen und organisatorischen Macht der ganzen Gesellschaft.

Wenn wir gerade die schlechteren und schlechtesten Wohnungsverhältnisse besonders studieren, kann es nicht dem geringsten Zweifel unterliegen, daß wir in der Wohnungsfrage eine der vitalsten aller speziellen sozialen Fragen haben. Das Wohlbefinden des Arbeiters und seine Befriedigung durch sein häusliches Leben, der ununterbrochene erzieherische und ethisch kräftigende Einfluß der Häuslichkeit auf sämtliche Familienmitglieder, die Möglichkeiten, daß die Kinder eine gute Pflege erhalten und körperlich und geistig gesunde Menschen werden, die Möglichkeit, daß die Hausfrau als Hüterin guter Sitten zur Geltung gelangen kann, und schließlich die Möglichkeit, daß der Hausvater die unentbehrliche tägliche Ruhe und Erholung im Schoße seiner Familie anstatt im Wirtshaus findet - alle diese für das innere Leben der Nation so unendlich bedeutungsvollen Imponderabilien [Unwägbarkeiten - wp] sind auf das Engste von der Beschaffenheit und der Lage der Wohnung abhängig.

Welche Art Familienleben könnten wir uns berechtigterweise unter den ihrer geistigen Anlagen nach am meisten begünstigten Menschen mitten drin in einem schmutzigen Fabrikvierte einer Großstadt als möglich denken, wo man hoch droben in einer Mietskaserne in einem einzigen kleinen Zimmer und einer noch kleinerer Küche eine kinderreiche Arbeiterfamilie und dazu, der hohen Miete wegen, noch den ein oder anderen männlichen oder weiblichen fremden "Schlafgänger" hausen sieht? Ist es nicht ohne weiteres klar, daß solche Wohnungsverhältnisse in unzähligen Fällen sowohl auf die körperlichen und geistigen Kräfte der Jüngeren wie auch auf die der Älteren einen viel zu starken, ja einen zerbrechenden Druck ausüben müssen? Können wir erwarten, daß sich in solchen Häuslichkeiten gute Anlagen kräftig entwickeln und schlechte Anlagen dort kräftig unterdrückt werden? Wagen wir es, sie als geeignete Pflanzschulen wirtschaftlicher Tüchtigkeit und edlen Bürgergeistes gelten zu lassen? Was ist überhaupt der Zweck der Wohnung und der Häuslichkeit, wenn nicht, daß sie die guten Anlagen schützen und ausbilden sollen? Sind nicht die Volksklassen, welche sich mit Wohnungen, die an ihren Kräften zehren und ihr Blut und ihre Instinkte vergiften, begnügen müssen, mehr als heimatlos? Und ist diese Art Heimatlosigkeit nicht in nördlichen Ländern ein näherliegendes und lebensschädlicheres Übel als in südlicheren Gegenden? Wenn irgendwo, so müssen im Norden die Häuslichkeiten als Hort und Erzieher der körperlichen und geistigen Volkskraft gelten.

Einer Nation, die lange leben will, kann es durchaus nicht gleichgültig sein, in was für Wohnungen die große Mehrzahl ihrer Bürger aufwachsen und die Tage ihres Mannesalters verleben müssen. Wir dürfen das Problem nicht durch irgendwelche oberflächliche Reden über die unvermeidlichen Verschiedenheiten zwischen den Lebensverhältnissen der höheren und der unteren Gesellschaftsklassen verdunkeln lassen. Es handelt sich hier durchaus nicht um solche Verschiedenheiten, sondern um absolute Übelstände. Eine "Hütte" kann ein ideales Heim sein - wenn die "Hütte" ein zur Größe der Familie passendes Häuschen oder eine gut ausgestattete und in guter Umgebung liegende Mietwohnung ist. Aber die Phrase, daß gute Sitten in einer "Hütte" genauso gut gedeihen können wie in "Palästen", wird eine soziale Lüge, wenn sie dazu dienen soll, von einer tatkräftigen Reformpolitik auf dem Gebiet des Wohnungswesens abzuhalten. Der Verlust an wirtschaftlichen und ethischen Werten durch das gegenwärtige Wohnungselend der Arbeiterbevölkerung ist zweifellos viel größer als die wirtschaftlichen Opfer, welche erforderlich sein würden, um die Arbeiterwohnungen allgemein über ein gewisses Minimum zu erheben. Sehr bald hätten wir auf diese Weise eine körperlich und geistig gesündere, kultiviertere Arbeiterbevölkerung als jetzt.

Nichts zersetzt eine Nation so von Grund auf, wie der reale Unterschied zwischen Menschen, die schon in ihren häuslichen Verhältnissen himmelweit verschiedenen Kulturniveaus angehören. Durch eine starke Reform auf diesem Gebiet wäre die soziale Ordnung tief in demokratischer und sozialistischer Richtung modifiziert.

Natürlich darf die Sozialisierung gewisser Minima an Pflege und Erziehung der Jugend nicht dazu führen, daß die Eltern davon befreit werden, einen ihren Einkommensverhältnissen angepaßten Teil der Kosten hierfür zu tragen. Es handelt sich ja nur um gesellschaftlich garantierte Minimalanforderungen; es ist nur die Rede davon, die Kinder davor zu schützen, daß sie unter diese Minima an Pflege, Erziehung und Erwerbsmöglichkeiten herabsinken, wenn ihre Eltern nicht in der erforderlichen Ausdehnung für sie sorgen können oder es nicht wollen. Eventuell muß man die Eltern zwingen, nach ihren Kräften zur Erziehung ihrer Kinder beizutragen - auch dann,, wenn es sich als notwendig herausstellt, die Kinder aus dem Elternhaus fortzunehmen. Und Eltern, welche ihren Kindern mehr geben können als das gesellschaftliche Minimum, werden sich natürlich geradeso wie jetzt dazu angetrieben fühlen, es auch zu tun.

Tatsächlich muß sich die rationale Pflege, welche die Gesellschaft ihren eigenen künftigen Mitbürgern zuteil werden läßt, in gewissem Maß auch auf die Eltern derselben erstrecken - ohne daß deshalb von irgendeinem Aufheben ihrer persönlichen Verantwortlichkeit die Rede zu sein braucht. Wir haben es, im Gegenteil, mit einer höchst wesentlichen Verschärfung dieser Verantwortlichkeit zu tun, weil das alte System des Gehenlassens durch ein Eingreifen der Gesellschaft ersetzt wird, das zumindest gewisse Mininalanforderungen an elterlichen Leistungen erzwingt.

Unter den jetzigen Verhältnissen müssen zahlreiche Mütter der Arbeiterklasse ihre Kinder und ihren Haushalt besorgen und dabei zugleich den ganzen Tag in Fabriken und Werkstätten, in einem landwirtschaftlichen Betrieb oder in irgendeinem anderen Beruf tätig sein. Das heißt an die menschliche Arbeitsfähigkeit größere Anforderungen stellen, als sie in befriedigender Weise zu erfüllen vermag. Kinder und Häuslichkeit werden notwendigerweise vernachlässigt, und damit wird ein großes soziales Interesse auf eine Art und Weise in den Hintergrund geschoben, die der Gesellschaft größere wirtschaftliche Verluste verursacht, als der wirtschaftliche Gewinn der Erwerbsarbeit der Arbeiterfrau aufwiegen kann. Weil der physische Zustand der Mutter während der Schwangerschaft und des Stillens für die Gesundheit und Kraft des Kindes eine außerordentliche Bedeutung hat, muß das Eingreifen der Gesellschaft zum Besten ihrer neuen Mitglieder schon bei den künftigen Müttern beginnen. Von Erwerbsarbeit, welche die Tauglichkeit der Frau zur Mutterschaft herabsetzt, muß sie nach Möglichkeit zurückgehalten werden. Und wenn ein Kind erwartet wird, muß die Gesellschaft in ihrem eigenen Interesse einschreiten, wenn die eigenen wirtschaftlichen Mittel der künftigen Mutter und ihres Gatten nicht ausreichen, um dem Kind eine Zeitlang vor und nach der Geburt ein gewisses Minimum an günstigen physischen Lebensbedingungen zu bereiten.

Dies ist ja ein Prinzip, das schon jetzt Anerkennung gefunden hat - obgleich sich vielleicht nicht viele klargemacht haben, daß wir es hier mit einer "Sozialisierung" der wirtschaftlichen Last der Mutterschaft hinsichtlich der ärmsten Mütter zu tun haben. Die moderne Sozialpolitik will, gleich dem Sozialismus, das Familienleben innerhalb der ganzen Bevölkerung durch die ganze wirtschaftliche und organisatorische Macht der Gesellschaft so stützen, daß es nirgends unter ein gewisses Minimum an Wohlstand und Kultur herabsinken kann.

Die moderne Sozialpolitik in ihrer einzigen echten Form eines sozialistisch inspirierten sozialpolitischen Radikalismus ist, negativ ausgedrückt, ein Krieg gegen die Armut und positiv ausgedrückt, das bewußte planmäßige Streben der Nation nach der Hebung ihrer eigenen körperlichen und geistigen Qualität Schritt für Schritt von der untersten Schicht der Gesellschaft an - also das politisch organisierte Streben nach Veredlung ihrer selbst. Hierbei wird das Interesse des Sozialreformators unmittelbar auf das menschliche Leben selber, auf die rein persönlichen Faktoren und auf die höchsten geistigen Werte gerichtet. Die Sozialreform wird ein unmittelbares Arbeiten an der Hebung des Menschen und der Steigerung der Kulturr.

Dies scheint mir sehr viel mehr eine inspirierende Arbeit zu sein als jenes bloße Streben nach einer gewissen äußeren Regulierung der Gesellschaftsverhältnisse, das den radikalen Sozialismus bezeichnet - ein Streben, das alle persönlichen, unmittelbar kulturellen Fragen in den Hintergrund schiebt und den Sozialreformator gewissermaßen zu einem sozialen Mechaniker macht, dessen alles absorbierendes Interesse die Vollkommenheit der sozialen Maschine in Übereinstimmung mit einem gewissen, im Voraus bestimmten Typus ist. Es ist doch das einzig Vernünftige, die Gesellschaftsorganisation sich Schritt für Schritt so gestalten zu lassen, wie sich als notwendig herausstellt, damit sich ihr Zweck, der höchste mögliche Wohlstand und die höchste mögliche Kultur, in jedem Zeitalter verwirklicht.

Es ist ein Überrest der alten sozialen und kulturellen Theorie des Gehenlassens, wenn man sich einbildet, daß sich die Gesellschaftsorganisation selber nach irgendwelchen inneren, von unserem Willen unabhängigen "Entwicklungsgesetzen" verwandeln muß und daß wir hierdurch, ohne bestimmtes Ziel und eigenes Streben, zu den bestmöglichen Kulturverhältnissen gelangen werden. Dieser soziale und kulturelle Entwicklungsfatalismus ist wissenschaftlich unhaltbar, denn es steht wissenschaftlich fest, daß das bewußte Streben des Menschen in selbständiger Faktor von schnell zunehmender Bedeutung ein unserer sozialen und kulturellen Entwicklung ist. Wollen wir berechtigt sein, auf eine bessere Zukunft für das Menschengeschlecht zu hoffen, so müssen wir uns Vorstellungen von dieser Zukunft bilden und um das Verwirklichen dieser Vorstellungen kämpfen - ohne darum künftige Generationen an die Unvollkommenheiten, die unseren sozialen und kulturellen Idealen notwendigerweise anhaften müssen, binden zu wollen.

Der Krieg zur Ausrottung der Armut und der sozialen Unfreiheit ist ein heiliger Krieg, der zu großen zeitweiligen Opfern an materiellen Werten berechtigen kann, aber nicht nur in einem Niederreißen, sondern auch in einem beständigen Aufbauen sozialer Institutionen und sozialer Vorstellungen bestehen muß. Alle Bauarbeit und Kriegsarbeit muß, vor allem auf sozialem Gebiet, in letzter Instanz ein ethisches Fundament und eine ethische Richtschnur haben - d. h. ein klares, unablässiges Richten des Willens auf das höchste Gut und ein beständiges Streben, unsere Vorstellungen von einem höchsten Gut zu heben, zur Voraussetzung haben.
LITERATUR - Gustaf Fredrik Steffen, Das Problem der Demokratie, Jena 1912