ra-2 Vom neuen GötzenTheorie der PolitikDie Elemente der Staatskunst    
 
CONSTANTIN FRANTZ
Die Naturlehre des Staates

"Bei jedem Schritt wurde mir klarer, wie sehr der ganze gegenwärtige Zustand Europas mit den herrschenden Staatslehren zusammenhängt. So sehr, daß selbst diejenigen dadurch beeinflußt und geleitet werden, welche nicht einmal eine äußere Kenntnis jener Lehren besitzen, oder wohl gar durch ihre geflissentliche und zur Schau getragene Verachtung aller Theorie ihre Unwissenheit beschönigen möchten, indessen doch ihr eigenes Urteil und Handeln selbst vielleicht durch die allerschlechteste Theorie bestimmt wird, die sie ganz unbewußt in sich aufgenommen haben."

Vorwort

Wie verschieden das Urteil über die politischen Ereignisse und Bestrebungen unseres Zeitalters, je nach dem Standpunkt des Beurteilers, lauten mag, in zwei Punkten müssen alle unbefangenen Beobachter übereinstimmen. Darin nämlich, daß sich schon seit langem ein allgemeiner Zersetzungsprozeß wahrnehmen läßt, wodurch die alte Ordnung der Dinge, insofern sie überhaupt noch besteht, mit jedem Tag unhaltbarer wird, während es andererseits bis heute noch nirgends gelungen ist eine neue Ordnung zu begründen, welche Dauer verspräche. Es gilt dies gleicherweise vom großen Ganzen des europäischen Staatensystems, wie von den besonderen Verfassungen der einzelnen Staaten und den mannigfaltigen Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft. Das Provisorium ist der allgemeine Charakter heutiger Verhältnisse, indem die überall versuchten neuen Feststellungen nur wie eine Pause im Umsturz selbst erscheinen, - einem Waffenstillstand vergleichbar, welchem bald neue Feindseligkeiten folgen, aber kein Friedensschluß, wozu die Basis noch immer vergeblich gesucht wird. Wohl war es ein vermessenes Wort der Revolution von 1789, daß sie binnen hundert Jahren die Reise durch Europa machen werde, aber in der Tat lag etwas Prophetisches darin, und die Verheißung naht sich ihrer Erfüllung. Denn wenn auch wiederholt zurückgedrängt und zeitweilig wie erstickt, hat die Revolution doch hinterher nur neue Kraft und neuen Boden gewonnen. Seitdem dann endlich durch die Ereignise von 1866 auch Deutschland, und somit ganz Mitteleuropa, der revolutionären Entwicklung verfallen ist, - wo wäre jetzt noch ein Damm dagegen zu finden? Die ganze zwanzigjährige Blutarbeit, wodurch einst die Revolution niedergekämpft wurde, ist seitdem fruchtlos geworden, als wäre sie nur ein törichtes Spiel gewesen. Und wie wunderbar mußte es sich fügen, daß dieselbe Macht, welche damals in der Bekämpfung des revolutionären Systems ihre schönsten und berühmtesten Sieg errungen, - von der Katzbach bis nach Paris, - und dann auf die Niederlage dieses Systems bei  La Belle Alliance  [Schlacht bei Waterloo - wp] gewissermaßen ihr Siegel gedrückt hatte, jetzt selbst dieses Siegel wieder aufbrach, der Revolution ein neues Feld eröffnend!

Das also wäre die Frucht, welche die noch vor wenigen Jahren so laut bekannten und so hoch gepriesenen Lehren des seligen STAHL getragen, - ein Bündnis mit GARIBALDI, als ein rechtes Gegenstück zu  La Belle Alliance!  Oder wenn dieses Bündnis doch vielleicht woanders herstammen sollte, - welche Wirkung haben denn jene Lehren sonst wohl hinterlassen? Kaum ist eine andere Frucht bemerkbar als die heuchlerische Sophistik, womit dieselben Leute, welche diese neue Politik feiern, hinterher den wahren Charakter derselben verhüllen und verleugnen möchten, und sich wohl gar erdreisten den Heiligenschein einer höheren Weihe darüber zu verbreiten.

Wir aber wollen uns hier weder in Klagen ergehen noch Anklagen erheben, sondern vielmehr von den Fingerzeigen reden, welche in den Tatsachen selbst vor aller Augen liegen. Ist also unbestreitbar, daß einerseits das Alte immer mehr zerfällt, und andererseits noch immer nichts Neues von einiger Dauerhaftigkeit gegründet werden konnte, so wird das seine Gründe haben. Welches sind sie? Es scheint wohl, sie bieten sich so leicht dar, daß man wahrliche nicht zur Ausflucht eine unentrinnbaren Verhängnisses greifen darf, um die Dinge auch ferner so gehen zu lassen, wie sie bisher gegangen, sondern sich nur umso mehr angetrieben fühlen muß, die Dinge womöglich in eine bessere Richtung zu bringen. Daß kann das Alte veraltet und infolge dessen zerfällt, wird man weder verhindern können noch wollen; daß hingegen das Neue sich so unhaltbar erweist, davon wird man die Ursachen in der eigenen Mangelhaftigkeit desselben suchen, wonach es seiner Aufgabe nicht genügen kann. Sei es entweder, daß dabei von einer falschen Voraussetzung ausgegangen, oder daß ein falsches Ziel erstrebt war, oder daß der Fehler in den falschen Mitteln liegt, oder vielleicht in allem zugleich, - genug, das Neue ist unhaltbar, weil es in sich selbst keinen Halt hat. So allgemein aber die Erscheinung einer solchen Hinfälligkeit der versuchten Neuschöpfungen ist, so allgemein wird der zugrunde liegende Irrtum sein. Und selbst diese Behauptung eines allgemeinen Irrtums kann durchaus nicht befremden, da andererseits bekannt genug ist, wie alle politischen Schöpfungen der letzten Menschenalter weit weniger aus den spontanen Trieben der Völker hervorgingen, als vielmehr nach gewissen allgemeinen Doktrinen ausgeführt wurden, welche seit dem vorigen Jahrhundert sich allmählich über die ganze zivilisierte Welt verbreitet haben. Man betrachte nur die modernen Konstitutionen, denen ihr doktrinärer Ursprung überall so deutlich an der Stirn geschrieben steht, und deren Unhaltbarkeit dann folglich nur die Unhaltbarkeit der Doktrinen bekundet, woraus die leitenden Ideen entnommen waren. Mit einem Wort also sind es die staatswissenschaftlichen Theorien, die zuerst untersucht und reformiert werden müssen, wenn wir in Zukunft zu haltbareren Zuständen zu gelangen wünschen.

Dieses vorausgeschickt, treten uns sogleich zwei Grundprinzipien entgegen, um welche sich das politische Denken und Streben der letzten Menschenalter vorzugsweise bewegte, d. h. die  Volkssouveränität  und andererseits  das göttliche Recht.  Jene das Revolutionsprinzip selbst und darum auch die treibende Kraft, soweit es auf bloße Beseitigung des alten Zustandes ankommt, wobei der Volkswille seine unbestreitbare Macht beweist. Er besitzt die Fähigkeit jede gegebene Verfassung umzustürzen und hat davon die besten Proben abgelegt. Nur daß ihm dann die Gründung neuer Verfassungen umso schlechter gelang. Auch wird sie ihm niemals gelingen, weil er selbst nur die reine Veränderlichkeit repräsentiert, worauf überhaupt keine Verfassung beruhen kann. Und eben dieser Punkt ist es, worauf sich dann andererseits die Theorie des göttlichen Rechts beruft, als das eigentliche Reaktionsprinzip, und wie auf jede Aktion die Reaktion folgt, erscheint das Auftreten dieses Gegensatzes insoweit auch ganz naturgemäß. Die Vertreter dieser Theorie behaupten ganz mit Recht, daß die Grundlage des Staates etwas vom Volkswillen Unabhängiges sein müsse. Und was ließe sich nun Imponierenderes denken als der Wille Gottes, der jeden Widerspruch niederschlägt! Wenn man nur im gegebenen Fall auch nachzuweisen vermöchte, welche Verfassungsformen denn unser Herrgott vorgeschrieben habe, stattdessen jeder Versuch eines solchen Nachweises nur zu vagen Behauptungen führt, die ohne irgendwelche Erkenntnis zu gewähren sich nur an das fromme Gefühl richten. Keine Möglichkeit irgendeines bestimmten Inhalts, außer etwa die Eingebungen aller derjenigen, die sich dann eben für die Verkündiger des göttlichen Willens erklären, sich dadurch selbst zu Herren machend, und wodurch natürlich alle wirkliche Volksfreiheit verschwindet. Wie haltlos dabei ein solches theokratisches Gebaren in sich selbst ist, haben wir in dem soeben erwähnten Fall von der Frucht der STAHLschen Lehre gesehen, wo der darauf sich stützende Konservatismus mit kurzer Wendung selbst in die Revolution überging.

In der Mitte zwischen diesen beiden entgegengesetzten Lehren, beiden entgegentretend, steht das  eigentliche Vernunftsystem,  welches auch gerade durch eine solche mittlere Stellung von vornherein umso annehmbarer erscheint. Dazu kommt, daß, wer sich auf Vernunft beruft, auch sogleich die beste Empfehlung für sich hat, weil jedermann doch selbst vernünftig handeln will und jedenfalls der Vernunft nicht offen zu widersprechen wagt. Das veränderliche Belieben des Volkswillens scheint hiermit überwunden zu sein, wie andererseits auch die Unfreiheit, zu welcher die Theorie des göttlichen Rechts führt, denn der Vernunft gehorchend gehorcht der Mensch sich selbst. Wird ferner aus der Vernunft ein System von ewigen Gesetzen entwickelt, so kann man meinen damit auch die Grundlage einer Verfassung gewonnen zu haben, die von der größten Dauerhaftigkeit sein müßte, wenn nicht gar ewig wie jene Gesetze selbst. Nur schade, daß die Probe, die man in Frankreich anstellen sah, vielmehr zum graden Gegenteil einer solchen Ewigkeit führte. Das Vernunftsystem erwies sich da so haltlos als die Volkssouveränität, mit der es auch in innigster Verbindung trat, um dann in rascher Folge eine Verfassung nach der anderen zutage fördern, bis NAPOLEON mit dem Säbel dazwischen schlug, und durch sein Herrscherwort den ferneren Hervorbringungen der Vernunft einstweilen ein Ziel setzte. In Deutschland hatte man inzwischen nur theoretische Versuche gemacht, welche gleichwohl dieselbe Wandelbarkeit angeblich ewiger Wahrheiten offenbarte. Denn anders sprach die reine Vernunft durch KANT, anders durch FICHTE, anders durch SCHELLING, anders durch HEGEL. Und gerade so veränderte sich auch die mit der jedesmaligen Philosophie zusammenhängende Staatslehre, in mancher Hinsicht bis zum direkten Gegensatz, so daß die Nichtigkeit der Vernunft-Staatslehren für jedermann, der nicht absichtlich die Augen dagegen verschließen will, durch die Tatsachen selbst vor Augen liegt.

Das sind die drei Hauptprinzipien, welche sich in der modernen Staatslehre geltend gemacht haben: die Volkssouveränität, das göttliche Recht und die Vernunft. Wenn auch nur bei den eigentlich philosophischen Schriftstellern mit vollem Bewußtsein durchgeführt, haben diese Prinzipien doch die ganze politische Wissenschaft durchdrungen, wie desgleichen das politische Denken des Publikums, so daß man bei jeder tieferen Untersuchung darauf zurückgeführt wird. Gilt es jetzt einen wirklichen Fortschritt, und soll dadurch eine Lehre gewonnen werden, welche der Praxis zum sicheren Leitfaden dienen kann, so ist dazu ein neues Prinzip erforderlich, um eine durchgreifende Reform der Wissenschaft nach Inhalt und Methode einzuleiten, die ohne prinzipielle Grundlage unmöglich wäre. Worauf es aber dabei vor allem ankommt, wird am besten aus der Unzulänglichkeit und den Mißerfolgen der bisherigen Theorie und Praxis selbst zu entnehmen sein.

Betrachten wir nun die so allgemeine und so auffallende Unhaltbarkeit der modernen Verfassungen, wie desgleichen die Unstetigkeit aller politischen Maßregeln unserer Zeit, so werden wir wie von selbst auf den Gedanken kommen, daß dabei überall die feste Grundlage fehlte, und eben darum die neuen Staatsgebäude, so stolz und prächtig sie auch aussehen mochten, doch oft so urplötzlich wieder zusammenbrechen. Und auf denselben Gedanken führen uns die an die vorgenannten drei Prinzipien sich anschließenden Theorien, welche bei aller inneren Verschiedenheit doch darin übereinstimmen, daß ihnen nicht minder die feste Grundlage fehlt. Was gibt es Schwankenderes als den Ozean des Volkswillens und müßte nicht die Grundlage eines jeden Staatsgebäudes vielmehr das Allerfesteste sein? Anders zwar erscheint das reine Denken der Vernunft, ja im Vergleich zu jenem brausenden Ozean fast als ein Bild der ewigen Ruhe, dennoch aber ist diese Vernunft in ihren Entwürfen ganz ebenso veränderlich und unberechenbar wie der Volkswille. Und wenn dieser doch wenigstens einige Realität hat, so wird hingegen nach dem reinen Vernunftprinzip alle Realität von vornherein beiseite geschoben, so daß in dieser Hinsicht das Vernunftsystem sogar noch unbrauchbarer werden muß als das System der Volkssouveränität. Und was ist endlich von der Theorie des göttlichen Rechts zu sagen, die ihr Staatsgebäude nicht nur in die Wolken hineinbaut, sondern vielmehr von oben herab aus den Wolken herausbaut?  Bodenlos  im eigentlichsten Sinn des Wortes sind alle diese Theorien und  Boden  zu gewinnen ist darum das allererste und wichtigste Erfordernis zu einer wahren Reform in Theorie und Praxis. Man frage sich demnach, wo ein solcher Boden zu finden wäre?

Ich meinerseits glaube den festen Boden gefunden zu haben in der  Natur,  und behaupte daher, daß die Staatslehre von der Natur ausgehen muß, stattdessen ging sie bisher vom Volkswillen oder von der Vernunft oder vom göttlichen Willen aus. Wo sie aber von keinem dieser drei Prinzipien ausging, da war sie überhaupt prinziplos, womit doch jedenfalls am allerwenigsten geholfen werden kann.

Mit diesem neuen Ausgangspunkt wird ohne Zweifel auch ein neuer Standpunkt gewonnen werden. Wie dies geschieht, und welche weit reichenden Aussichten ein solcher Standpunkt gewährt, darüber wird das ganze Buch genügend Aufklärung geben, und ist hier nicht der Ort davon zu reden. Nur über die Bedeutung, welche dabei das Wort "Natur" haben soll, sei noch vorweg bemerkt, daß darunter die Natur  des Staates  zu verstehen ist, indem auch gleich von Anfang an gezeigt werden wird, daß und inwiefern einem Staat in der Tat eine eigene Natur zukomme. Und eben die Anerkennung dieser Wahrheit ist die unentbehrliche Voraussetzung einer realen Staatswissenschaft, welche die Erscheinungen und Gesetze des Staatslebens aus der eigenen Natur des Staates selbst zu erklären hat. Wie könnte sonst die Lehre vom Staat nur überhaupt als eine eigentümliche Wissenschaft gelten, wenn der Staat nicht selbst ein eigentümliches Wesen wäre? Was aber dieses eigentümliche Wesen konstituiert, das eben heißt hier seine  Natur.  Kann nun jede wahre Wissenschaft nur aus der Erforschung ihres eigentümlichen Gegenstandes entstehen, nicht aber von anderswoher abgeleitet werden, so kann auch die Staatswissenschaft nur aus der Erforschung des Staatslebens selbst hervorgehen, nicht aber aus philosophischen oder juridischen Begriffen, welches doch gleichwohl so lange versucht worden, ja noch bis heute die vorherrschende Richtung ist und worin kann auch die Hauptursache der bisherigen Mißerfolge liegt. Das scheint wohl eine so einfache Wahrheit, daß kaum davon zu sprechen wäre. Und doch ist sie fast gänzlich verkannt und wird sogar von vornherein ganz abstrahiert wird. Wie ist man aber in eine solche Verirrung geraten, aus welcher man auch bis heute noch immer nicht ganz wieder herauszukommen vermochte? Lediglich deshalb, weil man nicht erkannte oder anerkannte, daß der Staat eine eigentümliche Natur besitze und wovon dann alles weitere abhängt, wie der ganze Verlauf unserer Arbeit Schritt für Schritt bestätigen wird.

Es bleibt noch zu sagen: wie ich selbst zu den hier aufgestellten Lehren gekommen bin, wie dann das vorliegende Buch entstanden ist und was man von demselben erwarten darf.

Da waren es nun vor allem die großen politischen Ereignisse seit 1848, wobei man in rascher Folge die Entwürfe der Aktion wie der Reaktion scheitern sah, was mich veranlaßte die gangbaren Staatslehren mit den tatsächlichen Vorgängen zu vergleichen, und wodurch ich alsbald die Unhaltbarkeit dieser Lehren erkannte. Davon überzeugt ging ich fortan meinen eigenen Weg, um das Wesen des Staates und der staatlichen Bewegungen aus der Beobachtung und Analyse alter und neuer Tatsachen selbst zu erforschen. Das erste Resultat meiner dahin gerichteten Studien war meine vor dreizehn Jahren erschienene "Vorschule zur Physiologie der Staaten", worin der Staat nach seiner Naturseite betrachtet und die Notwendigkeit einer solchen Betrachtungsweise nachgewiesen wurde. Wie schon dem Titel nach von  propädeutischer  Tendenz, so diente mir diese Arbeit zugleich selbst als Propädeutik, wodurch ich die ersten Grundlagen für die neue Betrachtungsweise gewann, und mich seitdem in dieser Richtung sicher bewegen konnte. Das Buch war ursprünglich auf eine weitere Fortsetzung berechnet, indessen veranlaßten mich äußere Umstände, daß ich mich im folgenden Dezennium anstatt mit der reinen Theorie mehr mit den Fragen der praktischen Politik beschäftigte, insbesondere mit den deutschen Angelegenheiten. Indem ich diese nun nach meiner physiologischen Methode behandelte, und dadurch bald die Bodenlosigkeit der bis dahin auf diesem Gebiet herrschenden Ansichten und Tendenzen erkannte, wurde ich durch eine solche praktische Probe nur umso mehr von der Richtigkeit meiner Grundsätze überzeugt und die dabei mir entgegentretenden Fragen führten mich zugleich zu neuen Untersuchungen von prinzipiellem Charakter. Bei jedem Schritt wurde mir klarer, wie sehr der ganze gegenwärtige Zustand Europas mit den herrschenden Staatslehren zusammenhängt. So sehr, daß selbst diejenigen dadurch beeinflußt und geleitet werden, welche nicht einmal eine äußere Kenntnis jener Lehren besitzen, oder wohl gar durch ihre geflissentliche und zur Schau getragene Verachtung aller Theorie ihre Unwissenheit beschönigen möchten, indessen doch ihr eigenes Urteil und Handeln selbst vielleicht durch die allerschlechteste Theorie bestimmt wird, die sie ganz unbewußt in sich aufgenommen haben.

Mit dem durch eine solche Beschäftigung und Studien gereifteren Urteil und erweiterten Gesichtskreis faßte ich hierauf den Entschluß, die früher erworbene Staatslehre aufs Neue in Angriff zu nehmen. War meine Betrachtung beim ersten Versuch gewissermaßen von Außen nach Innen gegangen, so stand ich jetzt von vornherein im Innern, von da aus nach Außen blickend, wodurch sich mir viele tiefe Beziehungen erschlossen, worüber ich anfgangs hinweggegangen war, infolgedessen dann alles ein anderes Aussehen gewann. So entstand daraus ein neues Werk, und wer meine frühere Vorschule kennt und beachtet hat, wird darin, wie ich hoffen darf, einen wesentlichen Fortschritt der politischen Naturlehre bemerken. Dahingegen werden auch diejenigen, welche sich für die hier entwickelten Lehren interessieren sollten, wohl tun daneben noch die Vorschule zu lesen, welche nicht nur durch ihren propädeutischen Charakter das Verständnis befördern kann, sondern außerdem auch vieles enthält, was jetzt nur kurz berührt wurde oder ganz beiseite blieb, weil der neue Gedankengang nicht darauf hinführte. Und selbst wo der Sache nach ein Zusammentreffen stattfindet, ist doch die Deduktion verändert, wodurch die Sache in neuer Beleuchtung erscheint. Es ist dann ähnlich, wie wenn man etwa ein Gebäude von verschiedenen Seiten zeichnet und verschiedene Durchschnitte entwirft, wobei das eine das andere ergänzt, obwohl der zu erkennende Gegenstand derselbe bleibt.

Das gegenwärtige Buch besteht aus fünf Hauptabschnitten, welche als besondere Abhandlungen in der deutschen Vierteljahrsschrift (Juliheft 68 bis Juliheft 69) erschienen waren, und jetzt mit einigen Veränderungen zu einem Ganzen verbunden sind. Sie handeln
    1) von der Aufgabe und Methode,
    2) von den Bestandteilen des Staates,
    3) von den Staatsgewalten,
    4) von der Volksvertretung,
    5) von der auswärtigen Politik.
Überall ist darin die Entwicklung meiner eigenen Sätze mit einer Kritik der bisher herrschenden Lehren verbunden, so daß die hier begründete Naturlehre zugleich eine allgemeine Reform der Staatswissenschaften bezweckt. Jedenfalls sind für die wichtigsten Zweige derselben die Gesichtspunkte angegeben.

Ein förmliches und ins Einzelne ausgeführtes System zu liefern, lag nicht in meiner Absicht, vielmehr kann ich selbst wohl am besten übersehen, wie viel zu einem solchen System noch fehlen würde. Wenn aber die Erkenntnis des Staates eine so große Sache ist, daß die Untersuchung kaum jemals zum Abschluß gelangen wird, so ist gewiß auch die Begründung einer neuen politischen Betrachtungsweise eine so schwierige Aufgabe, daß niemand wagen darf dabei von vornherein etwas Vollkommenes leisten zu wollen. Alles Neue wird unvermeidlich zuerst nur in einer gewissermaßen embryonischen Gestalt auftreten. Und wenn die bisher herrschende politische Denkweise im Laufe der Jahrhunderte ausgebildet ist, so wird auch die hier auftretende neue Denkweise nur allmählich und durch die Arbeit Vieler zur systematischen Durchführung gelangen können. Nicht sehr schwierig möchte es freilich gewesen sein, der politischen Naturlehre eine gewisse schematische Abrundung zu geben, wie sie namentlich unsere deutschen Lehrbücher zu zeigen pflegen, was aber wäre damit erreicht? Nichts weiter als eine neue Täuschung, wie wenn die volle Wahrheit schon erkannt wäre, weil sie in schulmäßige Rubriken gebracht ist. Mir hingegen erschien es umso wichtiger, die gerade durch eine solche formale Ausbildung verdunkelte Mangelhaftigkeit und Bodenlosigkeit der herrschenden Staatslehre nachzuweisen und wäre mir ein solcher Nachweis gelungen, so würde ich schon dieses bloß negative Resultat für einen großen Gewinn erachten, weil ohne die Erkenntnis der gerade in ihren Grundlagen hervortretenden Unhaltbarkeit der herrschenden Staatslehre kein wirklicher Fortschritt möglich ist. Man wird indessen finden, daß neben den kritischen Resultaten überall auch die Anfänge neuer positiver Grundlagen gegeben sind. Und man wird desgleichen finden, wie sich an die hier erörterten theoretischen Sätze auch sehr weit reichende praktische Folgen anschließen.

Da ich zunächst für meine deutschen Landsleute schreibe, will ich in letzterer Beziehung besonders die Idee des  "Reiches"  hervorheben, als eines eigentümlichen und vom eigentlichen  Staat  verschiedenen Gemeinwesens, worauf mich meine vieljährige Beschäftigung mit den deutschen Angelegenheiten geführt hat, und worin ich den allein brauchbaren Schlüssel zum Verständnis derselben gefunden zu haben glaube. Denn ich habe die deutsche Frage nach ihren eigenen Elementen untersucht, und daraus die Bedingungen und Formen einer deutschen Gesamtverfassung abgeleitet, während andere nur mit allgemeinen Begriffen und von auswärts her entlehnten Vorbildern an die Aufgabe traten. Die Ereignisse der jüngsten Zeit selbst bezeugen es nun, wohin dieses Treiben geführt hat, nämlich anstatt zur deutschen Einigung vielmehr zur vollständigen Zerissenheit, weil die Einigungsversuche der letzten Dezennien immer das falsche Ziel verfolgten aus Deutschland einen eigentlichen  Staat  machen zu wollen, was es doch niemals gewesen ist noch jemals werden kann. Auch habe ich zugleich gezeigt, wie die von mir aufgestellte Reichsidee, neben ihrer praktischen Bedeutung für unser Vaterland, selbst einen rein wissenschaftlichen Wert hat, indem sie insbesondere den Übergang des Staatsrechtes in das Völkerrecht vermittelt, welches letztere (wie niemand leugnen wird) die Staatslehre erst vollendet, aber doch selbst nicht aus der Idee des Staates heraus behandelt werden kann. Man muß dabei schlechterdings über die Staatsidee hinausgehen, und eben durch das Reich, welches ein zugleich staatsrechtliches und völkerrechtliches Gemeinwesen ist, wird ein solcher Übergang selbst realiter vollzogen.

Als die Hauptsache in praktischer Hinsicht gilt mir endlich, daß durch die physiologische Betrachtungsweise des Staates ein Standpunkt begründet wird, der aus allem  Parteiwesen  heraustritt. Jede Frage wird hier auf ihren sachlichen Gehalt zurückgeführt, wobei die landläufigen Stichworte: als  "konservativ", "liberal", "demokratisch",  oder wie sie sonst lauten mögen, sich überall als unzugänglich, ja meist als gänzlich nichtig erweisen. Alle diejenigen daher, welche gewohnt sind jede politische Lehre nur darauf anzusehen: ob und was sich daraus für ihre besonderen Parteitendenzen entnehmen ließe, werden in meiner Naturlehre keine Rechnung finden. Ich muß im Voraus darauf gefaßt sein, daß sie dieselbe einfach ignorieren werden, als das bequemste Mittel um sich mit unbequemen Wahrheiten abzufinden. Ein Mittel, welches noch außerdem die unschätzbare Eigenschaft besitzt, daß es trotz des langen und fortwährenden Gebrauchs, den man davon gemacht, sich doch kaum abzunutzen scheint, denn man hat es in der Tat zu jeder Zeit gebraucht und wird es auch ferner gebrauchen. Indessen lehrt die Erfahrung nicht minder, daß es doch immer nur für eine Weile lang geholfen hat. Und wie nun heute die Verhältnisse liegen, steht wohl zu hoffen, daß auch die Anzahl derjenigen nicht mehr gering sein wird, welche keinen Anstoß daran nehmen, wenn eine politische Lehre nicht unter herkömmliche Parteiansichten zu bringen ist, sondern darin vielmehr einen Vorzug erblicken werden. Auf diesem Standpunkt wird man dann umso eher für neue Ideen empfänglich sein, je handgreiflicher die jüngsten Ereignisse nicht nur die innere Unzulänglichkeit des bisherigen Parteiwesens sondern auch die gänzliche innere Haltlosigkeit desselben gezeigt haben. Dank sei es den Ereignissen von 1866, wodurch alle unsere Parteien gerichtet sind, von der äußersten Rechten bis zur äußersten Linken. Der Bankrott liegt seitdem vor aller Augen. Ist es aber andererseits kaum minder augenfällig, und auch gewiß bekannt genug, wie innig unser bisheriges Parteiwesen mit den herrschenden politischen Theorien zusammenhing, woraus jede Partei ihre geistigen Waffen entlehnte, so sind damit auch diese Theorien gerichtet, welche solche Früchte trugen. Allen denjenigen also, welche diese Überzeugung teilen, möge die nachfolgende Naturlehre des Staates zur freundlichen Beachtung empfohlen sein.
LITERATUR: Constantin Frantz - Die Naturlehre des Staates als Grundlage aller Staatswissenschaft, Leipzig und Heidelberg 1870