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HERMANN LOTZE
Immanuel Kant

"Eben weil dies in beiden Fällen so ist, kann aus dieser Apriorität unserer Anschauungsweise gar nichts in Betreff ihrer Gültigkeit in Bezug auf jene Dinge selbst gefolgert werden. Die ganze Frage nach dem sogenannten empirischen Ursprung unserer Erkenntnis oder dem Angeborensein wenigstens eines Teils derselben verliert daher fast alles Interesse. Es kommt jetzt nur noch darauf an, zu untersuchen, wie wir uns notwendig die bisher vorausgesetzten Dinge denken müssen, damit wir entscheiden können, ob auch sie, eben weil sie so und nicht anders gedacht werden müssen, unseren gewohnten Anschauungsformen eine unmittelbare oder irgendwie beschränkte Anwendung gestatten."

§ 10. An die letzten Ergebnisse HUMEs, zu denen wir mit vorläufiger Überlegung anderer philosophischer Leistungen geeilt sind, hat IMMANUEL KANT (zu Königsberg geboren am 22. April 1724; 1755 Privatdozent, 1770 Professor an der dortigen Universität; gestorben zu Königsberg am 12. Februar 1804) die epochemachenden Werke seines späteren Lebens (1) angeknüpft.

Analytische Urteile, also solche, die als Prädikate nur das nennen, was im Subjekt ohnehin enthalten ist, hatte HUME zugegeben; dagegen nicht synthetische, welche mit Notwendigkeit und Sicherheit zu einem gegebenen Tatbestand einen noch nicht gegebenen hinzufügen. Nennen wir nach neuerem Sprachgebrauch solche der Erfahrung vorgreifende Urteile Erkenntnisse a priori, so wird das Interesse der Philosophie, wenn sie nicht ganz auf ihre alten Aufgaben verzichten will, darauf hinauslaufen, die Frage zu beantworten: "sind synthetische Urteile a priori möglich? und wenn sie es sind, wie sind sie es?" So stellt KANT selbst seine erste Frage und nennt sein Unternehmen Kritik der Vernunft.

Er gibt zwar selbst an, ehe er sich auf die sachliche Philosophie einläßt, vorläufig nur die Grenzen untersuchen zu wollen, innerhalb deren unsere Vernunft etwas erreichen kann; tatsächlich aber behandelt und entscheidet diese Kritik alle wesentlichen Fragen der Philosophie selbst, und das für später versprochene aber nie ausgeführte System hätte bloß eine andere Darstellungsform der Resultate der Kritik werden können.

Von LOCKEs Versuchen unterscheidet sich KANTs Unternehmung, ohne daß er dies ausspricht, durch die Tat völlig. Er meint gar nicht, daß man durch bloße Erfahrung und innere Beobachtung die Entstehung und die Befugnisse unserer Erkenntnisse auffinden kann. Er begnügt sich überhaupt nicht mit ihrer tatsächlichen Entstehung, die man angeblich beobachten kann, sondern verlangt die Bedingungen zu wissen, unter denen sie entstehen können. Und zu diesem Zweck beurteilt er die Tatsachen der inneren Beobachtung, von denen er natürlich auch anfängt, ganz unbefangen nach den allgemeinen Grundsätzen, die unsere Vernunft über Möglichkeit und Unmöglichkeit immer festhält und in praxi befolgt, auch ohne sie vorher ausdrücklich formuliert und gerechtfertigt zu haben.

§ 11. Als Kennzeichen nicht von der Erfahrung abhängiger, sondern apriorischer Erkenntnis betrachtet KANT Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit. Die erste hat den Sinn, daß apriorische Erkenntnisse nicht einzelne Tatsachen, sondern immer nur allgemeine Regeln ausdrücken, unter welche eine künftige Vielheit von Tatsachen fallen soll. Verbürgt aber wird diese Allgemeinheit immer durch das andere Kennzeichen, durch die Notwendigkeit, d. h. durch die Evidenz, mit der ein solcher Satz, einmal gedacht, sofort als gültig in allen Wiederholungsfällen begriffen wird, ohne daß es nötig oder auch nur möglich ist, durch das Durchprobieren dieser Fälle diese Gewißheit zu bestätigen.

Zu untersuchen, ob es solche synthetische Urteile a priori gibt, hält KANT für unnötig, da sowohl die Mathematik, als auch die reine Mechanik eine Menge derselben tatsächlich enthält - eine Behauptung, in der KANT ohne Zweifel völlig recht hat, obgleich nicht alle von ihm gewählten Beispiele gleich überzeugend sind.

Indem er dies nun für zugestanden ansieht, versucht er die andere Frage: "wie sind solche Urteile möglich?" dadurch zu beantworten, daß er, zunächst wenigstens bloß zur Bequemlichkeit und ohne Ansprüche auf eine tiefere psychologische Begründung, das menschliche Erkenntnisvermögen, welches er als Ganzes "Vernunft" nennt, in die drei Zweige Sinnlichkeit, Verstand und Vernunft im engeren Sinn einteilt, und in Bezug auf jedes dieser Vermögen eine transzendentale Untersuchung anstellt, d. h. eine solche, welche die Rechtsgründe nachweist, die für jedes derselben wirklich oder angeblich vorhanden sind, um es zu befähigen in einem synthetischen Urteil von einem Inhalt a auf einen damit nicht identischen b zu schließen.

§ 12. Das Ziel, nach welchem KANT hinstrebt, ist der Nachweis, daß aller Inhalt unserer Erkenntnis uns durch die Erfahrung gegeben wird, daß aber die Form, ohne welche die bloßen Eindrücke noch keine Erkenntnis bilden würden, der Tätigkeit des Geistes zu verdanken sind.

Diese später noch weiter zu erklärende Ansicht sucht zuerst die transzendentale Ästhetik in Bezug auf die sinnlichen Wahrnehmungen durchzuführen.

Es wird hier der Inhalt der Empfindungen zwar auch zu dem zu rechnen sein, was a priori dem Geist angehört; denn Licht, Farbe, Klang sind nicht fertig uns überlieferte Eindrücke, sondern werden von der Seele kraft ihrer eigenen Anlagen auf Veranlassung äußerer Reize produziert, und nur der Grund, diese möglichen Äußerungen in bestimmter Verknüpfung und Reihenfolge auszuüben, ist das, was in der Tat a posteriori, d. h. von außen zu unserer Erkenntnis beiträgt.

Allein die Empfindungen stellen, jede für sich, einen einzelnen Inhalt dar, sie sind aber nicht allgemeine Regeln oder Formen der Verknüpfung eines Mannigfaltigen. Nur diejenigen apriorischen Verknüpfungsweisen des Geistes, welche diese letztere Aufgabe erfüllen, sind hier Gegenstand der Untersuchung, und KANT findet für die Sinnlichkeit deren zwei: Raum und Zeit, die allgemeinen Formen, in die wir alles Mannigfaltige der äußeren und der inneren Erfahrung ordnen.

§ 13. Vier Sätze stellt KANT auf. - In den beiden letzten charakterisiert er unsere Vorstellungen von Raum und Zeit als Anschauungen im Gegensatz zu Allgemeinbegriffen.

Die letzteren sind Regel einer Verbindung von Merkmalen, denen jede Art oder jedes Exemplar genügen muß, das ihne untergeordnet sein soll. Im Übrigen aber setzt ein Allgemeinbegriff diese seine Arten oder Beispiele in kein bestimmtes gegenseitiges Verhältnis zu einander. Denn daß wir sie einander koordiniert nennen, bedeutet weiter gar nichts, als daß sie dem Allgemeinen sämltich auf gleiche Weise subordiniert sind. Wie sie sich untereinander verhalten, bleibt dabei unentschieden.

Von Raum und Zeit dagegen könnte man zwar auch (was KANT nicht tut) die allgemeinen Begriffe der Räumlichkeit und Zeitlichkeit bilden, denen jede einzelne Raum- oder Zeitstreck für sich entsprechen müßte. Allein die Hauptursache ist, daß die Eigentümlichkeit von Raum und Zeit außerdem noch alle diese Beispiele untereinander verbindet als Teile eines einzigen Raumes und einer einzigen Zeit. Und diese Verbindung ist so wesentlich, daß man nicht einmal einen Raumpunkt von einem Zeitpunkt würde unterscheiden können, wenn man nicht den ersten mit seines Gleichen in der Form eines gleichzeitigen Nebeneinand, den andern mit seines Gleichen in der Form des Nacheinander zusammenhängend vorstellen würde.

Ebenso lehrt KANT mit Recht, daß Raum und Zeit als unendliche Größen gegeben sind; nämlich in dem Sinne, daß mit der Vorstellung einer beliebigen endlichen Raum- und Zeitstrecke unmittelbar die Gewißheit gegeben ist, daß sie mit sich selbst ähnlich ins Unendliche forgesetzt werden kann, und daß diese Fortsetzung, die wir nicht wirklich ausführen können, ganz denselben Anspruch auf Wirklichkeit oder Gültigkeit hat, wie die endlichen Strecken, die wir wirklich durchmessen haben.

Dies sind die Eigentümlichkeiten, durch die Raum und Zeit sich als Anschauungen von den übrigen Begriffen unterscheiden.

§ 14. Die beiden ersten Sätze suchen zu beweisen, daß wir diese Anschauungen nicht durch Abstraktion aus Erfahrungen gewonnen haben.

Zuerst wird behauptet: um eine Lage oder ein Nebeneinander scheinbarer Dinge wahrnehmen zu können, müsse man dieser Wahrnehmung bereits mit der Vorstellung des Raumes entgegenkommen, worin dem Wahrzunehmenden seine Plätze bestimmt werden sollen.

Dies ist gewiß irrig. Denn gesetzt, wir besäßen vor aller Wahrnehmung die Anschauung des einen, unendlichen Raumes, so würde sie uns doch gar nichts dazu helfen, den verschiedenen Eindrücken a, b, c ihre bestimmten Plätze im Raum anzuweisen, so daß etwa b links von c, aber rechts von a liegen müßte; denn mit dieser allgemeinen Raumanschauung verträgt sich jede andere Lage von a, b und c ebenso gut. Daß also in diesem Augenblick a, b und c gerade so liegen und nicht anders, dieses bestimmten Nebeneinander müssen wir auf alle Fälle durch eine unmittelbare Wahrnehmung noch extra inne werden, und dabei ist die ganze Vorstellung vom übrigen Raum, der nicht in dieser Linie a, b, c begriffen ist, vollkommen überflüssig.

Da also die Wahrnehmung des Nebeneinander von der allgemeinen Anschauung des unendlichen Raumes unabhängig ist, so scheint es viel richtiger zu behaupten, daß diese allgemeine Anschauung als solche keineswegs vorangeht und von uns gleich den ersten Wahrnehmungen entgegengebracht wird. Vielmehr bildet sich die Anschauung des zusammenhängenden einen und unendlichen Raumes erst aus den unzähligen Einzelanschauungen oder verschiedenen Wahrnehmungen des Nebeneinander; freilich nicht auf dem Weg einer Abstraktion, sondern auf dem anderen Weg einer Komposition, welcher der im vorigen Paragraphen erwähnten Eigentümlichkeit von Zeit und Raum entspricht.

§ 15. Der zweite Satz behauptet: Die Raumanschauung sei notwendig, weil man zwar alle Dinge aus dem Raum hinwegdenken kann, aber sich keine Vorstellung davon machen, daß kein Raum ist.

Hierin liegt wohl eine Verwechslung zweier Forderungen. Verlangen wir bloß zu denken, so liegt gar kein Widerspruch in dem Gedanken: es sei gar nichts, weder eine Welt von Dingen, noch wir selbst, noch ein Raum; aber vorstellen läßt sich das, was wir ohne Widerspruch denken können, dennoch nicht; denn um es vorzustellen, müßten wir notwendig uns selbst als das vorstellende Wesen wieder mit vorstellen, sodaß nun vor uns das völlige Nichts sich als unser Gegenstand ausbreitet. Einen solchen Akt des Vorstellens aber können wir uns nicht vorstellen, ohne daß wir uns zugleich der allgemeinen Formen wieder erinnern, unter denen alle Gegenstände uns erscheinen, solange wir sie nicht negiert haben.

Daher können wir uns von der Vorstellung eines leeren Raumes auch nach der Negation alles Realen in ihm nicht losmachen; und ebensowenig wird es uns gelingen, diese Leere weder finster noch hell oder weder laut noch still vorzustellen, nachdem die wirkliche Welt, solange sie uns erscheint, immer eins von beiden ist. Und doch gibt man zu, daß Vorstellungen von Helligkeit oder Klang uns nur von der Erfahrung zugeführt werden.

§ 16. Die Schlußansicht, zu welcher KANT diese Sätze benutzt, geht darauf hinaus, daß Raum und Zeit als reine und apriorische Anschauungen empirische Realität besitzen, dagegen aber zugleich die Eigenschaft transzendenter Idealität.

Der erste Ausdruck sagt: da beide Formen der Anschauung Auffassungsarten unserer Sinnlichkeit sind, von denen wir uns nicht losmachen können, so sind sie schlechthin gültig in Bezug auf alles, was einmal Gegenstand unserer sinnlichen Wahrnehmung werden soll; denn es würde gar nicht wahrgenommen werden können, bevor es, bildlich gesprochen, durch diese Auffassungsformen hindurch gegangen wäre, die wir ja zu aller Erfahrung schon mitbringen.

Der zweite Ausdruck behauptet: wenn wir nicht von Gegenständen der Erfahrung sprechen, sondern von diesen zu den unwahrgenommenen Dingen transzendieren wollen, welche die gemeine Meinung der wahrgenommenen Erscheinungswelt unterlegt, so haben in bezug auf diese die beiden Anschauungen der Dinge selbst, noch Beziehungen oder Verhältnisse, die zwischen ihnen bestehen.

Diese Ansicht, die sich durch die ganze spätere Philosophie KANTs als der bedeutendste Gedanken hindurchzieht und dann auch noch auf andere Weise begründet wird, hat in den bisher vorgetragenen Sätze keine hinlängliche Begründung.

§ 17. Was zuerst die Apriorität oder nach gewöhnlichem Ausdruck das Angeborensein beider Anschauungen (von Raum und Zeit) betrifft, so definiert KANT selbst dies dahin, daß beide in gewissen Reaktionen unseres Geistes gegen von außen kommende Anregungen bestehen, obgleich er sich auch häufig so ausdrückt wie die Popularphilosophie seiner Schule es darzustellen pflegt, als wären Raum und Zeit fertige, dem Bewußtsein stets und auch vor aller Erfahrung vorschwebende Bilder.

Genau dasselbe ist aber auch zu sagen, und wird auch von KANT zugestanden, in Bezug auf das, was sonst als Inhalt der Erkenntnis betrachtet und deswegen als a posteriori der apriorischen Form (Raum und Zeit) entgegengesetzt wird. Auch Farben, Klänge usw. sind Produkte einer Reaktion unseres Geistes gegen äußere Anregungen. Auch sie sind insofern dem Geist eigentümlich und a priori, da sie nicht entstehen würden, wenn zwar dieselben Anregungen fortfahren, der Geist aber anders wäre, als er ist.

Dem Reich der Dinge folglich, welches wir gewöhnlich unserer Erkenntnis gegenüberstellen, bleibt kein anderer Einfluß übrig als: die Reihenfolge und Kombination der Veranlassungen zu bestimmen, die uns zur Äußerung der verschiedenen unserem Geist möglichen Reaktionen gegeben werden. Ganz besonders haben sie dies zu tun in Bezug auf die bestimmten räumlichen Formen, Lagen, Richtungen und Bewegungen der scheinbaren Gegenstände; denn, wie schon erwähnt, folgt gerade dies alles aus den allgemeinen Anschauungen von Raum und Zeit gar nicht.

Nun ist hier in der Tat nicht zu begreifen, warum diese Anschauungen bloß deswegen, weil sie unserem Geist natürliche Verfahrensweisen des Auffassens sind, durchaus ungültig und bedeutungslos für die Dinge sein müßten, die zu ihrer Anwendung Veranlassung geben. Solange wir daher nicht besonders beweisen können, daß Dinge außerhalb unserer selbst so, wie wir sie denken müssen, räumlich-zeitliche Beschaffenheiten gar nicht vertragen, solange bleit die Behauptung jener transzendentalen Bedeutungslosigkeit von Raum und Zeit ein nicht begründeter Überschuß der Behauptung.

§ 18. Ein Grund, der diese Folgerung rechtfertigen soll, wird von KANT angeführt. Raum und Zeit gewähren uns allgemeine und notwendige Wahrheien, dagegen Erkenntnisse, die aus der Erfahrung stammen, seien unfähig, sich über bloße Wahrscheinlichkeit hinaus zu wahrer Allgemeinheit zu erheben.

Diese letzte Behauptung macht aber KANT unter der Voraussetzung: allgemeine Sätze, wenn sie aus Erfahrung entspringen sollen, können immer bloß auf dem Weg der Vergleichung vieler Einzelfälle gefunden werden.

Allein, wer auch nur einmal Rot, nur einmal Orange und einmal Blau gesehen hat, wird keine Wiederholungsfälle nötig haben, um die Sätze mit der Gewißheit ihrer allgemeinen Geltung auszusprechen: Orange ist verschieden von Rot, aber ihm ähnlich und zwar ähnlicher als Blau. Und diese Sätze, obgleich sie keine Regeln der Verbindung von Mannigfaltigem sind, sind doch in ihrer Art auch synthetische Sätze; denn sie sprechen ein Prädikat aus (Ähnlichkeit), welches in keiner einzelnen dieser Farben enthalten ist, sondern bloß durch ihre Synthesis in unserem Vorstellen begründet wird.

Andererseits: wenn nun die geometrischen Wahrheiten in KANTs Sinn a priori wären, so würde doch die Behauptung, daß sie es sind, d. h. daß sie allgemein und notwendig gelten, sich auch nur auf zweierlei stützen können: entweder darauf, daß man durchprobiert, ob in allen Wiederholungsfällen, wo man denselben Satz denkt, er sich ebenso als gültig beweisen wird; oder darauf, daß man zugibt, er brauche bloß einmal gedacht zu werden, um sofort, auf eine Weise, für die es gar keine weitere psychologische Erklärung gibt, von der Gewißheit seiner allgemeinen Geltung begleitet zu werden.

Die erste Begründungsweise reicht nach KANT, und auch in der Tat, nicht aus. Gilt daher ausschließlich die zweite, so ist es offenbar gleichgültig, woher der Inhalt des Satzes gekommen ist, auf den sie sich bezieht. Es kommt nicht darauf an, ob er a priori unserem Geist angehört oder uns durch Erfahrung gegeben wird, es kommt bloß darauf an, als was er uns gegeben ist, d. h. ob diese Gewißheit einer allgemeinen Geltung (welche, wie gesagt, psychologisch gar nicht im Hinblick auf diesen oder jenen Ursprung einer Erkenntnis dieser erteilt oder abgesprochen werden kann) dem Inhalt des fraglichen Satzes zukommt oder nicht zukommt.

§ 19. Ziehen wir diese Betrachtungen zusammen, so haben wir zu sagen: in allen Fällen, entspringt unsere Erkenntnis aus äußeren Anregungen, die unserem Geist Veranlassung zur Ausübung seiner eigenen Fähigkeiten geben. In allen Fällen ist daher der Inhalt unserer Erkenntnis, soweit er in sinnlichen Empfindungen besteht, sowie die Form, in welcher wir ihn auffassen, in KANTs Sinne a priori. Der Erfahrung gehört nichts an, als der Grund für die Reihenfolge des Auftretens dieser apriorischen Funktionen.

So muß es sich nun immer verhalten. Mag die von uns vorausgesetzte Welt der Dinge so sein, wie wir sie vorstellen, oder mag sie anders sein, unsere Vorstellung von ihr ist niemals von außen fertig in uns hineingekommen, sondern ist immer ein Bild, welches wir auf Veranlassung ihrer Einwirkungen ganz von Neuem aus apriorisch unserem Geist angehörigen Bildelementen zusammensetzen.

Eben weil dies in beiden Fällen so ist, kann aus dieser Apriorität unserer Anschauungsweise gar nichts in Betreff ihrer Gültigkeit in Bezug auf jene Dinge selbst gefolgert werden. Die ganze Frage nach dem sogenannten empirischen Ursprung unserer Erkenntnis oder dem Angeborensein wenigstens eines Teils derselben verliert daher fast alles Interesse. Es kommt jetzt nur noch darauf an, zu untersuchen, wie wir uns notwendig die bisher vorausgesetzten Dinge denken müssen, damit wir entscheiden können, ob auch sie, eben weil sie so und nicht anders gedacht werden müssen, unseren gewohnten Anschauungsformen eine unmittelbare oder irgendwie beschränkte Anwendung gestatten.

§ 20. Diese Untersuchungen beginnt KANT, wenn auch in anderer Form, im zweiten Hauptteil, in der transzendentalen Logik und zunächst in deren erstem Abschnit: der Analytik, welche zeigen soll, wie unsere Erkenntnis dadurch entsteht, daß die in der Sinnlichkeit nur anschaulich verbundenen Eindrücke auf innere Zusammenhänge ihres Inhalts gedeutet und ihre Verbindung dadurch gerechtfertigt wird.

Da innere Zusammenhänge kein Gegenstand unmittelbarer Wahrnehmung sind, so sind diese Gedanken, durch die sich der Verstand die Erscheinungen interpretiert, allemal seine Zutat, und sie bilden also die a priori ihm eigentümlichen Voraussetzungen über die Zusammenhänge, die zwischen den Gegenständen seiner Erfahrung notwendig stattfinden müssen.

Die natürliche Annahme, daß die Welt ein zusammengehöriges Ganzes ist, läßt es ebenso natürlich erscheinen, daß auch der Geist, um die Welt zu begreifen, eine geschlossene Anzahl solcher Grundbegriffe oder Voraussetzungen besitzt.

Um sie in dieser Vollständigkeit aufzufinden, bedient sich KANT folgendes Leitfadens: Jeden inneren Zusammenhang zwischen Mannigfaltigem müssen wir, wenn wir ihn aussprechen, in der Form eines Satzes oder Urteils aussprechen. Können wir daher eine vollständige Tafel aller wesentlich verschiedenen logischen Urteilsformen aufstellen, so werden wir in jeder von ihnen einen eigentümlichen Grundgedanken von einem Verhältnis finden, nach dessen Muster hier der Verstand das Mannigfaltige verknüpft.

Die Tafel der Urteile war nun folgende: Jedes Urteil muß in vier verschiedenen Rücksichten bestimmt werden, und kann nach jeder derselben eine von drei verschiedenen Formen haben. Nämlich
    - jedes ist der Quantität nach etweder allgemein oder partikular oder singular,

    - jedes der Qualität nach entweder bejahend oder verneinend oder limitierend.

    - Ferner ist der Relation nach jedes Urteil entweder kategorisch oder hypothetisch oder disjunktiv;

    - endlich der Modalität nach entweder problematisch oder assertorisch [behauptend - wp] oder apodiktisch [gewiß - wp]
In diesen zwölf Urteilsformen sollen nun der Reihe nach die reinen Verstandesbegriffe: "Allheit", "Vielheit", "Einheit", "Sein", "Nichtsein", "Beschränkung", "Substanzialität", "Kausalität" und "Wechselwirkung", "Möglichkeit", "Wirklichkeit" und "Notwendigkeit" als die Muster enthalten sein, nach denen der Inhalt der einzelnen das Urteil bildenden Vorstellungen verbunden wird.

§ 21. Es geschah nach dem Vorgang des ARISTOTELES (der die allgemeinsten Gattungen aufsuchte, unter welche alle von irgendeinem Subjekt auszusagenden Prädikate fallen, und deren zehn, seine sogenannten Kategorien, gefunden hatte), daß auch KANT für diese ursprünglichen Tätigkeiten des Verstandes Ausdrücke in einfacher Begriffsform aufstellte, in welcher Form sie immer noch die Frage übrig lassen, was mit ihnen anzufangen sein soll.

KANT beantwortet sie, indem er nun (was ohne Zweifel ein Umweg ist) wieder die allgemeinen Verstandesgrundsätze abzuleiten sucht, aus denen sie eigentlich selbst abgeleitet sind, und die allein als Grundsätze der Beurteilung von Dingen eine Anwendung erlauben.

Er leitet dies ein durch die Bemerkung, daß diese abstrakten Verstandesbegriffe eigentlich ganz unähnlich sind den sinnlichen Empfindungen, durch welche uns allein Inhalt gegeben wird. Um sie daher auf diesen Inhalt anzuwenden, sei ein Mittelglied notwendig, welches an der Natur beider teil hat. Er findet dies in den reinen Anschauungen Raum und Zeit (hauptsächlich der Zeit), in welchen alle Empfindungen erscheinen und welche zugleich so beschaffen sind, daß zwischen ihren Teilen dieselben Verhältnisse anschaulich gegeben sein können, welche von den Verstandesbegriffen nur in abstrakter Weise zwischen den mannigfachen Teilen des Erkenntnisinhalts vorausgesetzt werden. Die Kategorie der Kausalität z. B. sagt ganz abstrakt: a sei die Bedingung eines b, dagegen b nicht die Bedingung des a. Dasselbe einseitige Abhängigkeitsverhältnis findet zwischen den Momenten der Zeit statt: nur durch den früheren geht es zum späteren, aber nicht von diesem zurück. Die Zeitfolge oder Sukzession ist daher das anschauliche Kennzeichen, welches uns erlaubt, von zwei Wahrnehmungen nur die eine a als Ursache, nur die andere b als Wirkung zu betrachten und so beide dem abstrakten Verstandesgrundsatz der Kausalität zu unterwerfen.

Dies ist die Lehre vom Schematismus der reinen Verstandesbegriffe.

§ 22. Durch diesen Schematismus wird es nun KANT möglich, ein, wie er glaubt, vollständiges System der Grundsätze des reinen Verstandesgebrauchs aufzustellen. Nach kurzer Erwähnung des Identitätsgesetzes, dem niemals widersprochen werden darf, das aber für sich unsere Erkenntnis nicht erweitert, folgt
    1) als Axiom der Anschauung: jeder Wahrnehmungsinhalt muß eine extensive Größe haben. Der Satz wird Axiom genannt, weil er schlechthin und selbstverständlich gilt, da alle unsere Wahrnehmungen nur in Raum und Zeit, also zwei Formen der Extension möglich sind.

    2) als Antizipation der Wahrnehmung der Satz: alle Qualität einer Empfindung muß eine intensive Größe oder einen Grad besitzen. "Antizipation" deswegen genannt, weil dieser Satz a priori etwas gerade über dasjenige aussagt, was nur a posteriori gegeben werden kann, nämlich den Inhalt der Empfindung. Hierauf kommen

    3) Analogien der Erfahrung. "Analogien" deswegen, weil sie nur auffordern, das Mannigfache der Wahrnehmung in bestimmte Verhältnisse zu setzen, nicht aber selbst schon das Beziehungsglied angeben, zu welchem das Verhältnis stattfinden soll. Es sind ihrer drei:
      a) In allem Wechsel der Erscheinungen beharrt das Reale und seine Quantität wird weder vergrößert noch vermindert.
      b) Alle Veränderungen geschehen nach dem Zusammenhang von Ursache und Wirkung.
      c) Alles, was gleichzeitig im Raum vorhanden ist, steht miteinander in Wechselwirkung.

    4. endlich entsprechen den Kategorien der Modalität als Postulate des empirischen Denkens die drei Definitionen:
      - Möglich ist, was mit den formalen Bedingungen der Erfahrung (Anschauung und Begriff) zusammenstimmt;
      - wirklich ist, was übereinstimmt mit den materialen Bedingungen der Erfahrung (Empfindung);
      - notwendig ist, was aus Wirklichem nach einer allgemeinen Regel folgt.
§ 23. Diese Sätze, über deren materialen Inhalt hier nicht weiter referiert werden kann und von denen die dritte Gruppe unsere Aufmerksamkeit besonders beschäftigt, erklärt nun KANT wegen der Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit, die sie mit sich führen, als einen apriorischen Besitz des Geistes oder als diejenigen Tätigkeiten der Synthesis oder des Beziehens, durch deren Ausübung der Verstand die mannigfaltigen sinnlichen Eindrücke in eine innere Verbindung bringt, durch die sie erst das ausmachen, was Erfahrung zu heißen verdient. Daher versteht sich von selbst, daß sie gültig sind in Bezug auf alle Gegenstände der Erfahrung, denn die Erfahrung ist nicht etwas schon vorher Fertiges, woraus wir nachher unsere Verstandesgrundsätze schöpfen können, sie entsteht vielmehr erst als Produkt der schon ausgeübten Verstandestätigkeit.

Dieser Gedanke erinnert an den früheren, daß die geometrischen Wahrheiten, die unsere Raumanschauung einschließt, von allen Gegenständen der Wahrnehmung gelten müssen, weil diese sonst gar nicht wahrgenommen werden könnten, wenn sie nicht bereits den Anforderungen der uns angeborenen Raumanschauung genügen. Aber es ist doch ein großer Unterschied. Nachdem Wahrnehmungen durch die Sinnlichkeit in Raum und Zeit gegeben sind, sind sie nun eben da und lassen sich nicht wieder wegleugnen; dagegen läßt sich gar nicht beweisen oder ist zumindest von KANT nicht bewiesen, daß sie selbst nicht einmal so anschaulich da sein könnten, ohne zugleich den inneren Zusammenhang zu haben, den unsere Verstandesgrundsätze ihnen zumuten.

Man kann daher nicht so schließen: Wenn Erfahrung in KANTs Sinne (als Vorstellung des Zusammenhangs aller Dinge nach allgemeinen Gesetzen) möglich sein soll, so ist sie bloß unter Voraussetzung der Gültigkeit der Verstandesgrundsätze in Bezugt auf ihren Inhalt möglich. Nun aber ist Erfahrung in diesem Sinne wirklich; folglich gelten die Verstandesgrundsätze. Dieser Untersatz ist ganz unzulässig. Ein Zusammenhang aller Dinge nach allgemeinen Gesetzen ist bloß eine Vermutung, die wir hegen und für gewiß halten; tatsächlich aber ist noch gar nicht bewiesen, daß sie überall zutrifft, vielmehr liegen noch sehr viele Gebiete der Welt dunkel vor uns und wir wissen empirisch weder, welche Ursachen z. B. oder ob überhaupt Ursachen in ihnen nach Gesetzen wirksam sind.

Es ist folglich unmöglich, auf diesem künstlichen Weg zu beweisen, daß das, was wir für Wahrheit halten um seiner Denknotwendigkeit willen genötigt sind, auch wirklich in Bezug auf das Wirkliche gültig ist. Es bleibt nichts übrig, als ohne alle diese Umschweife das Denknotwendige auch für wahr zu halten und zwar so weit, als es sich durch seinen Inhalt selbst die Grenzen seiner Kompetenz bestimmt.

§ 24. Diese Kompetenz bestimmt nun KANT so, daß unsere Verstandesgrundsätze, wie sie einesteils in Bezug auf alle Gegenstände der Erfahrung gültig sind, andererseits auch nur in Bezug auf diese anwendbar sind und eine Erkenntnis zulassen. Er bestreitet nicht, daß sie unserem Geist mit dem Anspruch auf unbeschränkte Geltung angeboren sind. Allein wir würden beispielsweise, wenn wir das Kausalgesetz auf eine Welt des Übersinnlichen anwenden wollten, die uns nicht in Form von Raum und Zeit gegeben wäre, gar kein Kennzeichen besitzen, nach welchem wir dem einen von zwei aufeinander bezogenen Gliedern a die Stelle der Ursache, dem andern b die der Wirkung und nicht umgekehrt anweisen müssen. In Bezug auf Verhältnisse also, welche sich nicht durch Zeitanschauungen schematisiert darstellen, würden unsere Verstandesgrundsätze vollkommen unfruchtbar sein. Daher beschränkt sich unsere ganze Erkenntnis darauf, mit ihrer Hilfe den Zusammenhang der Tatsachen zu ermitteln, welche in unsere sinnliche Erfahrung fallen. Über dieses Gebiet hinaus, also in Bezug auf die "Welt der Dinge ansich", welche die gemeine Meinung der Sinnenwelt entgegenstellt oder überordnet, gibt es keine Erkenntnis.

§ 25. Dieser ganze Gegensatz der beiden Welten ist vollkommen verständlich so, wie die gemeine Meinung ihn faßt: außer uns gibt es eine Vielheit von Dingen, die nicht bloß untereinander, sondern auch auf uns wirken und durch ihre Einwirkung in uns Vorstellungen hervorrufen, die allerdings keine ähnlichen Bilder der Außenwelt selbst sind, die aber doch durch ihre Beziehungen untereinander und durch ihre Veränderungen auf entsprechende Beziehungen und Veränderungen zurückdeuten, die in der Welt der Dinge stattgefunden haben.

Hier ist also klar, warum man unsere Vorstellungswelt nicht bloß Schein, sondern Erscheinung eines Wirklichen, aber auch bloß Erscheinung desselben nennt. Dieser Klarheit des Gegensatzes entspricht keine ähnliche bei KANT. Er gibt zwar zu, daß der Begriff der Erscheinung (wofür er unsere Wahrnehmung erklärt) die Vorstellung von Etwas einschließt, welches erscheint. Allein, da er uns durchaus verbietet, auf das Verhältnis zwischen diesem Etwas und uns die Verstandesbegriffe anzuwenden, also dieses Etwas als Ursache unserer Vorstellung zu betrachten, so hätte er eigentlich wohl richtiger den Namen der Erscheinung vermieden, der die Vorstellung eines entgegengesetzten Gliedes einschließt.

Der spätere Idealismus war darin konsequent, daß er vollkommen den Gedanken an eine Welt von Dingen aufgegeben hat, die als transzendentaler Gegenstand unserer Erkenntnisse dienen soll. Solange man aber mit KANT den Sinnendingen oder Phänomenen Dinge-ansich oder Noumena (und zwar in diesem Plural, der selbst schon eine ganz unberechtigte Hypothese einer solchen Vielheit transzendentaler Gegenstände enthält) entgegensetzt, so muß man von den Noumenen wenigstens so viel behaupten, als nötig ist, damit sie das sein können, was erscheint; d. h. man kommt nicht drum herum, diese Dinge-ansich als wirkende Ursachen aufzufassen, die in uns Wahrnehmungen bewirken, und man muß von ihnen allerdings dann die Vielheit und die mannigfaltigen Beziehungen zwischen dem Vielen behaupten, durch welche allein die Verschiedenheit, Mannigfaltigkeit und Reihenfolge unserer Wahrnehmungen begründet werden kann.

Dagegen ist die Ansicht ganz undurchführbar, für welche man in der populären Philosophie der kantischen Schule zu schwärmen pflegt, nämlich: daß wir bloß Erscheinungen wahrnehmen, daß aber das, was diesen Erscheinungen entspricht, nicht die allermindeste Analogie mit den Verhältnissen hat, die zwischen den einzelnen Teilen dieser Erscheinungen vorkommen.

§ 26. In der transzendentalen Dialektik sucht nun KANT zu erörtern, wie das höchste Erkenntnisvermögen, die Vernunft im engeren Sinn (die er mit der logischen Form des Schlußes in eine nicht sehr richtige Verbindung bringt) immer in Irrtum gerät, wenn sie ihren Wunsch, nach allen Richtungen hin die Welt als Ganzes zu fassen, erfüllen zu können glaubt und in den Ideen, durch welche sie das ausdrückt, was sie sucht, das Gesuchte auch zu besitzen denkt.

Zuerst verfällt sie auf lauter Paralogismen oder Fehlschlüsse, wenn sie zur Mannigfaltigkeit unserer inneren Zustände das letzte Subjekt, die Seele, hinzusucht und von ihr eine Geistigkeit, absolute Einheit und Unveränderlichkeit und Unsterblichkeit behaupten zu können glaubt. Als bloß denkendes Wesen, als Einheit mit sich identisch im Wechsel ihrer Zustände erscheint freilich sich selber die Seele; daß sie aber ansich so ist, folgt daraus nicht. - Hiergegen bleibt einzuwenden, daß es undenkbar ist, wie sie sich selber irgendwie erscheinen könnte, wenn sie nicht, solange sie ist, allerdings die mit sich identische Einheit wäre, als welche sie sich wirklich erscheint. Was aber den Schluß auf Unsterblichkeit betrifft, so ist er allerdings falsch, aber nicht deswegen, weil die Vernunft ihre Kompetenz überschreiten würde, sofern sie überhaupt über etwas urteilt, was nicht Gegenstand der Erfahrung werden kann, sondern deswegen, weil ihr hier die speziellen Data fehlen, welche ihr diesen bestimmten Schluß ermöglichen könnten. Denn daraus, daß die Seele jetzt ist und jetzt Einheit ist, kann in keiner richtigen Philosophie folgen, daß sie immer sein und immer Einheit sein muß.

Etwas Ähnliches gilt in Bezug auf die dritte Unternehmung der Vernunft, nämlich die, das Dasein eines Gottes zu erweisen. Die verschiedenen üblichen Beweise hat KANT mit berühmt gewordenem Scharfsinn widerlegt. Allein eigentlich in keinem Fall ist die Widerlegung darauf gegründet, daß die Vernunft, ihre Grenzen überschreitend, notwendig irren muß, sondern auch wieder darauf, daß es ihrem richtigen Gebrauch an den hinlänglichen Datis fehlt, um das Dasein desjenigen Gottes, den sie erreichen will, wirklich als notwendige Ergänzung der Erfahrung nachzuweisen.

§ 27. Es verhält sich anders mit dem mittleren Bestandteil dieser Gruppe von Vernunftaussprüchen, nämlich mit den kosmologischen Ideen, welche eine Vorstellung des Weltganzen zu gewinnen suchen, welches, als Ganzes, nicht Gegenstand unserer Erfahrung ist. Hier verwickelt sich die Vernunft in Antinomien, d. h. entgegengesetzte Behauptungen, deren keine die andere wirklich widerlegt, während jede für sich zu Widersinn führt. Ob die Welt im Raum und in der Zeit Anfang und Ende hat oder nicht, ob die Materie unendlich teilbar ist oder aus unteilbaren Bestandteilen besteht, ob die Reihe der Ereignisse endlos dem Kausalgesetz unterliegt, oder ob es auch Anfänge des Geschehens durch Freiheit gibt - alle diese Fragen führen zu solchen Widersprüchen, wie wenigstens KANT, nicht in Bezug auf alle gleich überzeugend, behauptet. Nur ein Mittel soll es geben, aus dieser Verlegenheit zu entkommen: die Welt als Ganzes, und insofern nicht Gegenstand der Erfahrung, müsse dem ganzen Gebiet dieser Gegensätze entzogen gedacht werden. Ist sie überhaupt nicht räumlich und zeitlich, so hat sie auch in Raum und Zeit weder einen Anfang, noch ist sie in beiden unbegrenzt. Und geteilt kann dann bloß die räumliche Erscheinung des Realen aber nicht das Reale selbst werden, welches dann weder teilbar ins Unendliche ist, noch aus Atomen besteht usw.

Allein diese Auskunft wird ernsthaft nicht befriedigen. Man darf sich nicht hinter unsere Unfähigkeit verschanzen, das Ganze der Sinnenwelt in unserer Beobachtung zu umfassen. Gegeben bleibt uns diese Sinnenwelt doch; und wenn wir uns vorstellen, daß wir nach Raum und Zeit in ihr fortschreiten, so muß doch eins von beiden stattfinden: das Reale im Raum und die Ereignisse in der Zeit müssen entweder einmal aufhören oder nicht aufhören. Keineswegs aber können wir bloß deswegen, weil wir an den Punkt dieser Entscheidung niemals kommen werden, behaupten, daß ansich diese gegebene Sinnenwelt weder das eine noch das andere dieser kontradiktorisch entgegengesetzten Prädikate besitzt. Dann aber muß auch ferner die Welt der Dinge-ansich, die dieser Sinnenwelt entspricht, notwendig endlich sein, wenn diese letztere endlich erscheint, und unendlich im anderen Fall.

Durch die Lehre KANTs von der bloß subjektiven Geltung unserer Anschauungen und Kategorien, sowie durch seinen Gegensatz von Phänomenen und der Welt der Dinge-ansich sind daher diese Fragen nach der Endlichkeit oder Unendlichkeit der Welt nicht lösbar und daher später zum Objekt neuer Untersuchungen geworden.

§ 28. Nach der Kritik der reinen Vernunft, einem Werk, das mit unvergleichlichem Tiefsinn einen neuen Anfangspunkt der theoretischen Philosophie begründete, hat KANT in dem zweiten Hauptwerk, der "Kritik der praktischen Vernunft", ebenso segensreich die Achtung vor einer unbedingten sittlichen Pflicht im Gegensatz zu der laxen Moral hervorgehoben, die das Handeln von den Umständen und allerhand Nützlichkeitsrücksichten abhängig macht.

Die theoretische Begründng dieser höchst folgenreichen Darstellung ist nicht ebenso glücklich. Nach Analogie der Untersuchungen über die Erkenntnis sucht KANT auch hier zu zeigen, daß die höchste Norm unseres sittlichen Handelns unserer Vernunft mit dem Gefühl ihrer unbedingt verpflichtenden Kraft a priori eigen ist und nicht aus Erfahrung gelernt. Eben deshalb glaubte er sie auch nur in einem kategorischen Imperativ, d. h. in einem unbedingten Gebot des Gewissens zu finden, welches uns unabhängig von allen Gegenständen und Zwecken des Handelns nur eine stets innezuhaltende allgemeine Form des Handelns vorschreibt.

So kommt KANT zu dem höchsten Grundsatz: "Handle so, daß die Maxime deines Handelns sich zum allgemeinen Gesetz eignet." Allein jede Maxime, sowohl die, jedem das Seine zu lassen, als auch die andere, jedem das Seine zu nehmen, würde sich zum allgemeinen Gesetz eignen, solange es gleichgültig wäre, was dabei herauskommt. Damit kann es also KANT nicht Ernst sein, daß wirklich unser Handeln von jeder Rücksicht auf den Erfolg unabhängig sein soll; vielmehr nur den egoistischen Eudämonismus, der den eigenen Vorteil sucht, befiehlt er der Pflicht zu unterwerfen, die auf das allgemeine Gute der Menschheit gerichtet ist. Aber das versteht sich ja eigentlich von selbst. Denn die Innehaltung einer bloßen "Form des Handelns", welche niemandem wohl oder weh tut, kann unmöglich heiliger sein, als die Innehaltung einer beliebigen anderen, die auch Niemandem wohl oder weh tut.

Was nun im einzelnen Fall der positive Inhalt der Pflicht ist, die uns durch dieses allgemeine Sittengesetz auferlegt würde, mußte dann auch für KANT aus einer Überlegung der Umstände und des mutmaßlichen Erfolgs hervorgehen, den eine hypothetisch angenommene Handlungsweise in Bezug auf das allgemeine Wohl haben würde; - im Grunde nicht anders als es auch dem Empirismus obliegt, aus seinen Erfahrungen über das durchschnittliche Geschehen die zuträglichen Handlungsweisen abzuleiten.

§ 29. Wichtig ist die Kritik der praktischen Vernunft noch dadurch, daß sie das ergänzen zu können glaubt, was die der reinen Vernunft aus Mitteln der bloßen Erkenntnis nicht hatte beweisen können: die Freiheit des Willens, die Unsterblichkeit und das Dasein Gottes.

Gibt es in uns ein sittliches Gebot, das uns durchaus unbedingt zum Gehorsam verpflichtet, so muß der Satz "Was du sollst, mußt du können" notwendig gelten, sobald die ganze Welt überhaupt noch Sinn haben soll. Darum ist an die Freiheit des Willens zu glauben, der sich völlig unabhängig von allen Bedingungen entscheidet. - Leider sucht KANT diesen Glauben mit der theoretischen Gewißheit des Kausalzusammenhangs dadurch zu verbinden, daß er jene Freiheit nur dem Geist ansich (gleichsam vor seine Eintritt in das zeitliche Dasein) zuschreibt, während der empirische, d. h. zeitlich lebendige Geist ganz dem Kausalgesetzt unterworfen ist und nun bloß noch konsequent den Charakter darstellt, den er sich durch jene Urtat gegeben hat. Auf diese Weise ist die Frage ganz verschoben. Eine Freiheit, die nicht in jedem Augenblick dieses Lebens sich geltend machen könnte, hat gar kein Interesse für uns.

Ferner, wenn unser Gewissen Recht hat, so ist der Geist zur Vollkommenheit bestimmt; diese aber läßt sich bloß in einem unendlichen Fortschritt erreichen; und deswegen muß die Seele unsterblich sein, umd diese Annäherung zu vollziehen. - Hieraus würde freilich folgen, daß der Grund ihrer ferneren Fortdauer wegfällt, wenn sie unglücklicherweise doch die Vollkommenheit erreicht. Denn daß dies bloß in unendlicher Annäherung geschehen könnte, ist weder bewiesen noch beweisbar.

Endlich, wenn die Welt vollkommen sein soll, so gehört dazu die Proportionalität zwischen Verdienst und Glückseligkeit. Diese finden wir weder in diesem Leben, noch könnte sie durch eine bloße Naturordnung in einem anderen Leben sichergestellt werden. Unvermeidlich ist daher der Glaube an einen allmächtigen und allgütigen Geist, der sie hervorbringt.

§ 30. Die Art KANTs, Lücken der theoretischen Philosophie durch Postulate der praktischen auszufüllen, ist ohne Grund getadelt worden.

Man kann ansich schon dem beistimmen, daß KANT der letzteren den Primat vor der ersteren zuerkennt. Er drückt dadurch bloß einen Gedanken aus, der unter anderen Formen sehr häufig vorkommt, nämlich daß das ganze Zutrauen zu der Wahrheit dessen, was uns denknotwendig ist, auf der Überzeugung beruth: die Welt habe Sinn und Vernunft und sei wesentlich zur Erreichung eines höchsten sittlichen Gutes bestimmt.

Im Übrigen scheidet KANT nicht theoretische und praktische Vernunft als zwei zusammenhanglose Vermögen, hält sie vielmehr samt der Sinnlichkeit nur für verschiedene Äußerungsweisen einer einheitlichen Natur des Geistes, die er allerdings nur in der Ferne andeutet. Umsoweniger kann es auffallen, daß dasjenige, was die eine dieser Tätigkeiten ihrer Natur nach nicht leisten kann, von der anderen geleistet wird. Die Bestimmung zum sittlichen Handeln hält aber KANT so sehr für das Wesentlichste des Geistes, daß ihm alles Erkenntnisvermögen nur als das uns verliehene Mittel erscheint, das Handeln möglich zu machen, ein Gedanke, dem wir bei FICHTE weiter begegnen werden.

Bei KANT selbst geht aus dieser Überzeugung von der Einheit des Geistes noch eine dritte Untersuchung aus, die in der Kritik der Urteilskraft enthalten ist. Die Art, wie sie systematisch an die vorigen Hauptwerke anknüpft, ist umständlich zu entwickeln und eigentlich nutzlos. Für den ersten Teil derselben kann man sich darauf berufen, daß nicht bloß KANT nach dem Vorgang von TETENS (1736 - 1805, Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwicklung, 2 Bde., Leipzig 1776/77) Erkenntnis, Willen und Gefühl als die drei Hauptvermögen unterschieden hat, sondern daß ganz unabhängig von allen Systemen dieser große Bestandteil unseres geistigen Lebens, die Welt der Gefühle, eine philosophische Behandlung verlangte.

§ 31. Die Kritik der reinen Vernunft hatte nur allgemeine Gesetze aufgestellt, denen jede Natur gehorchen muß, wenn sie überhaupt Gegenstand unserer Erfahrung sein soll. Insofern nun die Dinge bloß diesen Gesetzen gehorchen, taten sie gar nichts Übriges. Sie konnten ihnen aber in sehr verschiedener Weise genugtun, teils so, daß es auch unserer Auffassung leicht war, ihren Gehorsam einzusehen und die Zusammengehörigkeit des Mannigfaltigen zu begreifen, teils aber so, daß unseren Erkenntnistätigkeiten diese Auffassung schwer oder unmöglich wurde. Tun sie es nun in der ersten Weise, so tun sie etwas Übriges, was man nicht von ihnen metaphysisch verlangen kann, und dann begleitet ihren Eindruck auf uns das Gefühl der Lust.

Angenehm nennen wir die Eindrücke dann, wenn wir uns bewußt sind, nur eine Förderung unseres individuellen Wohlseins, gemäß unserer augenblicklichen Situation, durch sie zu erleiden. Wir verlangen dann nicht, daß sie Anderen in anderen Lagen ebenso erscheinen sollen. Schön dagegen soll der Gegenstand nach KANT dann heißen, wenn sein Eindruck, ohne solches persönliches Interesse, in ruhiger Kontemplation ein Gefühl der Lust erweckt, welches darauf beruhen soll, daß die Anforderungen, welche er an unsere geistigen Tätigkeiten stellt, um als ein vereinigtes Ganzes vorgestellt zu werden, mit dem natürlichen Spiel oder den Gewohnheiten dieser Tätigkeiten übereinstimmt und sie in lebhafte Äußerung versetzt. Weil wir uns nun bewußt zu sein glauben, daß der Maßstab, an dem wir diesen Eindruck messen, nicht eine Besonderheit unserer Individualität, sondern der auch in uns lebende allgemeine Geist oder der Gemeinsinn ist, den wir auch in jedem anderen Menschen mit Recht voraussetzen, so schreiben wir dem Urteil, etwas sei schön, allgemeine Geltung zu, d. h. wir sinnen jedem Anderen an, es zu billigen, obgleich wir nicht imstande sind, es durch Begriffe oder Gründe zu rechtfertigen, vielmehr es nur auf unser Gefühl gründen können. -

Eine andere scharfsinnige Abhandlung führt die Natur des Erhabenen darauf zurück, daß eine Wahrnehmung entweder durch ihre mathematische Größe oder durch ihre dynamische Macht ein gemischtes Gefühl, der Unlust über die Unfähigkeit unserer Einbildungskraft, dieses Große auszumessen, oder über unsere Schwäche gegen diese Macht, zugleich aber der List erweckt über die Gewißheit durch unsere Vernunft ein Unendliches denken zu können, wogegen wieder jene Eindrücke als geringe verschwinden.

Von allen diesen ästhetischen oder Geschmacksurteilen behauptet nun KANT, daß sie gar nichts über die Dinge selber, sondern bloß über deren Verhältnis zu unserer Auffassung etwas auszusagen; nämlich: daß die schönen Dinge in Bezug auf diese zweckmäßig sind.

§ 32. Diese ästhetische Auffassung unterscheidet noch einzelne schöne und andere häßliche Gegenstände, obgleich von den letzteren KANT wenig spricht. Da nun doch die schönen tatsächlich so sind, wie sie nicht zu sein bräuchten, nämlich zweckmäßig gebildet für eine erkennende Auffassung, so liegt der Gedanke nahe, daß es wohl der allgemeine Charakter alles Wirklichen (im Gegensatz zum Möglichen, das sein könnte aber nicht ist) sein möchte, gerade so gebildet zu sein und zusammenzuhängen, wie es einer vollkommenen Erkenntnis, wenn eine solche vorhanden wäre, angemessen sein würde. Diese Vorstellung einer objektiven Zweckmäßigkeit legen uns besonders die organischen Gebilde nahe, in denen weit mehr geleistet wird, als die bloßen Prinzipien des Mechanismus verlangen. Denn in ihnen ist nicht das Ganze bloß das Endprodukt der Teile, sondern auch die Teile sind durch das Ganze bedingt und jeder einzelne ist für den andern zugleich Mittel und Zweck.

Schon in der Ästhetik hatte KANT die Wirksamkeit des Genies, welches ohne Absicht Exemplarisches hervorbringt, das dem Nachahmer zur Regel dienen kann, als eine ihrer Zwecke unbewußte, zweckmäßig wirkende Naturgabe des Geistes auffassen müssen. Jetzt streift er an den weiteren Gedanken, ob nicht auch die Natur als Ganzes ein Produkt einer solchen unbewußten Zwecktätigkeit sein könnte. Allein obgleich er sich in gewagte Vorstellungen über einen dem unsrigen ganz unähnlichen höheren Geist einläßt, wagt er doch andererseits keine dogmatische Behauptung: Man dürfe weder sagen, daß die Welt von einer zwecksetzenden Absicht durchdrungen, noch daß sie aus einem bloßen Mechanismus entstanden ist. Nur ein regulatives Prinzip bleibt eine solche teleologische Voraussetzung für unsere Naturauffassung. - Dabei ist zu erinnern, daß doch kein regulatives Prinzip etwas nutzen kann, wenn der Gegenstand nicht selber den Gesichtspunkten entspricht, nach denen es denselben zu betrachten befiehlt.

Ein Irrtum ist es endlich, wenn KANT eine Antinomie darin sieht, daß wir gleichzeitig aufgefordert sind, alle Naturerzeugnisse nach mechanischen Prinzipien zu erklären, und es doch unmöglich finden, einige von ihnen aus bloß mechanischen Prinzipien und ohne Hinzuziehung von Zweckbegriffen zu verstehen. Gar kein Naturerzeugnis wird durch bloße Gesetze verwirklicht, sondern immer nur dadurch, daß es bestimmt kombinierte Anwendungspunkte für diese Gesetze im Lauf der Dinge gibt. Auch jedes Produkt einer zweckmäßigen Tätigkeit wird nur nach mechanischen Prinzipien verwirklicht, sobald die ihm entsprechende Kombination jener Anwendungspunkte gegeben ist.

Nichts hindert daher die Annahme, daß im Ganzen des Naturlaufs eben diese Data, auf welche die Gesetze angewandt sein wollen, durchgängig nach Zweckrücksichten kombiniert sind. Eine Schwierigkeit würde nur entstehen, wenn verlangt würde, daß in den einzelnen Fällen eine zweckmäßige Bildungstätigkeit von Neuem beginnt, ohne in dem vorangegangenen Naturlauf die zu ihrer mechanischen Verwirklichung nötigen Kombinationen realer Elemente bereits geleistet vorzufinden.

LITERATUR - Hermann Lotze, Immanuel Kant, Geschichte der deutschen Philosophie seit Kant [Diktate aus den Vorlesungen], Leipzig 1882
    Anmerkungen
    1) Kritik der reinen Vernunft, Riga 1781; Kritik der praktischen Vernunft, Riga 1788; Kritik der Urteilskraft, Berlin und Libau 1790 usw.