ERNST ROBERT CURTIUS Das Schematismuskapitel in der Kritik der reinen Vernunft [Philologische Untersuchung] [1/2]
"Die 12 Kategorien sind nur Modifikationen einer Verstandeshandlung: der Bearbeitung des Chaos der sinnlichen Eindrücke durch den Verstand (Synthesis des Mannigfaltigen der Anschauung). Ermöglicht wird diese Synthesis durch die Einheit des Bewußtseins im Denken, d. h. durch die transzendentale (oder: synthetische) Einheit der Apperzeption. Erst diese macht aus dem Chaos von Empfindungen (Sinneseindrücken) eine Welt von Dingen. Anders ausgedrückt: erst durch die Anwendung der Kategorien auf die sinnliche Anschauung werden Gegenstände erzeugt und wird Erkenntnis ermöglicht. Aber die Kategorien sind rein intellektuell, die Anschauungen sind rein sinnlich. Wie ist da die Anwendung der Kategorien auf die Anschauungen möglich? Die Lösung dieses Problems bietet das Kapitel »Vom Schematismus der reinen Verstandesbegriffe«".
Zu den verrufensten Parteien in der "Kritik der reinen Vernunft" gehört das Kapitel "Von dem Schematismus der reinen Verstandesbegriffe", "welches", nach SCHOPENHAUER, "als höchst dunkel berühmt ist, weil kein Mensch je hat daraus klug werden können." (1)
"Seine Stellung", sagt Heinrich Levy(2), der Verfasser der letzten Arbeit über den Gegenstand, "ist nicht ohne weiteres erkennbar, seine Darstellung unleugbar schwierig, bisweilen dunkel, die ersten Eindrücke, die man von seinem Sinn empfängt, so befremdend, daß es jederzeit Verwunderung erregte und einem zeitgenössischen Gegner Kants wie ein »metaphysischer Roman vorkam«" (3)
Der englische Kantforscher GREEN erklärt den Schematismus für eine überflüssige Distinktion ("a surplus of distinction"). Auch CAIRD erklärt den Schematismus für überflüssig, und ADICKES(4) bemerkt in seiner Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft:
"Das dunkelste Stück der Kritik haben wir hier vor uns, von manchen deshalb für das tiefsinnigste gehalten. Verschiedenartige Lösungen des Rätsels sind versucht, oft äußerst verwickelte. Ich biete eine neue, sehr einfache, die freilich den Kantgläubigen sehr gewagt, wenn nicht sogar gottlos oder frivol dünken wird. Nach meiner Ansicht ist dem Abschnitt über den Schematismus gar kein wissenschaftlicher Wert beizumessen, da er nur aus systematischen Gründen später in den kurzen Abriß eingefügt ist." (Die Äußerungen von Green, Caird und Adickes zitiert Henry Horace Williams in "The Monist", Vol. 4, Seite 375f)
Alle diese Schwierigkeiten sollen gelöst werden durch den zweiten Teil der obengenannten Untersuchung von LEVY. Diese
"soll zeigen, daß jedenfalls eine Auffassung möglich ist, die im kritischen Gebäude Kants dem Schematismus nicht die Rolle eines besonderen Ornaments nach Christian Wolffs Geschmack, sondern die Bedeutung eines sehr interessanten tragkräftigen architektonischen Gliedes zuweist, welches seine Wirkungen nach allen Richtungen erstreckt."
Leider enthält der bisher erschienene erste Teil der Arbeit LEVYs diese Aufklärungen noch nicht, sondern sie stehen erst im zweiten Teil zu erwarten.
Die Frage nach der systematischen Bedeutung des Schematismus soll in der folgenden Untersuchung nicht gestellt, eine Entscheidung über Wert und Unwert des Schemabegriffs nicht herbeigeführt werden. Es soll nur - durch philologische Analyse des Schematismuskapitels - der historische Tatbestand ermittelt werden: was hat KANT unter Schema und Schematismus verstanden wissen wollen?
Der Dunkelheit des Gegenstandes ist es wohl zuzuschreiben, daß die Spezialliteratur über das Schematismuskapitel sehr wenig umfangreich ist. Es gibt eine Dissertation über "Die Kant'sche Lehre vom Schematismus der reinen Verstandesbegriffe", von SIEGFRIED NEIDE, Halle a. d. Saale, 1878. Aber man ist nach ihrer Lektüre genauso klug wie zuvor, da sie im Wesentlichen nur eine Paraphrase [Umschreibung mit anderen Worten - wp] zum kantischen Text ist. Aus dem Jahre 1894 stammt ein Aufsatz von HENRY HORACE WILLIAMS"Kant's doctrine of the schemata" in der amerikanischen Zeitschrift "The Monist", Vol. 4, Seite 375. Auch von diesem Aufsatz kann nicht gesagt werden, daß er das Verständnis des Schematismuskapitels erleichtert. Die Erklärung des Schemas als "type of experience" ist originell, aber gewiß nicht kantisch. Unvergleichlich wertvoller ist die Arbeit von WALTER ZSCHOKKE in Bd. 12 der Kant-Studien, 1907. Ich habe an einer Stelle meiner Untersuchung ein wichtiges Resultat von ZSCHOKKE übernommen (siehe weiter unten). Aber im Ganzen ist ZSCHOKKEs Absicht weniger auf eine Kantinterpration als auf die systematische Förderung des Problems gerichtet. Endlich besitzen wir in der oben erwähnten Schrift von LEVY die letzte Behandlung des Themas. Von dieser Schrift ist aber, wie gesagt, bisher nur der erste Teil erschienen, und in dem ist vom Schematismus noch gar nicht die Rede, sondern nur von den ihm vorangehenden Teilen der Kritik der reinen Vernunft. Daher kann ich LEVYs Buch für meine Zwecke nicht benutzen. Soviel als Vorbemerkung (5).
Welches sind die Gedankenreihen in der Kritik der reinen Vernunft, die zur Aufstellung der Lehre vom Schematismus führen? Fassen wir die in der Einleitung, der Ästhetik und der Analytik der Begriffe vorgetragenen Gedanken, soweit sie den Schematismus vorbereiten, kurz zusammen!
Alle menschliche Erkenntnis besteht aus Urteilen. Alle Urteile aber sind entweder analytisch oder synthetisch. Analytisch heißen Urteile, deren Prädikat bloß ein Merkmal des Subjektbegriffs ist, welches in diesem Subjektbegriff schon mitgedacht wird. Synthetische Urteile aber sind solche, deren Prädikat zum Subjektbegriff etwas Neues hinzufügt. Es erhellt sich, daß für den Zuwachs der Erkenntnis nur die synthetischen Urteile Bedeutung haben. Nun ist alle Erkenntnis entweder empirische, d. h. erzeugt durch die Aktion des Erkenntnisvermögens auf sinnliche Eindrücke, oder apriorisch, d. h. unabhängig von allen sinnlichen Eindrücken "entsprungen". Halten wir diese Bestimmungen mit der Definition der synthetischen Urteile zusammen, so ergibt sich Folgendes: diejenigen synthetischen Urteile, welche empirische Erkenntnis konstituieren ("synthetische Urteile a posteriori"), entnehmen die neuen Merkmale, die sie zum Subjektbegriff hinzufügen, dem unermeßlichen Gebiet der sinnlichen Eindrücke. Woher stammen aber die Prädikate in synthetischen Urteilen a priori? Wie sind synthetische Urteile a priori möglich? Daß sie möglich sind, kann nicht in Frage gestellt werden. Denn in der Mathematik, der reinen Naturwissenschaft, und, zumindest angeblich und dem Zweck nach, in der Metaphysik liegen solche Urteile vor. Die Frage: wie sind synthetische Urteile a priori möglich? Wie ist Metaphysik möglich? Die Beantwortung dieser Fragen fällt einer besonderen Wissenschaft zu, der Kritik des apriorischen Erkenntnisvermögens, oder Kritik der reinen Vernunft. Sie heißt auch transzendentale Kritik, wobei transzendental = die Möglichkeit apriorischer Erkenntnis betreffend ist. Die transzendentale Kritik sucht nun die Frage nach der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori auf die Weise zu lösen, daß sie unsere Erkenntnisvermögen einzeln auf apriorische Elemente hin untersucht. Sie zerfällt demnach - entsprechend den beiden Faktoren oder "Stämmen" der Erkenntnis (Sinnlichkeit und Verstand) in eine transzendentale Sinneslehre oder Ästhetik und eine transzendentale Verstandeslehre oder Logik. Die transzendentale Logik zerfällt ihrerseits in drei Teile, entsprechend den "drei oberen Erkenntnisvermögen": Verstand (im engeren Sinn), Urteilskraft und Vernunft. (B 169) Dem Verstand und der Urteilskraft entsprechen die beiden Bücher der transzendentalen Analytik, der Vernunft entspricht die transzendentale Dialektik. Das ist der architektonische Grundriß der Kritik der reinen Vernunft. Was ist ihr Inhalt?
Die transzendentale Ästhetik kommt zu dem Ergebnis: alles was uns unmittelbar durch die Sinne ("anschaulich") gegeben ist, erleben wir in zwei apriorischen Anschauungsformen, nämlich in Raum und Zeit. Auch der transzendentalen Logik gelingt es apriorische Formen aufzufinden. Es sind die 12 reinen Verstandesbegriffe oder Kategorien. Diese 12 Kategorien sind nur Modifikationen einer Verstandeshandlung: der Bearbeitung des Chaos der sinnlichen Eindrücke durch den Verstand ("Synthesis des Mannigfaltigen der Anschauung"). Ermöglicht wird diese Synthesis durch die Einheit des Bewußtseins im Denken, d. h. durch die transzendentale (oder: synthetische) Einheit der Apperzeption. Erst diese macht aus dem Chaos von Empfindungen (Sinneseindrücken) eine Welt von Dingen. Anders ausgedrückt: erst durch die Anwendung der Kategorien auf die sinnliche Anschauung werden Gegenstände erzeugt und wird Erkenntnis ermöglicht. Aber die Kategorien sind rein intellektuell, die Anschauungen sind rein sinnlich. Wie ist da die Anwendung der Kategorien auf die Anschauungen möglich?
Die Lösung dieses Problems bietet das Kapitel "Vom Schematismus der reinen Verstandesbegriffe". Dort heißt es:
"In allen Subsumtionen eines Gegenstandes unter einen Begriff muß die Vorstellung des ersteren mit dem letzeren gleichartig sein ... Nun sind aber reine Verstandesbegriffe in Vergleichung mit empirischen (ja überhaupt sinnlichen) Anschauungen ganz ungleichartig und können niemals in irgendeiner Anschauung angetroffen werden. Wie ist nun die Subsumtion der letzteren unter die ersten, folglich die Anwendung der Kategorie auf Erscheinungen möglich?" (B 176)
"Nun ist klar, daß es ein Drittes geben muß, was einerseits mit den Kategorien, andererseits mit der Erscheinung in Gleichartigkeit stehen muß, und die Anwendung der ersteren auf die letzte möglich macht. Diese vermittelnde Vorstellung muß rein (ohne alles empirische) und doch einerseits intellektuell, andererseits sinnlich sein. Eine solche ist das transzendentale Schema." (B 177)
Was ist nun der kantische Schematismus? Es gibt nur eine Art, auf die wir diese Frage beantworten können: wir müssen KANTs Äußerungen über Schema und Schematismus der Reihe nach betrachten, d. h. wir müssen den Gedankengang des Schematismuskapitels wiedergeben und den Sinn der einzelnen Stellen interpretieren.
Ehe ich jedoch genauer auf die im Schematismuskapitel vorgetragene Lösung des Problems der Anwendung der Kategorien eingehe, werden wir gut tun, eine Lösung desselben Problems zu betrachten, die KANT an einer anderen Stelle gegeben hat. Denn es darf erwartet werden, daß auf die Schematismuslehre helleres Licht fällt, wenn man sie mit einer anderen Behandlung desselben Problems konfrontiert. Diese andere Behandlung findet man in der transzendentalen Deduktion der Kategorien. Dort figuriert nämlich ein § 24, der "von der Anwendung der Kategorien auf Gegenstände der Sinne überhaupt" handelt. Und diese Anwendung der Kategorien auf Gegenstände ist ja gerade das Problem, welches durch den Schematismus gelöst werden soll. Man kann Anstoß nehmen an dem Ausdruck "Gegenstände der Sinne", weil Gegenstände erst durch die Anwendung der Kategorien auf die Data der Sinnlichkeit erzeugt werden. Aber KANT meint hier mit Gegenständen der Sinne eben solche Data, er meint "das Mannigfaltige in einer sinnlichen Anschauung Gegebene" (B 143). In diesem § 24 heißt es nun:
"Die reinen Verstandesbegriffe beziehen sich durch den bloßen Verstand auf Gegenstände der Anschauung überhaupt, unbestimmt, ob sie die unsrige, oder irgendeine andere, doch sinnliche, sei, sind aber eben darum bloße Gedankenformen, wodurch noch kein bestimmter Gegenstand erkannt wird. Die Synthesis oder Verbindung des Mannigfaltigen in demselben bezog sich bloß auf die Einheit der Apperzeption und war dadurch der Grund der Möglichkeit der Erkenntnis a priori, sofern sie auf dem Verstand beruth, und folglich nicht allein transzendental, sondern auch rein intellektual. Weil in uns aber eine gewisse Form der sinnlichen Anschauung a priori zugrunde liegt, welche auf der Rezeptivität der Vorstellungsfähigkeit (Sinnlichkeit) beruth, so kann der Verstand als Spontaneität den inneren Sinn durch das Mannigfaltige gegebener Vorstellungen der synthetischen Einheit der Apperzeption gemäß bestimmen und so synthetische Einheit der Apperzeption des Mannigfaltigen der sinnlichen Anschauung a priori denken, als die Bedingung, unter welcher alle Gegenstände unserer (der menschlichen) Anschauung notwendigweise stehen müssen; dadurch denn die Kategorien als bloße Gedankenformen objektive Realität, d. h. Anwendung auf Gegenstände, die uns in der Anschauung gegeben werden können, aber nur als Erscheinungen, bekommen, denn nur von diesen sind wir der Anschauung apriori fähig. Diese Synthesis des Mannigfaltigen der sinnlichen Anschauung, die a priori möglich und notwendig ist, kann figürlich (snythesis speciosa) genannt werden." (B 150-151)
Die synthesis speciosa wird genauer bestimmt durch die Benennung "transzendentale Synthesis der Einbildungskraft".
"Einbildungskraft ist das Vermögen, einen Gegenstand auch ohne dessen Gegenwart in der Anschauung vorzustellen. Da nun alle unsere Anschauung sinnlich ist, so gehört die Einbildungskraft der subjektiven Bedingung wegen, unter der sie allein den Verstandesbegriffen eine korrespondierende Anschauung geben kann, zur Sinnlichkeit; sofern aber doch ihre Synthesis eine Ausübung der Spontaneität ist, welche bestimmend und nicht, wie der Sinn, bloß bestimmbar ist, folglich apriori den Sinn seiner Form nach der Einheit der Apperzeption gemäß bestimmen kann, so ist die Einbildungskraft sofern ein Vermögen, die Sinnlichkeit a priori zu bestimmen, und ihre Synthesis der Anschauungen, den Kategorien gemäß, muß die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft sein, welches eine Wirkung des Verstandes auf die Sinnlichkeit und die erste Anwendung desselben (zugleich der Grund aller übrigen) auf Gegenstände der uns möglichen Anschauung ist."(B 151-152)
Ich mußte KANTs eigene Worte anführen, um zu zeigen, daß es sich hier wirklich um dasselbe Problem handelt: um die Anwendung der Kategorien auf die Sinnesdata. Nach § 24 vollzieht sich diese Anwendung in Form einer Synthesis. Ausgeführt wird diese Synthesis von der Einbildungskraft, einem "Grundvermögen der menschlichen Seele", mittels dessen "beide äußerste Enden, nämlich Sinnlichkeit und Verstand" zusammenhängen. (A 124) Objekt der Synthesis sind aber nicht direkt die Sinnesdata, die empirischen Anschauungen, sondern "die Formen der sinnlichen Anschauung a priori", d. h. die reinen Anschauungsformen: Raum und Zeit. Vergleichen wir mit dieser Problemlösung die andere, im Schematismuskapitel dargebotene, so zeigt sich: im Schematismuskapitel wird die Anwendung der Kategorien auf die Sinnesdata als Subsumtion (nicht als Synthesis) gefaßt, und als Vermittler zwischen Sinnesdaten und Kategorien wird ein neuer Begriff, das transzendentale Schema, eingeführt.
Betrachten wir nun die Schematismuslehre mehr im Detail. Wie so oft bei KANT, so ist auch hier die Terminologie lax und inkonsequent, obwohl KANT weiß, daß philosophische Erkenntnis nicht anders als "nach den strengsten Regeln einer schulgerechten Pünktlichkeit ausgemacht werden kann." (Prolegomena, Reclam, Seite 36) Es besteht nämlich im Schematismuskapitel ein doppelter Sprachgebrauch in Bezug auf dasjenige, worauf die Kategorien anzuwenden sind. Es werden synonym gebraucht:
1. Subsumtion von "empirischen" (ja überhaupt sinnlichen) Anschauungen" unter Kategorien (B 176) und
2. Subsumtionen der Erscheinungen unter die Kategorien (B 178). "Erscheinungen" und "Anschauungen" sind also als gleichbedeutend gebraucht. Konsequent, exakt ist eigentlich nur die Entgegensetzung von Kategorien und Anschauungen, denn "Erscheinung" ist oft gleichbedeutend mit "Gegenstand" und dieser Ausdruck wäre hier falsch aus demselben Grund wie in § 24.
Immerhin ist dies von geringerer Bedeutung, dagegen ist es für das Verständnis des Schematismuskapitels von höchster Wichtigkeit, daß man sich über die Begriffe "Subsumtion" und "Schema" klar wird.
Das Schematismuskapitel beginnt mit einem Absatz über Subsumtion. Er lautet:
"In alle Subsumtionen eines Gegenstandes unter einen Begriff muß die Vorstellung des ersteren mit dem letzteren gleichartig sein, d. h. der Begriff muß dasjenige enthalten, was in dem darunter subsumierenden Gegenstand vorgestellt wird; denn das bedeutet eben der Ausdruck: ein Gegenstand sei unter einem Begriff enthalten. So hat der empirische Begriff eines Tellers mit dem reinen geometrischen eines Zirkels Gleichartigkeit, indem die Rundung, die im ersteren gedacht wird, sich im letzteren anschauen läßt." (B 176)
Was bedeutet hier Subsumtion?
In der traditionellen Logik tritt der Begriff Subsumtion in der Lehre vom Urteil auf. Der ältesten und noch gegenwärtig sehr verbreiteten, wenn auch wissenschaftlich längst überholten Auffassung vom Wesen des Urteils zufolge ist nämlich
"... das bejahende, elementare Urteil gültig, wenn das Subjekt Art zur Gattung des Prädikats, der Umfang des Subjekts, also unter den Umfang des Prädikats subsumierbar ist. Nach dieser Subsumtionstheorie ... ist das Subjekt eines jeden gültigen Urteils im scholastischen Ausdruck das contentum, das Prädikat das continens; der Sinn der Kopula: das Enthaltensein des Subjekts im Umfang, das Inbegriffen-, Eingeschlossen-, Subsumiertsein unter den Umfang des Prädikats. In etwas allgemeinerer Fassung hat Aristoteles diese Annahme als eine keines Beweises bedürftige Voraussetzung in seinen Äußerungen über den Syllogismus ausgesprochen. Für ihn verbietet sich die Einordnung unter die Beziehung von Art und Gattung infolge seiner engen Fassung dieser beiden Bestimmungen der Gegenstände ... Die gleiche Deutung beherrscht die Entwicklung der abendländischen Urteilsdeutung im Wesentlichen bis in unsere Zeit ... Auch Kant hält trotz mancher Ansätze zu anderer Auffassung an ihr fest."(Erdmann, Logische Elementarlehre, Seite 343/44)
Ich zitiere die KANT-Stelle, auf die ERDMANN sich bezieht:
"In jedem Urteil ist ein Begriff, der für viele gilt und unter diesem vielen auch eine gegebene Vorstellung begreift, welche letztere dann auf den Gegenstand unmittelbar bezogen wird. So bezieht sich z. B. in dem Urteil: alle Körper sind teilbar, der Begriff des Teilbaren auf verschiedene andere Begriffe; unter diesen aber wird er hier besonders auf den Begriff des Körpters bezogen ... Alle Urteile sind demnach Funktionen der Einheit unter unseren Vorstellungen, da nämlich st att einer unmittelbaren Vorstellung eine höhere, die diese und mehrere unter sich begreift, zur Erkenntnis des Gegenstandes gebraucht und viele ungleiche Erkenntnisse dadurch in eine zusammengezogen werden." (B 93, 94)
Wenn man diese Stelle mit den Bemerkungen über Subsumtion im Schematismuskapitel vergleicht, ergibt sich, daß an beiden Stellen dasselbe gemeint ist. Die Subsumtion eines Gegenstandes unter einen Begriff ist nichts weiter als die Unterordnung eines besonderen unter ein allgemeines im Urteil.
Nun ist die Urteilstheorie, welche alle Urteile als Subsumtionsakte deutet, völlig unhaltbar. Denn es
"bleibt der Subsumtionstheorie, soll sie konsequent sein, nur die Annahme übrig, daß die Beziehung des Teils zum Ganzen, des Engeren zum Weiteren, die sie behauptet, mit dem ... Verhältnis der Art zur Gattung zusammenfällt. Denn sie soll eine Beziehung des Umfangs sein. Eine Umfangsvergleichung zweier Gegenstände ist ... nur unter der Voraussetzung möglich, daß beide als Glieder derselben Ordnungsreihe in Anspruch genommen werden können, sich also wie Art und Gattung verhalten. Diese Konsequenz widerstreitet jedoch dem Urteilsbestand der unzählbaren Fälle, in denen die Gegenstände des Subjekts und des Prädikats verschiedenen Ordnungsreihen angehören." (Erdmann, a. a. O., Seite 346)
Das Urteil "Die Körper sind teilbar" kann nur dann als Subsumtion aufgefaßt werden, wenn man es umformt in: die Körper sind teilbare Dinge. Es ist nämlich möglich (wenn auch gekünstelt) eine Ordnungsreihe zu bilden, in der "Körper" und "teilbare Dinge" auf verschiedenen Stufen vorkommen. Diese Bestimmung nun, daß nur solche Gegenstände in einem Subsumtionsurteil verknüpft werden können, die derselben Ordnungsreihe angehören, kennt auch KANT. Er drückt sie in dem Satz aus:
"In allen Subsumtionen eines Gegenstandes unter einen Begriff muß die Vorstellung des ersteren mit dem letzteren gleichartig sein, d. h. der Begriff muß dasjenige enthalten, was in dem darunter zu subsumierenden Gegenstand vorgestelllt wird; denn das bedeutet eben der Ausdruck, ein Gegenstand sei unter einem Begriff enthalten."
In dieser etwas gewundenen Erklärung kommt aber die Bedingung jeder Subsumtion, nämlich die Zugehörigkeit zur gleichen Ordnungsreihe, nicht präzise zum Ausdruck, was sich dann auch rächt: Gleichartig können nämlich auch Begriffe sein, die nicht derselben Ordnungsreihe zugehören, aber ein Merkmal gemein haben. Diese Bedeutung von gleichartig stiehlt sich in den nächsten Satz ein.
"So hat der empirische Begriff eines Tellers mit dem reinen geometrischen eines Zirkels Gleichartigkeit, indem die Rundung, die im ersteren gedacht wird, sich im letzteren anschauen läßt."
Gleichartig sind diese Begriffe allerdings insofern sie das Merkmal der Rundung gemein haben, aber es ist schlechterdings unmöglich, sie in eine Ordnungsreihe zu bringen. Deshalb ist auch schlechterdings unmöglich, sie in einem Subsumtionsurteil zu verknüpfen. Ich kann nicht sagen "Der Teller ist ein Zirkel." Dann aber ist dieses Beispiel ein völliger Mißgriff. Denn es sollte doch das Subsumtionsverhältnis erläutern. Und gerade dazu taugt es nicht ... Wie konnte KANT ein solcher Mißgriff passieren? Er faßte die Bedingung aller Subsumtion nicht präzise genug, nannte sie mit laxer Formulierung "Gleichartigkeit", ohne zu bemerken, daß Gleichartigkeit eine viel weitere Bedeutung hat. Das Tellerbeispiel bereitet bei der ersten und zweiten Lektüre des Schematismuskapitels viel Kopfzerbrechen, weil man nicht einsieht, inwiefern es zur Jllustrierung des Subsumtionsverhältnisses geeignet ist. Man wird, glaube ich, das Beispiel seiner Autorität entkleiden und es einfach unberücksichtigt lassen dürfen. Will man dennoch daran festhalten und das Verhältnis von Kategorie und Schema als Abklatsch dessen zwischen Zirkel und Teller auffassen, so verrennt man sich in eine Sackgasse.
Wir wissen jetzt als, was KANT in unserem Kapitel unter Subsumtion versteht, und können zum nächsten Passus weitergehen, wo die Subsumtion auf einen konkreten Fall angewendet wird, nämlich auf das Verhältnis von Kategorien und Anschauungen oder Erscheinungen.
"Nun sind aber, heißt es da, reine Verstandesbegriffe in Vergleichung mit empirischen (ja überhaupt sinnlichen) Anschauungen ganz ungleichartig und können niemals in irgendeiner Anschauung angetroffen werden. Wie ist nun die Subsumtion der letzteren und die ersten, folglich die Anwendung der Kategorie auf Erscheinungen möglich?"
Man beachte den Übergang. Der Gedankengang ist der: Soeben habe ich die Bedingung festgestellt, unter der die Subsumtion eines Gegenstandes unter einen Begriff möglich ist. Nun wird mir zugemutet, die Subsumtion von Erscheinungen unter Kategorien zu vollziehen. Bei dieser mir zugemuteten Subsumtion fehlt aber jede Bedingung. Wie kann ich diese Subsumtion nun doch vollziehen? Die natürliche Antwort hierauf wäre: die Subsumtion ist eben nicht möglich! Wenn die Gleichartigkeit der Begriffe zur Subsumtion unerläßlich ist, und die Begriffe sind nicht gleichartig, dann muß man eben auf die Subsumtion verzichten. Hieraus würde nun weiter folgen, daß die Anwendung der Kategorien auf die Erscheinungen, wenn sie möglich sein soll, eine andere Form haben muß als die der Subsumtion. KANT zieht diesen Schluß nicht. Er hilft sich weiter auf eine etwas sophistische Art, und man muß ihm scharf auf die Finger sehen. Er sagt:
"Nun ist klar, daß es ein Drittes geben muß, was einerseits mit der Kategorie, andererseits mit der Erscheinung in Gleichartigkeit stehen muß und die Anwendung der ersteren auf die letztere möglich macht."
Diese Behauptung scheint dem Leser durchaus nicht so selbstverständlich, wie KANT sich schmeichelt. Aber dieses "nun ist klar" hat bei KANT dieselbe Bedeutung wie bei SPINOZA das "ut per se notum" [wie offensichtlich - wp]: beide werden zuweilen als Dekorationsstücke aufgeklebt, um einen Riß in der Mauer zu verdecken. Item [also - wp] hören wir weiter:
"Diese vermittelnde Vorstellung muß rein (ohne alles empirische) und doch einerseits intellektuell, andererseits sinnlich sein. Eine solche ist das transzendentale Schema." (B 177)
Als transzendentales Schema entpuppt sich die "transzendentale Zeitbestimmung".
"Daher wird eine Anwendung der Kategorien auf Erscheinungen möglich sein mittels der transzendentalen Zeitbestimmung, welche als das Schema der Verstandesbegriffe die Subsumtion der letzteren unter die erste vermittelt." (B 178)
Diese Auskunft ist wirklich überraschend! Vorhin hatten wir klipp und klar erkannt: eine Subsumtion der Erscheinungen unter die Kategorien ist ausgeschlossen - und jetzt wird uns eben diese Subsumtion wieder als vollziehbar und vollzogen angepriesen. Man steht scheinbar vor einem völligen Widersinn. Scheinbar! Stillschweigend und unbemerkt hat KANT einen anderen Subsumtionsbegriff eingeschmuggelt. Um ihn zu verstehen, müssen wir KANTs logische Lehren berücksichtigen. Subsumtion ist ein Terminus in KANTs Lehre vom Schluß. In der kantischen Logik wird in § 57 das allgemeine Prinzip aller Vernunftschlüsse folgendermaßen formuliert:
"Was unter der Bedingung seiner Regel steht, das steht auch unter der Regel selbst."
Dazu die Anmerkung:
"Der Vernunftschluß prämittiert [Prämisse vorausschickend - wp] eine allgemeine Regel und eine Subsumtion unter die Bedingung derselben."
Ebenda lautet der § 58 "Wesentliche Bestandsstücke des Vernunftschlusses":
"Zu jedem Vernunftschluß gehören folgende wesentliche drei Stücke:
1. eine allggemeine Regel, welche der Obersatz (propositio major) genannt wird,
2. der Satz, der eine Erkenntnis unter die Bedingung der allgemeinen Regel subsumiert und Untersatz (propositio minor) heißt, und endlich
3. der Satz, welcher das Prädikat der Regel von der subsumierten Erkenntnis bejaht oder verneint, der Schlußsatz (conclusio).
Die beiden ersteren Sätze werden in ihrer Verbindung miteinander die Vordersätze oder Prämissen genannt."
Dazu die Anmerkung:
"Eine Regel ist eine Assertion [Behauptung - wp] unter einer allgemeinen Bedingung ... Die Erkenntnis, daß die Bedingung (irgendwo) stattfindet, ist die Subsumtion."
Hierzu vergleiche man noch B 386:
"Vernunft als Vermögen einer gewissen logischen Form der Erkenntnis betrachtet, ist das Vermögen zu schließen, d. h. mittelbar (durch die Subsumtion der Bedingung eines möglichen Urteils unter die Bedingung eines gegebenen) zu urteilen. Das gegebene Urteil ist die allgemeine Regel (Obersatz, major). Die Subsumtion der Bedingung eines anderen möglichen Urteils unter die Bedingung der Regel ist der Untersatz (minor). Das wirkliche Urteil, welches die Assertion der Regel im subsumierten Fall aussagt, ist der Schlußsatz (conclusio)." (6)
Dieser Subsumtionsbegriff gehört als der Lehre vom Schluß an, während der zuerst behandelte der Urteilslehre angehört. Die Verschiedenheit der beiden Subsumtionsbegriffe bedarf keines Beweises. Dieser bezog sich auf die Unterordnung eines Gegenstandes unter einen Begriff, jener bezieht sich auf die Unterordnung eines Falls unter eine Regel. Nur mit letzteren kommen wir in der Schemalehre aus. Das Schema ist ja, wie wir später sehen werden, eine Regel. Jede Kategorie hat ihr Schema, d. h. ihre transzendentale Zeitbestimmung. So ist Beharrlichkeit in der Zeit das Schema der Substantialität.
Wo ich also Beharrlichkeit in der Zeit wahrnehme, da habe ich die Kategorie der Substantialität anzuwenden, ein Verhältnis, das sich so ausdrücken läßt: Wo A gilt, gilt B. Wo das Schema gilt, gilt seine Kategorie, d. h. wo ich an einer Erscheinung den eigentümlichen Rhythmus wahrnehme, der als transzendentale Zeitbestimmung das Schema einer bestimmten Kategorie ist, da gilt diese Kategorie für jene Erscheinung, da muß die Kategorie auf die Erscheinung angewandt werden. Die Beziehung, welche durch das Schema zwischen Kategorie und Erscheinung gestiftet wird, hat also die Form eines Schlusses von der Gestalt:
Wenn A gilt, so gilt X A gilt bei B
also: X gilt bei B (Sigwart, Logik 1, Seite 434)
In diesem Schluß heißt nun nach wolffisch-kantischer Terminologie der Untersatz "Subsumtion". In unserem Kapitel aber überträgt KANT diesen Namen vom Untersatz auf die Konklusion (die ja im Untersatz schon drin steckt), und macht sich dadurch einer kleinen Inkonsequenz gegen seine eigene Terminologie schuldig. Wenn man sich all dies klar gemacht hat, ist man befähigt zum Verständnis des Satzes:
"Daher wird eine Anwendung der Kategorie auf Erscheinungen möglich sein, mittels der transzendentalen Zeitbestimmung, welche als das Schema der Verstandesbegriffe die Subsumtion der letzteren unter die erste vermittelt."
Hiermit schließe ich meine Bemühungen zur Deutung des Begriffs "Subsumtion" ab. Als Resultat ergibt sich: Das Wort Subsumtion hat im Schematismuskapitel zwei verschiedenene Bedeutungen, worüber KANT den Leser im Unklaren läßt.
Wir können jetzt weitergehen zur Erörterung des Begriffs Schema. Zunächst wird das Schema bestimmt als ein drittes, "was einerseits mit der Kategorie, andererseits mit der Erscheinung in Gleichartigkeit stehen muß." Diese Bestimmung folgt notwendig aus dem Begriff der Subsumtion. Das Schema ist ein tertium[Drittes - wp] zwischen reinen Verstandesbegriffen und Anschauungen und muß daher "rein (ohne alles Empirische) und doch einerseits intellektuell, andererseits sinnlich sein".
Zunächst kann man sich unter einem solchen Gebilde gar nichts denken. Es gibt nur einerseits Anschauungen (Sinnlichkeit), andererseits Kategorien (Verstand). Und das sind sogenannte "disjunkt-koordinierte Begriffe". Tertium non datur! [Ein Drittes gibt es nicht. - wp] Hier scheint eine durch den Subsumtionsbegriff herbeigeführte unüberwindliche Schwierigkeit vorzuliegen. Aber sehen wir weiter. Vielleicht löst sie sich durch die weitere Ausführung. Da stellt sich nun heraus, daß in Gestalt der transzendentalen Zeitbestimmung ein Wesen vorhanden ist, welches alle Qualifikationen zur Übernahme der von einem transzendentalen Schema geforderten Dienste besitzt. Transzendentales Schema wird also die transzedentale Zeitbestimmung. Die Sache ist noch nicht klar, und man erwartet, KANT werde nun dazu übergehen, die verschiedenen Arten der transzendentalen Zeitbestimmung, welche als transzendentale Schemata den verschiedenen Kategorien entsprechen, aufzuzählen. Aber es kommt ganz anders.
LITERATUR: Ernst Robert Curtius, Das Schematismuskapitel in der Kritik der reinen Vernunft,
Kant-Studien, Bd. 19, Berlin 1914
Anmerkungen 1)Schopenhauer, Werke (Reclam), Bd. 1, Seite 574. 2)Heinrich Levy, Kants Lehre vom Schematismus der reinen Verstandesbegriffe, 1. Teil, 1907, Seite 6. 3)Jakob Sigismund Beck,Einzig möglicher Standpunkt aus welchem die kritische Philosophie beurteilt werden muß, Riga 1796, Seite 56. 4) Die Äußerungen von Green, Caird und Adickes zitiert H. H. Williams in "The Monist", Vol. 4, Seite 375f. 5) Die vorliegende Arbeit wurde 1908 abgeschlossen. Etwa seither erschienene Spezialliteratur ist nicht eingearbeitet worden. 6) Diese Terminologie konnte Kant bei Wolff finden. In dessen "Philosophia rationalis sive Logica methodo scientifica petractata et ad usum scientiarum atque vitae aptata" (Francofurti et Lipsiae 1728) heißt es (§ 362): Propositio minor sub maiore dicitur subsumi, si haec primo ponitur loco. E. gr. siquis affirmatverit: Nullus hominum in omnibus est sapiens, et alter responderit: Atqui tu es homo, hanc propositionem subsumere dicitur. Sumta vero majore ex concesso et subsumta minore propter evidentiam; sponte deinde sua sequitur conclusio: Ergo tu in omnibus non es sapiens.