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GEORG SIMMEL
Vorlesungen über Kant
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"Wir bringen also schon etwas mit, wenn wir an die Dinge herantreten, um uns von ihnen empirisch belehren zu lassen: die Formen und Funktionen des Geistes selbst, die gestaltenden Kräfte, die die bloße Sinnesaffektion zu einer zuverlässigen Ordnung der Dinge weiterbilden. In ewigem Fluß, der keine Stauung kennt, ziehen die Eindrücke der Sinne an uns vorbei; aber sie sind nur Momente, nur Punkte gleichsam, und unser eigenes tätiges Bewußtsein erst stiftet die Verbindung unter ihnen."

"Das ist die neue Kategorie, die Kant entdeckt hat: notwendige Begriffe und Sätze, die allgemein gelten, nicht weil sie sich vom wahrnehmbaren Dasein abwenden, sondern weil sie sich ihm zuwenden, die von der Erfahrung unabhängig sind, aber nur deshalb, weil die Erfahrung von ihnen abhängig ist, - eine Art der Verknüpfung, von der Kant mit Stolz und mit Recht sagt, daß seine Vorgänger sie sich niemals haben einfallen lassen."


Zweite Vorlesung

Mit Sensualismus und Rationalismus ist KANT gemeinsam, das gesamte Weltbild vom Wert und der Bedeutung der Erkenntnismittel abhängen zu lassen, durch die es uns gegeben wird. Während jene beiden aber die Deutung und Rangierung dieser Erkenntnismittel durch irrationale subjektive Grundtendenzen entscheiden lassen (denn Annahme oder Ablehnung auch des Rationalismus erfolgt schließlich aus seelischen Impulsen, die selbst nicht wieder rational sind), stellt KANT sich sogleich auf einen objektiven Boden: er geht von der Tatsache bestimmter Erkenntnisse, die seinen dauernden Stützpunkt bildet, aus und fragt nun erst: welche Erkenntnismittel müssen in uns bestehen und in welcher Weise und Zusammensetzung müssen sie wirken, damit diese Erkenntnisse, nämlich die Mathematik, die allgemeine, praktisch erprobte Erfahrung, das Kausalgesetz und einige andere Axiome der Naturbetrachtung ihre unbezweifelbare Gültigkeit besitzen können? KANT gehört also nicht zu den revolutionär-radikalen Geistern, die die wissenschaftliche Wahrheit als solche zunächst einmal in Frage stellen, wie religiöse Weltanschauungen und wie DESCARTES oder die die Anerkennung des gesamten vorliegenden Wissens verweigern, bis es sich metaphysischen Forderungen gefügt hat, wie es bei HEGEL der Fall war. Trotzdem er also mit den metaphysischen Traumwissenschaften wie Gott, Welt und Seele aufräumt, nimmt er doch die realeren Wissenschaftsinhalte als so unverrückbare Tatsache hin, wie er in seiner Ethik das tatsächliche sittliche Bewußtsein der Menschen fraglos akzeptiert, ohne es zu bezweifeln oder umzugestalten. Die in Mathematik und Erfahrug vorliegenden Erkenntnisse sind gleichsam seine Axiome; indem er von ihnen auf die geistigen Energien, die sie bilden, zurückschließt, werden diese legitimiert und können nun zu Trägern und Kriterien einer Weltanschauung werden. Die kantische Lehre, die freilich auch, wie Sensualismus und Rationalismus, um die Rangordnung seelischer Kräfte zentriert, ist so ein Subjektivismus, der aber nicht, wie diese, durch eine Vorliebe des Subjekts, sondern durch die Konsequenz jener objektiven Erkenntnisse bestimmt wird. So ist die Antwort auf die Frage: wie ist Mathematik und wie ist Erfahrung möglich? - zugleich die gleichsam überpersönliche Lösung des Konflikts zwischen Sensualismus und Rationalismus. Diese Lösung lautet in kurzer Zusammenfassung: die Rationalisten haben ganz recht; es gibt Erkenntnisse so allgemeiner und notwendiger Art, daß sie nicht aus der Erfahrung stammen können; sie sind nicht Erfahrung, aber die Mittel der Erfahrung: sie sind die mit dem Wesen unseres Geistes gegebenen Formen oder Funktionen, durch die wir Erfahrung bilden, die also freilich von jedem Gegenstand der Erfahrung ausnahmslos und ohne daß man ihn erst geprüft hätte, gelten müssen; denn sie sind ja die Bedingungen, unter denen er überhaupt für uns ein Gegenstand der Erfahrung werden kann: so die Sätze der Mathematik, so das Kausalgesetz. Und die Empiristen haben auch recht: nur die Erfahrung gibt uns wirkliche, zureichende Erkenntnis eines Gegenstandes; allein diese Erfahrung besteht nicht, wie man bis zu KANT ausschließlich geglaubt hat, aus Sinneseindrücken, die die Dinge auf die leere, passiv aufnehmende Tafel unseres Bewußtseins schreiben; sondern sie ist selbst schon ein Produkt der Sinne und des Verstandes. Die Sinne geben das rohe Material, den isolierten, sinnlosen, vorüberfliegenden Eindruck, der erst durch jene verstandesmäßigen Kräfte zur gültigen, objektiven Erfahrung geformt werden muß. Wir bringen also schon etwas mit, wenn wir an die Dinge herantreten, um uns von ihnen empirisch belehren zu lassen: die Formen und Funktionen des Geistes selbst, die gestaltenden Kräfte, die die bloße Sinnesaffektion zu einer zuverlässigen Ordnung der Dinge weiterbilden. In ewigem Fluß, der keine Stauung kennt, ziehen die Eindrücke der Sinne an uns vorbei; aber sie sind nur Momente, nur Punkte gleichsam, und unser eigenes tätiges Bewußtsein erst stiftet die Verbindung unter ihnen, - es fügt die einzelnen optischen Eindrücke zu einer räumlichen Ordnung, die zufällige Folge der Bilder zu dauernden Regeln, die wechselnden Vorstellungen zu einembestimmt charakterisierten Ich zusammen. Die Gesetze, nach denen diese Verbindungen gestiftet werden, sind, wie KANT sich ausdrückt, a priori, d. h. sie entstehen nicht aus der Erfahrung, sondern sie bringen diese zustande, als die Formen des Intellekts, in welche dieser den sinnlichen Stoff faßt.

Nun begriff aber das vom Rationalismus behauptete Rechtsgebiet der Vernunft nicht nur die Allgemeinheit und Notwendigkeit von Sätzen ein, die sich als die Formen der Erfahrung deuten lassen, sondern auch Behauptungen, die ganz über alle Erfahrung hinausgehen, weil sie entweder das absolute Ganze oder den absoluten Charakter des Daseins angehen, - da doch Erfahrung nur Unvollkommenes und Relatives zeigt, - oder überhaupt hinter die Erscheinung der Dinge greifen. Diese scheinbaren Erkenntnisse der Vernunft, wie KANT ihren psychologischen Träger im Gegensatz zum Erfahrung-bildenden Verstand nennt, sind eben wegen ihrer Unmöglichkeit, sich mit einem sinnlichen Inhalt zu füllen, durch KANT als bloßer Schein erwiesen; dennoch werden auch sie in den Organismus des Geistes, dessen Produkt die für uns reale Welt ist, eingefügt. Sie sagen zwar nichts über die Dinge aus, aber sie sind die Richtung gebenden Zielpunkte, auf die hin sich unser Forschen über die Dinge bewegt, ohne sie freilich je erreichen zu können. Einen Zweck der Natur z. B. können wir weder im Einzelnen noch im Ganzen erkennen; aber zum Verständnis der Organismen muß unser Forschen verfahren, als ob das vollkommenste Leben der Zweck ihres Baues wäre; zum Verständnis des Daseins überhaupt, als ob das moralische Vernunftwesen den Endzweck der Natur bildet; zum Verständnis der Geschichte, als ob ein Weltstaat mit vollkommener Kultur und Freiheit aller Individuen die Absicht der Vorsehung wäre.

Mit diesem Gedanken, daß die überempirischen Begriffe, als Erkenntnisse der Realität selbst gegenstandslos und trügerisch, als Wegweiser für unsere Erkenntnisbemühungen eine unentbehrliche Funktion üben, - mit diesem unsäglich fruchtbaren Gedanken hat KANT den Fluch der Metaphysik in einen Segen verwandelt. Ich gebe noch ein Beispiel. Alle philosophische Spekulation meinte die Grundsubstanz oder Grundkraft entdeckt zu haben, in der alle Mannigfaltigkeiten der Dinge ihre Einheit, alle verschiedenen Begriffe ihren höchsten, zusammenfassenden Oberbegriff finden. Gewiß ist für unsere Erkenntniskräfte diese absolute Einheit des Daseins unauffindbar allein neben der Jllusion ihrer Entdeckung steht ihr ganz unentbehrlicher Gebrauch als Ideal und Regulativ unserer Erfahrung; diese darf sich mit keiner vorliegenden Diskrepanz und Fremdheit der Erscheinungen zufrieden geben, sondern muß zu jeder die höhere Einheit suchen, als ob sie wirklich auf jenem absoluten Grund der Dinge mündet, der ihr doch verschlossen ist. Unser Erkennen, das in der Vereinigung der auseinanderliegenden Erscheinungen zu immer allgemeineren Gesetzlichkeiten besteht, würde stillstehen, wenn es nicht durch das imaginäre Ziel einer Einheit alles Seienden seinen Weg geführt würde. Nun aber glaubt das Denken, die fragmentarisch gegebene Wirklichkeit gleichsam nach der anderen Seite hin zu einem absolut abgerundeten Bild ergänzend, daß auch die Unterschiedenheit der Dinge eine unendliche ist. Es gäbe nicht zwei Erscheinungen, ja nicht zwei Bruchstücke je zweier Erscheinungen, die einander gleich sind, jeder Punkt des Seins ist absolut individuell und unverwechselbar mit jedem anderen, - so viele Gleichheiten unter den Dingen auch die mangelnde Schärfe unseres Erkennens uns vortäuscht. Auch diese Behauptung haben wir ersichtlich kein Recht, über das objektive Sein aufzustellen, denn innerhalb desselben findet, soweit es der Erfahrung, d. h. uns überhaupt, zugänglich ist, die Unterschiedlichkeit allenthalben ihre Grenzen und macht der Gleichheit Platz. Ebenso ersichtlich aber hat dieses Prinzip volle Geltung als Leitfaden unserer Erkenntnisaktion. Denn so wenig wie wir bei den Differenzen des ersten Anblicks der Dinge Halt machen dürfen, sondern ihre tiefer gelegene Gleichheit und Einheit suchen müssen, - so wenig dürfen wir uns bei dieser letzteren begnügen, sondern müssen unter der entdeckten Gleichheit nach immer tieferer Individualisierung forschen, dürfen jene niemals als das Definitivum behandeln, vielmehr nur als Vorstufe zu noch feineren, dem geschärften Blick auffindbaren Besonderheiten. Was also als metaphysische Behauptungen unrealisierbar war und sich gegenseitig aufgehoben hat: die absolute Einheit der Dinge und die absolute Individualisiertheit eben derselben, - ist völlig miteinander verträglich und beherrscht in Wirklichkeit den menschlichen Erkenntnisprozeß an jeder Stelle, sobald es statt als ein Gesetz der Dinge als ein Gesetz unseres Forschens erkannt ist. Wie also der Sensualismus mit seiner Behauptung, daß es keine Erkenntnis ohne Sinneseindrückte gibt, recht hat, wenn auch in einer ihn überraschenden Bedeutung: daß nämlich Sinneseindrücke der zwar unentbehrliche, für sich aber noch keine Erkenntnis bildende Stoff der Erfahrung sind, - so hat auch der Rationalismus in einem neuen Sinn recht. Denn Begriffe, die ihre Art und ihr Maß nicht aus der Erfahrung gewonnen haben, gelten zwar; aber auch sie nicht so, daß sie für sich Erkenntnis wären, sondern als die Formen, nach denen Sinneseindrücke und Einzelerfahrungen geordnet und geleitet werden, um die tatsächliche Erkenntnis, die Erfahrung ist, zu gestalten.

Dieser Entscheidung zwischen Sensualismus und Rationalismus ist ein Grundprinzip von höchster Bedeutsamkeit erwachsen: das wahre Weltbild entsteht durch das Zusammenwirken sämtlicher geistiger Energien. Die Einseitigkeit aller Lehren, die eine derselben auf Kosten der anderen zum Träger der Wahrheit machen, ist überwunden, während die Wertung der geistigen Energie überhaupt als Quell der Welt, von der wir sprechen können, erhalten bleibt. Wenn Objektivität heißt, subjektive Ansprüche ausgleichen und sie in eine höhere Einheit, jenseits ihrer Einseitigkeiten zu überführen, so spiegelt sich die Objektivität des Ausgangspunktes, den KANT genommen hat, in der Objektivität dieses schließlichen und entscheidenden Gedankens. Diesem haben wir nun in seine Ausgestaltungen nachzugehen und im Einzelnen zu sehen, wie KANT die Ratlosigkeiten des Erkennens auflöst, für die man vorher in der einseitigen Herrschaft seelischer Impulse Abhilfe gesucht hatte.

Das Grundproblem ist doch dieses: wir können auf die unbedingte Sicherheit und Allgemeingültigkeit gewisser Erkenntnisse nicht verzichten, die Mathematik, das Kausalgesetz, die Einstellung der Erscheinungen in die Kategorien von Substanz und Eigenschaft, die Zeitlichkeit allen Daseins, sind uns tatsächlich von einer undurchbrechlichen Gewißheit für unsere sämtlichen Aussagen über die Dinge. Wie aber ist dies möglich, da wir doch von den Dingen ur wissen, was sie uns zeigen, und deshalb nur das bereits Gegebene und den induktiven Schluß aus ihm zur Verfügung haben? Eine solche Gewißheit gäbe es doch nur im logischen Denken, solange es rein formal sich in sich selbst bewegt; die Wirklichkeit aber wäre uns nur in der Erfahrung zugänglich, die immer Korrekturen offen bleibt und niemals die absolute Notwendigkeit jener Gesetze ergibt. KANTs Leistung ist nun hier, ein drittes, in unserem Erkennen tatsächlich wirksames Element entdeckt zu haben: die Gesetze, die die Erfahrung aus den Sinneseindrücken zustande bringen; diese sind allgemein und notwendig, aber sie sind es gerade für die Gegenstände der Erfahrung. Obgleich, oder: weil sie nicht aus der Erfahrung gewonnen sind, so beherrschen sie diese. Gewiß wissen wir nur von den Dingen, soweit sie sich uns sinnlich geben; aber nicht dadurch allein, sondern nur, wenn die sinnlichen Eindrücke sich in Formen ordnen, die in ihnen selbst nicht liegen und deren Gültigkeit für alle Gegenstände der Erfahrung darum eine ausnahmslose, von vornherein feststehende ist, weil diese eben nur durch sie zu Gegenständen der Erfahrung werden. So war gefragt worden: was bedeutet das Kausalgesetz und die kausale Verknüpfung der Dinge? Eine logische Notwendigkeit ist dieses Gesetz nicht; wir können uns eine Welt denken, in der es nicht gilt; aus Sinneseindrücken kann es auch nicht stammen, denn diese zeigen uns immer nur ein Nacheinander, niemals ein Auseinander, die kausale Verbindung ist etwas Unanschauliches, hinter den Sinnesbildern der Dinge Gelegenes. Nun beweist KANT: selbst diejenige Aufeinanderfolge sinnlicher Erscheinungen, die wir Erfahrung nennen, wäre unmöglich, wenn nicht das Kausalgesetz vorausgesetzt wird. Die sinnlichen Eindrücke der Dinge nämlich gleiten unter allen Umständen nacheinander durch unser Bewußtsein. Die Vorstellungen derjenigen Dinge, welche dauernd gleichzeitig, nebeneinander existieren, erfolgen als Sinneseindrücke genauso nacheinander, wie die Vorstellungen desjenigen, was auch sachlich nacheinander vorgeht. Der Sensualist, der alle Erkenntnis ausschließlich in den Wahrnehmungen bestehen läßt, würde also z. B. nicht unterscheiden können, ob ein jetzt wahrgenommener Sonnenschein und eine darauf wahrgenommene Wärme sachlich nacheinander eingetreten sind, oder ob sie wirklich so gleichzeitig existieren, wie die Bäume eines Waldes, die ich ganz ebenso nur nacheinander wahrnehme. Hierbei würde dasjenige, was wir Erfahrung nennen, ersichtlich gar nicht zustande kommen, sondern nur ein praktisch unzuverlässiges Trugbild, eine irrlichternde Zufälligkeit des Vorstellens, der wir freilich auch oft genug unterliegen, sie aber doch prinzipiell von der uns zugänglichen empirischen Erkenntnis unterscheiden. Damit jene formgleichen Sinnenbilder die formverschiedenen Erfahrungen würden, als die sie tatsächlich für uns bestehen, müssen wir überzeugt sein, daß die Nacheinanderfolge der Wahrnehmungen in dem einen Fall notwendig bestimmt ist, in dem andern aber gelegentlich auch umgekehrt oder in rhapsodischem [fragmentarischem - wp] Durcheinander erfolgen kann. Aufgrund wovon diese Überzeugung von der notwendigen Ordnung oder Verknüpftheit gewisser Wahrnehmungen sich einstellt, ist Sache einer besonderen Untersuchung. Kausalität aber ist nur der Name für diese Notwendigkeit, für die Sicherheit, jene Folge jederzeit in der Erfahrung anzutreffen. Wenn wir nicht voraussetzen würden, daß jedes Ereignis, so oft es sich als das identische wiederholt, unweigerlich ein weiteres, immer identisches zur Folge haben wird, - gleichviel ob unsere Sinne, davon abschweifend, irgendein ganz anderes nach jenem ersten wahrnehmen, - so würden wir zwar Sinneseindrücke haben, aber sie würden uns zu keiner Erfahrung verhelfen. Die sinnlich singulären Tatsachen bedürfen also für diejenigen Zwecke, auf die auch der Sensualist nicht verzichten kann, einer übersinnlich allgemeinen Voraussetzung; sie ist notwendig, d. h. die Wahrnehmungen müssen sie stets verifizieren können, auch wenn der tatsächliche Verlauf der Wahrnehmungen im Einzelfall ganz davon abbiegt. Damit ist wohl ine der tiefsten Synthesen der Weltanschauung geschaffen: das notwendig Allgemeine, scheinbar ein bloßes Gedankengebild gegenüber dem empirisch Tatsächlichen, enthüllt sich als die Bedingung dieses letzteren selbst. Aber diese Bedeutung kommt jenem Notwendigen nur zu, insofern es die Form ist, in der sich die Erfahrung ordnet; es ist nicht denknotwendig, aus der reinen Logik ist es nicht zu beweisen, - und doch notwendig, nümlich für die Erfahrung. Das ist die neue Kategorie, die KANT entdeckt hat: notwendige Begriffe und Sätze, die allgemein gelten, nicht weil sie sich vom wahrnehmbaren Dasein abwenden, sondern weil sie sich ihm zuwenden, die von der Erfahrung unabhängig sind, aber nur deshalb, weil die Erfahrung von ihnen abhängig ist, - eine Art der Verknüpfung, von der KANT mit Stolz und mit Recht sagt, daß seine Vorgänger sie sich "niemals haben einfallen lassen".

Diese Geltungsart gewinnt KANT für die geometrischen Sätze. Die Farbempfindung, die der Sinn allein liefert, ist noch nicht der räumliche Gegenstand, mit dem wir es in der Erfahrung zu tun haben. Vielmehr um zu diesem zu werden, muß jenes Rohmaterial erst durch eine seelische Energie eine besondere Form gewinnen. Diese Form ist die Räumlichkeit. Wir haben die Bedeutung der letzteren als einen Angelpunkt des kantischen Denkens nachher eingehend zu behandeln. Sie mußte hier nur vorweggenommen werden, um die Stellung der geometrischen Sätze zu verstehen. Daß die Axiome der Geometrie das Wesen unseres Raumes beschreiben, heißt nichts anderes, als daß sie die Regeln formulieren, nach denen unser Geist bei der Formung unserer Sinneseindrücke zu den Raumgebilden unserer Erfahrung verfährt. Der Raum, der doch nur an sinnlichen Erscheinungen wahrnehmbar ist, richtet sich nach den Axiomen, weil durch ihre Wirksamkeit in unserem Geist allein jene Erscheinungen zustande kommen. Die geometrischen Axiome sind so wenig wie das Kausalgesetz logisch notwendig, es lassen sich Räume und also Geometrien denken, in denen ganz andere Axiome als die unsrigen gelten, wie die nicht-eudklidische Geometrie im Jahrhundert nach KANT nachgewiesen hat. Aber unbedingt notwendig sind sie für unsere Erfahrung, weil sie diese erst zustande bringen. Darum war es ein völliger Irrtum von HELMHOLTZ, die widerspruchslose Vorstellbarkeit von Räumen, in denen die euklidischen Axiome nicht gelten, als Widerlegung der von KANT behaupteten Allgemeinheit und Notwendigkeit der letzteren anzusehen. Denn die kantische Apriorität bedeutet nur Allgemeinheit und Notwendigkeit für die erfahrbare Welt, keine logische, absolute Gültigkeit, sondern eine solche nur für den Kreis empfindbarer Objekte. Unsere Geometrie gehört eben der von KANT aufgefundenen Gattung von Erkenntnissen an, die Allgemeinheit besitzen, nicht als Produkte des reinen Denkens, sondern als Bedingungen der Erfahrung; die darum nicht, wie der Sensualismus will, aus der Sinnlichkeit geschöpft sind, aber allerdings nur in der Anwendung auf Sinnlichkeit ihre Funktion, nämlich Erfahrung zu bilden, üben können. Darum würden die nicht-euklidischen Geometrien die Apriorität unserer Axiome nur dann widerlegen, wenn jemand seine Erfahrungen in einem pseudo-sphärischen Raum gesammelt oder seine Empfindungen zu einem Raumgebilde zusammengeschlossen hätte, in dem das Paralleluniversum nicht gilt.

Es wird keiner weiteren Beispiele bedürfen, um das Wesen dieser apriorischen Sätze einzusehen, die das Nachdenken über das menschliche Erkennen aus der peinlichen und ungenügenden Alternative zwischen Sinnlichkeit und sinnfreier Vernunft erlösen; sie sind die Träger der neuen Synthese, in der KANT die Allgemeinheit der Vernunft und die Singulartität der Sinneseindrücke zusammenfaßt: in einem neuen Begriff der Erfahrung, die er als das Produkt von Sinnlichkeit und Verstand erkannte. Nun kann alle reale Erkenntnis der Dinge auf Erfahrung beschränkt werden, ohne daß die höheren Erkenntniskräfte des Menschen mit der Allgemeinheit und Notwendigkeit ihrer Aussagen dadurch deklassiert würden, da diese als die formgebenden Gesetze der Erfahrung durchschaut sind. Gerade wenn man nur Erfahrung gelten läßt, muß man zugeben, daß die Bedingung der Erfahrung, die jeden ihrer Fälle gestalten, für das ganze Gebiet möglicher Erkenntnis mit ausnahmsloser Gewißheit gelten.
LITERATUR: Georg Simmel, Vorlesungen über Kant, Leipzig 1905