cr-4 LotzeLotzeLotzeL. StählinF. CheliusF. GoldnerH. Pöhlmann    
 
OTTO CASPARI
Hermann Lotze
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"Die Regel, die durch ein empirisches Beweisverfahren an einem Schema, Symbole oder Zeichen erwiesen wird, läßt sich einfach ausdrücken. Sie lautet dahin:  Setze nicht absolute Gleichheiten unter den zusammengehörigen Gliedern denn ein solches Beginnen ist nur rein idealistisch, nicht aber wirklich empirisch, weil nachweislich und tatsächlich  absolute Gleichheiten unter wirklich empirischen Formen und Naturobjekten und deren Gliedern nicht vorkommen. Denn es gibt empirisch bekanntlich nicht zwei ganz gleiche Blätter."


IX.
Die Kritik der modernen Richtungen im Hinblick
auf die Lehre vom Grundschema

Es erübrigt sich noch, um diese Studie über die Geschichte der neuesten Philosophie und der Gegenwart abzuschließen, der Nachweis: daß die heute herrschenden Schulen die oben dargelegte neue  Aufgabe nicht erfassen. - Am deutlichsten ist das zu erkennen an den Prinzipien der rein und naiv idealistischen Richtungen unserer heutigen KANT-Epigonen [olieb], die sich verzweigen nach Seiten der FICHTE, SCHELLING, HEGEL und andererseits zu SCHOPENHAUER FRAUENSTÄDT, HARTMANN und allen Hierhergehörigen. Alle diese streben in der Idee das rein metaphysisch Transzendente und Absolute an. Der völlig überempirische Ausgangs- und Enpunkt dieser Spekulation ist hier so markant, daß man unschwer erkennt, wie sehr die Anstöße KANTs eine "absolute" Vernunftidee, und ein "rein" Intelligibles vom Verstand aus zu intellektuieren, in diesen Richtungen nachgewirkt haben. Dieses Streben zum schlechthin Überempirischen und Übersinnlichen (Unfaßbaren), verleugnet nicht seine Verwandtschaft mit den rein metaphysisch- naiven  und unkritischen Spekulationen der hervorragendsten Schulen des Altertums; man erkennt deutlich die Verwandtschaft zu den Eleaten, insbesondere zu PLATON und den Neu-Platonikern. In der neueren Philosophie pflanzten sich eben diese Tendenzen bekanntlich fort in DESCARTES und SPINOZA. Neben den rein philosophischen Spekulatioinen lassen sich die gleichen falschen Bestrebungen ebenso deutlich und dem parallel nachweisen unter den mathematischen Forschern, die in ihren Prinzipenbildungen von der eleatisierenden Schule und von EUKLID im Laufe der Jahrhunderte beständig  abhängig  blieben. Selbst die der Erfahrung zugewendete Wissenschaft der Phoronomie [Bewegungslehre - wp] und Mechanik hat unter dem Einfluß dieser naiven Abhängigkeit vom einseitigsten Eleatismus in ihrer Durchbildung zu leiden gehabt, und der sich daran anlehende moderne Naturalismus läßt ebenfalls Nachwirkungen der von dort ausgehenden eleatischen Anstöße deutlich erkennen. Man denke beispielsweise nur an die Formulierung des Gesetzes vom sogenannten "kleinsten Kraftmaß", das selbst in die Spekulationen der modernen Spinozisten und Naturalisten (wie bei AVENARIUS) (47) übergegangen ist, um damit deutlich zu machen, daß man stets von Neuem zu einer Formulierung des Grundprinzips und der Idee, im Sinne der eleatischen, überempirischen und absoluten Starrheit hingetrieben wird, und hiermit allein Erfahrung zu machen sucht. Ich will nicht zu erwähnen vergessen, daß man in der Ethik und der Ästhetik dem selben Irrtum begegnet. In der Ethik fällt uns krass das Prinzip KANTs: vom starren und überempirischen, praktischen Vernunftwillen in die Augen, in der Ästhetik begegnet uns Herr ALBRECHT KRAUSE (48), der das Gesetz der  absoluten (starren)  Symmetrie  als ein herrschendes Dogma der Schönheitslehre und als absoluten Mustertypus hingestellt wissen will. Viel näher kam den wahren Sachverhalt und der kritischen Lösung in ästhetischer Hinsich bekanntlich ADOLF ZEISING, der wenigstens insofern der kantischen Lehre vom Schematismus Genüge leistet, als er erkannte, daß nicht das einseitige Streben zur starren Symmetrie und Gleichheit, sondern nur das zur  Einheit der Mannigfaltigkeit,  mit der ästhetischen Empirie sich zu vermitteln imstande ist. Daß auch hiermit nicht, - solange man nämlich das Prinzip als starres Dogma, nicht aber als bloßes vernünftiges Postulat oder Norm hinstellt, das Richtige getroffen wurde, habe ich anderswo nachgewiesen (49). Durch die rein überempirischen (vom empirischen abgewandten, eleatisierenden) Ausgangspunkte sehen wir, gestaltet sich jede Lehre, möge sie sich nun in ein naturalistisches oder in ein metaphysisches Gewand kleiden, zu einer rein intellektuellen, überempirischen Konstruktionslehre. Idee und Prinzipien sind hier genau genommen  vor  aller Erfahrung  (ante rem [vor der Sache - wp], oder fest  in re [in der Sache - wp]) gegeben, und so ist alles  Einzelstreben gezwungen (mit Ausschluß jeder relativen berechtigten  individuellen Freiheit),  diesen in ihren Vorschriften wie Göttern absolut zu gehorchen, und sich um sie zu drehen. Auch ARISTOTELES mit seiner widerspruchsvollen Konzeption des Grundprinzips über das Unbewegt-Bewegende und dem Schema absoluter Kreisbewegung, tritt uns, sahen wir, in seiner Physik ebensosehr wie PLATON als naiver Realist, als spekulativer Konstrukteur und zum Überempirischen hinstrebender Eleate entgegen. Nur erst in seiner Ethik verläßt ARISTOTELES bekanntlich diesen dogmatisch überempirischen Starrheitsstandpunkt, indem er die ethische Idee mit der ästhetischen Idee eines richtigen Mittelmaßes gegenüber von dessen Extremen, zu vermitteln sucht. Wenden wir uns nach dieser Übersicht nun zu derjenigen Partei, welche dem Idealismus prinzipiell gegenübersteht, so wird sich zeigen, daß auch diese weit entfernt davon ist, die oben klargelegte Aufgabe zu erfassen.

Wir begegnen hier, abgesehen von den extremen Skeptikern, den reinen Empiristen, Sensualisten und Positivisten nach dem Muster von LOCKE, HUME, MILL und anderen. All diesen ist die Idee und Norm, welche kritisch betrachtet: das allen ursprünglichen Teilen mindestens als Postulat mitgegebene (aprioristische) allgemeine Band bedeutet, bestenfalls nur eine rein subjektive, begriffliche, aposteriorische Dichtung, ohne logisch-objektiven und beweisfähigen Wert, (universalia post rem [Allgemeinbegriffe kommen nach den Dingen. - wp]). Den Idealisten war die reine Idee, wie wir sahen, so  übersinnlich  erhaben, daß sie eines anschaulichen schematischen Beweises nach der empirisch-sinnlichen Seite gar nicht ermöglicht, auch eines solchen gar nicht bedarf. Den reinen Empiristen aber ist die wahre logische und hiermit allgemein notwendige Norm und Idee nicht einmal als  Postulat  und Regulativ unter allem Einzelnen  feststellbar,  sie bleibt hier bloße Fiktion, die man den Gruppen und Kollektivismen  andichtet  und gleichsam als Netz hinterher überwirft, um sie je nach Gebrauch beliebig zusammenzunehmen. Daß unter solchen Umständen von dieser Seite nicht das Bestreben auftauch: eine über gewisse Kreise und Gruppen hinausreichende allumfassende, allgemein und objektive  Gesamtidee oder Gesamtpostulat  aufzusuchen, bleibt erklärlich.  So aber müssen demgemäß die Konzeption der Empiristen aller Farben völlig ideenlos verbleiben.  In allen Wissenschaften bringt es der Empirismus und der rein ideelose Positivismus im besten Fall nur zu einer Sammlung von Hypothesen, die einzeln unter sich oft Widersprüche ergeben, und somit keines allgemeingültig zwingenden Beweises fähig sind. Wie will man aber philosophische Wissenschaft treiben, wenn das etwa in der Ästhetik gelehrte dem Postulat der Ethik widersprich oder doch fremd bleibt, oder aber, wenn in der Physik eine Naturdeutung unternommen wird, die sich in ihren Ausführungen weder mit Ethik und Ästhetik zu  vertragen  imstande ist. Wir suchen heute für alle Wissenschaften neben der Beschreibung ihrer gesammelten Daten und Tatsachen, den Leitfaden zur Gesamterklärung derselben in einer richtig begründeten kritischen Erkenntnistheorie. Die Fragen nach der wahren Natur unseres Intellekts, als des allgemeinen Instruments, dessen wir uns überall gleichmäßig in allen Wissenschaften zu Schlüssen und Beweisen bedienen, sind es noch heute, wie zu Zeiten von LOCKE, HUME und KANT, welche uns bewegen. Erheben wir uns nicht zu dieser wissenschaftlich gemeinsamen Höhe, um von hier aus allgemeingültige Regulative nach Art der Mathematik, brauchbar zu Beweisen, festzustellen, so erreichen wir nichts Autoritäres und Bleibendes, sondern liefern uns in der Wissenschaft dem Belieben des Geschmacks und der Zeitmode aus, die es nur zu wechselnden Bildern, nicht aber zu schematisch-logischen, beweisfähigen Ideen bringen. Zu welchen Verirrungen der Empirismus kommen kann, wenn er die leitenden erkenntniskritischen Normen unberücksichtigt läßt, das läßt sich andeutungsweise an Beispielen dartun, die hier zum Beweis herbeigezogen werden mögen. Überall ist der Empirismus (inklusige dem Sensualismus und Materialismus), sagten wir ideenlos. Er ist es ebensosehr in der Ästhetik, wie in der Ethik und in der Psychologie und den mit ihr zusammenhängenden Geisteswissenschaften, ja er artet selbst in der Physik (Naturwissenschaft), will man hier nicht bei der bloßen Beschreibung der Daten und des Erfahrungsmaterials stehen bleiben, zu einer hohlen, dogmatischen Konstruktionslehre aus, wie sie der Materialismus eines DEMOKRIT in allen seinen Variationen uns bekanntlich vorgeführt hat. Was dem naiven Idealismus die Gottheit, oder die Idee in Form einer wirklich allein  herrschenden  Macht, als das sogenannte  Absolute  in allen seinen Hypostasen und Einkleidungen, ist diesem Empirismus hier das  absolute Gesetz  in seinen Variationen. Indessen  sind  Ideen nicht, sondern sie werden durch ein bestimmtes Verhalten der Wesen und Dinge  verwirklicht,  und ebenso die Gesetze, sie sind nicht, sondern indem sie durch das Verhalten der Einzelnen, das man in ihren regulativen und abweichenden Arten empirisch untersuchen muß,  verwirklicht werden,  müssen sie gelten (50). Zur Untersuchung aber, ob und welche Gesetze und Normen empirisch ebenso wie allgemein und notwendig gelten sollen, kann man niemals  allein gelangen  durch die Empirie. Versucht man das, so gewinnt man  nur zusammenhanglose Induktionen,  die sich nicht zu synthetischen Urteilen a priori erheben, "weil wir (wie Kant in der "Kritik der Urteilskraft" richtig sagt) die unendliche Mannigfaltigkeit der Naturgesetze, die für uns zufällig sind, da sie nur empirisch erkannt werden, ihrem  ersten inneren Grund  nach nicht einsehen, und so das innere durchgängig zureichende Prinzip der  Möglichkeit  einer Natur (welches [zugleich] im Übersinnlichen [in der apriori gegebenen Idee] liegt), schlechterdings [von dort aus] nicht erreichen können." (Seite 264) Somit hat sich die Naturwissenschaft, will sie sich nicht mit Ethik und Ästhetik, wie der Idee halber gefordert wird, kritisch verbinden, darauf zu beschränken: in induktiver und rein empirischer Weise die Regeln und Ausnahmen (d. h. das Maß der Geltung) von Gesetzen unter dem Verhalten der Dinge und Elemente, zu untersuchen und festzustellen. Diese restringierende Forderung stellen wir vom kritischen Standpunkt nicht nur der Physik und allen ihren Disziplinen, sondern auch den organischen Wissenschaften und der Psychologie. Gefehlt ist es daher, ohne die Urteile durch die Ideen der Ethik und Ästhetik richtig hindurchzuleiten, und sie mit einer Generalidee als oberstes empirisch-ideales (aprioristisches) Gesamturteil widerspruchslos verbunden zu haben, von reinen psychologischen Erfahrungsurteilen aus, Aussprüche und Urteile über die Natur des Intellekts (des Apriori) zu tun. Diesen naiven Fehler begehen heute so viele Physiologen, sobald sie Psychologie treiben und von  rein empirischer  Basis aus eine Erkenntnistheorie (Kritizismus) herstellen wollen. Da müssen dann unter solchen Umständen die Ansichten rein sensualistisch ausfallen. Will man aber gar wie WUNDT von einer solchen Basis aus über die  Seele  Urteile wagen, so fällt man leicht in ganz dogmatische, unkritische Wendungen und Behauptungen. Eine solche ist es, wenn WUNDT den Satz von FECHNER wiederholt zu verteidigen wagt, daß im Sinne von SPINOZA der sinnliche Organismus und das rein sensuale Bild desselben ein korrespondierendes und paralleles Abbild der inneren Seele sein soll. Mit Recht haben Kritizisten eine solche Behauptung "ideenlos" genannt; denn das bloße sinnliche Bild von Objekten liefert niemals ein kritisches Schema, zu welchem erst das Apriori der inneren Idee hinzutreten und darin durchsichtig gemacht werden muß. Wie wäre es auch möglich, daß der Körper mit der Vielheit seiner Teile, wie Nägel, Haare, Finger (am Ende gar noch Hühneraugen), ein äußeres paralleles Abbild der inneren Einheit der Apperzeption und des Intellekts (des Apriori und der Seele) darstellen könnte. - Die Idee ist allemal zu jeder sinnlich empirisch überlieferten Wahrnehmung und Erinnerung, die innere ur- und eigengeistige (aprioristische) Hinzutat (Apperzeption), um das vollendete Erkenntnisprodukt zu  bewirken.  Diese aprioristische  Hinzutat  als geistige Idee geht daher niemals auf eine bloße  sinnliche Darlegung  eines Zusammenhangs der Bewegung von Teilen (wie etwa der rein physiologische Begriff von Körper, Organismus und Gehirn usw.), sondern kraft der aprioristischen Idee zugleich vor allem auf das Postulat einer Verwirklichung geistig innerer Güter und Werte, das ist auf ein Sollen und auf die Herstellung einer regulativen Ordnung, ein System dem Postulate und der Idee und Norm gemäß, und damit in Verbindung auf eine  Erhaltung und Regierung  der Teile usw. Nur von einer solchen Basis aus kann dann hinterher auch das weitere Postulat von im Körper  leitenden, führenden  und zentralen Wesen als oberste regierende Gewalt (Seele) einleuchten. Hat man von solchen kritischen Gesichtspunkten die Seele in einer "kritisch" gewordenen Psychologie  begründet,  so kann man dann rückwärts wieder die Tatsachen darauf hin prüfen, und wie uns diese tatsächlich lehren, daß unter den übrigen Systemen unseres Körpers das  Nervensystem  eine dominierende, führende und zentrale Stellung einnimmt, so auch im Nervensystem und in den Zentralteilen desselben selbst wiederum derjenige bewegliche Teil (der aber sinnlich wie die Atome und letzten Elemente nicht mehr wahrgenommen werden kann, wo das Apriori unseres Ich, als Intellekt und Seele, d. h. als leitendes Organ, etwa wie ein zentraler, vielleicht beweglicher Schwerpunkt im System irgendwie seine Anlehnung hat. -

So sehen wir zwingt uns der Kritizismus, beständigt das Postulat der aprioristischen Generalidee (als Gesamtregulativ) im Auge zu behalten, damit alle empirischen Daten untereinander einstimmig und widerspruchslos in Verbindung gebracht werden können, hier in unserem speziellen psychologischen Fall, das neurologische, äußere empirische Bild mit dem, was die Ideen der Erkenntnistheorie, der Ethik und  Ästhetik  von innen her, hinsichtlich ihrer Regulative und Normen (bzw. der Gesamtnorm als Allgemeinregulativ) lehren, um so ein kritisches Schema des Organismus zu gewinnen, das ebensosehr empirisch wie intellektuell (der Idee gemäß) sein muß. Das Gleiche wird nun erfordert in Ästhetik und Ethik. Auch diese sind ja nach Seiten der Erfahrung, ebenso wie die Physik (Naturlehre), empirische Wissenschaften. Um zunächst von der Ästhetik zu reden, so wäre es kritisch völlig verfehlt, die Beweise für die Verwirklichung der kritischen Idee (als notwendig-allgemeines Gesamtregulativ) in beliebigen Kunstwerken zu suchen; denn wie oft begegnen wir in diesem einen platten, ideenlosen Realismus, oder einer mit den Grundregeln der sinnlichen Formenbildung nicht bekanten unschönen Darstellung. Auch unter den Kunstrichtungen treten ebenso wie in der Ethik dem Kritiker die streng geschiedenen Parteien des naiven Empirismus (Materialismus, naiver Realismus und Sensualismus) und des naiven Idealismus entgegen. Die erste aber bietet in ihrer Einseitigkeit nur bestenfalls gute Photographien der Wirklichkeit, ohne die Hilfsmittel schematisch idealiter deutlich zu machen, welche das Apriori zwingen die Idee hinzuzubringen, um so das Ganze  sprechend  zu machen, und den Beweis zu führen, daß die Idee im Material verwirklicht wurde. Denn nur wenn diese Idee irgendwie in den Formen durchscheint und sichtbar ist, als ein Postulat der Verwirklichung von  inneren Werten und Gütern,  welche das All gleichsam als ein Band und Unterpfand nachweislich unendlich und unvergänglich zusammenhalten, wird das Werk des Künstlers eine Kunstwerk. - Der reine naive Idealismus geht in der Ästhetik umgekehrt von der Idee aus, findet aber von hier nicht die Vermittlung mit dem wahrhaft Empirischen und Lebenswirklichen, er fällt daher ins Mystische, und schafft nur einseitig ins Übersinnliche und rein Erhabene strebende starre überirdische Allegorien und Ideale. Alle die Widersprüche müssen bei einer Betrachtung dieser ungefügen, starren Jenseitsideen hier auftauchen, die wir oben, bezüglich eines rein eleatisch starren Schemas und eines schlechthin überempirischen Gesamtregulativs, in den philosophischen Konzeptionen dargelegt haben. Schafft sich der Empirismus Pseudomusterbilder nach Art der Weintrauben des APELLES, so der einseitige Idealismus nach Art der starren ägyptischen Statuen (Sphinxe) und Pyramiden. Diese schematisieren wohl das Dunkle und Erhabene, aber auch zugleich das nicht mehr Erkennbar und somit das Unerweisliche (51), dieselben zeigen uns sogar dem Sinnlichen gegenüber das schlechthin Widerspruchsvolle, und es entsteht so das im schlechtesten Sinne Metaphysische (das ist kritisch das verworrene, übersinnliche Hirngespinst). Diesen einseitigen Richtungen gegenüber muß es auch in der Ästhetik einen Kritizismus geben, der die Regulative an die Hand gibt für die korrekt schematische Formenbildung, die nur eine solche sein kann, daß die empirischen Elemente restlos zur beweisbaren (sinnlich erweisbaren) Idee streben, die Idee aber umgekehrt sich ohne mystischen (absolut unerkennbaren) Rest mit der sinnlich-empirischen Form vermählt und nachweislich verwirklicht. Für die Ästhetik als Wissenschaft wird vom Gesichtspunkt des Kritizismus also gefordert: daß die Kunstidee selbst gewonnen wurde, nicht sowohl aus den empirischen Formengebilden, welche uns  die Natur  schematisch entgegenbringt (siehe oben) als auch dem aprioristisch intellektuellen Faktor derjenigen Generalidee, die als ein Gesamtregulativ und Gesamtpostulat sich schematisch vermittelt mit dem Postulat der Ethik und Logik. Die zur unerkennbaren Übersinnlichkeit hinstrebenden Idealisten  subordinieren  Ästhetik und Ethik unter das nicht mehr zu schematisierende Allgemeinregulativ ihrer metaphysischen und dialektischen, überempirischen und schlechthin übersinnlichen (unfaßlichen) Gesamtidee. Die Empiristen aber bringen es in der Ästhetik nicht zu einem schematisch beweisbaren (allgemein notwendigen) Gesamtregulativ, sondern nur zu einer Reihe von ästhetischen Maximen und Hypothesen, die sie (wie neuerdings FECHNER)  unvermittelt  nebeneinanderstellen. Der kritische Realismus hingegen knüft hier an an die Bestrebungen von HERBART, der Ethik, Logik und Ästhetik einander ergänzen und durchleuchten läßt, ohne freilich gleichzeitig ein Gesamtregulativ aufzusuchen, das auch die Vermittlung mit den Formen der Physik (aus Natur und Mechanik) nachweislich macht.

Diese Vermittlung wurde von HERBART nicht gefunden, da er sich nach dieser Seite (wie früher dargetan wurde), eine rein abstrakte, ins rein Übersinnliche und (eleatisch) starre strebende Metaphysik zurechtgemacht hatte. Hier nach dieser Richtung war daher dem kritischen Realismus für seine konsequente Fortbildung eine weitere Aufgabe der Vollendung vorgezeichnet. In dieser Richtung sind vor allem die Arbeiten ROBERT ZIMMERMANNs geschrieben, der sich ebenso gegen den platten Empirismus in seiner Ästhetik und Anthroposophie wendet, wie gegen den ins Übersinnliche (wie Formlose) strebenden reinen Idealismus. -

Beleuchten wir andeutungsweise ebenso die heutigen Bestrebungen in der Ethik. Die in dieser Wissenschaft vertretenen Strömungen finden wir gegenwärtig in den lebhaftesten Kämpfen begriffen. Hier nach praktischer Seite ist es mehr wie unter den übrigen Disziplinen der Philosophie deutlich geworden, zu welchen Auswüchsen der naive Idealismus führt, der sich ihm Altertum unter der Führung PLATONs verbreitete. Diese Auswüchse aber haben sich in neuerer und neuester Zeit nur umso kräftiger entwickelt; denn kein Geringerer wie KANT war es, der, wie wir oben sahen, sich hinsichtlich der übersinnlichen (intelligiblen) Auffassung der reinen Vernunftidee in den ersten beiden Kritik  eng an Platon anschloß.  Ihm folge FICHTE und die durch ihn geborenen Schüler des neueren Idealismus. Alle diese verteidigen das rein übersinnlich Starre und rein Jenseitige einer praktischen Idee (als Absolutes), stellen dieselbe als ein herrschendes Dogma auf, und suchen die praktisch empirischen Erlebnisse aller Völker des Erdballs von hier aus konstruierend, dem Wert nach zu beleuchten. Diesen reinen Konstruktionslehren aus einer unfaßlichen Jenseitsidee heraus, die sich mit allem Sinnlich-Empirischen und so vielen praktischen Diesseitserlebnissen in gar keine natürliche Vermittlung setzen ließen, sind die Empiristen aller Zeiten mit Recht entgegengetreten. Aber so fein es wiederum die Gegenpartei, seit den Zeiten der Sophisten und Skeptiker, bis auf die geistvollen Empiristen LOCKE, HUME und die Neueren und Neuesten, anstellte, um die sittliche Idee als eine leitende allgemeine Norm (objektives Musterbild) aus der buntscheckigen Musterkarte, der unter sich so verschiedenen Sittlichkeitszustände aller Erdvölker, zu extrahieren, es gelang doch nur allemal insofern, daß eine Reihe von guten Ratschlägen als vielfach leitende Maximen zusammengestellt wurden, die unter sich vereinigt, kein solches Band oder Regulativ ergeben, das wie eine realisierte (allgemein-notwendige) Idee zu einem synthetischen Urteil a priori erhoben werden konnte, um ein allgültiges direkt logisches, oder zumindest apagogisches  Beweisverfahren  zuzulassen. Maximen nun mögen nützlich sein, aber eine oberste gesetzgeberische Norm als sittliche Idee können sie nicht abgeben; denn diese muß eine ihr evident  innewohnende Autorität  an sich tragen, und eine solche gewinnt und erhält sich im praktischen Leben nur ein solcher Grundsatz, der seinen Inhalt vor aller Einsicht und Verstand als gewiß und wahr dartun und die Unwahrheit und Absurdität seines Gegenteils  beweisen  kann. So finden wir dann auch hier das Resultat, daß, wie wir oben sahen, die ins rein Überempirische und Übersinnliches strebenden Idealisten und reinen Aprioristen sich in der Idee des sittlichen Sollens nur zu starren Dogmen und Imperativen erheben, welchen die empirisch-sinnliche Empfindung jederzeit und immer  widerstreitet  und somit für gar nicht realisierbar hält, während andererseits die naiven Empiristen bei schwierigen Fällen in ihren Entscheidungen mit ihren obersten allgemeinen Nützlichkeitsmaximen oft in Konflikte und Widersprüche geraten, ohne durch eine wirkliche Norm als Idee eine unanfechtbar autoritäre Instanz der Beurteilung zu besitzen. Hieraus folgt, daß das ethische Sollen, als angestrebte Norm des Guten, ihrem Inhalt nach, sei er noch so hoch gespannt, eine bloße Maxime bleibt, solange sich eben diese Norm  nicht ausweist  über einen inneren gegebenen Zusammenhang mit der Norm der logisch beweisbaren Wahrheit und mit der obersten Norm der Schönheit; denn auch mit dem höchsten Musterbild dieser  darf kein Widerspruch  geduldet werden, weil Wahrheit und Logik in der allgemeinen obersten Norm als Gesamtidee einen solchen nicht vertragen. In der neuesten Literatur ist es unter den Positivisten und Empiristen ERNST LAAS gewesen, der eine Ethik zu geben trachtet ohne diese Kriterien für die obersten sittlichen Prinzipien zu beachten, oder besonderen Wert darauf zu legen (5). Nicht mit Unrecht zwar bekämpft LAAS die mathematisch-logischen  Deduktionen  des Sittlich-Guten bei SAMUEL CLARKE und WILLIAM WOLLASTON; denn was diese Idealisten unternahmen, war in sich schon ein Widerspruch. Ihr ideales, rein überempirisches Prinzip (des Guten) war schlechthin starr, ihr Beweis aber verlief daher wie bei Fällen der "reinen" Mathematik (aufgrund der vorausgesetzten reinen starren Ebene), in starren Identitäten, obwohl er gerichtet war auf die veränderlichen Vorkommnisse des Praktisch-Empirischen. So kommt dann gerade unter solchen Bestrebungen der Widerspruch zwischen allem Empirischen und allem rein Überempirischen in der grellsten Weise hier zutage. Hätte die Logik daher keine anderen Hilfsmittel des evidenten Beweisens, als das, was die sogenannte "reine" Logik und die "reine" (überempirische) Mathematik hierzu bieten, so hätte LAAS ohne Zweifel recht. Neben der reinen Logik gibt es aber noch eine angewandte, die sich andere Hilfsmittel und Schemata des Beweises zu verschaffen weiß. (Hierüber zum Schluß.) Mit noch viel größerem Unrecht aber bekämpft LAAS als Positivist die ästhetischen Bestrebungen HERBARTs, ROBERT ZIMMERMANNs und anderer in der Ethik, indem er allen ideal gegebenen inneren, logischen Zusammenhang zwischen dem höchsten Guten und der höchsten Form des Schönen ableugnet. LAAS sagt hierüber (a. a. O., Seite 133).
    "Wenn das sittlich Gute sich zugleich schön, in harmonischen Verhältnissen darstellt, so ist das eine mehr oder weniger  zufällige  Folge; das Entgegengesetzte ist ebensogut möglich. ... Oft genug widerstreitet der peinlich strenge Ernst des Sittlichen der freien heiteren Schönheit; ... das sittlich Gute muß oft unanmutig, unmelodisch und disharmonisch sein usw."
Man muß LAAS entgegnen, daß sich der obige Ausspruch gegen das innere logische Verhältnis des Guten zum Schönen mit gleichem Recht auch völlig umkehren läßt, sodaß man sagen darf: wenn sich das Häßliche zugleich gut und unter sittlichen Gesetzen darstellt, so ist das eine mehr oder weniger  zufällige  Folge, das Entgegengesetzte ist ebensogut möglich. Wenn LAAS zugleich gegen SCHILLERs Ansicht beispielsweise hinzufügt, daß der peinliche strenge Ernst des Sittlichen aller freien heiteren Anmut usw.  widerstreitet,  so ist das ansich unwahr, und beweist nur ein Vorurteil; dasselbe erklärt sich, sobald wir die Wandlung der Ansichten verfolgen, welche sich über das Wesen der Idee vollzogen hatte seit PLATONs  Timaeus (in welchem die Idee noch ein  Mittleres  zwischen Sinnlichem und Übersinnlichem (siehe oben), bis zum Mittelalter, wo sich die unendliche Gottheit im Ausdruck ihrer höchsten Idee völlig ins Übersinnliche und mystisch Formlose erhob. Auch die Idee des Guten wurde seit dieser Zeit ein rein übersinnliches, gestaltloses Sollen, das (wie bei KANT) alle Beziehungen zum Empirischen und seinen Formen und Verhältnissen verloren hatte. Pflichten und Rechte aller gegeneinander richtig verteilt und gewogen, verlangen aber der höchsten Idee gemäß eine normale Form.

Sind diese Formen verzerrt, wie etwa in einer ideenlos abgefallenen Welt, so kann sich im Einzelnen allerdings viel gutes Streben zufällig im Häßlichen befinden, und viel Häßliches zufällig mit Gutem vereinigen. Allein, was unter Umständen und im Einzelnen möglich ist, wird  unrichtig  im Hinblick auf die Gesamtheit und auf das ursprünglich  gegebene innere logische Band des Ganzen,  als welches uns die wahre Idee, wenn selbst kritisch nur als Postulat und Regulativ eines solchen entgegentritt. - Schaffen wir uns von dieser höchsten Idee als Postulat für die denkbare Vorstellung eine allgemein-notwendige Anschauung und ein kritisches Schema, so muß in ihm daher der unlogische  Widerstreit  zwischen dem Guten und Häßlichen  getilgt  sein (53).

Was man daher auch sagen mag: die höchste Würde in Lumpen (wenn nicht etwa eine  absichtliche  Verkleidung vorliegt) bleibt lächerlich eindruckslos, und gewinnt niemals Autorität. Eine milonische Venus mit dem Giftbecher in der Hand, als Symbol ihrer Absichten, und ein Engel mit teuflischem Pferdefuß erscheinen sinnlos, und in der Idee beständig widerspruchsvoll und unverständlich, auch LAAS würde in der Ästhetik dergleichen nicht empfehlen wollen. Wollten wir über solche Widersprüche hinfortgehen, so würde man alle logisch-ideale Wissenschaft und damit in Verbindung alle Ethik und Ästhetik als wirkliche Wissenschaften überhaupt völlig aufheben. - Die Ethik und Ästhetik sind bekanntlich der wahre Prüfstein für Skeptizismus und naiven Empirismus; beide bringen es, wie schon oben angedeutet, allemal in diesen Wissenschaften nur zu einer Sammlung von guten Ratschlägen und Nützlichkeitsformeln, aber sie bleiben den allgemein-notwendigen Beweis derselben aus der höchsten Idee schuldig, und gewinnen infolgedessen in ihren Postulaten keine Autorität.

Wenn, wie erwähnt wurde, diese Autorität nur für die höchste Idee und Norm (als oberstes allgemein-notwendiges Postulat und Regulativ) gewonnen wird durch den logischen Beweis ihrer Wahrheit im Hinblick auf Einsicht und Verstand, so werden wir zum Schluß noch hingeführt auf die Logik und den Stand der Probleme dieser Wissenschaft.

Hat die Ethik die Aufgabe, die Idee des sittlich Guten festzustellen, die Ästhetik die des Schönen, und sind beide nur dadurch  Wissenschaften,  daß sie das Postulat ihrer Idee allgemein-notwendig (logisch) dartun und vor der Einsicht  beweisen,  so fällt der Logik die Aufgabe zu, den Inhalt des Allgemein-Notwendigen als Idee, Norm und Postulat aufzusuchen, bzw. die sich daran anlehnende Wahrheit und objektive Gewißheit zu beleuchten, im Gegensatz zu allem bloß subjektiven Wähnen, Zweifeln oder Glauben.

Auch im Hinblick auf diese Aufgabe lassen sich gegenwärtig deutlich die beiden großen Strömungen verfolgen, welche das Ziel eben dieser Forderung nicht erfassen, und von welchen wir oben bezüglich der Ethik und Ästhetik gesprochen haben. Auf der einen Seite befinden sich die Skeptiker und radikalen (naiven) Empiristen, welche eine objektive allgemein-notwendige Gewißheit (bzw. die Idee des Wissens und der Wahrheit) nicht für  objektiv wissenschaftlich beweisfähig  halten. Alle diese Forscher und Kritiker, sofern sie noch diesen Namen verdienen, halten es in ihren unsystematischen und aphoristischen Gedankenzetteln mit der subjektiven unlogischen Ideenlosigkeit. - Auf der anderen entgegengesetzten Seite aber finden wir heute das völlig Umgekehrte. Hier stehen die Dogmatiker als sogenannte Ontologen älteren und neueren Datums. Alle diese halten es mit KANT, aber nur in Bezug auf das, was er in den ersten beiden Kritiken lehrt, und was er sonst irrtümlicherweise in Bezug auf reine Mathematik und reine (formale) Logik dartut. Hier ist es nun sehr wichtig zu bemerken: Daß die dogmatisierenden Ontologen in Mathematik und Logik vom schlechthin "Reinen" als logische Idee, das heißt von einer  absoluten und überempirischen Gleichheit und Übereinstimmung (Konformität, Identität mathematischen Kontinuität etc. der rein logischen, identischen) Glieder ausgehen, Glieder, die im Grunde  empirisch verschieden  und  mathematisch relativ diskontinuierlich  angelegt sind. Hierdurch geschieht es, daß die Beweise des "rein" Logischen und "rein" Mathematischen in ein "rein ideales" schlechthin überempirisches und übersinnliches Gebiet fallen, das mit dem  wirklich Empirischen (und Individuellen)  unvermittelt  bleibt. Ja, mehr noch, geleitet durch KANTs Irrtum glauben viele Ontologen und ontologisierende Mathematiker, daß alle im übersinnlichen Reinen und in der reinen Metaphysik schwebenden Beweise reiner Logik und Mathematik, echte  lebenswirkliche Synthesen  (Urteile) sind, obwohl solche für das Gebiet des echt Anschaulichen, Empirischen und Individuellen (wegen der dogmatisch vorausgesetzten  absoluten Gleichheit der Glieder, die sich im Empirischen nicht findet),  nur eine  ganz widerspruchsvolle Pseudo-Gültigkeit  haben.

Der Mangel an Einsicht in diesen Tatbestand hat die so notwendig gewordene Reform der Logik nach dieser Seite hin gehindert. Auch LOTZE hat sie nicht in Angriff genommen; denn er, wie kein anderer, befand sich hierüber unter dem Bann der Ontologen, und nur wenige Stellen in seinen logischen Ausführungen deuten auf die neue Aufgabe hin. Diese Reform müßte freilich gleichwohl viel tiefgreifender sein, als die oberflächlichen Bestrebungen, die hierüber in der neuesten Literatur dieses Fachs bekannt geworden sind. Anstatt die Logik und die "reine" Mathematik in dieses Fahrwasser empirisch-logischer Umgestaltung aus wissenschaftlichen Rücksichten hineinzudrängen, bleibt man indessen entweder bei JOHN STUART MILL, oder autoritätsgläubig bei ARISTOTELES, und so ist es kein Wunder, wenn man noch heute oft genug das Wort LEIBNIZ' wiederholt findet, daß die Logik bis auf unsere Tage keine wesentlichen und nennenswerte Fortschritte gemacht hat.

Wir mögen uns drehen, soviel wir wollen, was uns seit ARISTOTELES unter formaler Logik, oder seither unter metaphysischer (idealer oder auch materieller) Logik geboten wird, sind nichts weiter, als schlechthin überempirische, übersinnliche, eleatisierende Dogmen, welche in der rein ontologischen Voraussetzung und Idee einer starren, festen, objektiven und schlechthin kontinuierlichen Gemeinschaft, Gleichheit und dementsprechenden Übereinstimmung (absoluten Konformität) von Subjekt und Objekt (Ich und Nicht-Ich) beruhen.

Wenn der Kritizismus zur Geltung kommen soll, so muß, bevor man die hier gestellte Aufgabe löst, die Frage untersucht werden, ob mit der kantischen Auffassung über die sogenannte "reine" Anschauung die hierhergehörigen Fragen zu lösen sind. Wir haben dargetan, daß die sogenannte "reine" Anschauung eine ansich starre, unwirkliche Anschauung ist, welche die in ihr liegende sogenannte "reine" Idee zu einer versteinerten und erstarrten Mumie macht. Alle Formen dieser reinen Idee, die zur Geltung gebracht werden in der "reinen" (formalen) Logik, und ebenso in der "reinen" Mathematik, behalten, wie deutlich aufgewiesen wurde, diese schlechthin überempirische Starrheit ansich. (54)

Mit dieser "Starrheit" trennt sich eben diese rein überempirische Idee widerspruchsvoll von der kritisch echten  lebenswirklichen und wahren Idee, die als ein Mittleres und Vermittelndes, ebensosehr in der Vielheit, Mannigfaltigkeit und im empirisch Einzelnen, real Individuellen des Lebenswirklichen, wie andererseits in der geforderten Norm jener Einheit gefunden wird, die als ein unsichtbares Band (das ist als ein Regulativ und Postulat, das allen Einzelnen der Anlage nach innerlich gegeben und eingeboren ist), diese relativ ungleiche Vielheit und Mannigfaltigkeit der Einzelnen verbindet.  Wenden sich die Einzelnen dem Regulativ zu, so tritt diese Anlage deutlicher hervor, wenden sie sich ab, so tritt sie verschwindend, und sich der  0  nähernd, zurück. Das  wahlfreie Verhalten  der Einzelnen als Faktoren begründet im Gegensatz zum Ontologismus und Empirismus hiermit den Regulativismus oder Postulativismus. Was KANT in den ersten beiden Kritik (durch die Aufnahme einer ansich starren, überempirischen reinen und praktischen Vernunftidee)  verfehlte, gewann er sich annähernd zurück durch die Vollendung seines kritischen Gesamtwerkes in der "Kritik der Urteilskraft". Die zuvor in den beiden ersten Kritiken rein überempirische, ansich starr und lebensunwirklich hingestellte Vernunftidee, wendet sich hier  vermittelnd  ins Sinnliche (Ästhetische) und raumzeitlich Anschauliche und Evidente zurück. Die sogenannte "reine" Anschauung wird hier umgetauscht gegen die logisch-sinnliche, ästhetische Lebensanschauung und ideale Naturanschauung. Nicht mehr in starren, toten und "rein" mathematischen Symbolen, nicht mehr in toten Worten, Zeichen und Buchstaben, die zu festen Dogmen erstarrt sind, wird hier die wahre und die unvergängliche Idee abgelesen, sondern nur in solchen anschaulichen Symbolen der Form, die mathematisch und logisch gebaut, hinreichend wiedererkannt werden, in empirisch wirklichen und zugleich ideal geordneten Naturgebilden, deren Gliederbau uns rhythmisch und architektonisch anspricht (sie oben). In diesen ebensosehr empirischen, wie andererseits vermittelnden, die innere Vernunftidee aussprechenden Gebilden, leuchtet uns die wahre und echte kritische Idee entgegen. Diese Gebilde bilden Schemata, die ebensosehr  sensifizierbar  sind in logisch und ideal gestalteten empirischen  Natur- und sinnlich wahrnehmbaren Kunstformen, wie sie andererseits  intellektuierbar  erscheinen durch ein daran ermöglichtes ästhetisch-mathematisches Beweisverfahren für den wahren Ausdruck der Idee. Die "kritische" Vernunftidee soll, wie wir oben sahen, eine Einheit der Mannigfaltigkeit sein, daher keine starre Einheit (einer sich selbst gleichen, inhaltlosen Zahl oder streng kontinuierlichen Ebene), aber auch keine starre und zugleich ideenlose Mannigfaltikeit und Vielheit (als absolute Getrenntheit und Disparatheit im Auseinanderfall der Glieder). Die hiermit unter einem kritischen Gesichtspunkt gefundene wahre Idee und Norm stellt sich nicht, wie unter einem dogmatisch-ontologischen Gesichtspunkt dar: als eine  ausnahmslos herrschende  Macht und eine überirdische Gewalt im Sinne der platonischen Auffassung, welche der Idee (in einem überempirischen Jenseits) eine  Wirklichkeit  zuspricht. Sie schließt ebensowenig ein absolut ausnahmsloses, direkt herrschendes, schlechthinniges Gesetz ein, das alle Bewegungen der Einzelnen in den freiheitslosen Schraubstock der Notwendigkeit bannt und schlechthin präjudiziert. Die Idee auf der Höhe der Kritik besitzt keine Wirklichkeit und ist kein Gesetz ansich, sondern sie ist ein kritisches Gesamtregulativ oder Gesamtpostulat, das Geltung fordert. Als Postulat ist sie daher nur ein ideales Produkt der Verwirklichung. Hier gilt zugleich das weithin leuchtende Ergebnis von LOTZEs Forschung: "Daß Gesetze ansich nicht  sind,  sondern nur  gelten."  Wenn aber die logische Idee als ein Postulat nur gilt, ao ist sie unter der so gefundenen Form des Postulats und Regulativs doch sehr viel mehr als alle die ideenlosen Ergebnisse und Feststellungen der Forschungen der Empiristen, die nur empirisch zusammengestellt und gefunden, das empirisch zufällige Moment in der Geltung nicht abschütteln können. Empiristen, welche nach allen Seiten die Erfahrung um Rat angehen, können von hier aus allein in ihren Resultaten und Endergebnisse überhaupt nicht auf echte Ideen stoßen. Denn, wir wiederholen, die Idee und Norm wird beständig aus dem gegebenen Innern (im Apriori) als ein in der  angeborenen Tiefe unseres Geistes gelegender Urgedanke gefunden.  Erst wenn man ihn von hier aus zu den physischen, ethischen und ästhetischen äußeren Erfahrungen  hinzubringt,  ergeben sich alsdann die Erfahrungssummen im Sinne der Idee, und werden damit logisch, d. h. dem Regulativ und obersten Postulat (der Wahrheit)  adäquat.  Nur erst wenn dieser erste und letzte innere Urgedanke aus dem Grund des Intellekts selbst zu Erfahrungsergebnissen  hinzugefügt  wird, lassen sich empirische Sätze daher zu echten synthetischen Urteilen apriori zusammenfassen, aus deren  Zusammengehörigkeit von Gliedern  die logische Autorität der Idee entgegenspringt. Wird diese Hinzufügung von Innen her zu den empirischen Feststellungen  aber unterlassen,  so sehen wir, gelangt man zu rein empirischen Ergebnissen und Rezepten, die keine objektive Beweiskraft und logische Autorität gewähren. Idee und Norm sind daher im Sinne des Kritizismus nur  ein solches Postulat (Regulativ),  das eine wertvolle logisch allgemein-notwendige Beweiskraft (und damit Autorität) involviert.

Sehen wir uns nun diese logische Beweisfähigkeit des Regulativs näher an, so bemerken wir sogleich, daß es nicht dieselbe sein kann, welche die Ontologen und Dogmatiker aus ihren Dogmen herleiten; denn eben weil bei diesen Schulen die Ideen in Zeichen und Begriff als  Dogma  auftritt, sucht man derselben einen überempirischen (in Wirklichkeit niemals genau zu findenden), fingierten Inhalt  (wie etwa absolute Kontinuität und absolute Gleichheit aller einzelnen Glieder)  einzuverleiben, aus welchem sich dann ein direktes und in reinen Identitäten verlaufendes (deduzierendes) Beweisverfahren leicht ermöglichen läßt. Dieses  direkte  Beweisverfahren des ontologischen Syllogismus in allen seinen Wendungen und in allen sich daran anlehnenden Hilfsmitteln der reinen und formalen Logik, und reinen Mathematik kann freilich hier, wo es sich um den Beweis für den Wert eines  "Sollens"  und eines Regulativs oder Postulats im Sinne unserer autorativen Norm handelt, nicht mehr in Anwendung kommen. Wird daher die höchste Idee als ein logisch-ethisches und zugleich ästhetisches Gesamtregulativ in einem richtig gebildeten synthetischen Urteil apriori verwertet, und werden dementsprechend die im logisch-synthetischen Urteil zusammengehörigen Glieder, einem richtig gestellten Raum- und Zeitschema gemäß (wie es nach Obigem kritisch konsequent gefordert wird), auf den Ausdruck einer wirklich anschaulichen Evidenz gebracht (zum Unterschied einer nur scheinanschaulichen, von rein überempirisch-mathematischen Konstruktionen, oder in sich leeren Worten und sinnlosen "reinen" Begriffen), so läßt sich daran ein indirektes, logisch-apagogisches Beweisverfahren anschließen, aus welchem der Unwert und die Absurditäten hinführenden extremen Abweichungen von einem logisch-ästhetisch geforderten Allgemeinregulativ erkennbar werden. Die Regel, die durch ein solches Beweisverfahren an einem Schema, Symbole oder Zeichen erwiesen wird, läßt sich einfach ausdrücken. Sie lautet dahin:  Setze nicht absolute Gleichheiten unter den zusammengehörigen Gliedern;  denn ein solches Beginnen ist nur rein idealistisch, nicht aber wirklich empirisch. (Weil nachweislich und tatsächlich  absolute Gleichheiten  unter wirklich empirischen Formen und Naturobjekten und deren Gliedern nicht vorkommen. Denn es gibt empirisch bekanntlich nicht zwei ganz gleiche Blätter.)

Sie lautet andererseits: Setze nicht völlige Ungleichheiten und Divergenzen, weil sich solche Glieder niemals dem logischen Postulat der inneren  Zusammengehörigkeit  fügen, und siehe daher empirisch ebenso von solchen Naturformen und Objekten ab, welche hiermit verwerflich, diesem Postulat und der geforderten logischen Idee, nicht entsprechen (55). Schließt man apagogisch diese falschen Setzungen aus, so wird man hingewiesen auf das Postulat und Regulativ der Idee, das sich in der zusammengehörigen (logischen Folge)  von nicht absolut gleichen und nicht divergenten Gliedern darstellt. (56) Dogmatiker, Ontologen und mathematische Idealisten freilich werden sich nach einer solchen Regel nicht richten, und so beweist WUNDT in seiner Logik den Begriff und seinen Gliederinhalt beispielsweise durch das "rein" mathematische Schema einer absoluten geraden Linie, die in absolut  gleiche  Glieder geteilt ist. Ein solcher (nach obigen Ausführungen) schlechthin überempirischer und übersinnlicher Begriff, darf und kann aber niemals Postulat der geforderten kritischen Idee und deren Gesamtregulativ werden; denn derartige  Gleichheiten  sind erstens kein bloß Regulatives (sondern stets fertig  Vorausgesetztes),  und zweitens würden sie bezüglich des Zusammenhangs der Glieder nur auf Überempirisches und übersinnlich Konstruktives, nicht aber auf real Lebenswirkliches gehen.

Wir blicken nun zurück und übersehen nochmals, wie sich die hervorragenden und herrschenden Richtungen in Bezug auf die Erfassung der wahren Idee und Norm voneinander scheiden.

Dem Idealisten aller Schattierungen (inklusive dem idealistischen Mathematiker) steht die Idee so übersinnlich und überempirisch erhaben, daß sie einen schematisch-empirischen, d. h. sich mit dem real Lebenswirklichen vermittelnden Beweis (siehe oben) nicht zuläßt und ermöglicht. Die Idee dieser Richtung ist und bleibt die sogenannte reine oder starre Idee, die in ihrer Tiefe unerfaßliche (indeterminable), und in dieser Hinsicht daher unbedingte, übersinnliche Idee. Es herrschte dieselbe vom Eleaten PARMENIDES und PLATON (EUKLID nicht zu vergessen) an, bis auf das kantische Ding-ansich und die Prinzipien der Idealisten. Das luftige, überirdische Gebilde dieser im schlechtesten Sinne metaphysischen und rein jenseitigen Idee verlor, wie wir erkannten, den diesseitigen Boden aller empirischen Erfahrung. Dem reinen Idealismus ist daher die Idee das vor aller Erfahrung (rein apriori) Gegebene  (ante rem  und  in re).  Diese Idee hat eine zugleich eleatisch-platonische, jenseitige Wirklichkeit und ohne sich mit dem empirischen Diesseits vermitteln zu können, soll sie dennoch der fruchtbare Schoß sein, aus dem sich alles erzeugt, und um welche sich alles Einzelne in starrer Notwendigkeit und freiheitsloser Zielstrebigkeit dreht.

Wenden wir und von den Idealisten nochmals zur herrschenden Gegenpartei, zu den Skeptikern, den naiven Empiristen und Positivisten. Ihnen sind Ideen überhaupt, wie dargelegt wurde, nur subjektive Konzeptualitäten und subjektiv begriffliche Dichtungen, bestenfalls glückliche Hypothesen, die als Synthesen hinterher den Dingen nur angedichtet und zu einem zusammenfassenden Verständnis gleichsam überworfen werden (Universalia post rem.) Solche subjektive Dichtungen erscheinen von verschiedenen Gesichtspunkten sehr verschieden, und besitzen daher niemals einen objektiven beweisfähigen Wert. Aus diesem Grund, sahen wir, erheben sich positivistische und empiristische Endergebnisse und letzte Feststellungen  nichts bis zur Höhe eines solchen Gesamtüberblicks,  der evidente Einsicht gewährt in den inneren logischen Zusammenhang aller Ideen, nämlich der des Logisch-Mathematischen, des sinnlich Schönen und des sittlich Guten. - Erst auf der Höhe des Kritizismus wird dieser Überblick erreicht, erst hier wird die Idee der Ideen als Postulat und Norm als ein letztes Gesamtregulativ erfaßt, und zwar hier als ein solches, das ebensosehr alles empirisch und idealistisch Starre, sowie alles empirisch Zufällige und objektiv Unbeweisbare abgestreift hat. Diese Generalidee tritt hier kritisch auf, als oberstes Regulativ mit indirekter Beweisfähigkeit unter einem Schema, das gebildet wird als ein Produkt der Verwirklichung aus sinnlicher, wirklicher Erfahrung und Intellekt (Apriori): nach der Formel  Universalia per res. [Allgemeinbegriffe entstehen durch die Dinge. - wp] So gefaßt, stellt sich die höchste kritische Idee kritizistisch dar unter einem logisch-mathematischen (bzw. ästhetischen) Urteil, das nur gewonnen wird, wenn man zu den beiden ersten Kritik auch das Resultat der letzten Kritik, nämlich das der "Kritik der Urteilskraft" hinzunimmt, und zugleich die Inkonsequenzen und Widersprüche tilgt, die unter diesen drei Kritiken zutage treten, durch den Widerstreit einer zuvor adoptierten,  rein überempirischen, starren Idee,  und einer uns aus ästhetisch gebauten Objekten in Natur und Kunst zugleich  empirisch ansprechenden Idee.  Die Tilgung dieses Widerstreits aber sehen wir, war die Aufgabe, welche durch die Begründung der drei Kritiken KANTs den Nachfolgern übergeben war. (57)

Wir stehen noch heute, wie am Beginn unseres Jahrhunderts, unter dem Einfluß der durch KANT begründeten Philosophie; aber schon lassen sich deutlich zwei Perioden unterscheiden bezüglich der Nachwirkungen seiner Prinzipien und Gedanken.

Die erste Periode charakterisiert sich philosophisch durch die völlige Hingabe der Epigonen an die Resultate der "Kritik der reinen Vernunft" und die hier niedergelegten Lehren über die bloße Phänomenalität der Außenwelt und das rein übersinnliche Ding-ansich, das für KANT als eine schlechthin übersinnliche und überempirische IDee noch leitsam war in der "Kritik der praktischen Vernunft" und seinen inneren Widerspruch mit dem Empirischen deutlich nur erst hervorkehrte in der Kritik der Urteilskraft. Das Streben zum Reinen und zum schlechthin Übersinnlichen, Intelligiblen im Sinne PLATONs tritt in den Vordergrund und bewegt alle Geister. Von ihm wird FICHTE erfaßt, um seinem ethischen Idealismus Ausdruck zu verleihen, nicht minder SCHELLING, als er den naturphilosophischen Idealismus, und in seinem Identitätssystem den absoluten Idealismus ausbildete, den HEGEL in die Dogmatik seines Panlogismus auslaufen ließ. Die religiösen Gefühlsphilosophen, ebenso wie die Philosophen des Willens, das sind die JACOBI, SCHLEIERMACHER und die SCHOPENHAUER, FRAUENSTÄDT, HARTMANN halten allesamt den Blick gerichtet auf eine Idee, die als ein Noumenon schlechthin transzendent und überempirisch auftritt, sie bleibt das Weltwunder, das mystisch und unfaßbar hinter dem Abspiel der Erscheinungen stehen bleibt. Dieser ersten Hauptperiode gegenüber hebt sich eine zweite heraus, sie war schon bis zu einem gewissen Grad eingeleitet worden durch SCHILLER und die Ästhetiker, welche hinreichend tief erkannten, daß die Ergebnisse der "Kritik der Urteilskraft", mit denen der ersten Kritiken im vollsten Widerspruch stehen. Es mußte daher eine Aussöhnung zwischen dem Empirischen und Überempirischen der Idee erfolgen. KANTs Rigorismus und GOETHEs Sinnlichkeitstrieb mußten sich vereinigen. Aber eben  der hier geforderte ideale Spieltrieb,  mit seiner Norm als oberstes Postulat, gegenüber den Abweichungen nach Seiten des übersinnlich Abstrakten und der konkreten Divergenzen, und seine Erfassung in einem evidenten Schema, ist die Aufgabe, auf welche wir hinwiesen, und zu deren Lösung wir berufen sind. Welches Schema kann uns das Postulat eben dieses geforderten idealen Spieltriebes verdeutlichen, um an ihm die Klarheit dieser Forderung, gegenüber den genannten Abweichungen nach Seiten einer rein abstrakten oder konkreten Häßlichkeit evident zu machen? Diese und keine andere Aufgabe ist das philosophische Ziel. Erst diese Aufgabe wird uns zugleich der Lösung näher bringen, die wir von der Richtigstellung der Ethik, Logik und Ästhetik im Zusammenhang damit zu erwarten haben.

Versuchen wir aber diese Aufgabe, so übernimmt vor dem philosophischen Blick das richtig gestellte Postulat der Kunstidee nach außen hin den Nachweis, an den Gebilden und Formen unserer empirischen Welt erkennbar zu machen, wie unsäglich viele derselben von dieser Norm abfallen und in ihrer Minderwertigkeit das Ziel nicht erreichen und in der Zusammensetzung ihrer lebendigen Teilchen dasselbe gar nicht erstreben. Deutlich und klar wird uns erkennbar gemacht, wie die Norm und Idee des Guten, Wahren und Schönen, sich in der Tat in den Zusammenhangsformen unserer Welt vielfach einander widersprechen, in ihrer Richtigstellung zueinander aber innerlich und ideal theoretisch ergänzen und tragen. - Daraus folgt in praktischer Hinsicht, daß wir in  dieser Welt  mit ihren Erscheinungen auf unserem Planeten, zu einem relativen, tatsächlichen Pessimismus berechtigt sind. Damit aber erkennen wir umso deutlicher in sittlich-religiöser Hinsicht, daß wir nur in unserer empirischen Welt, d. h. auf unserem Planeten, unter dem Eindruck eines ideenlosen Abfalls der meisten Formen leben, und daher allen Grund haben, in religiöser Beziehung zu hoffen, daß es anderswo im großen Universum  glücklichere  Welten gibt, auf denen es den Bewohnern und Teilchen leichter gemacht ist, die Normen des Guten, Wahren und Schönen in ihren Zusammenhangsformen zu verwirklichen. Metaphysisch und philosophisch prinzipiell kann man daher nicht  "absoluter"  Pessimist sein; denn der Abfall ist nicht radikal, sondern nur partial. Mögen die Teilchen und Zusammenhangsformen  dieser  Welt, sollten sie dem Bestreben einer idealen Besserung nicht genügen wollen, oder in Zukunft wohl gar nach rückwärts noch mehr und schlimmer  in Mißverhältnissen  aller Art untertauchen, sich dereinst im Untergang auflösen, so werden sie trotzdem nicht dem absoluten Nichts verfallen, aber die Besseren weren sich alsdann anderen besseren Welten anschließen, um anderswo schöneren Formen entgegenzugehen. Diejenigen aber, die jede Besserung in Verblendung oder böser Absicht verschmähen, müssen von Neuem in den Ausbau niederer und schlechter Welten zurücksinken. Das ist die Einsicht, die uns in religiöser Hinsicht für immer verbleiben muß.
LITERATUR - Otto Caspari, Hermann Lotze in seiner Stellung der durch Kant begründeten neuesten Geschichte der Philosophie und die philosophische Aufgabe der Gegenwart, Breslau 1895
    Anmerkungen
    47) RICHARD AVENARIUS, Philosophie als Denken der Welt, gemäß dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes. Prolegomena zu einer Kritik der reinen Erfahrung. Leipzig 1876.
    48) Zur Widerlegung des Satzes: Über Geschmack läßt sich nicht streiten, von ALBRECHT KRAUSE, Lahr 1882.
    49) Vgl. CASPARI, Drei Essays über Grund- und Lebensfragen der philosophischen Wissenschaft, Breslau 1888, Seite 67f.
    50) Ich erinnere hier nochmals an die Worte LOTZEs, Grunzüge der Religionsphilosophie, Seite 18: "Der gewöhnliche Sprachgebrauch redet von einer  Herrschaft,  welche die Gesetze über die Dinge ausüben; aber er erklärt weder den  Gehorsam  der Dinge, noch die Macht, mit der die Gesetze ihn etwa erzwingen könnten. Vor allem muß man sich überzeugen, daß Gesetze nicht neben, zwischen, außer oder über den Dingen als eigentümlich reale Wesen ihr Dasein  für sich  haben können."
    51) Vielleicht ist für Kunstkritiker vom philosophischen Gesichtspunkt hier die Bemerkung am Platz, daß beispielsweise in der Musik von RICHARD WAGNER diese ins Transzendente steuernde Richtung geradezu angesetrebt wird.
    52) Vgl. LAAS, Idealismus und Positivismus. Eine kritische Auseinandersetzung. Zweiter Teil: Idealistische und positivistische Ethik, Berlin 1882.
    53) Diesen Standpunkt hatte KANT nur erst in der "Kritik der Urteilskraft" annähernd aufgesucht und eingenommen.
    54) Vgl. hierüber: Drei Essays, a. a. O., Seite 31f.
    55) Wie ein solches indirektes Beweisverfahren an einem ästhetischen Schema von Gliedern durchzuführen ist, habe ich genauer in meinen "Grundproblemen der Erkenntnistätigkeit" angedeutet (Bd. II, Seite 289f).
    56) Die Forderung eben dieser Form habe ich in "Drei Essays etc." auseinander gesetzt.
    57) Siehe hierüber meine "Drei Essays", a. a. O., Seite 93f