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GEORG SIMMEL
Vorformen der Idee
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"Das Material unserer Anschauungswelt ist nicht dasjenige, das wirklich da ist, sondern der Rest, der nach dem Fortfall unzähliger möglicher Bestandteile übrigbleibt. Wenn also ein bedeutender moderner Maler gesagt hat: Zeichnen ist Weglassen - so ist die Voraussetzung dieser Wahrheit die andere: Sehen ist Weglassen. Insofern ist der künstlerische Prozeß überhaupt die Fortsetzung und systematische Steigerung der Art, wie wir überhaupt die Welt wahrnehmen. Das Weglassen ist hier künstlerischer Selbstzweck, während es in der Praxis eine leidige Notwendigkeit ist."

"Das Recht ist am Anfang seiner Entwicklung wesentlich auf die Wahrung des Friedens gerichtet und ist vor allem bestrebt, die Bedrohung des Gesamtwesens durch individuelle Gewalttätigkeit zu beseitigen: seine Friedenswirkung überschattet ursprünglich seine Gerechtigkeitswirkung. Die Gesamtheit will leben und aus diesem Willen heraus und als seine Mittel bildet sie die Formen, die das Verhalten der Einzelnen regeln."

Verfolgt man diese vom Leben und seiner praktischen Eingerichtetheit getragenen Funktionsarten unseres Sehens über das von der Praxis ihnen gegebene Maß hinaus, so stößt man in ihrer Richtung auf die Schaffensart der bildenden Kunst. Denn dies ist doch wohl deren erste Leistung: daß sie ihr Gebilde als eine selbstgenügsame Einheit den kontinuierlichen Verflechtungen des realen Daseins enthebt, die verbindenden Fäden zu allem Außerhalb abschneidet, eine Form aufbringt, die, ihrem Sinn nach, nichts von Werden, Sich-Ändern, Vergehen weiß. Aber dies ist jetzt keine Technik, die das Leben für Organisationen unserer Art innerhalb unseres Milieus notwendig macht - wobei die Heraussonderung eines Gegenstandes als "eines", als Exemplar eines Begriffs, doch nur geschieht, um ihn sogleich wieder dem kontinuierten weitströmenden Lebensverlauf einzufügen -, sondern eine solche Formung ist ein Selbstzweck der Kunst; der Inhalt, das eigentlich Gegenständliche, ist jetzt kein Lebensbestimmendes, das um eben dieser Verknüpfung willen in diese Form gefaßt werden muß, sondern er wird als ein relativ zufälliger gewählt, damit diese künstlerische Form sich an ihm darstellt, damit sie ist - wie in der Wissenschaft alle Dinge gleichberechtigt waren, weil sie als Material des Erkennens als Endzweckes überhaupt nicht "berechtigt", sondern gleichgültig sind. Dies ist das legitime Moment an der Behauptung, daß für das Kunstwerk sein gegenständlicher Inhalt gleichgültig wäre. Allein gerade von ihm aus wird sie für die tatsächliche Kunstübung wieder dementiert, da verschiedene Gegenstände ja doch ganz abgestufte Möglichkeiten gewähren, das rein artistische Sehen an ihnen zu realisieren. Ihre Unterschiedlichkeit in dieser Hinsicht gewährt den Inhalten wieder einen Wertunterschied für die Kunst, aus der ihre, anderen Wertkategorien entstammenden Differenzen mit Recht verbannt bleiben. - Man kann den Schaffensprozeß in der bildenden Kunst als eine Fortsetzung des künstlerischen Sehprozesses deuten. Die äußeren und innere Gesichte sind bei den andern Menschen in die mannigfaltigsten praktischen Reihen derart verflochten, daß sie diesen zwar einzelne Inhalte und Modifikationen geben können, aber der eigentliche Anstoß und das durchgehende Telos geht nicht vom Sehen als solchem aus; dieses bleibt hier ein bloßes Mittel sonst schon beabsichtigter Aktivitäten, und wo es das nicht ist, ist es nur kontemplativer Art, ein überhaupt nicht in Tätigkeit sich umsetzendes Schauen. Bei einem Maler aber scheint sich, in den Stunden seiner Produktivität, der Sehakt für sich allein gewissermaßen in die kinetische Energie der Hand umzusetzen. Daß bekanntlich viele Künstler auch bei freiestem Umbilden der Natur nur das zu schaffen meinen, was sie "sehen", mag wohl auch aus dem Gefühl dieser unmittelbaren Verbindung stammen; nur daß diese Künstler als eine sozusagen substanzialistische Übertragung des formal Gleichen deuten, was in Wirklichkeit etwas Funktionelles, gegen Gleichheit oder Ungleichheit von Ursache und Wirkung ganz Gleichgültiges ist: das Schöpferischwerden des bloßen Sehens, das seine Kraft sonst nur stützend und vermittelnd in Strömungen aus anderen Quellflüssen mischt. Dieses selbständige, selbstverantwortliche Sichfortsetzen des Sehprozesses in das Tun des Künstlers entspricht aber ersichtlich einer im sonstigen Sehen nicht vorhandenen Selbständigkeit des künstlerischen Sehens selbst. Das Sehen ist hier aus seiner Verwebung mit den praktische, nicht optischen Zwecken gleichsam isoliert, es verläuft ausschließlich nach seinen eigensten Gesetzen; so daß man das Sehen des Künstlers mit Recht als ein schöpferisches bezeichnet hat - aber schließlich kann es sich doch nur durch die eben hierdurch bewirkten Modifikationen vom Sehen der Menschen überhaupt unterscheiden.

Es hat nur die Drehung stattgefunden, daß nicht um der Inhalte willen die Sehensfunktion in Kraft tritt, sondern um dieser willen und durch sie die Inhalte kreiert werden; in einem zugespitzten Ausdruck: im allgemeinen sehen wir um zu leben, der Künstler lebt um zu sehen. Freilich vergesse man nicht, daß immer und überhaupt der ganze Mensch sieht, nicht nur das Auge als anatomisch differenziertes Organ. Wenn nun das Auge des Künstlers wirklich in einem besonders autonomen, ausschließlichen Sinn sieht, so ist die Meinung nicht etwa die, daß sein Auge in entschiedener Abstraktion vom eigenen Leben funktioniert, als bei anderen Menschen. Sondern umgekehrt, bei schöpferischen Künstler geht eine größere Summe von Leben in sein Sehen hinein, die Lebensganzheit fügt sich williger ein, in diese Richtung kanalisiert zu werden. Nur sekundär und sozusagen technisch hat der Künstler mehr Sehen in seinem Leben als andere; primär und wesentlich hat er mehr Leben in seinem Sehen; was eben jene Wendung ausdrückt: daß die innerhalb und zu den Zwecken des realen Lebens erzeugte Form eine ideale Welt erzeugt, indem sie sich nicht mehr in die vitale Ordnung einfügt, sondern selbst eine Ordnung bestimmt oder ausmacht, in die sich das Leben - als Wirklichkeit, als Vorstellung, als Bild - einzufügen hat.

Ich erwähne nur einen einzelnen Zug dieses Verhältnisses zwischen dem praktisch empirischen Sehen und dem künstlerischen Sehen und Gestalten. Jede optische Wahrnehmung bedeutet unmittelbar eine Auswahl aus unbegrenzten Möglichkeiten; innerhalb jedes jeweiligen Gesichtsfeldes betonen wir aus Motiven, die mit dem bloß Optischen nur in Ausnahmefällen zu tun haben, immer nur einzelne Punkte, Zahlloses läßt die Wahrnehmung außerhalb ihrer, als ob es überhaupt nicht da wäre, auch an jedem einzelnen Gegenstand bestehen soundsoviele Seiten und Qualitäten, die unser Blick übergeht. Unsere Formung der Anschauungswelt geschieht also nicht nur durch benennbare physisch-psychische Aprioritäten, sondern fortwährend auch in negativer Weise. Das Material unserer Anschauungswelt ist also nicht dasjenige, das wirklich da ist, sondern der Rest, der nach dem Fortfall unzähliger möglicher Bestandteile übrigbleibt - was dann freilich die Formungen, die Zusammenhänge, die Einheitsbildungen des Ganzen in sehr positiver Weise bestimmt. Wenn also ein bedeutender moderner Maler gesagt hat: Zeichnen ist Weglassen - so ist die Voraussetzung dieser Wahrheit die andere: Sehen ist Weglassen. Insofern der künstlerische Prozeß überhaupt in dieser Richtung charakterisiert werden kann, ist er - unter jener völligen Drehung der Intention - die Fortsetzung und sozusagen systematische Steigerung der Art, wie wir überhaupt die Welt wahrnehmen. Das "Weglassen" ist hier künstlerischer Selbstzweck, während es in der Praxis eine leidige Notwendigkeit ist. Der Künstler - dies kam schon vorhin in Frage - sieht mehr als andere Menschen: d. h. nun, er muß ein viel größeres Material haben als andere, weil er viel mehr "wegläßt", und weil das Schöpfertum des Sehens einen viel größeren Spielraum verlangt als das Leben, für das das Gesehene nur ein Element ist, das noch dazu durch den außerhalb gelegenen Vitalzweck von vornherein determiniert ist. Wir sind also wirklich alle, als Sehende, fragmentarische oder embryonale Maler wie wir, als Erkennende, ebensolche Wissenschaftler sind. Aber dieser bloße graduelle Unterschied läßt die wesentliche Entwicklung noch nicht erkennen, die vom Vitalvorgang zu einem idealen Gebilde führt, und man darf das letztere ja nicht als graduelle Steigerung des ersteren verstehen. Diese ist nur eine Art äußerer Index für das Wesentliche, für die Einsetzung der formalen Funktion oder der Idee an die dominierende Stelle, die sonst das Leben einnahm - wobei der Gegensatz jener Intention gegen diese doch insofern eine Fortsetzung und Versöhntheit ist, als die jetzt dem Leben gegenüber souveräne Funktion durch und für das Leben erzeugt war.

Daß die Lebensrealität in dieser Beziehung als Vorform der Kunst auftritt, offenbart sich neben den so exemplifizierten subjektiven Fällen auch an objektiven. Die künstlerischen Gebilde primitiver Völker gehen oft davon aus, daß z. B. ein Stein ungefähr an eine Menschen- oder Tiergestalt erinnert und sie nun durch ein Abschlagen, Färben oder sonstiges Nachhelfen diese Ähnlichkeit vervollständigen. Das erste ist ein assoziativ-psychologisches Ereignis, eine der Verwebungen von Optik und Begrifflichkeit, die das praktische Leben auf Schritt und Tritt tragen. Äußerlich angesehen, ist nun das genauere Herausarbeiten der Ähnlichkeit nur ein graduelles Weiterführen einer solchen Analogiebildung. Dem Sinn nach aber ist es eine ganz prinzipielle Drehung. Nachdem die gegebene Gestalt im Verlauf des seelischen Prozesses etwa zum Bild eines Fischers geführt hat, wird dieses nun seinerseits aktiv, schafft von sich aus, nach den Gesetzen, die ihm ausschließlich einhaften, ein sichtbares Gebilde. Zuerst hat die Steingestalt zur Idee des Fisches geführt, dann die anschauliche Idee des Fisches zu einer Steingestalt. Der Sehprozeß, durch die Verkettung mit der äußeren und zufälligen Wirklichkeit zu einer Formwahrnehmung bewogen, reiß jetzt die selbständige Führung an sich: daß das Gebilde als Fisch gesehen wird, ist jetzt nicht mehr das Bestimmte, sondern das Bestimmende, das Sehen erzeugt jetzt, von seiner einmal gewonnenen Ausgestaltung her und in seiner reinen produktiven Fortsetzung, das künstlerische Gebilde, nachdem es durch die Einwirkung des natürlichen Gebildes zu eben dieser Gestaltung gekommen war. In SCHELLINGs System erzeugt die Natur mittels einer Stufenreihe der Erscheinungen den Geist, andererseits der Geist mittels der Kunst eine (höhere) Natur. Diese innerlich unverbundene, parallele Gegenläufigkeit wird durch die hier angedeutete Achsendrehung der geistigen Funktion in eine einheitliche Einreihigkeit gestellt: in seiner Funktionalität wie in seiner singulären Inhaltlichkeit wird der Sehprozeß von der Lebenswirklichkeit getragen, bis zu dem Punkt, wo er seinerseits die weitere Lebensfunktion und damit deren Produkt, das Kunstwerk, von sich aus bestimmt. Jetzt wird das Herausschneiden, das Sinn-Geben, die Einheitlichkeit, die unser "Sehen" gegenüber der objektiven Natur bedeuten, weil dieses Sehen nur so praktisch möglich ist, zum Für-Sich-Entscheidenden, das Leben trägt die Form nicht mehr, um sie wieder in sich einmünden zu lassen, sondern diese enthebt die Seinsinhalte der sonst von ihr vermittelten Lebensverknüpfung, um sich souverän an diesen Inhalten auszugestalten, woher einerseits das Gefühl von Freiheit begreiflich wird, das aller Kunst, in ihrem Prozeß wie in ihrem Ergebnis innewohnt - denn hier schafft der Geist wirklich ex solis suae naturae legibus [nach den Gesetzen seiner eigenen Natur - wp] - andererseits der Inhalt des Lebensprozesses, insofern er rein naturhaft-wirklich und weltverwebt auftritt, sich als Vorform des Kunstwerks offenbart.

Das Gefühl von Reinheit und Unschuld, das als durchgehende Kompetenz der Kunst gelten kann, mag mit der so bezeichneten Unabhängigkeit von aller Weltgegebenheit zusammenhängen, mit deren ganzer Problematik und Werzufälligkeit uns sonst das Sehen und das daran anschließende Handeln sozusagen vermischt. Die Kust mag eine noch so anstößige Szene darstellen. dieser Charakter eignet ihr doch nur, insofern sie erlebt wird, ihr Inhalt also unter einer ganz anderen Kategorie steht, als unter der des bloßen Schauens. Man deutet wahrscheinlich jene Reinheit der Kunst falsch, wenn man sie als eine positive Gesinnung ansieht, wie sie unter dem gleichen Namen auf ethische oder auf religiöse Weise besteht. In diesen Fällen handelt es sich um eine Reinheit des Lebens, bei der Kunst aber um eine Reinheit vom Leben. Deshalb wehren sich die Künstler gegen alles Moralisieren gegenüber ihren Vorwürfen: sie fühlen sich durch dieses, das nur die Lebensform dieser Vorwürfe betrift, gar nicht getroffen. Denn, gleichgültig wieviel Leben in das künstlerische Schaffen eingeströmt ist und wieviel von ihm ausströmt: als künstlerisches ist es vom Leben, innerhalb dessen das Schauen jedenfalls nur ein Element unter anderen ist, gelöst und ist nur ein Schauen und dessen "reine" d. h. von allen Lebensverflechtungen gesonderte schöpferische Konsequenz. Die künstlerische Anschauung, als die ungestörte Herrschaft des Anschauungsprozesses als solchen, ist so wenig Abstraktion, daß eher die praktisch-empirische Anschauung so zu bezeichnen wäre. Denn gerade dadurch, daß das nicht-künstlerische Bild der Dinge von lauter nicht anschaulichen Gerichtetheiten, Assoziationen, zentrifugalen Bedeutungen durchwachsen ist und als eines der vielen koordinierten Mittel für praktische Zwecke dient, muß es von der ganzen Fülle und reinen Konsequenz des anschaulichen Phänomens als solchen abstrahieren, die Praxis nimmt nicht das ganze angeschaute Ding, sondern nur das Quantum seiner Anschauung auf, das sie für ihre ganz anderen Zwecke braucht. In ihren Zusammenhängen ist das angeschaute Ding vielleicht der Totalität des Lebens verschmolzen, als Anschauung aber ist es hier ein bloßes Fragment, durch einen Abzug von der Totalität seines Angeschautwerdens zustande gekommen. Hier liegt die tiefe Verwandtschaft wie der breite Abstan zwischen der geometrischen und der künstlerischen Anschauung. Den letzteren, selbstverständlichen vorbehalten, kann man sagen, daß beide ihre Vorformen in jenem alltäglichen, praktisch dirigierten Anschauen der Dinge haben. Die Geometrie spricht die Gesetze aus, nach denen die besondere Art unserer räumlichen Anschauungen zustande kommt, sie ist also in der konkreten Gegebenheit eben dieser latent enthalten, und indem wir die konstruktive Handlung des räumlichen Anschauens in ihrer reinen, von aller Gegenständlichkeit absehenden Konsequenz vollziehen, entsteht das geometrische Gebilde. Die Geometrie beschreibt - nach der kantischen Auffassung - die reinen und konsequentesten Formen des Anschauens des Gegenstandes, wie die bildende Kunst das Anschauen des Gegenstandes den Verflechtungen des Lebens entreißt, innerhalb deren sein Anschauungsbild ein bloßes Mittel und nichts für sich Sinnvolles ist.

Ich führe das noch an einem abgelegenen und diffizilen Fall aus. Altjapanische Teeschalen, wie sie jetzt Sammelgegenstände bilden, sind vielfach von feinen goldenen Linien durchzogen, mit denen Sprünge oder ausgeschlagene Stücke repariert sind. Für den europäischen Blick wirken diese Steingutstücke überhaupt zunächst rustial, ja roh und zufällig und offenbaren erst langer Kennerschaft ihre Schönheiten und Tiefen. Aber auch dann sind sie nicht im gewöhnlichen Sinn "Kunst", wie es etwa chinesische Porzellane sind, sondern wirken wie ein gewisses Mittleres zwischen einem zufälligen Naturprodukt und stilisierter Kunst, für dessen charakteristische Einheit unsere Ästhetik keine Kategorie hat. Auch handelt es sich nicht etwa um die Synthese der naturalistischen Kunst, denn keine dargestellter Inhalt, sondern das unmittelbare Dasein des Gebildes ist naturhaft. In Farbenstellung und Oberflächenbehandlung klingt zwar immer ein Natureindruck an: an einen Stein oder eine Fischhaut, an Baumrinde oder Wolkenfärbung wird man erinnert. Aber dies ist keine naturalistische Nachahmung, sondern - da man diesen fremdartigen Eindruck nur symbolisch bezeichnen kann - als hätte die Natur die optischen und taktilen Elemente, die sie an den genannten Gegenständen hervortreibt, jetzt in irgendeiner Abwandlung durch die Hand eines Japaners hindurchwachsen lassen. Während hierin nun die Sprünge und Lücken etwas rein naturhaft Zufälliges sind und im unausgebesserten Zustand selbstverständlich auch so wirken, ergeben die ihnen folgenden goldenen Linien, wie durch eine prästabilierte Harmonie, in außerordentlich vielen Fällen ein hinsichtlich der Führung wie der Flächenverteilung wahrhaft entzückendes, künsterlisch ganz vollkommenes Bild, ein so vollkommenes, daß man oft nur schwer an die Zufälligkeit der Risse glauben mag. Nirgends vielleicht erscheint unser Prinzip markanter als hier, wo sich der künstlerische Prozeß absolut eng an die Naturansich anschließt und seine Wahlfreiheit nur an der Breite, dem Relief und der Tönung der Goldlinien zeigen kann. Unmittelbarer als irgendwas sonst hat sich das, was der Künstler sieht, in das umgesetzt, was er tut. Aber jener Umschwung des Eindrucks von einem naturhaft bestimmten empirischen zu einem zweifellos künstlerisch formalen offenbart, daß hier eine prinzipielle Wendung geschehen sein muß. Solange der Bruch der Schale in seiner ursprünglichen Form besteht, wird zwar sein optisches Bild auch erst von einem synthetischen Sehprozeß erzeugt; allein so ist es rein naturhaft und durch die Verflechtung unseres Blickens mit der Naturgegebenheit bestimmt. Aber nun übernimmt die so zustande gekommene optische Form die Leitung der künstlerischen Aktivitätt. Ist das Sehen der gegebenen Wirklichkeit und innerhalb unserer Lebensverflechtung mit ihr die Vorform der Kunst, und entsteht Kunst, indem das Sehen sich aus dieser Verflechtung löst und von sich aus das Leben des Schaffenden in seine autonomen Rhythmen hineinleitet - so ist es nun hier das empirisch, im Zusammenhang der Wirklichkeit wahrgenommene Linienbild, das für den keramischen Künstler zur Richtschnur dafür wird, wie er die Schale aussehen machen will. Das Kunstwerk entsteht durch die Emanzipation des Gesichtsbildes vom praktischen Leben, die in der Formung eines neuen, nun der Funktion des Sehens gehorsamen Gebildes produktiv wird.

Wenn dieser Sachverhalt gilt, so erklärt sich mit ihm das öfters gehörte Paradoxon: daß die Natur für jede Zeitepoche so aussieht, wie die jeweilige Kunst ihrer Künstler es ihr vorschreibt; wir sähen die Wirklichkeit nicht "objektiv", sondern mit den Augen der Künstler an. Gleichviel ob dies die ganze Wahrheit ist - ein Teil der Wahrheit ist es jedenfalls. Die Möglichkeit davon aber, daß die Kunst unsere Art des Sehens bestimmt, liegt darin, daß das Sehen die Kunst bestimmt hat. Nachdem unser Leben in der Welt das Sehen ausgebildet hat, entnehmen die Künstler die Sehfunktion diesem Zusammenhang zu einer gesonderten Ausbildung, zu der selbstgenügsamen Fähigkeit, die Dinge in einen nur durch das Sehen geschaffenen Zusammenhang einzustellen. Und dies wirkt nun auf das empirisch-weltmäßige Sehen zurück: die Genesis der Kunst aus ihrer vitalen Vorform hat die Brücke geschlagen, auf der sich die Kunst wieder dem Leben zurückverbindet. Wir alle sind präexistenziale Maler und deshalb fähig, nachdem der wirkliche Maler uns den Weg gebahnt hat, ihm nachzugehen. Die Künstler verfahren nur ungefähr wie der Denker, der, wenn die Erfahrung vorliegt, aus ihr die Kausalität als ein reines selbständiges Gebilde herausgewinnt - dies aber nur kann, weil sie selbst schon jene Erfahrung geformt hat. Sie zwingen uns nicht - wie jenes Paradoxon, solange es sich an das bloße Phänomen hält, ausspricht - statt einer generell unkünstlerischen Betrachtungsart, die wir ohne sie haben würden, die ihrige, rein künstlerische auf; sondern nur die jeweils besondere Ausgestaltung eines Apriori, das sowieso in seinem unkünstlerischen Funktionieren eine Vorform der Kunst ist, wird von ihnen bestimmt. Dies gilt nich nur für die Malerei, sondern ersichtlich ebenso für die Dichtkunst. Wenn wir empfinden und erleben, wie die Dichter uns vorempfunden und vorerlebt haben, so ist es, weil zur Bildung der inneren Welt die Kategorien von vornherein mitgewirkt haben, die, in reiner Herauslösung und nur sich selbst folgsamer Beherrschung des seelischen Materials, "Kunst" bewirken.

Denn was ich bezüglich der Anschauungskünste sagte, bestimmt auch die Dichtkunst: wir sind präexistenziale Dichter. Nur sein wiederum nicht vergessen, daß dieser Ausdruck eine Vordatierung ist, da die fraglichen Formen, innerhalb des empirisch-praktischen Lebens wirksam, noch keine Kunst sind, auch nicht ein "Stückchen" Kunst; etwas nicht graduell, sondern generellt anderes sind sie, das nur bestimmt ist, in Kunst umzuschlagen. Innerhalb des Lebens stehen die Formen in einer einfachen Koordination oder Wirkungseinheit mit all den anderen Mitteln, durch die wir die Wirklichkeit teleologisch gestalten; erst wenn die Wendung, mit der sie ihrer Lebensbestimmtheit enthoben und zu selbstbestimmenden, eine neue Welt schaffenden Mächten werden, eingetreten ist, kann man, von den jetzt entstandenen Schöpfungen zurückblickend, jene Formen als kunstmäßige herauserkennen. Sehen wir die Sprache als ein bloßes Mittel an, sich von Person zu Person zu verständigen, so scheint in diesem logischen Prozeß nichts Kunstmäßiges Raum zu haben. Dies gilt jedoch nur, wo ein sozusagen mechanisches Hineinschütten eines bestimmten Bewußtseinsinhaltes in ein anderes Bewußtsein in Frage steht und, der Intention nach, die Rede des Einen im Anderen keine eigentlich diesem eigene Funktion auszulösen hat. Hier freilich genügt der Telegrammstil. Allein die Zwecke der Rede - der mündlichen wie der schriftlichen - pflegen außer der Inhaltsgleichheit zwischen der hervorgerufenen und der hervorrufenden Vorstellung noch seelische Bewegungen des Aufnehmenden zu fordern, die nicht in gleicher Weise logisch erzwingbar sind und, obgleich durch das Gehörte angeregt, doch in höherem Maß, als die Reproduktion der reinen Sachgehalte, aus der Spontaneität des Hörers hervorgehen. Er soll das Gehörte doch in einer gewissen Stimmung aufnehmen, es soll sich in ihm verweilen, er soll zu den besonderen Reaktionen der Zustimmung, des Überzeugtseins, des Anknüpfens praktischer Konsequenzen gebracht werden - welches alles nicht auf den bloßen Inhalt hin logisch stringent erfolgt, sondern als ein Neues und Weiteres zum großen Teil von der Form abhängt, in der jener Inhalt dargeboten wird. Faßt man einmal den Begriff "Musik" in einem allerweitesten Sinn: als Rhythmik der Äußerung, als Schwingung des Gefühls über das begrifflich Fixierbare hinweg, als diejennige zeitliche und dynamische Ordnung des Darbietens, die für unsere Auffassungskraft die günstigste ist, als unmittelbare und kontinuierliche Übertragung eines seelischen Zustandes, den Worte und Begriffe nur stückweise und wie in Zusammensetzung vermitteln können - faßt man dies als die "Musik" unserer Äußerungen, so wird sie von deren praktischer Zweckmäßigkeit fortwährend gefordert. In der Poesie aber erst wird diese Formung zu einem selbstgenügsamen Wert, hier hat mit der Erreichung der so bezeichneten Vollkommenheit das Wortgebilde seinen Sinn gewonnen und nicht schon oder erst dann, wenn es mit ihr als Mittel in das zu weiterhin gelegenen Zwecken sich spannende Leben eingestellt ist. Darum hat vom Leben aus gesehen SCHOPENHAUER recht: "die Kunst ist überall am Ziel" - weil sie überhaupt kein "Ziel" im Lebenssinn hat. Teleologie ist eine Vitalkategorie, keine künstlerische. Ohne weiteres ist ersichtlich, daß jene Formen, sobald sie die Wendung zur Autonomie erfahren haben, ihr Anwendungsgebiet viel konsequenter, einheitlicher, radikaler durchgestalten, als es ihnen in ihrer vitalen Funktion möglich ist. Denn in dieser haben sie die Zufälligkeit des bloßen Mittels, werden durch anders gerichtete Erfordernisse fortwährend unterbrochen und gelangen zu keiner auf sich selbst gerichteten, folgerechten Entwicklung, sondern müssen Fragment bleiben - nicht vom Standpunkt des Lebens aus, in dem sie Wirklichkeit haben; denn in dessen kontinuierlicher Strömung ist (präsumtiverweise [mutmaßlicherweise - wp]) eine jede genau im Maß ihrer Wirksamkeit an ihrer Stelle und in ihrem Quantum richtig und jedes Mehr ihrer Herrschaft würde das jetzt von ihr Verlangte nicht vervollständigen, sondern unvollkommener machen. Erst von dem neuen Gebilde, das durch ihre Alleinherrschaft zustande gekommen ist, von der Kunst her gesehen, erscheinen jene Formungen einzelner Lebensmomente als Fragmente. Daß man so oft das Leben als Fragment bezeichnen hört, das sich erst in der Kunst zu Fertigkeit und Ganzheit abrundet, hat seinen richtigen Sinn wohl in diesem Formprinzip: das Kunstwerk kann ein Ganzes und prinzipiell in sich Vollendets sein, weil es ganz und gar von Normen gestaltet ist, die hier mit ihrer Durchführung ihren ganzen Sinn erschöpft haben - während sie sonst einem Höheren, der Norm des Lebens als solchen untertan sind, das ihnen nur wechselnde und unterbrochene Anwendungen gestattet; das Leben erscheint als ganzes wie ein Fragment, insofern jedes einzelne seiner Stücke, von seiner in autonomem Schöpfertum vollendeten Form her gesehen, natürlich nur ein Bruchstück ist. Und daraus ergibt sich weiterhin, daß wir in zwei ganz unterschiedenen Bedeutungen von unvollkommener Kunst reden können. Es gibt unvollkommene Kunst, insofern das Werk zwar ganz und gar um der künstlerischen Intention willen gestaltet ist und sich in der strengen Umgrenzung der autokratisch künstlerischen Formen hält - aber uninteressant, banal, kraftlos ist. Und es gibt unvollkommene Kunst, wenn das Werk, die letzteren Beeinträchtigungen vielleicht nicht zeigend, seine künstlerischen Formen noch nicht völlig von der Lebensdienstbarkeit befreit, die Wendung dieser Formen von ihrem Mittel-Sein zu ihrem Eigenwert-Sein noch nicht in einem absoluten Maß vollzogen hat. Dies ist der Fall, wo ein tendenzhaftes, anekdotisches, sinnlich exzitatives [aufregendes - wp] Interesse als ein irgendwie bestimmendes in der Darstellung mitklingt. Dabei kann das Werk von großer seelischer und kultureller Bedeutung sein; denn dazu braucht es keineswegs an die begriffliche Reinheit einer einzelnen Kategorie gebunden zu sein. Aber als Kunst bleibt es unvollkommen, solange seine Formungen noch irgendetwas von derjenigen Bedeutung fühlbar machen, mit der sie sich den Strömungen des Lebens einfügen.

Die vitale Form der Poesie nun beschränkt sich keineswegs auf den sprachlichen Ausdruck. Vielmehr, die innere und inhaltliche Gestaltung des Schauens, mit der sich die dichterische Schöpfung vollzieht, formt sich in unzähligen seelischen Akten vor, mit denen wir den Stoff des Lebens den Zwecken des Lebens gefügig machen. Ich beschränke mich auf wenige Beispiele. Man hat es der Kunst überhaupt - hier aber soll uns nur die Poesie angehen - von jeher zugeschrieben, daß sie nicht die isolierte Individualität menschlicher Existenzen, sondern immer ein Allgemeines, Typen der Menschlichkeit zur Darstellung bringt, für die das so und so benannte Individuum nur ein Bild und ein Vorname ist. Ich lasse dahingestellt, ob dies annehmbar ist, jedenfalls wenn und insofern es richtig ist, scheint es die Dichtkunst - und so würde man im allgemeinen urteilen - in einen Gegensatz zum Verfahren der Praxis zu stellen, die die menschlichen Erscheinungen in ihrer Wirklichkeit d. h. eine jede als diese individuelle, in der Einzigkeit ihres Umrisses, ihrer Position, ihres Lebenssinnes erfaßt. Hiermit aber scheint mir unser Bild von den Menschen, wie wir es gerade zum Zweck der praktischen Beziehungen zu ihnen gestalten, keineswegs ausreichend charakterisiert. Man macht es sich selten ganz klar, wie durchgehend wir die Menschen, mimt denen wir zu tun haben, generalisieren und typisieren. Zunächst in mehr äußerlicher, sozialer Hinsicht. Mit einem Offizier oder einem Geistlichen, einem Arbeiter oder einem Professor verkehrend, selbst nicht in Angelegenheiten ihrer Berufe, pflegen wir sie nicht einfach als Individuen, sondern wie selbstverständlich als Exemplare jener generellen Standes- oder Berufsbegriffe zu behandeln und zwar nicht nur so, daß diese überindividuelle Bestimmtheit als reales und natürlich nicht zu vernachlässigendes Element der Persönlichkeit wirksam wäre. Über die strömende Lebenseinheit, in welche dieses Element mit anderen koordiniert und kontinuierlich verflochten ist, erhebt es sich vielmehr als ein praktisch führendes, es gibt die Tonart des Verkehrs an, wir sehen überhaupt nicht die reine Individualität, sondern zunächst und manchmal zuletzt den Offizier, den Arbeiter, oft auch "die Frau" usw. und die persönliche Bestimmtheit erscheint nur als die spezifische Differenz, mit der sich jenes Allgemeine darstellt. Diese Struktur der Vorstellung vom Andern ist die Voraussetzung, mit der sich unser sozialer Verkehr vollzieht. Aber sie erhebt sich ebenso über den im engeren Sinn persönlichen Eigenschaften. So entschieden wir die Unvergleichlichkeit und unanalysierbare Einheit an einer Natur empfinden mögen - wenn wir sie in der Weise vorstellen, die gerade ein praktisches Verhältnis zu ihr übertragen kann, so erscheint sie unter einem psychologischen Allgemeinbegriff oder als die Synthese solcher: klug und dumm, schlaff oder energisch, heiter oder trübe, großzügig oder pedantisch und wie die Generalisierungen alle heißen mögen,, die gerade ihren Allgemeinheitscharakter daran zeigen, daß je ein Gegensatzpaar die möglichen Richtungen einer fundamentalen seelischen Energie unter sich aufteilt. Wir mögen uns bewußt sein, daß eine noch so große Häufung solcher Allgemeinheiten doch kein Koordinatensystem bildet, in dem der Punkt der eigentlichen Persönlichkeit sich unzweideutig festlegt, und daß wir sie mit diesen Verallgemeinerungen ihrer eigensten Wurzelung entreißen; wir können innerhalb der Lebenspraxis derartigen Umstimmungen des Individuellen ins Allgemeine doch nicht entgehen. Und schließlich enthält die Vorstellung des Anderen noch eine Umbildung seiner eigentlichen Realität, die gleichsam durch diese hindurch nach der entgegengesetzten Seite geht. Diese Realität des uns gegenüberstehenden Menschen (vielleicht sogar auch die eigene) erblicken wir unvermeidlich so, daß wir die allein dargebotenen einzelnen Züge zu einem Gesamtbild ergänzen, daß wir das nacheinander sich Entfaltende seines Wesens auf die Gleichzeitigkeit eines "Charakters", einer "Wesensart", projizieren, daß wir endlich das qualitativ Unvollkommene, Verstümmelte, Unentwickelte, nur Angedeutete seiner Persönlichkeit zu einer gewissen Absolutheit führen; wir sehen einen jeden - nicht immer, aber sicher viel öfter als wir es uns bewußt machen - so, wie er wäre, wenn er sozusagen ganz er selbst wäre, wenn er nach der guten oder der schlechten Seite hin die volle Möglichkeit seiner Natur, seiner Idee, verwirklicht hätte. Wir alle sind Fragmente, nicht nur eines sozialen Typus, nicht nur eines mit allgemeinen Begriffen bezeichenbaren seelischen Typus, sondern auch gleichsam des Typus, der nur wir selbst ist. Und all dieses Fragmentarische ergänzt der Blick des Anderen wie automatisch zu dem, was wir niemals ganz und rein sind. Während die Praxis des Lebens darauf zu drängen scheint, daß wir das Bild des Anderen nur aus den real gegebenen Stücken zusammensetzen, ruht gerade sie bei genauerem Hinsehen auf jenen Ergänzungen und, wenn man will, Idealisierungen zu einer Allgemeinheit des Typus, den wir mit anderen teilen, und dessen, den wir mit niemandem teilen. Der Ausdruck Ergänzung könnte freilich am entscheidensten Punkt vorbeiführen. Wenn wir das in uns wirksame Bild eines Anderen gestalten, fügen wir nicht nur in die gegebenen Fragmente seines sich äußernden Lebens weitere, des gleichen Charakters ein, so daß wir uns phantasiemäßig und mit psychologischer Induktion vorstellen, wie er sich in dieser und jener Lage, in der wir ihn nie gesehen haben, benehmen würde. Sicher wird dies mehr oder weniger bewußt oft geschehen. Wesentlicher aber ist die Herstellung eines generell anderen Bildes: des einheitlich geschauten Wesens, das überhaupt nicht aus noch so vielen Einzelheiten zusammengesetzt ist, von vornherein in einer anderen Ebene liegt. Mag es sich auch aufgrund jener gekannten Einzelheiten erheben, so gibt es doch nun erst seinerseits ihrer Diskontinuität Einheit und charakterologische Bedeutung, hier erst liegt das eigentlich Einzige am Menschen, das mit logischen Begriffen nicht Auszudrückend seines Seins, durch dessen Gewinn aber erst unser eigenes Leben mit dem anderen eigentlich etwas anzufangen weiß. So nun - wie allenthalben die empirische Relativität unserer Auffassungen zwischen zwei Absolutheiten steht -, stellen wir den anderen Menschen zwischen die Absolutheit des Allgemeinen und die Absolutheit seines eigenen Subjekts - die er beide nicht deckt.

Es bedarf keiner näheren Ausführung, daß alle poetische und überhaupt künstlerische Menschendarstellung an diesen, im Lebensverlauf fortwährend geübten Modis der Auffassung ihren Prototyp findet. Die Verallgemeinerungen in soziologischer und psychologischer Hinsicht schaffen die Grundlage, auf der sich Verkehr und Verständnis erhebt, jenes perfektionierte Bild der Individualität dient uns gewissermaßen als Schema, in das wir die empirischen Züge und Handlungen der Persönlichkeit (gleichviel ob es auch erst auf deren Grund erwachsen ist) eintragen, das sie in Zusammenhang bringt und das uns den Menschen erst zu einem festen Faktor für unsere Berechnungen und unsere Forderungen macht. Das künstlerische Bild aber entsteht durch eine volle Achsendrehung: jetzt kommt es nicht mehr darauf an, durch die Wirksamkeit dieser Kategorisierungen den Anderen unserem Lebenslauf einfügbar zu machen, sondern die künstlerische Absicht endet daran, einem menschlichen Charakter, einer Möglichkeit des Mensch-Seins diese Formen zu geben. Die vollkommensten dichterischen Gestalten, die wir besitzen: bei DANTE und bei CERVANTES, bei SHAKESPEARE und GOETHE, bei BALZAC und C. F. MEYER, stehen in einer Einheit da, die wir nur als die Gleichzeitigkeit der hier angedeuteten gegensätzlichen Führungen bezeichnen können: sie sind einerseits ein ganz Generelles, als wäre das Individuum von sich erlöst, aufgegangen in einen typischen Umriß, empfindbar nur als ein Pulsschlag des allgemeinen Lebens der Menschheit; und sie sind andererseits bis zu dem Punkt hin vertieft, an dem der Mensch schlechthin nur er selbst ist, bis zu der Quelle, wo sein Leben in absoluter Selbstverantwortlichkeit und Unverwechselbarkeit entspringt, um dann erst von seinem empirischen Verlauf Anähnlichungen und Verallgemeinerungen mit anderen zu erfahren.

Ich nenne noch einen zweiten Fall, der in einer ganz anderen Ebene liegt. Von den Gefühlskategorien, unter deren Perspektiven sich das Lebensmaterial stellt, hat die Lyrik zwei erwählt, um sie häuifger als alle anderen in ihre Kunstform zu gießen: die Sehnsucht und die Resignation. Die Augenblicke der Erfüllung, in denen der Lebenswille und sein Gegenstand sich abstandslos durchdringen, begegnen in der Lyrik nicht nur überhaupt seltener, sondern verhältnismäßig noch viel seltener gelangen sie in ihr zu wirklich künstlerischer Vollendung. Der Grund scheint mir zu sein, daß Sehnsucht und Resignation - oder, etwas abgestimmt, Hoffnung und Verlust- in sich ein Moment von Distanzierung tragen, das der künstlerischen Distanznahme und Objektivierung sozusagen vorarbeitet. Täusche ich mich nicht, so neigt der Sprachgebrauch zur Bezeichnung von Sehnsucht und Resignation als "lyrischen Empfindungen"; und ich wüßte nicht, woraufhin diese Affinität gefühlt würde, außer auf jenes eigentümliche Entferntsein von der erfüllten Ganzheit des Lebens, die der Besitz bringt. Für die Sehnsucht wie für die Resignation ist der Zeitverlauf - wenn auch in ganz verschiedenen Bedeutungen - gewissermaßen zum Stillstand gekommen, mit beiden stellt sich die Seele irgendwie jenseits der Bedingungen der Zeit (wie es nach einer Seite hin GOETHE ausspricht: "Was ich besitze seh ich wie im Weiten Und was verschwand mir zu Wirklichkeiten") und schafft damit ebenso eine Vorform des künstlerischen Verhältnisses zur Zeit, wie die Abgedrängtheit vom eigentlich vollen Leben, die in beiden Affekten liegt, diese in die Vorsphäre der Kunst stellen. Aber unterhalb dieser scheinbaren äußeren Kontinuität vollzieht sich die radikale Wendung: im wirklichen Erleben entsteht Sehnsucht und Resignation, weil wir von einer gewissen intensiven Unmittelbarkeit des Lebens entfernt sind - in der lyrischen Kunst umgekehrt werden jene Affekte mit Vorliebe gesucht, weil sie uns eben diese artistisch erforderliche Distanz schaffen. Der Affekt, den das Leben als Wirkung einer Unberührsamkeit, einer Distanznahme erzeugt, wird nun seinerseits zum Zentrum, weil er am besten den Bedingungen der Kunst genügt.

Die Distanznahme bildet noch in einer anderen Hinsicht den Drehpunkt zwischen dem empirischen Leben und der dichterischen Idealität. Man hat lange bemerkt, daß Personen und Vorgänge der Vergangenheit zu poetischer Verwendung in Epos wie Drama besonders günstig disponiert sind. Tatsächlich ist schon die Art, wie sich uns das Vergangene als solches darstellt, eine Vorform der Kunst: die Gelöstheit von allem praktischen Interesse, das Hervorleuchten des Wesentlichen und Charakteristischen vor den zurücksinkenden Unbedeutsamkeiten, die Macht, die der Geist hier - anders als gegenüber der unmittelbaren Wirklichkeit - in der Anordnung und Bildgestaltung des Materials übt - alle diese Züge der Vergangenheitserinnerung sind Wesensbildner der Kunst, sobald sie sich ihrerseits den gegebenen Stoff anpassen. Dies geschieht auch, nur in weniger absoluter Art, in der Geschichte als wissenschaftlicher Bildgestaltung. Auch sie formt den gelebten Stoff des Geschehens vermöge solcher Kategorien zu einem idealen, lebensjenseitigen Gebilde, aber in ihr stellt der Inhalt noch größere Ansprüche an das schließlich herausgeformte Ergebnis, als in der Kunst; so daß die Historie als eine Art Überleitung zwischen der erlebnismäßigen - jene Kategorien im Embryonalzustand enthaltenden - Erinnerung und der (historischen) Dichtung steht. Man pflegt die Beziehung zwischen Geschichte und Kunst so aufzufassen, als wären künstlerische Formen und Qualitäten für sich gegeben, die dann für das Entwerfen des historischen Bildes verwendet werden. Mag sich das psychologisch und nach Ausbildung beider Bezirke so verhalten - die ideelle Wesensbeziehung verläuft umgekehrt. Denn hier kommt nicht nur die Historie als wissenschaftlich-methodisch erforschte in Betracht, sondern deren Vorläufer, der ihr freilich die Formen bereitet: die unser Leben fast ununterbrochen durchziehende Vergegenwärtigung erlebter oder überlieferter Vergangenheit in irgendwie abgeschlossenen Bildern. Und dieses fortwährende Erlebnis setzt keine Kunst voraus, sondern wird unmittelbar durch jene Kategorien gestaltet, die innerhalb des Lebens dienend und fragmentarisch sind, sowie sie aber zentral bestimmen und sich den Stoff unterwerfen, den Kunstbezirk als solchen erzeugen. In dieser tiefsten Schicht betrachtet, ist nicht die Kunst ein Vehikel der Historie, sondern umgekehrt die Historie ihrer eigensten Notwendigkeit nach eine zweite Vorform der Kunst, deren erste die innerhalb des Lebens sich erzeugende Art der Vergangenheitserinnerung ist. -

Stellt man sich das Verhältnis von Leben und Kunst in dieser grundsätzlichen Weise vor, so ist damit eine Gegensätzlichkeit der Motive oder Ordnungen versöhnt, die das Wesen der Idee überhuapt mit einen inneren Widerspruch bedroht. Wir können - mit größerer oder geringerer historisch-psychologischer Vollkommenheit - die Entwicklung der Kunst wie die der Wissenschaft und der Religion aus dem Verlauf des natürlichen empirischen Lebens oder auch innerhalb desselben verfolgen, in unmerklichen Übergängen erheben sich aus den nicht ideellen Gebilden die ideellen, die Phänomene als solche scheinen kein absolut hartes Absetzen, keinen Punkt des prinzipiellen Umschwungs zu kennen. Dennoch halten wir daran fest, daß ein solcher gerade im Prinzip besteht, daß die Kunst, allgemein: die Idee, ihren Sin und ihr Recht gerade daraus zieht, daß sie das Andere des Lebens ist, die Erlösung aus seiner Praxis, seiner Zufällikeit, seinem zeitlichen Verfließen, seiner endlosen Verkettung von Zwecken und Mitteln. Erkennen wir nun, daß dennoch in all dem sich Formen auswirken die nur aus ihrer Stellung als Mittel, als Durchgangspunkte, in die andere: als Eigenwerte, als autonome und zu definitiven Gestaltungen führende Kräfte, gebracht zu werden brauchen, damit jene idealen Gebilde dastehen - so ist beiden Forderungen Genüge geschehen. Denn nun handelt es sich dem äußeren Phänomen nach nur darum, daß immer bestehende und in verschiedensten Maßen wirksame Formungsweisen zu alleinherrschenden werden; wodurch dann begreiflich wird, daß die Grenze zwischen dem Lebensgebilde und dem Kunstgebilde als Gegebenheiten nicht immer scharf zu ziehen ist, daß sie hier und da einander übergreifen, daß z. B. die Rede des Alltags unmerklich in Poesie übergeht und ebenso die empirische Art des Schauens in die künstlerische. Aber gerade weil so der wesentliche Unterschied in der Intention liegt: ob jene Formungen sich als Mittel dem Stoff des Lebens und seiner unabsehlichen Strömung bieten oder ob sie umgekehrt als Selbstwerte diesen Stoff in sich hineinleiten und ihn damit in definitive Gebilde fassen - gerade deshalb ist der Unterschied zwischen dem natürlich wirklichen Leben und der Kunst dem Sinn nach ein schlechthin radikaler. Da der ganze Prozeß in beiden Fällen die Prägung eines bestimmten Stoffes in bestimmten Formen ist und die ganze Differenz sich um die Frage dreht, was Mittel und was Endwert sein soll, also zunächst eine rein innere ist und sich nur darin ausspricht, daß die Formen aus dem Zufälligen, Fragmentarischen, Durcheinander-Gemischten in das Herrschende, Vollständige, Abschließende übergehen - so ist die Kontinuität der Erscheinungen kein Widerspruch mehr gegen die vermittlungslose Drehung ihres Sinnes; sondern gerade in der Vereinigung beider spricht sich die Struktur des Verhältnisses aus.

Freilich wird dadurch auch verständlich, daß wir in dem großen Kunstwerk immer mehr als das bloße Kunstwerk empfinden. Wenn die Kunstformen aus der Bewegung und Produktivität des Lebens stammen, so werden sie im einzelnen Fall umso kraftvoller, bedeutsamer, tiefgreifender wirken, je stärker und weiter das Leben ist, das sie trägt. Die notwendige Vermittlung ist freilich, was wir Talent nennen: daß jene Formen nicht nur dem Dienst des Lebens ausgeliefert sind, sondern vermöge einer individuellen Kraft die Wendung zu einem selbstherrlichen Gestalten des Weltstoffs überhaupt vollziehen können. Bei einem gleichgesetzten Maß dieses spezifischen Talents aber ist nun das Entscheidende, wie intensiv und reich das in diese Formen eingegangene Leben ist. Es fließt jetzt nicht mehr durch sie hindurch, seinen eigenen praktischen Zielen zu, sondern es hat sich in ihnen gestaut, hat ihnen sozusagen seine Kraft übertragen und mit ihr und in ihrem Maß wirken sie nun nach ihrem eigenen Gesetz. Ist diese fundierende Leben schwach und eng, so ergeben sich die Erscheinungen eines bloßen formgewandten Artistentums und einer leeren technischen Vollkommenheit. Andernfalls aber entsteht der Eindruck, daß die Gesamtbedeutung des Werkes mit seinem bloß künstlerischen Wert nicht erschöpft ist, daß über diesen hinaus noch ein Breiteres und Tieferes in ihm zu Wort kommt. Ist das hier Vorgetragene richtig, so weist dieser Eindruck nicht auf einen Dualismus der wirkenden Faktoren, sondern auf ihre einheitliche Reihung hin. Das Leben mit seiner biologischen und religiösen, seelischen und metaphysischen Bedeutung wirkt nicht von jenseits der künstlerischen Formen in das Werk hinein, sondern diese Formen sind die Formen des Lebens, die sich freilich vom Leben, als einem teleologisch strömenden, emanzipiert haben, aber ihre Dynamik und ihren Reichtum doch von eben diesem Leben, soweit es diese Güter besitzt, zu Lehen tragen. Das Mehr-als-Kunst, das jede große Kunst zeigt, fließt aus derselben Quelle, der sie, nun als rein ideales lebensfreies Gebilde, entstammt ist.

Nur mit wenigen Strichen suche ich noch für einige andere Gebiete die Wirksamkeit dieses Prinzips zu zeichnen, zunächst für das rechtliche. Es ist wohl nicht zu bezweifeln, daß das Verhalten, das wir als dem Recht gemäß und durch das Recht erzwingbar bezeichnen, sich im Wesentlichen schon in gesellschaftlichen Zuständen findet, die den Begriff des Rechts und die erst durch ihn möglichen Institutionen noch nicht ausgebildet hatten. Die Selbsterhaltung der Gruppe muß dies entweder als Instinkt und selbstverständlich geübten Brauch oder durch Strafandrohung erreicht haben. Daß dieses Verhalten von sozialem Ganzen und Individuum zueinander als "Recht" im Sinne des Richtigen, Gerechtfertigten empfunden wurde, wird man annehmen können. Aber die Forderung entsprang nicht aus dem "Recht" als einer der Realität jenseitigen Idee, sondern sie und ihre Erfüllung waren Funktionen des unmittelbaren Lebens, dessen Zwecken die Gruppe, wenn auch oft auf wunderlichen Wegen, nachging. An dieser realen Lebensverwebtheit darf nicht irre machen, daß solche Gebote und Verbote zum großen, wahrscheinlich überwiegenden Teil unter einer religiösen Sanktion auftreten. Denn die religiösen Potenzen so primitiver Zustände, das Totem und die angebeteten Vorfahren, der Fetisch und die die ganze Umgebung bewohnenden Geister sind eben selbst Elemente jenes unmittelbaren Lebens, auch der höher entwickelte Gott bleibt noch lange ein Mitglied der Gruppe selbst. Gerade indem in der Norm des "richtigen" Verhaltens alle später differenzierten Sanktionen, sittlicher wie rechtlicher, religiöser wie konventioneller Art, noch ungeschieden ruhen, ist sie, ebenso wie ihre Befolgung, in den tatsächlich ablaufenden Lebensprozeß, organisch und solidarisch, als eine seiner Funktionen eingestellt. Das "Recht" aber hat seinen Ort in einer ganz anderen Ebene. Sobald es dasteht, mögen seine Inhalte (die in diesem Sinn seine Formen einschließen) noch so "zweckmäßig" sein - nicht dies ist jetzt der Sinn ihrer Verwirklichung, sondern daß sie Recht sind. Es ist jetzt nicht mehr ein Mittel, eine Technik, über die etwa ihr Endzweck vergessen wäre; das weiterbestehende Bewußtsein seiner Zweckmäßigkeit setzt die neue Absolutheit der Rechtsforderung als solcher so wenig herab, daß diese Forderung sich sogar bei bewußter Verneinung jener Zweckmäßigkeit aufrecht erhält: fiat justitia, pereat mundus [Gerechtigkeit soll sein, auch wenn die Welt darüber zugrunde geht. - wp]. Es gehört zu den in den tiefsten Grund der geistigen Welten eingesenkten Paradoxien, daß die wirksame Tatsächlichkeit der Rechtskategorie sich in und aus dem Leben entwickelt, aber von dem Augenblick an, von dem sie nun umgekehrt das Leben nach sich bestimmt, ihre Unabhängigkeit, den Wert ihres objektiven Daseins, bis zur Verneinung dieses Lebens hin bewährt. Gewiß kann man von einem gesellschaftlichen "Zweck im Recht" sprechen. Allein dieser betrifft nur seine inhaltlichen Bestimmungen und die Tatsache, daß überhaupt die sanktionierte Form der Erzwingbarkeit für sie besteht. Denn beides, aus der Teleologie des gesellschaftlichen Lebens geboren, ist allen Stadien der Entwicklung gemeinsam. Bezüglich des inneren wesenhaften Sinnes aber zeigen diese jenen radikalen Umschwung. Sobald wir sagen, daß ein eigentliches "Recht" besteht, das heißt ein solches, das erfüllt werden soll, weil es Recht ist, fällt alle Teleologie fort: das Recht als solches ist Selbstzweck, was nur ein etwas unklarer Ausdruck dafür ist, daß es eben keinen "Zweck" hat. Die Kontinuität in seinen Inhalten, seiner Sanktioniertheit, seiner sozialen Nützlichkeit, darf diesen prinzipiellen Umschlag nicht verschleiern. Es ist höchst bezeichnend, daß wohl alle primitiven Rechte vorwiegend kriminellen Charakter tragen. Die Idee einer objektiven Ordnung, von der jedes empirische Verhältnis nur ein von ihr geregelter Teil und Beispiel ist, liegt ursprünglich ganz fern. Selbst eine so einfache Norm: daß das Geschuldete erstattet werden muß - tritt ursprünglich nicht als objektive Gerechtigkeitsforderung auf, nicht als gesollte Realisierung einer Wertlogik, sondern das Nichtzpahlen wird als eine subjektive unerlaubte Handlung am Schuldner heimgesucht. Noch im späteren römischen Recht klingt dies nach, indem bei einigen rein privatrechtlichen Klagen nicht einfach eine Verurteilung zu der allein in Frage stehenden Geldleistung erfolgte, sondern der Verurteilte der Infamie [Schimpf und Schande, Verlust der Ehrenhaftigkeit - wp] verfiel. Statt des Prinzips, daß der Vertrag gehalten werden muß, wobei die Personen Träger von Rechten und Pflichten sind, übrigens aber gänzlich außer Betracht bleiben, so daß der Prozeß sich schlechthin nur auf den geschlossenen Vertrag beziehen kann - statt dessen ist der viel unmittelbarere, den Lebensverflechtungen viel immanentere Impuls wirksam, daß der Unrechttuende verurteilt werden soll. Damit hängt auf das Engste zusammen, daß das Recht am Anfang seiner Entwicklung wesentlich auf die Wahrung des "Friedens" gerichtet ist und vor allem die Bedrohung des Gesamtwesens durch individuelle Gewalttätigkeit und deren nicht weniger gewalttätige individuelle Abwehr zu beseitigen strebt: seine Friedenswirkung, so hat man dies ausgedrückt, überschattet ursprünglich seine Gerechtigkeitswirkung. Die Gesamtheit will leben und aus diesem Willen heraus und als seine Mittel bildet sie die Formen, die das Verhalten der Einzelnen regeln. Dies aber bleibt insofern noch ganz in der Teleologie des Gesamtlebens, gerade wie die Verhaltensweisen des individuellen Lebens sich um dessen Teleologie willen regeln, und auch hier sehr häufig mittels des Zwanges, den das Zentrum der Persönlichkeit auf peripherische Einzelimpulse ausübt. Das Recht besteht hier in der Form des Lebens, so überindividuell dies auch ist, es ist - im extremen Ausdruck dieser Intention - eine immanente Vornahme der Lebensteleologie in der Reihe ihrer Technik; von da erst tritt es in die Form der Idee, ohne daß sich in diesem Phänomen etwas zu ändern braucht: nur daß vorher die Gerechtigkeit gut war, insofern sie dem Leben diente, jetzt aber das Leben gut ist, insofern es der Gerechtigkeit dient. -

Auf sittlichem Gebiet fällt der kantische Unterschied zwischen dem hypothetischen und dem kategorischen Imperativ eigentlich genau mit dem hier Gemeinten zusammen. Was KANT die subjektive, innerlich noch sittlichkeitsfremde Triebfeder nennt, ist gerade das, was ich hier als Moment einer vitalen Teleologie anspreche: der naturhafte Trieb, einem Maximum empirischer Lebenserfüllung zustrebend, Mittel an Mittel bauend, von denen viele dem äußerlich praktischen Anspruch der Moral völlig genügen. Daß nach gewissen Moralisten "das wohlverstande Eigeninteresse" mit Sittlichkeit identisch ist, drückt dies in Vollendung aus. Daß aber die Sittlichkeit als Idee noch nicht realisiert wird, wenn das Pflichtmäßige in der Weise geschieht, daß der Lebensverlauf von sich aus die außerdem auch pflichtmäßigen Handlungen erzeugt, sondern erst wenn die Pflicht von sich aus und als einzige Instanz den Lebensverlauf bestimmt - damit hat KANT die hier behandelte Wendung in ihrem ganzen Radikalismus ausgesprochen. Eine Zustimmung zu seiner Fassung des Pflichtbegriffs und zur Wertexklusivität seines Moralismus ist damit nicht gegeben. Vor allem aber tritt in die kantische Erwägung das vermittelnde Moment nicht ein, auf das es mir hier ankommt: als ein bloßer Zufall und fremdes Nebeneinander erscheint es ihm, daß innerhalb der subjektiv-vitalen Zweckmäßigkeit Handlungen auftreten, die der Tatsache nach sittlich richtig sind. Diese Sinnlosigkeit unserer Verfassung aber, die ihrem Bild bei KANT einen tief pessimistischen Zug gibt, möchte ich nicht zugeben. Gewiß sind die Motivierungen in beiden Fällen voneinander schlechthin verschieden. Allein sie sind, über alle Zufälligkeit im einzelnen hinweg, prinzipiell dadurch verbunden, daß das Leben aus seinen eigenen teleologischen Notwendigkeiten heraus die Handlungsformen zustande bringt, um die, gleichsam als Achse, das Leben gedreht zu werden braucht, damit jene Formen als alleinherrschende Idee dastehen und das Leben und seinen Wert von sich aus bestimmen. KANT glaubte die Absolutheit der ideellen Bestimmung gegenüber der Relativität der vitalen nur durch die völlige Zufälligkeit ihres Verhältnisses retten zu können. Allein gerade hierin liegt ein gewisser Mangel an letztem Zutrauen zu jener Absolutheit. Ist man ihrer ganz sicher und legt man sie wirklich in die letzte Innerlichkeit der Gesinnung hinein, so leidet sie in keiner Weise dadurch, daß das Leben die von ihr bestimmten Verhaltensweisen schon - vorher oder zugleich - aus seinen relativen Zusammenhängen heraus erzeugt hat und daß empirisch und psychologisch sogar gleitende Übergänge zwischen beiden Motivierungen dieser Verhaltensweise bestehen.

Die Religion schließlich mach dem einmal darauf eingestellten Blick ihre Vorformen unverkennlich. VOn der dornigen Frage nach dem "Wesen" der Religion unter allen Umständen ein Verhalten des Menschen ist - gleichviel welchem metapyhsischem Zusammenhang es angehört und wie es auf Transzendentes gerichtet und von ihm bestimmt wird. Tatsächlich gibt es nun unzählige, teils innerseelische, teils interindividuelle Lebensverhältnisse, die unmittelbar von sich aus einen religiösen Charakter haben, ohne im Geringsten von einer vorbestehenden Religion bedingt oder bestimmt zu sein; das Wort "religiös" kann auf sie nur angewendet werden, indem man von einer sonst gewußten Religion auf sie zurücksieht und an ihnen, die in sich nicht religiös, sondern rein vital gestimmt sind, die nun religiös zu nennende Charaktersierung empfindet. Wenn wir im empirischen Leben an einen Menschen "glauben"; wenn wir im Verhältnis zum Vaterland oder zur Menschheit, zu einem "höheren" oder dem geliebten Menschen die eigenartige Mischung oder Spannung von Demut und Erhebung, von Hinge und Begehren, von Abstand und Verschmelzung erleben; wenn wir uns eigentlich immer zugleich preisgeben und gesichert, abhängig und verantwortlich wissen, wenn dunkle Sehnsüchte und ein Ungennügen an allem Einzelnen uns von Tag zu Tag treibt - so erhebt sich nun Religion, indem diese Zustände und Affekte sich von ihrem irdischen veranlassenden Stoff lösen, gewissermaßen absolut werden und von sich aus ihren absoluten Gegenstand schaffen. Gewiß geschieht auch dies psychologisch in unmerklichen Übergängen, schließlich und wesentlich aber ist Gott "die Liebe selbst", er ist der schlechthinnige Gegenstand von Glaube und Sehnsucht, von Hoffnung und Abhängigkeit, er ist kein Etwas, mit dem wir eins zu werden und in dem wir zu ruhen begehren, sondern indem diese Leidenschaften, vom Irdischen her gesehen, gegenstandslos geworden, ins Unendliche ausstrahlen, nennen wir ihren Gegenstand und das Absolute, auf das sie hinstrahlen - Gott. Vollkommener vielleicht als irgendwo hat sich hier die Drehung um die Formen vollzogen, die das Leben in sich erzeugt, um seinen Inhalten unmittelbar Zusammenhang und Wärme, Tiefe und Wert zu geben. Nun aber sind sie stark genug geworden, um sich von diesen Inhalten nicht mehr bestimmen zu lassen sondern das Leben von sich aus ganz rein zu bestimmen; nur der von ihnen selbst gestaltete, ihrem nun nicht mehr begrenzten Maß entsprechende Gegenstand kann jetzt die Führung des Lebens übernehmen. Daß die Götter nur Verabsolutierungen der empirischen Relativitäten sind, ist solange eine aufklärerische Banalität, als es ein Urteil über das Wesen des Göttlichen selbst vorstellen soll. Fragt man aber nach dem Weg des Menschen zu Gott - insofern er in der menschlich religiösen Ebene verläuft - so ist sein entschiedener Wendepunkt allerdings das Losreißen jener Formungen des innersten Lebens von ihren teleologisch relativen Inhalten, ihr Absolutwerden; der Gegenstand, den sie sich in diesem reinen Selbst-sein schaffen, kann selbst nur ein absoluter, die Idee des Absoluten sein. Die Frage nach seinem Sein und seinen geglaubten Bestimmungen bleibt dahingestellt, ebenso wie die, ob nicht etwa solche einzelnen Bstimmungen noch Reste sind, die jene Formen aus ihren empirischen Zusammenhängen mitschleppen und von denen sie das Reich ihrer sich selbst gehörenden Idealität noch nicht befreien konnten.


Die Erörterung dieser Reihen soll nicht etwa zeigen, daß das entscheidende Prinzip sie alle in genau umschriebener Gleichheit beherrscht. Jede Reihe hat vielmehr eine gleichsam organische Einheit, in der der formale Grundvorgang durch seinen Inhalt in dessen eigene differenzielle Charakterisiertheit hineingezogen ist. Sie besitzen untereinander nur das besondere Verhältnis der "Ähnlichkeit", das sich nicht aus einem Quantumg Gleichheit und einem Quantum Ungleichheit zusammensetzen läßt, sondern sui generis [aus sich selbst heraus - wp] ist. Nur der abstrakten Reflexion ist der schlecht deckende Ausdruck unvermeidlich, als wäre das Motiv des Umschlags vital erzeugter Formen in das ideale Gebiet ein konstanter Faktor, der sich mechanisch mit allen möglichen Entwicklungsinhalten kombiniert.

Der letzte Sinn dieses Motivs, an seinem weitestgreifenden Fall aufgesucht, ist die Herstellung eines organischen Verhältnisses zwischen Psychologie und Logik. Daß dies so wenig durch den Psychologismus wie vom Eigenbezirk der Logik her zu gewinnen ist, steht jetzt wohl gleichmäßig fest, ebenso freilich, daß die gegenseitige Zufälligkeit beider Bezirke nicht auf die Dauer zu ertragen ist. Ich kann hier keinen anderen Ausweg als einen metaphysischen sehen, von dem ich - seine prinzipielle Darstellung vorbehalten - für den jetzigen Zusammenhang nur dies andeute. Wie das Leben auf seiner physiologischen Stufe in fortwährendes Erzeugen ist, so daß, mit einem komplizierten Ausdruck: Leben immer Mehr-Leben ist - so erzeugt es auf der Stufe des Geistes etwas, das Mehr-als-Leben ist: das Objektive, das Gebilde, das in sich Bedeutsame und Gültige. Diese Steigerung des Lebens über sich hinaus ist kein zu ihm Hinzukommendes, sondern ist sein eigenes unmittelbares Wesen selbst; insofern es dies offenbart, nennen wir es eben geistiges Leben, wird es, jenseits alles Subjektiv-Psychologischen, selbst etwas Objektives und entwickelt aus sich Objektives. Es braucht dazu kein anderes Reich zu ergreifen (was sowieso keine Erklärung wäre und das Rätsel, wie diese Inhalte in den subjektiven Geist eingehen und wieder aus ihm herauskommen sollten, bestehen ließe): vielmehr, das Transzendieren ist dem Leben selbst immanent. An anderer Stelle ist das Verhältnis zum kantischen Idealismus auseinanderzusetzen, der die Objektivität nur durch eine Formung des Subjektiven gewinnt, also prinzipiell über dieses nicht hinauskommt, der außerdem nur die fertigen Wissenschaftsergebnisse analysiert, aber nach den lebendigen Kräften, durch die es überhaupt die Objektivität der Wissenschaft gibt, nicht fragt. Hier soll nur der Grundgedanke berührt werden: daß das schöpferische Leben (in Fortsetzung des zeugenden Lebens) fortwährend über sich selbst hinausgeht, daß es selbst sein Anderes vor sich hinstellt und diese Objektivität dadurch als sein Geschöpf, dadurch als mit ihm einen Wachstumszusammenhang bildend erweist, daß es ihre Bedeutungen, Folgen, Normierungen wieder in sich einbezieht und sich nach dem gestaltet, was von ihm selbst gestaltet worden ist. Was an diesem Drehpunkt steht, nennen wir eben Objektivität, die dem Subjekt transzendent und nichts weniger als eine bloße Verkleidung seiner ist. Beides vielmehr sind, als Gegebenheiten, Stadien der Entwicklung des Lebens, sobald es geistiges Leben geworden ist, das freilich durch das eine hindurchgeht, um das andere zu erreichen, in der Rückwirkung dieses auf jenes aber seine Einheit zeigt. In einem relativistischen Prozeß erhebt sich über das subjektiv psychologische Geschehen die von ihm unabhängige objektive Gestalt und Wahrheit, Norm und Absolutheit - bis auch sie wieder als subjektiv erkannt wird, weil eine höhere Objektivität entwickelt ist, und so fort in die Unabsehlichkeit des Kulturprozesses. Freilich liegt hierin auch dessen ganze Tragik, die Tragik des Geistes überhaupt: daß sich das Leben an den Gebilden, die es als starr objektive aus sich herausgesetzt hat, oft wund stößt, keinen Zugang zu ihnen findet, den Forderungen, die es in ihrer Gestalt entwickelt, in seiner subjektiven Gestalt nicht genügt. Das eben ist der schmerzliche Beweis, daß es sich hier um wahre Objektivität, in jedem ihr abzuverlangenden Sinn, handelt und keineswegs um eine Psychologisierung ihrer. Was ich hier vorlegte, sind nur einige Fälle des Objektivwerdens des Lebens, die Aufweisung einiger Punkte, an denen es das erzeugt, was ihm gegenübersteht und an dessen ansich seiender, vom realen Leben unabhängiger Bedeutung der metaphysische, nicht der psychologische Charakter des schöpferischen Lebens sichtbar wird. In der logischen Formung und dem sprachlichen Ausdruck der Erörterungen selbst suchte ich die Einwebung dieses metaphysischen Motivs zu vermeiden, von dem Wunsch aus, daß sie auch bei dessen Ablehnung nicht ganz ohne Ertrag bleiben mögen.
LITERATUR: Georg Simmel Vorformen der Idee, Logos, Bd. 6, Tübingen 1916