ra-3ra-2 G. SimmelK. DiehlH. DietzelK. RodbertusG. Bäumer    
 
GOETZ BRIEFS
Zur Kritik sozialer Grundprinzipien
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"Wenn Dietzel die Problemfassung Individuum und Staat zurückweist mit der Berufung darauf, das Individuum brauche die jeweiligen Machthaber nicht anzuerkennen, ihnen seine realen Interessen nicht zu opfern, so ist nicht einzusehen, warum dasselbe Argument nicht auch gegen die Gesellschaft gelten sollte. Warum soll einem philosophisch abstrakten Begriff der Gesellschaft, die nirgendwo dem Individuum als Konkretum und Subjekt gegenübertritt, dieses Individuum seine realen Interessen opfern? Das ist mit keinem Mittel einzusehen."

Bei aller Anerkennung der Bedeutung begrifflicher Klarheit und im Bewußtsein, daß allein schon die Schaffung eines zuverlässigen Fundus an klaren Begriffen eindringliche Untersuchungen rechtfertigt, haben sich die folgenden Ausführungen doch ein weiteres Ziel gesteckt. Sie wollen an einem grundlegenden Einzelfall zeigen, wie weit begrifflich falsche Formulierungen für die soziale Systembildung selbst ungeheure Gefahren in sich schließen, Gefahren, die auf dem heißen Boden der Wirtschaftslehre nicht allein theoretisch lokalisiert bleiben.

Der in Frage stehende Einzelfall ist die Klärung der Begriffe Individualismus und Sozialismus. Beide sind Gedankensysteme, die als Richtpunkte des Handelns von Einzelnen, Gruppen und Klassen, von Unternehmern und Arbeitern, von deren Berufsverbänden und vom Staat das Denken des 19. Jahrhunderts erfüllten bis in unsere Tage hinein. Und obschon sich die Waagschale zugunsten des Sozialismus gesenkt zu haben scheint, ist das individualistische Problem noch nicht ausgekämpft, zu Ende gebracht. Theoretisch nicht, wie sich zeigen wird; aber auch praktisch nicht. Denn für den Sozialismus erhebt sich im Zuge seiner Verwirklichung selbst wieder die Frage, wie weit in seiner Idee ein Individualismus grundgelegt ist und was Individualismus für ihn zu bedeuten hat. Ist Sozialismus der verwirklichte allgemeine Individualismus, der den "Individualismus kapitalistischer Gruppen auf dem Rücken des Proletariats" in die Breite der Volksgesamtheit überführt? Oder ist Sozialismus ein ganz neues, vielleicht völlig entgegengesetztes Strukturprinzip des gesellschaftlichen Lebens überhaupt? Ist Sozialismus nichts als ein "Zuweitgehen" in der Kritik des Individualismus (NEUMANN) oder bestreitet er nur das Privateigentum an gesellschaftlichen Produktionsmitteln, während er es dem Kommunismus überläßt, jegliches Privateigentum zu bekämpfen? Ist der Kommunismus, der sich in unseren Tagen als Idee und als Bewegung vom Sozialismus trennte, wesensverschieden von ihm und vom Individualismus? Oder ist er nur der neue "-Ismus", den der "absolute Geist" als neuen Kristall seines "Fortschritts im Bewußtsein der Freiheit" herausgestaltet?

Diese und noch mehr Fragen könnten mit Fug aufgeworfen werden. Es sind nicht einmal die wichtigsten. Ist logisch und praktisch ein Weg möglich, der weder Individualismus noch Sozialismus möglich? Gibt es eine mittlere Linie? Hat das "Gefühl" ideologisch nicht verwirrter und praktisch nicht illusionärer Gruppen recht, die weder Individualisten noch Sozialisten sein wollen? Solidarismus beginnt ein vielgebrauchtes Wort zu sein. Steckt ein logisch und praktisch haltbares Prinzip hinter dem Wort, ein Prinzip, das nicht lediglich eine faule Mitte und einen unklaren Kompromiß bedeutet? Oder vielleicht gar einen Weg bedeutet, der mit den Mitteln logischen Begreifens gar nicht faßbar ist, sofern er etwa ganz und gar in einer Metaphysik oder in einer transzendenten Ethik wurzelt? Jedes Ideensystem hat die Möglichkeit geistiger Sackgassen und toter Gleise in sich, in seiner geistigen Entfaltung wie im Versuch seiner Verwirklichung; stehen wir in der Bildung solcher Sackgassen in diesen unseren bewegten Tagen, die so hart an unser abendländisches Denken über Gesellschaft, Menschheit und Einzelnen anklopfen? Alles diese Fragen bewegen das Denken derer, die sich heute mit sozialen Problemen befassen.

Weltanschauliche Dinge inhaltlich recht alter Vergangenheit stehen mit diesen Fragen zur Aussprache. Man merkt es deutlich, wie altersgrau sie sind, sobald man durch den Schleier der modernen Namen und der modernen Fragefassung hindurch geblickt hat. Wenn das Verhältnis zwischen dem Ganzen und seinen Teilen hellenische Denker beschäftigte, wenn das ganze Mittelalter theoretisch und praktisch um es gekämpft hat, so ist es nur eine im Strom des nievollendeten Lebens auftauchende "ewige" Frage, die wir vor uns haben. Die Natur dieser Frage rechtfertigt es, sie vom Standpunkt des Geistes aus allgemein zu betrachten, vom Standpunkt der Logik, der Ethik, und sogar der Psychologie. Während die logische und ethische Behandlung nie geruht hat, ist die psychologische Fragestellung neu. JASPERS hat in seinem Werk "Psychologie der Weltanschauungen" (Berlin 1919) den meines Wissens ersten Versuch einer allgemeinen Psychologie weltanschaulicher Problemstellungen und Problemlösungen versucht. In dem Kapitel "Das Individuum und das Allgemeine" (Seite 335), hebt er die beiden fundamentalen Gebiete heraus, auf denen der Widerspruch des Allgemeinen und des Individuellen lebendig ist: das abstrakt Allgemeine und das konkret Allgemeine. Das abstrakt Allgemeine hat drei Richtungen der Gegensätze zwischen dem Individuum und dem Allgemeinen:
    1. das allgemein Gültige: die Imperative, die objektive Wahrheit, die geltenden Werte. Ihnen steht das Einzelne als Willkür gegenüber.

    2. Das allgemein Menschliche, das Naturgemäße, Durchschnittliche, zum Menschen Gehörende; ihm gegenüber: das Charakteristische, Originelle, Eigentümliche, Einmalige.

    3. Das Notwendige: der Natumechanismus und sein Schicksal, dem gegenüber der Mensch sich nicht nur abhängig, sondern auf frei fühlt.
Das konkret Allgemeine habt ebenfalls drei Richtungen der Gegensätze zwischen Allgemeinem und Individuellem:
    1. der Mensch überhaupt, die Idee des Menschlichen, der gegenüber der Einzelne als partikulare Verwirklichung dasteht.

    2. die soziologischen Ganzheiten (Familie, Staat, Nation); ihnen gegenüber der Mensch als Glied oder Atom, der Eigenwille des souverän sich fühlenden Einzelwesens.

    3. Welt oder Gott, dem gegenüber der Trotz gegen Gott, "das Bewußtsein des Subjekts, selbst Totalität zu sein" (Seite 337).
In allen diesen Fragestellungen kehrt das Gemeinsame wieder: worauf kommt es an, auf das Allgemeine, die Leistung, die Sache, das Ganze oder auf das Ich?
    "Ist das letzte Ziel eine objektive Welt von Leistungen, Werken, Werden oder die subjektive Welt der Seele, der einzelnen Persönlichkeit? Was will man: Kultur oder Mensch, Sache oder Persönlichkeit, Staat oder Individuum?"
Wenn jene Entweder-Oder überhaupt beantwortet werden können, dann entstehen "die einseitigen Gestalten des Individualismus und Universalismus". Werden sie nicht beantwortet - "und unbeantwortet läßt sie der lebendige Halt im Unendlichen suchende Mensch" - so bestehen die Gegensätze als Antinomien fort, "zwischen denen der Strom des Lebens fließt". Zu den Antinomien kann sich der Mensch auf dreifache Weise verhalten. Er kann sich ein- und unterordnen unter das Allgemeine, er kann sich dem Ganzen entziehen und widersetzen, er kann schließlich der Tendenz nach zum Allgemeinen werden, sich zum Ganzen erweitern. In den beiden ersten Fällen findet entweder eine Zerstörung des Individuellen oder des Allgemeinen statt; im dritten Fall scheint eine Durchdringung zu bestehen (Seite 338). Aber diese Durchdringung ist, sobald sie ganz deutlich wird "die Macht des einzelnen Individuums": das Individuum kann sich erweitern zum allgemeinen Denker, zum Führer und Weltgestalter, zum vergotteten Mystiker.
    "Der Mensch, der sich selbst genug ist, kann dieses Bewußtsein haben im Gegensatz zum Ganzen oder als identisch geworden mit dem Ganzen. Er ist im letzteren Fall Individuum nicht gegen das Allgemeine, sonder durch das Allgemeine." (Seite 338)
Aber nie ruht die kritische Frage: wer ist das Individuum? Es bleibt in jedem Fall ein "endliches Selbst", ist weder Gott noch Welt noch Staat noch das Denken überhaupt. Wenn der Mensch in den erwähnten Erweiterungen und Verallgemeinerungen seiner selbst zum Ganzen und Allgemeinen zu werden versucht, verliert er sein Selbst oder bleibt an seinem empirisch zufälligen Selbst beim Versuch, es zu verallgemeinern, hängen. JASPERS entscheidet dahin: alle drei Verhaltensweisen des Individuums "sind vom Standpunkt des Lebens aus Sackgassen". Das Leben selbst ist nicht zu fassen, nur seine Versteinerungen.
    "Aber indem wir diese gleichsam im Kreis aufbauen, wird unsere Intention auf das Zentrum, das Leben gerichtet, wenn es auch nicht erkannt und gefühlt wird." (Seite 338)
Das ist ein Resultat, zu dem der Psychologe wohl kommen muß, sofern er seine Betrachtungsweise nicht bis zum Weltanschaulichen erhebt, also Philosoph wird. Der Philosoph kann nicht beim "Leben" als einem Letzten, Unerklärlichen stehen bleiben. Seine Unruhe des Warumfragens geht auf die Hintergründe auch noch dieses Lebens; und hinter dem Leben muß denknotwendig eine Instanz sein, deren Ausfluß das Leben ist und von der aus dem Leben Sinn und Ziel gesetzt ist. Auch der Logiker kann sich mit dem psychologischen Endpunkt des Problems nicht zufrieden geben. Beide, Philosoph und Logiker, streben über den Endpunkt, den der Psychologe sich mit Recht setzt, hinaus. Jene "Versteinerungen", die als Ergebnisse der menschlichen Entscheidungen zu den gekennzeichneten Antinomien herauskommen, sind für die philosophische und logische Fragestellung noch wichtig. Der Logiker im Besonderen untersucht sie auf ihre Richtigkeit und Widerspruchsfreiheit.

Auf dem engeren Gebiet des konkret Allgemeinen und im Bereich der soziologischen Gesamtheiten (Familie, Staat, Nation, Gesellschaft) liegen heute die konkreten Probleme. Ihnen ist eine ungeheure Denkarbeit seit den Tagen des ökonomischen Individualismus und Sozialismus gewidmet worden. Individualismus und Sozialismus sind die Lösungen, die von SMITH bis heute als zwei gewaltige soziale Philosophien mit vielen Ableitungen und Varianten unser Denken über das Verhältnis des wirtschaftlich und soziologisch Allgemeinen und Besonderen bestimmt haben. Aber was ist Individualismus, was ist Sozialismus in klarer begrifflicher Fassung? Darüber sind die Auffassungen bis heute nicht zur Ruhe gekommen.

Es ist DIETZELs großes Verdienst, mit scharfer dogmatischer Begabung die begrifflichen Fragen der Sozialtheorie angefaßt zu haben. Seine frühe Beschäftigung mit RODBERTUS und manche literarische Auseinandersetzung führten ihn zur eindringlichen Analyse der Begriffe, zwischen denen die Spannung des sozialen Denkens bis heute schwebt, Individualismus und Sozialismus. Wenn ich in Folgendem an ihn anknüpfe, so geschieht es nicht nur wegen der hohen Qualitäten und der Schärfe seiner Darlegungen, die weithin beachtet worden sind, sondern deswegen, weil er die schärfste Zuspitzung der wirklich allgemeinen Fragestellung des 19. Jahrhunderts angeschnitten hat, Individualismus und Sozialismus. So befasse ich mich mit ihm als mit einem charakteristischen Typus (1).

Sein Ausgangspunkt ist die Feststellung der "kläglichen Verwirrung und Verschwommenheit", die auf dogmengeschichtlichem Gebiet herrscht. Zum Teil rührt sie aus der ungenügenden wissenschaftlichen Eindringlichkeit, mit der Ideen in unserer tatsachenhungrigen Zeit analysiert zu werden pflegten; zum Teil liegen sie in einem verfehlten methodischen Prinzip, gesellschaftliche Reformprogramme zu registrieren, statt sie auf ihre letzte ethische Grundsätzlichkeit zu untersuchen. Die Aufgabe des Dogmenhistorikers ist: "das ideelle Zentrum der Ideen aufzuspüren", "die herrschenden Grundnormen des sozialen Seinsollens, aus der die Theorie als Ganzes gedacht ist" (Seite 2 der "Beiträge" usw.) herauszubekommen. Einen Versuch, der nach diesem Ziel ausgerichtet ist, stellt DIETZELs Rodbertusbuch dar. Die dort gewonnenen systematischen Ergebnisse werden in den "Beiträgen zur Geschichte des Sozialismus und des Kommunismus" zusammengefaßt und gegen die Kritik verteidigt.
    "Das sozialwissenschaftliche Denken, sofern es sich auf das soziale Seinsollen richtet, drängt zu einer Grundnorm, aus welcher alle Einzelurteile über die Bestände und Bewegungen des sozialen Lebens ihre innere Einheit und endgültige Begründung finden. Der menschliche Geist ruht nicht eher, als bis er sich zu einem letzten obersten nicht mehr ableitbaren Prinzip des Seinsollens hindurchgerungen hat. ... Welches ist nun die Grundnorm, das Grundprinzip des sozialen Seinsollens; mit anderen Worten: das höchste ethische Gebot? Die Antwort läuft auf ein Entweder-Oder hinaus. Es bieten sich zwei polare Axiome dar, die sich kurz als Sozialprinzip und Individualprinzip taufen lassen. ... Das Sozialprinzip, d. h. der Satz, daß die Gesellschaft oberster Zweck sein soll, das Individuum nur dienendes Mittel für ihre Zwecke, Organ des sozialen Körpers, wie das Glied Organ des Physischen." (Seite 3)
Im Artikel "Individualismus", Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. V, Seite 590 ist die Formulierung anders:
    "... das Sozialprinzip, d. h. der Satz, daß das soziale Ganze, die abstrakte Einheit aller Individuen, oberster Zweck ist ... Das Individualprinzip, d. h. der Satz, daß das Individuum - jedes Individuum als gleichwertig mit dem anderen gedacht - oberster Zweck sein soll, die gesellschaftliche Organisation dienendes Mittel für seine Zwecke" (Seite 3 der Beiträge)
oder in der Fassung des Artikels "Individualismus" ausgedrückt:
    "... das Individualprinzip, d. h. der Satz, daß das Individuum oberster Zweck ist, daß alle höheren und niederen Sozialgebilde - Familie, Stand, Genossenschaft, Staat, Staatengesamtheit - nur Mittel sind für die Zwecke der Einzelnen, die sie in sich fassen."
Daraus der Schluß:
    "entweder auf jenes oder dieses Axiom baut sich jede Theorie des sozialen Seinsollens auf" (Seite 3) - "falls erstens konsequent durch durchdacht und zweitens nicht auf eine geoffenbarte Religion sich stützend, sondern aus der Vernunft gezogen".
Damit ist nach DIETZEL das Gliederungsprinzip für die Gesamtheit der sozialen Systeme gewonnen. Sie scheiden sich in die Gruppe der durch das Individualprinzip beherrschten (Individualismus) und in die Gruppe der durch das Sozialprinzip beherrschten (Sozialismus im Sinne DIETZELs). Für die Bezeichnung der letzteren Gruppe als "sozialistisch" glaubt DIETZEL eine Anzahl hervorragender Schriftsteller älterer und neuester Zeit zitieren zu können; er beruft sich auf LEROUX, SCHÄFFLE, FLINT, ALEXANDER. Gegen DIEHL, der diese Klassifizierung nach Individual- und Sozialprinzip bestreitet, wendet DIETZEL ein, daß es zu einer bedenklichen begrifflichen Unklarheit führen muß, wenn man die Systeme nach praktischen Programmen einteilt, statt nach den letzten ethischen Grundprinzipien.
    "Wer die Systeme klassifizieren will nach den praktischen Zielen, nimmt zum fundamentum divisionis die Wirkungen statt der Ursachen und speist micht daher mit einer völlig unzulänglichen Auskunft ab." (Handbuch, a. a. O. Seite 591)
Wenn man von den Programmen ausgeht, "erhält man nichts als einen ermüdenden verwirrenden Katalog von Rezepten" (ebd.). In den "Beiträgen" belegt DIETZEL im Einzelnen die Differenzpunkte zwischen seiner und der DIEHLschen Auffassung und führt sie zurück auf den Unterschied seiner streng dogmatischen Methode und DIEHLs realistischer Verfahrensweise, wobei letztere nach Programmen klassifiziert. Als klassisches Beispiel greift er die Stellung zum System der freien Konkurrenz heraus. Es ist als programmatische Forderung weder individualistisch noch sozialistisch, es kann von beiden Seiten aus angegriffen und verteidigt werden - und zwar aus völlig verschiedenen sozial-ethischen Grundsätzen heraus. Die praktische Forderung oder Ablehnung des Systems der freien Konkurrenz besagt solange gar nichts, als nicht festgestellt ist, aus welchem Grundprinzip hier eine Forderung und dort eine Ablehnung erfolgt.

Von diesem Boden aus glaubt DIETZEL der begrifflichen Unklarheit steuern zu können. Die aus dem Sozialprinzip zum Kollektivismus hindrängenden Gruppen von Theorien, den "potenzierten Anti-Individualismus" (SCHÄFFLE) nennt er Sozialismus; die aus dem Individualprinzp zum Kollektivismus drängenden Gruppen nennt er Kommunismus; jene Sozialismus "weil dann im Wortlaut der Gleichklang mit Sozialprinzip ... waltet". "Der Sozialismus in diesem Sinn ist die zum Extrem vorgetriebene organische Gesellschaftsansicht". Die andere Gruppe nennt er Kommunismus "weil dann im Wortlaut das bonheur commun [zum Wohl der Gemeinschaft - wp], die Zentralidee der Theorien dieser Gruppen, anklingt". Der Kommunismus hat einen älteren Bruder gleicher Herkunft, von dem er sich durch das praktisch Programm unterscheidet, den Liberalismus; von ihm unterscheidet er sich durch die wesentlich verschiedenen Forderungen, welche er, wenngleich im Dienst derselben Grundnorm, an die soziale Organisation stellt (Seite 8). Der Liberalismus vertritt das System der freien Konkurrenz aus derselben zentralen Idee heraus, aus der der Kommunismus es ablehnt. Dieselbe Ablehnung wird aber vom Sozialismus vorgetragen - aber eben aus einem völlig anderen ethischen Grundprinzip heraus.

Die Rechtfertigung dieser Einteilung entwickelt DIETZEL dann, polemisch gegen DIEHL, an PROUDHON [diehl] und einer Reihe anderer Schulhäupter, die gemeinhin als "sozialistisch" zusammengefaßt werden. Zumal beruft er sich auf ein in der Tat interessantes Memoire eines Proudhonistenführers, das bei FRIBOURG, "Histoire de l'Internationale" (Seite 71) abgedruckt ist. Dieses Memoire entwickelt die Begriffe der "Assoziation" und der "Kooperation", sachlich das Gleiche, was er (DIETZEL) als Sozialprinzip und Individualprinzip dargelegt hat. Assoziation und Kooperation sind zwar "forme commune" [gemeinschaftliche Formen - wp] aber "radicalement différentes par leur but, leurs moyens, leurs resultats" [radikal verschieden in Bezug auf ihren Zweck, ihre Mittel, ihre Ergebnisse - wp] (Seite 9) Die "Assoziation" ist die Gesellschaftsansicht, welche die Souveränität der individuellen Willen und Interessen absolut negiert, welche zu einer absoluten "fusion des volontés" [Verschmelzung der Willen - wp] strebt; ihr Ziel ist "de fondre tous les intérêts" [alle Interessen zusammenzuführen - wp] "Die Gesellschaft ist alles, das Individuum nichts." (Es klingt merkwürdig, wenn DIETZEL fortfährt "nur jene hat Rechte, dieses nur Pflichten"; wenn das Individuum "nichts" ist, kann es auch keine Pflichten haben). "Le bien de la collectivité" [das Wohl der Gemeinschaft - wp] (wie DIETZEL mit Recht bemerkt, wohl zu unterscheiden von "le bien de tous" [Gutes für alle - wp]
    Als oberstes Ziel sind die dem Teil (dem Individuum) angebotenen Befriedigungen ein Zugeständnis, das das Ganze gnädig gemacht hat, und keine Verteilung, die auf stillschweigenden oder realen Übereinkünften beruht, da es keine vertraglich vereinbarten Individualitäten mehr gibt, sondern nur noch eine höhere Einheit die alles in sich aufnimmt." (Seite 19)
Zusammenfassend erklärt dann jener Proudhonist:
    "Die Verknüpfung der allgemeinen Interessen ist das höhere Prinzip, vor dem sich der Einzelne verbeugt; Kooperation ist die Kollektivität, die sich organisiert, um dem Einzelnen alle Mittel zur Verfügung zu stellen, um seine Handlungsfreiheit zu erhöhen und seine Eigeninitiative zu entwickeln." (Seite 20)
Diese Formulierungen stützen sich auf PROUDHON, der den Gegensatz ähnlich gefaßt hat. TOLAIN, ein Haupt der Proudhonisten, sprach sich in Basel auf dem Kongreß der Proudhonisten folgendermaßen aus (DIETZEL, "Beiträge", bei FRANKENSTEIN, Seite 23):
    "Sie werden mir zugeben, daß die Gesellschaft aus Individuen besteht, daß die Gesellschaft ein abstraktes ... mysteriöses Ding ist, das man uns aufnötigen möchte. Das Individuum ist ein konkretes, leibhaftiges."
Nur das Individuum arbeitet und schafft; was die Gesellschaft geworden ist, verdankt sie nur ihm. Daher:
    "Die Kollektivität kann keine Rechte haben, die sich auf die natürlichen Rechte der Personen beziehen, aus denen sie besteht. Kollektive Rechte können nur Garantien sein, die jedem die freie Ausübung seiner Fähigkeiten gewährleisten".
In einen zweiten Beitrag derselben Zeitschrift stellt DIETZEL als zwei klassiche Belege für die Gegensätzlichkeit des Individual- und Sozialprinzips die Ekklesiazusen des ARISTOPHANES und die platonische Politeia gegenüber.

Man hat den in Frage stehenden Gegensatz von Individuum und Gesellschaft gelegentlich enger gefaßt, und zwar als Gegensatz von Individuum und Staat. DIETZEL lehnt im Anschluß an RODBERTUS diese Fassung ab. Der "letzte geschichtliche Gegensatz" besteht zwischen Individuum und Gesellschaft,
    "zwischen dem Individuum, das sein kurzes Leben lebt, und dem aus immer wechselnden Individuen zusammengesetzten sozialen Ganzen, das in der Reihe der Generationen sein unsterbliches Dasein verbringt - zwischen dem konkreten Menschen, dem realen Einzelwesen, das seinem Glück nachtrachtet, und dem Makranthropos [die Welt als menschlicher Organismus im Großen - wp], dem Menschen als Idee (Ahrens), der Gattung, die in der ewigen Folge der Einzelwesen ihrer Vervollkommnung entgegenstrebt ..." (Handbuch a. a. O., Seite 591)
Es bleibt in der Formel "Individuum und Staat" der Gegensatz verhüllt, um den es sich in letzter Linie handelt; aber auch deshalb bleibt diese Formel falsch, weil der Gegensatz auftaucht, um sofort zu verschwinden: "in dem Prozeß zwischen Individual- und Staatsprinzip wäre der Anspruch des letzteren a limine [die Tür gewiesen - wp] abzuweisen" (a. a. O., Seite 592). Nur wenn der Staat eine im Interesse der Gattung liegende Aufgabe zu lösen hat "gesetz durch eine supra-naturale über dem Individuum und Staat schwebende Potenz", kann er das individuelle Wohl seinem eigenen unterordnen; denn weswegen soll sich das Individuum "dem Zwang der jeweiligen Machthaber" fügen? "Warum sollen die realen Individuen ihre realen Interessen einer Abstraktion opfern", nämlich der Abstraktion "höherer zukünftiger Staatsziele?" Nur wenn der Staat eine göttliche Mission in der Geschichte zu erfüllen hat,
    "nur wenn der Weltgeist in der Geschichte die Erziehung des Menschengeschlechts, der Gattung, vollbringt, nur als Gattungsprinzip, nicht als Staatsprinzip, ist das anti-individualistische Prinzip vertretbar".
Unterstellt man - so behauptet DIETZEL - nicht eine irgendwie geartete supra-naturale Potenz, so schwebt das anti-individualistische Prinzip in der Luft; "es bedarf des Segens von oben, der transzendenten Legitimation". Leugnet man diese supra-naturale Potenz - und es gibt nach DIETZEL weder die Möglichkeit, ihr Dasein zu beweisen noch ihr Nichtdasein -,
    "so kann an die Spitze der Normen des sozialen Seinsollens, als höchstes Gebot nur das Individualprinzip gestellt werden. Wird die supra-naturale Potenz bejaht, und müssen demzufolge die Normen des sozialen Seinsollens von dieser supra-naturalen Potenz hergeleitet werden, so wird das Sozialprinzip ... das die Einzelnen wie die Kollektiva sich schlechthin unterwerfende Gebot. Dann deckt sich das Seinsollende keineswegs mit dem von den jeweilig Lebenden Begehrten" -
was es im Falle des Individualprinzips tut.

Dieser Kampf zwischen Individual- und Sozialprinzip "währt, seitdem es ein Denken über soziales Seinsollen gibt". Er wird fortdauern in alle Zukunft,
    "denn die rationalistische Kritik ist ohnmächtig gegenüber diesen Prinzipien; als gleichwertige Axiome, welche nur ein Fürwahrhalten, keinen Beweis zulassen, stehen sie sich in ewiger Feindschaft gegenüber" (Handbuch, a. a. O., Seite 592).
Der tiefere Grund ist die völlige Unbeweisbarkeit der supranaturalen Potenz, aber ebenso die völlige Unmöglichkeit, ihr Nichtdasein zuverlässig zu beweisen.
    "Wir sind Anti-Individualisten oder Individualisten, wie wir Theisten oder Atheisten sind ... solange über das Dasein Gottes gestritten wird, solange wird das Sozialprinzip, welches, wie Rodbertus sagt, bis zu Gott hinaufreicht, mit dem Individualprinzip kämpfen, welches auf Erden haftet."
So stehen sich, wie Theismus und Atheismus, so auch Sozial- und Individualprinzip "als logische Antinomien gegenüber". "Die reine Vernunft vermag die Frage, ob dieses oder jenes Prinzip das höhere ist, nicht zwingend zu entscheiden" (a. a. O., Seite 592). Auch mit der Methode der Erfahrung ist nichts zu beweisen, denn die abendländische Geschichte lehrt uns (nach DIETZEL) einen steten Wechsel zwischen Perioden des geltenden Individualprinzips und des geltenden Sozialprinzips, zwischen "organischen" Zeitaltern und "freihändlerischen" (RODBERTUS), zwischen "siécles organisateurs" und denen des "individualisme" (SAINT SIMON). Dem Vertreter des Sozialprinzips erscheinen die organischen Geschichtsperioden als die einzig richtigen und bedeutsamen, als die normalen; und die individualistischen nur als Zwischenspiele; umgekehrt dem Vertreter des Individualprinzips.
    "Die Frage ti to dikainon [was ist das Gerechte? - wp], gemäß welcher ethischer Grundnorm soll die soziale Ordnung gestaltet werden, wird daher stets die zweifache Antwort erhalten, die ihr bisher geworden ist." (a. a. O., Seite 593)
Die Frage nach der Stichhaltigkeit dieser dogmatischen Grundunterscheidungen samt der in ihrer Darlegung und Verteidigung vorgebrachten Argumente knüpft zunächst an einige Einzelpunkte an. Wenn DIETZEL seinen Artikel "Individualismus" mit den Worten beginnt: "Das Ethische, d. h. das über das soziale Seinsollen grübelnde Denken ...", so ist hier "ethisch" in eine Gleichung mit dem "sozialen Seinsollen" gebracht, die unhaltbar ist. Nur die Auffassung, daß das Ethische schlechthin ein sozial Bestimmtes ist, oder sich in der Richtung des Sozialen erschöpft, kann zu dieser Gleichung Anlaß geben. Zweifellos ist das Ethische die Grundlage des sozialen Zusammenlebens; andererseits ist es eine Erfahrung, daß das soziale Zusammenleben dauernd und massenweise Tatbestände schafft, welche Überlegungen über das Seinsollen hervorrufen. Aber der Bereich des Sozialen ist nur eine Richtung der ethischen Überlegungen, sozialethische Thesen sind nur eine Art ethischer Sollenssätze. Daraus folgt, daß das ethische Denken nicht schlechthin gleichbedeutend ist mit dem sozialen Seinsollen. Aber die bestrittene Fassung des erwähnten Satzes von DIETZEL hat für ihn eine sehr bedeutsame Folge: der ethische Blick wendet sich ausschließlich nach außen, auf das Gesellschaftliche, ohne erst mit einer Analyse des Ethischen überhaupt begonnen zu haben. Er stellt die "Gesellschaft" als das "Außensein" dem "Individuum" gegenüber, so wie der Naturforscher die ihn umgebende äußere Natur seinem wissenschaftlichen Denken gegenüberstellt. Es wird sich zeigen, daß das nicht bedeutungslos bleibt für die Richtigkeit von DIETZELs Fragestellung.

Und weiter! DIETZEL behauptet, jedes sozial-ethische Denken müsse in letzter Besinnung auf die Antinomie des Individualprinzips und des Sozialprinzips stoßen, "zumindest jedes nicht aus einer Offenbarung, sondern aus der Vernunft gezogene" (Handbuch Seite 509); oder, wie es in den "Beiträgen" (Seite 3 von PLENGEs "Musterbücher") heißt:
    "Jede Theorie, die folgerichtig aufgebaut und streng rationalistisch ist - sich nicht anlehnt an geoffenbarte Religionen - hat entweder das Sozialprinzip oder das Individualprinzip zum ideellen Zentrum."
Wenn er im Weiteren hinzufügt, das Sozialprinzip sei die logische Folge einer theistischen Weltanschauung (Handbuch Seite 592) und wenn er diesen Satz in den "Beiträgen" (bei FRANKENSTEIN Seite 23, Fußnote) dahin näher bestimmt: "die das Sozialprinzip zugrunde legende Gesellschaftsansicht ist ohne metaphysische Voraussetzungen nicht haltbar", so sind das augenscheinlich Widersprüche zu jenem obigen Satz, daß Individual- und Sozialprinzip die letzten Formulierungen einer rein vernunftmäßigen, nicht durch Offenbarung oder metaphysische Erwägungen getragenen ethischen Überlegungen sind. Im Übrigen ist der Satz, daß allein vom Boden des Theismus aus das Sozialprinzip möglich und logisch haltbar ist, sehr anfechtbar. Schon aus der einfachen Erfahrung heraus, daß "de sede vacante" [während der Abwesenheit Gottes - wp] jetzt Ideen und Wertdinge, Leidenschaften und Neigungen zum "summum bonum" [Wohl der Gesamtheit - wp] werden, auf welche das menschliche Herz alle sonst "nach oben" gehende Intensität und Hingabe überträgt. Die Tiefensenkung des Blickes von der transzendenten Welt auf die Erde, vom Jenseits zum Diesseits läßt die Erde und die Dinge auf ihr mit einer ungeheuerlich gesteigerten Leidenschaft erfassen, wie dann auch die gesamte den Dingen dieser Erde zugewandte Entwicklung der letzten Jahrhunderte und Jahrzehnte eine wichtigste konkurrierende Ursache in jener Tiefensenkung des menschlichen Blickes hat. Die Götter waren tot in Hellas, als die Menschheitsliebe der Stoa entstand. Die Humanität und das soziale Denken des großbürgerlichen Zeitalters haben von religiös freigewordenen Energien weithin gelebt. Umgekehrt ist weiterhin zu bestreiten, daß das Individualprinzip nur aus einer atheistischen Grundeinstellung herrühren kann. Es hängt sehr von der Artung des Gottesbegriffs ab, ob auch ihm ein Individual- oder Sozialprinzip gefolgert wird. Ein strenggefaßter Deismus kann die religiöse Achse eines durchaus individualistischen Weltbildes sein, und war es schon. Abgesehen von den Energien, die "dei sede vacante" gerade der Humanität, der Menschheit, der Gesellschaft, dem Staat als realen Wesen zugewandt werden können, sind in der Seele des Menschen Gefühle, Affekte, Triebe genug angelegt, die auch bei Loslösung vom theistischen Gedanken ihre innere Richtung auf das Soziale, auf den Mitmenschen, beibehalten. Die dogmatische Fassung, in der DIETZEL den Zusammenhang des Theismus mit dem Sozialprinzip und des Atheismus mit dem Individualprinzip behauptet, ist nach allem wohl kaum aufrecht zu erhalten. Zutreffend ist dagegen, daß vom Theismus aus dauernd stärkere Verpflichtungen und Bindungen bis zum Opfer und zur Selbsthingabe ausgehen, daß von ihm aus unmittelbare elementare gefühlsmäßige und sittliche Beziehungen zum Sozialprinzip gehen, während der Atheismus erst über die Vergottung der Menschheit (vgl. dazu die schneidenden Kritik STIRNERs am sozialen Liberalismus!) oder des Menschen, des Sozialen, zum Sozialprinzip kommen kann - falls überhaupt seine religiös frei gewordenen Endergien und Neigungen in die Richtung des Sozialen umschlagen, was sie, wie mit allem Nachdruck betont sein soll, durchaus nicht müssen! Im Übrigen ist wohl zu beachten, daß die psychologische Entscheidung für oder gegen den Sozialismus bzw. Individualismus nicht von der vorangegangenen Entscheidung für oder gegen den Theismus bzw. Atheismus abhängt. FRIEDRICH PAULSEN dürfte das Richtige getroffen haben, als er sagte, daß sich das Leben weniger nach der Metaphysik richtet als die Metaphysik nach dem Leben (Einleitung in die Philosophie).

Mit dem letzteren Hinweis streifen wir einen weiteren kritischen Punkt von DIETZELs Argumentation. Und zwar in folgender Hinsicht. DIEHL ging bei der Klassifizierung der Sozialtheoreme von der praktischen Forderung der einzelnen Richtungen aus; DIETZEL bestritt die Richtigkeit dieses Ausgangspunktes. Nicht als ob er diese Klassifizierung für ganz unnötig oder unmöglich findet; aber er findet sie durchaus sekundär und nebensächlich. Die primäre Frage ist die dogmatische, sie geht auf das ideelle Zentrum der Theoreme, forscht ob hier Individual- oder Sozialprinzip herrschen. "Erst zwecks Unterteilung ist, innerhalb dieser wie jener Gruppe, die Differenz der Programme zu berücksichtigen" (Handbuch, Seite 593; ähnliche "Beiträge" FRANKENSTEIN, Seite 13: "kein aut-aut [entweder - oder | wp], sondern et - et [und - und | wp]). Dogmatisch gesehen ist DIETZEL recht zu geben. Aber es ist sehr zu bedenken: der Ausgangspunkt der Sozialtheoreme ist vielfach gar keine letzte innerste Weltanschauungshaltung; sondern die von Gruppen und Klassen als furchtbar empfundene materielle Lebenslage und Sozialordnung. Wille und Vernunft richten sich darauf, diese nach einem mehr oder weniger als wirklichkeitsmöglich und erwünscht angesehenen Bild umzugestalten. Daher fehlt vielfach irgendeine konsequente Besinnung auf einen zentralen Angelpunkt weltanschaulichen Denkens durchaus, oder sie kommt erst post festum [hinterher - wp] und aus der Logik der primär gestellten realen Forderung; und die Theoreme wurzeln und bleiben im rein Praktischen oder gar Phantastischen; ihre Folgerichtigkeit läßt mehr oder weniger zu wünschen übrig. Theisten wie Atheisten haben ein Individual- wie Sozialprinzip vertreten; Individualisten wie Sozialisten haben oft genug gleiche Programmpunkte vertreten. Es wird DIETZEL nicht einmal die Möglichkeit bleiben, zu rezipieren, daß das nur durch eine Unklarheit über die Bedeutung des im letzten Grund gewollten und in den Mittelpunkt gestellten ethischen Prinzips möglich ist. Das et-et DIETZELs bleibt dabei richtig. Aber zweifelhaft wird, ob das Primäre unter allen Umständen die im Zentrum der Theoreme lebende ethische Formel ist; sie kann das Primäre sein, sie ist aber ebenso sicher in sehr vielen Fällen durchaus sekundär und nebensächlich - in all jenen Fällen, wo die Sozialtheoreme herauswachsen sozusagen aus dem "sozialen Situs [Funktionsbereicht - wp]", aus einem praktischen Reformwillen, der von einem unmittelbaren Erlebnis kritischer sozialer Tatbestände ausgeht. Sehr viele Sozialtheorien des 19. Jahrhunderts vertreten unausgesprochen den Grundsatz, den BISMARCK einmal in folgenden Worten aussprach:
    "Ich habe nie nach Grundsätzen gelebt. Wenn ich zu handeln hatte, habe ich mich niemals gefragt: nach welchen Grundsätzen handelst Du, sondern ich habe zugegriffen und getan, was ich für gut hielt ... wenn ich mit Grundsätzen durchs Leben gehen soll, so komme ich mir vor, als wenn ich durch einen engen Waldweg gehen soll und müßte eine lange Stange im Mund halten." (zitiert bei JASPERS, a. a. O., Seite 381).
Das hat DIEHL auch richtig erkannt und gefühlt. Seine Klassifizierung nach realen Forderungen hielt er bei, verwandte aber DIETZELs dogmatisches Einteilungsprinzip gleichfalls. Und es ist ganz richtig, wenn DIEHL die Grundeinteilung DIETZELs nicht als einzige gelten läßt (abgesehen von der Klassifikation nach realen Forderungen), sondern daneben feststellt, daß "aufgrund der Staatsidee, der Idee der Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit usw." (Über Sozialismus, Kommunismus und Anarchismus) dogmatische Einteilungen möglich sind. Es gibt demnach nicht die von DIETZEL postulierte allein gültige Methode, wohl aber ist es DIETZELs großes Verdienst, nachdrücklich auf die wissenschaftliche Unzulänglichkeit der Klassifikation nach realen Forderungen allein hingewiesen zu haben. Der Hinweis von DIEHL, daß im Zentralpunkt der Sozialtheoreme nicht nur die Frage Indidividuum und Gesellschaft steht, sondern sich gleichgeordnet andere letzte sozial-ethische Ideen finden können, ist andererseits eine zutreffende Zurückweisung von DIETZELs methodischen Monismus. Wer freilich, wie DIETZEL zu tun scheint, das Ethische mit dem sozialen Seinsollen schlechthin gleichstellt, kann leicht zur Folgerung kommen, daß das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft die tiefsten Möglichkeiten der letzten sozialethischen Gesinnungen ausschöpft.

DIEHL erwähnt unter den seiner Ansicht nach möglichen letzten Formulierungen auch die: Individuum und Staat. Wir wissen, daß DIETZEL in der Spannung "Individuum und Staat" keine mögliche letzte Formulierung sah. Das ist dann begreiflich, wenn seine These richtig ist, daß man nur vom Theismus zu einem Sozialprinzip kommen kann. In dem Fall nämlich fließt die Idee des Makranthropos unmittelbar aus der Gottesidee, die Untergliederungen des Makranthropos können keine Instanz letzter ethischer Formulierung sein; der Staat aber ist eine solche Untergliederung. Wie aber, wenn der Staat, hegelisch gesehen, zum "Ort des Weltgeistes" wird, "die Gestalt ... welche die vollständige Realisierung des Geistes im Dasein ist" (Seite 51), das "sittliche Gesetz" (Seite 76), "von dem allein der Mensch allen Wert ... alle geistige Wirklichkeit hat" (Seite 77), "der Staat, der die göttliche Idee, wie sie auf Erden vorhanden ist" (Seite 78 HEGEL, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte) ist - in dem Fall ist das Problem in der Tat nicht "Individuum und Gesellschaft", sondern "Individuum und Staat". Genau dasselbe gilt für PLATONs Politeia. Aber auch ohne HEGELs Fassung der Staatsidee kann man meines Erachtens die Formulierung "Individuum und Staat" nicht mit den Argumenten abtun, die DIETZEL für genügend hält. Und zwar darum nicht:
    1. Der Staat ist eine der wichtigsten Formen, in denen sich das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft konkretisiert. Nur auf den seltenen Höhepunkten des Weltschmerzes und der gesteigerten Tragik stoßen Individuum und Gesellschaft derart zusammen, daß sich das Problem als Individuum und Gesellschaft darstellt und erfüllt. Die Spannungen, die Anlaß zu sozial-ethischen Erwägungen geben, entstehen normalerweise im Zusammenstoß des Individuums mit den Konkretisierungen der Gesellschaft, als das sind Staat, Familie, Genossenschaft, Klasse, Stand; sie begrenzen sich normalerweise auf diese Instanzen, weil die Möglichkeit oder doch die Annahme besteht, daß sie hier zur Lösung gebracht werden können, bzw. gebracht werden müssen.

    2. Wenn Dietzel die Problemfassung Individuum und Staat zurückweist mit der Berufung darauf, das Individuum brauche die jeweiligen Machthaber nicht anzuerkennen, ihnen seine realen Interessen nicht zu opfern, so ist nicht einzusehen, warum dasselbe Argument nicht auch gegen die Gesellschaft gelten sollte. Warum soll einem philosophisch abstrakten Begriff der Gesellschaft, die nirgendwo dem Individuum als Konkretum und Subjekt gegenübertritt, dieses Individuum seine realen Interessen opfern? Das ist mit keinem Mittel einzusehen. Der Gegensatz Individuum und Staat kann, wie das am Beispiel Hegels und Platos gezeigt wurde, genausogut die letzte ethische Formulierung sein wie der zwischen Individuum und Gesellschaft.
In jedem Fall aber ist, auch abgesehen von jeder Staatsvergottung, der Staat eine wichtigste konkrete Instanz der sozial-ethischen Fragestellung. Methodisch kann es dabei durchaus gerechtfertigt sein, die Fragestellung in der weitesten Fassung zu erheben, nämlich in der Form: welches ist das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft.

Darin folgt PLENGE den Darlegungen DIETZELs. Für ihn sind die Ideen "Grundsätze der Selbstgestaltung". Deshalb kann man von vornherein davon ausgehen, daß die Stellung des Individuums zum Ganzen, in dem es steht, und in das hinein es mit seinen Ideen wirkt, "eine wichtige Grundfrage, wenn nicht die allgemeinste Grundfrage der Ideenbildung" ist. (1789 und 1914, Die symbolischen Jahre in der Geschichte des menschlichen Geistes, Seite 54). Die Religion stammt aus einer anderen Welt und will in eine andere Welt hineinwirken; die nationale Idee und die Klassenideen sind notwendig vielgestaltig nebeneinandergestellt.
    "Sie sind Sonderideen. Keine von ihnen kann für sich eine allgemeingültige Grundfrage der Ideen überhaupt entscheiden. Aber die innere Stellung des Individuums zum Ganzen, in dem es steht, ist notwendig eine durchgehende Frage aller politischen Ideenbildung, ob sie klassenmäßig, national oder als universale Ideenbildung erfolgt. Sie ist schlechterdings mit der Tatsache der Ideenbildung selbst gegeben, weil es ... die Funktion der bewußten Ideenbildung ist, daß vom Ausgangspunkt der auf sich gestellten Einzelnen aus eine Einstellung auf richtiges Handeln in einem für die Einzelnen unübersichtlich gewordenen Lebenszusammenhang des Ganzen gesucht werden muß. Es ist von vornherein einleuchtend, daß es bei dieser Grundfrage der Ideenbildung zwei Gegenpole gibt, Ganzes und Individuum ..." (Seite 55)
Ganzes und Individuum - und nicht wie DIETZEL in der Ablehnung der Formel "Individuum und Staat" behauptete, Gesellschaft und Individuum. Denn der Staat kann ebensogut dieses Ganze sein, das den einen Pol des Gegensatzes darstellt. Die Art übrigens wie DIETZEL den Staat im Gegensatz zur Gesellschaft als Instanz der sozial-ethischen Fragestellung letztlich verneint, nötigt zu dem Schluß, daß seine "Gesellschaft" nicht wie PLENGEs "Ganzes" ein Gattungsbegriff ist, welcher Familie, Staat und die anderen sozialen Gebilde als Artbegriffe in sich schließt, sondern ein Gebilde sui generis [aus sich heraus - wp] neben dem Staat - wie er dann auch (Handbuch, Seite 590 erläutert: "das soziale Ganze, d. h. die abstrakte Einheit aller Individuen"; wohingegen er einige Zeilen weiter von "niederen und höheren Sozialgebilden" spricht (Familie, Staat, Stand) die doch auch soziale Ganze sind ohne daß sie als "abstrakte Einheiten von Individuen" angesprochen werden können. PLENGEs Formel: "Individuum und Ganzes" kann man als sachlich und methodisch einwandfrei gelten lassen; denn dieses Ganzes schließt alle möglichen Sozialgebilde und Gliederungen in sich, und die Ansprüche der letzteren sind nicht, wie DIETZEL bei der Kritik der Formel Individuum und Staat meint, "a limine abzuweisen". In anderen Zusammenhängen aber erhebt PLENGE wichtige Einwänd gegen DIETZELs Formulierungen. Er bestreitet, daß es sich bei der Problemstellung "Individuum oder Gesellschaft" um Axiome handelt, ebenso, daß es sich um unversöhnliche Gegensätze handelt; sondern er sieht in diesem Gegensatz "Individualprinzip oder Sozialprinzip" Entwicklungstatsachen des Bewußtseins, die unter dem Schein eines Entweder-Oder der willkürlichen Entscheidung nur solange gesehen werden können, als der reine Individualist, der darüber spricht, zwar äußerlich von der Idee der Eingliederung des Ichs in das Ganze als von der Idee anderer gehört hat, aber sich nur mit seinem logischen Verstand, nicht mit seinem Grundbewußtsein damit auseinandergesetzt hat und darum, weil er weiß, daß sein Individualismus eine Willenswillkür ist, auch die Notwendigkeit der Eingliederung für willkürlich erklärt, weil er nicht in sie hineinkann ohne seine Willkür aufzugeben" (1789 und 1914, Seite 56, Fußnote). Wir stehen wieder auf dem Boden der Auseinandersetzung zwischen DIEHL und DIETZEL, wenn PLENGE fortfährt, es komme für die wissenschaftliche Betrachtung nicht nur darauf an, auf welches Ziel eine Idee eingestellt war "sondern vor allem auf das Grundbewußtsein, aus dem heraus die Ziele erstrebt werden" (Seite 57). Das "Grundbewußtsein" PLENGEs geht parallel dem "ideellen Zentrum der Idennbildung" bei DIETZEL; es sagt
    "wie das Verhältnis des Einzelnen zum Ganzen von den unter einer Idee lebenden Menschenwesen erlebt wird und wie sie sich als Individuen in die Welt einordnen".
Und PLENGE gibt in gleicher Weise wie unsere obigen Ausführungen die Lösung:
    "Die Unterscheidung zwischen dem ausgesprochenen Ideenziel und dem Grundbewußtsein der Ideenbildung ist ganz außerordentlich wichtig. Irgenwelche Ideen können darum niemals, wie man wohl geglaubt hat, durch ein einziges Prinzip oder Axiom völlig verstanden werden. Ideen können vielmehr im Ideenziel und im Grundbewußtsein außerordentlich verschieden sein, namentlich wenn ihr geistiger Bau etwas monströse Züge hat". (Seite 57)
Als Beispiel zitiert PLENGE die marxistische Sozialdemokratie:
    "das Grundbewußtsein ist Klassenbewußtsein mit stark individualistisch-demokratischem Einschlag, das Ideenziel die klassenfreie über den Individualismus hinausgekommene Menschheit".
Damit lehnt auch PLENGE die These ab, das Primäre für das Verständnis der sozialen Ideensysteme sei die Aufspürung eines letzten ethischen Prinzips, aus dem nach DIETZELs Meinung die realen Forderungen logisch herausdeduzierbar sein sollen. Grundbewußtsein einer Idee und Ideenziel sind gleichermaßen unentbehrlich für die wissenschaftliche Durchleuchtung der Ideensysteme.

Aber PLENGE greift DIETZELs Kennzeichnung der dogmatischen Formel "Individualprinzip und Sozialprinzip" an: es handle sich nicht um Axiome, noch um unversöhnliche axiomatische Gegensätze, sondern jene Formel "Individualprinzip und Sozialprinzip" stellt nach PLENGE "Entwicklungstatsachen des Bewußtseins dar", polare (nicht, wie DIETZEL gelegentlich sagt (Handbuch, Seite 592) kontradiktorische) Gegensätze, die im geschichtlichen Entwicklungsgang ihre Schwingungen oder Bewegungen zwischen den beiden Polen Individualprinzip und Sozialprinzip vollziehen, so daß "erwartet werden darf, daß die Ideenbildung von einer zu starken Betonung des Individuums zum entgegengesetzten Standpunkt weiterführt" (Seite 56). Das ist das Bild, das die Idee in ihrem kontinuierlichen geschichtlichen Verlauf betrachtet darbietet.

An anderer Stelle (im Vorwort zur Neuausgabe von DIETZELs "Beiträgen" in PLENGEs "Musterbüchern", Seite IX) trifft PLENGE beim Versuch einer Erklärung von DIETZELs Auffassungsweise einen Punkt, der in unserem Zusammenhang von größter Bedeutung ist. An RODBERTUS habe DIETZEL mit großer Schärfe den Gegensatz gesehen, daß nicht nur der einzelne Mensch, sondern auch das gemeintätige Menschenganz als letztes Lebensziel von Menschen mit ganzer Kraft bejaht werden kann.
    "Menschen sind immer und ewig in kleineren oder größeren Gesamtwesen mit einem überindividuellen Lebenslauf vereinigte Einzelwesen. Sie können weder restlos einzelne noch ein restlos gemeintätiges Ganzes sein. Aber der abstrakte Logiker sieht nicht die jederzeit notwendige konkrete Vereinigung, sondern nur das abstrakte Entweder-Oder."

    "So bleibt Dietzel in der abstrakten Gegenüberstellung von zwei obersten Geltungsgrundsätzen stehen, aber er hat damit ein wertvolles Mittel nachgewiesen, um einmal eine erste wirklich in die Tiefe gehende Übersicht zwischen verschiedenen Ideengruppen zu schaffen und bei jeder besonderen Idee innerste Zweckkerne und äußere Aufgabenprogramme zu unterscheiden." (a. a. O.)
Damit hat PLENGE - unter Ablehnung des axiomatischen und antinomischen Charakter von DIETZELs Formel - doch ihre Bedeutung für die Beleuchtung der Sozialtheoreme anerkannt. Neben die dogmatisch-logische Betrachtungsweise DIETZELs stellt er seine dialektische Betrachtungsweise, die die Ideen in den Grundbedingungen ihres geschichtlichen Flusses zu erkennen strebt. Und er hat mit Recht betont, daß die Methode DIETZELs wertvoll ist, eine tiefer gehende Übersicht über die sozialen Systeme zu gewinnen. Die logische Härte freilich des DIETZELschen Entweder-Oder sucht er abzuschwächen durch den Hinweis, daß im geschichtlichen Fluß der Ideen eine Pendelbewegung stattfindet zwischen Sozialprinzip und Individualprinzip - was DIETZEL übrigens auch anerkannte, indem er den Wechsel zwischen Perioden der Geltung des Sozialprinzips und solchen der Geltung des Individualprinzips zumindest für die abendländische Kulturwelt behauptete (Handbuch, Seite 593).

In seinem "Kurz gefaßtes System der Gesellschaftslehre" (Leipzig 1904) setzt sich SPANN bei der Analyse des Universalismus - ein Begriff, der DIETZELs Sozialismus parallel steht - mit der Gegensatzfassung Individualismus-Univeralismus auseinander (Seite 245). Das Wesen des Universalismus dürfe vor allem nicht in der Umkehrung des Individualismus gesehen werden - "der größte Fehler, der in der Regel bei der Beurteilung des Gegenstandes gemacht wird". Wenn das Wesentliche des Individualismus die Autarkie des Individuums ist, dann ist das Wesentliche des Universalismus beileibe nicht die Vernichtung des Einzelnen unter Behauptung der alleinigen Realität der Gesellschaft.
    "Wenn der Individualismus jene Ansicht von Gesellschaft und Staat ist, welche den Einzelnen über das Ganze stellt, so ist der Universalismus nicht umgekehrt eine Theorie, die schlechthin das Ganze über den Einzelnen stellt, diesen dem Ganzen aufopfert. Der Universalismus ist daher auch nicht jene Theorie für welche der Einzelne nichts, der Staat alles ist. ... Nur ganz extreme Formen des Universalismus gehen soweit; grundsätzlich behält aber das Individuum auch für das universalistische Denken seine unverlierbaren inneren Werte und seine sittliche Autonomie. Die Würde des Einzelnen braucht also beim Universalismus nicht geringer zu sein als selbst beim Individualismus." (Seite 246)
Man kann aus diesen Darlegungen nur eines herauslesen: die Ablehnung von DIETZELs Antithese nach ihrer inhaltlichen Seite. DIETZEL läßt in seinem Individualprinzip die Gesellschaft zum Mittel für die Zwecke des Individuums werden - hier beanstandet SPANN die Entwertung der Gesellschaft; in seinem Sozialprinzip macht DIETZEL hingegen das Individuum zum Mittel und Organ der Gesellschaft; es ist "Organ im Leben des sozialen Körpers wie die Gliedmaßen im Leben des physischen Körpers" (Handbuch, Seite 590). Dagegen wendet SPANN die Autonomie des Individuums ein. An die Stelle der aufgegebenen Inhalte von DIETZELs Antithese setzt SPANN (Seite 247) als "Hauptgedanken" des "Individualismus" diesen: "im geistigen Zusammenhang der Einzelnen den Quellpunkt und das Wesen der Gesellschaft zu erkennen". Die Gesellschaft wird ihm zu einem geistigen Verhältnis, "nicht ein nützliches, wirtschaftliches", sonder eine "schöpferische Wirkung der Menschen aufeinander". Demgegenüber bezeichnet er als Individualismus die Ansicht, daß das
    "Primäre und Ursprüngliche der menschlichen Gesellschaft allein das Individuum ist, nicht dessen Zusammenhang im Ganzen; daß der alleinige Grund für die Gesellschaft und deren eigentliches Wesen im Individumm liegt, nicht im Ganzen selber" (Seite 234).
Diese Kritik greift DIETZELs Formel in ihrem Kern an. Sie läßt zwar die formale Gegensatzfassung "Individualismus-Sozialismus" bestehen - die Einführung des Terminus "Universalismus" statt Sozialismus wird (Seite 245) damit begründet, daß der Sozialismus schon als eine bestimmte Sondertheorie festgelegt ist. Es ist nicht deutlich, ob auch der axiomatische Gegensatzcharakter nach SPANN bestehen bleibt. Aber SPANN erfüllt die Formel DIETZELs mit einem anderen Inhalt. Und er tut das aus dem Gefühl heraus, daß DIETZELs inhaltliche Entgegensetzung "Individualprinzip und Sozialprinzip" falsch ist, falsch deswegen, weil weder dem Individuum noch der Gesellschaft ihr klares Recht zuteil wird.

Und in der Tat: ethische Besinnung wie praktische soziale Erfahrung sprechen gegen die Richtigkeit und Stichhaltigkeit der Formel DIETZELs. Sie führt und vor Scylla und Charybdis. Sie läßt uns nur die Wahl, als Individualisten die Gesellschaft in allen ihren Erscheinungsformen für sekundär, Mittel für die obersten Zwecke des Einzelnen, anzusehen; oder als Sozialisten die Rechte des Individuums den obersten Zwecken des sozialen Ganzen als Mittel aufzuopfern, das Individuum zum dienenden Mittel und Organ für die Zwecke einer "abstrakten Einheit aller Einzelnen" zu degradieren. Diese Alternative behauptet DIETZEL als unentrinnbar, als logisch zwingend. Er hätte an diesem Ergebnis seines Denkens schon merken müssen, daß sein Denken irgendwo falsch sein muß. Es mag mit diesem dunklen Gefühl, daß etwas an DIETZELs Formulierung nicht richtig sein muß, wohl zusammenhängen, daß sie in der Literatur relativ wenig systematische Geltung erlangt hat (außer meines Wissens bei BIERMANN), und weiter, daß Autoren, die sich mit DIETZEL auseinandersetzen mußten und im Bann der scheinbar zwingenden Deduktionen gleichzeitig nicht die brüchigen Stellen in DIETZELs Gedankenbau sahen, ihm anderweitig zu entrinnen versuchten. Wir erwähnten schon PLENGE, der DIETZELs logischer Gewaltsamkeit ausbog, indem er neben die logisch-dogmatische die dialektische Betrachtungsweise der sozialen Ideen stellte, Individualprinzip und Sozialprinzip als Endpole der Ausschwingung des geschichtlichen Ideenflusses auffaßte. DIEHL nahm DIETZELs Formel als eine unter vielen möglichen an und beschränkte ihren Geltungsbereich anhand seiner realistischen Gliederungsmethode dogmenhistorisch, d. h. auf einzelne Systeme des von ihm so genannten ethischen Sozialismus (PLATO und RODBERTUS als Vertreter des Sozialprinzips, ROUSSEAU als Vertreter des Individualprinzips). SPANN rettete sich vor der Alternative dadurch, daß er der Formel einen neuen Inhalt gab. Die meisten Autoren machten erst gar nicht den Versuch, sich mit DIETZELs Gedankenkette auseinanderzusetzen und bogen ihr gleich von vornherein aus. Meines Wissens hat erst LITT in seiner Schrift "Individuum und Gemeinschaft" (1919, Seite 102 und öfter) kritisch an die Grundlagen von DIETZELs Denken herangerührt.

Die Alternative, die uns DIETZELs Formel allein läßt, ist weder ethisch noch empirisch haltbar. Ethisch nicht; denn sie drängt als Individualprinzip die Gesellschaft und als Sozialprinzip den Einzelnen in eine Rolle, die unseren ethischen Überzeugungen widerspricht. Empirisch nicht: denn Individualprinzip und Sozialprinzip reichen nicht aus, die bekannten Sozialtheoreme und die sozialen Tatsachen auch nur in ihrem ideellen Zentrum erschöpfend zu erfassen und zu gliedern. Wenn man gegen SPANN einwenden muß, daß seine Deutung des Individualprinzips den Begriff des "Subjektivismus" gleich "übertriebenem Individualismus" (Seite 234) nötig hat, andererseits, daß er aus dem Universalismus jene Theoreme ausschaltet, die eine "übertriebene" Machtstellung der Gesellschaft gegenüber dem Einzelnen vertreten, so ist damit derselbe Einwand erhoben, der auch gegen DIETZEL geht: seine Klassifikation erfaßt einfach nicht alle Systeme, deutet den größten Teil der erfaßten falsch, und ist nach keiner Richtung ein zureichendes Einteilungsprinzip.
LITERATUR: Goetz Briefs, Zur Kritik sozialer Grundprinzipien, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 49, Tübingen 1922
    Anmerkungen
    1) Die ursprüngliche Entwicklung der Gedankengänge DIETZELs findet sich in dem Doppelaufsatz: "Beiträge zur Geschichte des Sozialismus und des Kommunismus" der Zeitschrift für Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften, Bd. 1, 1893, Seite 1 und 373 (im Folgenden als "Beiträge Frankensteinsche Zeitschrift" bezeichnet). Dieser Aufsatz wurde in veränderter Form neu abgedruckt in PLENGEs "Musterbüchern". Ferner: HEINRICH DIETZEL, Rodbertus, Bd. 2. Ferner: KARL RODBERTUS, Preußische Jahrbücher, 1885. Ferner im Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. V, Seite 590f, Artikel Individualismus; ferner: Theoretische Sozialökonomik, Bd. I