ra-3ra-2 G. SimmelK. DiehlH. DietzelK. RodbertusG. Bäumer    
 
GOETZ BRIEFS
Zur Kritik sozialer Grundprinzipien
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"Vorher wurde die Gesellschaft in allen ihren Formen als die selbstverständliche Gestalt des menschlichen Zusammenlebens erlebt, gefühlt und gewertet - jetzt erhebt der naive Rationalismus, gestützt vom naturwissenschaftlichen Empirismus und von erkenntnistheoretischen Sensualismus, die Frage nach der Realität der Gesellschaft überhaupt und findet dabei Unterstützung bei dem Schwarm der Vertreter eines flachen gesunden Menschenverstandes, der die Tatsache daß er keine Gesellschaft mit Händen greifen und mit Augen sehen kann, als hinreichenden Beweis ansieht, daß es so etwas nicht gibt."

"Aktivität und Bewegtheit des individualistischen Lebensgefühls sowie das kapitalistische Lebensverhaltens lassen das Sein als nur sehr bedingten Wert gelten - wenn überhaupt als Wert -; beide münzen alle Seinsgegebenheiten um in Mittel und Zwecke. Die Welt - worunter durchgängig die wirtschaftlich aufschließbare Erde und meistens sogar nur der Umkreis des praktischen Wirtschaftsbereiches verstanden ist - wird als unendliche Aufgabe angesehen, das Leben als unendlicher Prozeß, als unaufhörliche Betriebsamkeit unter dem Leitbild in Genuß und Profit kulminierender Zwecke, das Sein aufgelöst und als Material für Zwecke behandelt."

Ich formuliere meine Einwände gegen DIETZEL dahin:
    1. Dietzels Formel der kontradiktorischen Axiome Individual- und Sozialprinzip ist unhaltbar.

    2. Die formale Fassung des Verhältnisses zwischen Individuum und Gesellschaft durch die Zweckmittelkategorie ist unhaltbar.

    3. Eine erschöpfende Systematik der Sozialtheoreme ist von Dietzels Voraussetzungen aus nicht möglich.
Ad 1: Warum ist die logisch letzte Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft nicht das Individualprinzip bzw. Sozialprinzip im Sinne DIETZELs? Die Ausgangsfragestellung DIETZELs faßt von vornherein nicht das Letzte. Die letztes äußerste Fragestellung kann nicht shcon das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Individuum betreffen, kann nicht lauten: welches ist der letzte ethische Satz betreffend das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, sondern: welches ist in weitester Fassung der letzte Satz über das Zusammenleben überhaupt von Menschen überhaupt? Faßt man die Frage so, dann wird von vornherein problematisch, was bei DIETZEL noch nicht als problematisch erkannt ist, was aber seiner ganzen Natur nach problematisch ist und sozialtheoretisch wie sozial-ethisch oft genug als problematisch behandelt worden ist, nämlich die Gesellschaft. DIETZELs Fragestellung tut so, als ob "das" Individuum und "die" Gesellschaft klare gegebene unproblematische Größen sind. Das sind sie nicht. Die Problematik des Individuums entgeht der naiven oder "realistischen" Betrachtungsweise deswegen so leicht, weil das Individuum ein sinnfälliges Wesen ist, in seiner anscheinend unproblematischen Art und Existenz empirisch gegeben, scheinbar die sicherste Gegebenheit falls überhaupt Gegebenheiten angenommen werden. Ja, alle sozialen Gegebenheiten scheinen sich in ihm zu erschöpfen. Der Individualist und der vom Denken über die Wesenheit sozialer Erscheinungen nicht Angeblaßte glauben alle Erscheinungen des sozialen Lebens auf Individuen bzw. deren Qualitäten zurückführen und von ihnen aus restlos erklären zu können. Und doch gibt es Sozialtheoreme, die die Individuen für Figurationen im Schleier der Maja halten, für zufällige unwesentliche Erscheinungsformen der allein wahren Realität Gesellschaft, die das schlechthin Wesentliche und Seiende ist. Jener von DIETZEL angeführte Proudhonist trifft diese Auffassung wenn er sagt: "tandis que l'association englobe les individus ..." [während die Vereinigung alle Einzelnen umfaßt - wp]. Dieses "umfassen" bedeutet "verschlingen, restlos verzehren". Gerade vom Standpunkt gewisser Theorien, die auf naturwissenschaftlichem und zumal biologischen Boden gewachsen sind, ist das Individuum nur Ausdruck und Erscheinungsform sozial-biologischen Seins und Wesens. DIETZEL sagt selbst in der Darstellung eines Gedankens von PROUDHON (Seite 20 der "Beiträge" in der Frankensteinschen Zeitschrift) "dagegen führt die Idee der Assoziation zur Vernichtung des Individuums" (2). Soziologen wie LILIENFELD, IZOULET, Gesellschaftsphilosophen wie PLATO, Staatspolitiker wie LYKURG liegen geistig auf dieser Linie. LEROUX versteht unter Sozialismus geradezu die Doktrin, "gemäß welcher l'individu serait sacrifié a cette entité qu'on nomme la société" [das Individuum dieser Entität geopfert werden würde, die wir Gesellschaft nennen - wp] (Handbuch, Seite 590). So steht das Individuum trotz seiner anscheinenden Selbstverständlichkeit und Souveränität doch als problematische Größe da.

Sehr viel stärker ist natürlich der Problemcharakter der Gesellschaft durchschaut worden. (3) Er drängt sich sozusagen auf in dem Augenblick, wo das naive, rationale, zumal "interessierte" Denken durchbricht. Wurde vorher die Gesellschaft in allen ihren Formen als die selbstverständliche Gestalt des menschlichen Zusammenlebens erlebt, gefühlt und gewertet, so erhebt der naive Rationalismus, gestützt vom naturwissenschaftlichen Empirismus und von erkenntnistheoretischen Sensualismus, die Frage nach der Realität der Gesellschaft überhaupt und findet dabei Succurs [Unterstützung - wp] bei dem Schwarm der Vertreter eines flachen "gesunden Menschenverstandes", der die Tatsache daß er keine Gesellschaft mit Händen greifen und mit Augen sehen kann, als hinreichenden Beweis ansieht, daß es so etwas nicht gibt. Jener Proudhonist TOLAIN, den wir schon erwähnten, gehört hierhin, wenn er sagt: "Sie werden mir zugeben, daß die Gesellschaft aus Individuen besteht, daß die Gesellschaft ein abstraktes ... mysteriöses Ding ist, das man uns aufnötigen möchte. Das Individuum ist ein Konkretes, Leibhaftiges" (Seite 20 der "Beiträge" bei FRANKENSTEIN). Hierhin gehören alle diejenigen, die in der Gesellschaft letzten Endes nur eine "Summe von Einzelnen" sehen.

Jedenfalls, was vorläufig hier festzustellen ist, ist dieses: weder das Individuum nocht die Gesellschaft sind Größen, von denen die letzte ethische das soziale Seinsollen abzielende Fragestelltung unbesehen ausgehen kann. Die Frage nach dem letzten Satz des sozialen Seinsollens liegt vor ihnen, beginnt nicht erst mit ihnen als Begebenheiten. Daß DIETZEL das übersah, hängt vielleicht damit zusammen, daß ihm das Ethische von vornherein gleich dem Sozialseinsollen war. Für diese Auffassung ist das Gesellschaftliche aller ethischen Betrachtung ein a priori im strengen Sinn des Wortes. Das Ethische hat aber faktisch zwei Richtungen, eine Richtung auf das Subjekt und eine andere auf die gesellschaftliche Außenwelt. Jede von diesen beiden Richtungen kann versuchen, sich absolut zu setzen unter Verneinung der anderen. Mit dieser Möglichkeit ist die Notwendigkeit gegeben, die letzte ethische Besinnung auf das soziale Seinsollen tiefer anzusetzen als es DIETZEL tut. Seine Ausgangsfragestellung ist nicht die letzte.

Ad 2: Jene formale Fassung zwischen Individuum und Gesellschaft in Gestalt der "Zweckmittelkategorie" ist bedenklich. Zunächst aus einer allgemeinen Besinnung heraus. Die Zweckmittelkategorie in der unbedingten Anwendung stammt psychologisch aus der Aktivität und Bewegtheit des individualistischen Lebensgefühls und des kapitalistischen Lebensverhaltens. Beide lassen das "Sein" als nur sehr bedingten Wert gelten - wenn überhaupt als Wert -; beide münzen alle Seinsgegebenheiten um in "Mittel und Zwecke". Die Welt - worunter durchgängig die wirtschaftlich aufschließbare Erde und meistens sogar nur der Umkreis des praktischen Wirtschaftsbereiches verstanden wird - wird als "unendliche Aufgabe" angesehen, das Leben als unendlicher Prozeß, als unaufhöriliche Betriebsamkeit unter dem Leitbild in Genuß und Profit kulminierender Zwecke, das Sein aufgelöst und als Material für Zwecke behandelt. Erkenntnistheoretisch wird diese Erd- und Lebensanschauung gestützt vom Kantianismus, der in der Welt nur "einen heillosen Brei" (SCHELER) sieht, welcher erst Form und Gesetz erlangt in den Kategorien des Denkens und in den Formen der Anschauung. Bei dieser Betrachtungsweise ergeben sich notwendig gehäufte Antinomien. Denn die Zweckmittelkategorie reißt das Ineinander- und Zueinandergehörige in einem Zweck und ihm gegenüberstehende Mittel auseinander, trennt die Welt des Seins vom Subjekt des Erkennens, trennt den Wert der Person vom Kulturwert, trennt das Ich vom Wir, das Individuum von der Gesellschaft, und kommt damit regelmäßig vom in aller Erfahrung gegebenen Et-Et zum Aut-Aut der ausschließenden Gegensätze. Es verliert bei dieser geistigen und psychologischen Haltung das innere Bewußtsein für die allgemeine Ineinandergliederung, für die "Entelechie" des universalen Zusammenhangs, Zusammenseins und Zusammenwirkens der Welt und des Lebens. Statt eines Ineinander allen Seins und eines Miteinander der Werte, statt einer Rangordnung in den Werten verbleibt uns die Härte und Simplizität einer logischen Entgegensetzung nach Mittel und Zweck. Mit doktrinärem Vernunftanspruch berserkert die Relationszange "Mittel und Zweck" an der Welt und am Leben herum und kommt damit zu Formeln, für die die "Bestimmung des Menschen" durch LORENZ von STEIN typisch ist:
    "In jedem Einzelnen lebt ein unbesiegbarer Drang nach einer vollendeten Herrschaft über das äußere und innere Dasein, nach dem höchsten Besitz aller geistigen und sachlichen Güter."
Der Dogmatismus, mit dem von STEIN diese Behauptung aufstellt, entschädigt uns nicht dafür, daß sie ganz einfach und schlechthin unwahr ist; sie erhebt generell zu einer Sinndeutung des Lebens im Allgemeinen, was ein zeitgeschichtlich bedingter Aktivismus, in dessen Hintergründen unter anderen Möglichkeiten eine platte Utilitätsphilosophie lauert, für richtig hält. Die alte, tiefe, philosophische Fragestellung nach dem Verhältnis des Teils zum Ganzen, des Gliedes zum Körper wird durch diese Zweckmittelkategorie verflacht und in ihrem Problemcharakter zerdrückt.

Neben dieser Ablehnung der Zweckmittelkategorie aus allgemeiner Besinnung heraus sprechen in unserem Fall besondere Überlegungen gegen sie. Sie gibt kein zureichendes Prinzip der Klassifikation. Das zeigt sich ohne Weiteres. Wenn wir mit DIETZEL als Individualprinzip jenen Satz annehmen, daß das Individuum Zweck, die Gesellschaft Mittel ist, so ist der Fall möglich, daß das Individuum, gerade weil es Zwecken seiner selbst so am besten zu dienen vermeint, der Gesellschaft den praktischen Primat auf der ganzen Linie einräumt, sich absolut gesellschaftlichen Zwecken unterordnet. In der Richtung dieses Falles bewegte sich DIETZEL schon, als er aufwies, wie das System der freien Konkurrenz gleichermaßen von Individualisten und Sozialisten vertreten werden kann. Ganz zu Ende gedacht ist die allgemeine Fassung - DIETZEL sieht nur den praktischen Einzelfall des Verhältnisses von Individualprinzip und Sozialprinzip zur freien Konkurrenz - also möglich: die Gesellschaft hat im ganzen Umkreis ihrer Beziehungen zum Einzelnen den praktischen Primat, weil es zu Zwecken des Individuums so am Besten ist - von diesem Individuum aus gesehen! Entsprechend könnte man von einem Sozialprinzip in der Fassung von DIETZEL aus folgern: weil die Angelegenheiten der Gesellschaft am besten gewahrt erscheinen dadurch, daß man dem Individuum im ganzen Umkreis seines Verhältnisses zur Gesellschaft unbedingt freie Hand gibt, gibt die Gesellschaft sich selbst auf in der Annahme, damit ihren Zwecken am besten zu dienen. Die psychologische Unwahrscheinlichkeit des Falles ist kein Beweis gegen seine logische Möglichkeit.

Man sieht augenscheinlich das Ergebnis: Im ersteren Fall zerstört das Individuum sich selbst zugunsten der Gesellschaft aus Zwecken seiner selbst, im zweiten zerstört die Gesellschaft sich selbst zugunsten des Individuums aus Zwecken ihrer selbst. Was sollen in diesen gewiß besonders scharf konstruierten Grenzfällen noch die Bezeichnung Individual- und Sozialprinzip alle adäquate Ausdrucksform verliert und bestenfalls als Schimmer einer blassen Absicht und Gesinnung übrig bleibt. Ist es bei so bewandten Möglichkeiten wirklich von "primärer Bedeutung, aus welcher von beiden polaren Gesellschaftsauffassungen eine Theorie abgeleitet" ist? (Seite 13 der "Beiträge"). Betrachten wir jene Grenzfälle genauer, so ergeben sie, daß die Unterscheidungen DIETZELs zwischen Individual- und Sozialprinzip nicht die letzte ethische Formel sein kann; denn in diesem Fall wird einesteils aus Individualprinzip das Individuum, andernteils aus Sozialprinzip die Gesellschaft verneint. Es hebt sich DIETZELs Formel von innen heraus auf. Und der tieferen Grund? Es ist der, daß die Zweckmittelkategorie zu grob und zu simplistisch ist, um das innere Wesen des Verhältnisses zwischen Individuum und Gesellschaft scharf und elastisch genug erfassen zu können. Alle Differenzierungen im beiderseitigen Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, die so reich und mannigfach sind, werden unter die grobe Zange der Zweckmittelkategorie gegriffen. Die Zerdrückung der einen Größe durch die andere, aber ebenso die weitreichende Selbständigkeit der einen durch die andere; diese Extreme, und alles was dazwischen liegt, wird unter die simplistische Formel gezwängt.

Noch andere Gründe sprechen gegen die Zweckmittelkategorie. DIETZEL spricht (Handbuch, Seite 590) in Analyse der Gesellschaft von den "höheren und niederen Sozialgebilden"; er bezeichnet als solche Familie, Stand, Genossenschaft, Staat, Staatengemeinschaft. Zugegeben, daß beispielsweise die Genossenschaft des Genossenschaftsgesetzes ein - allerdings auch an bestimmte soziologische und sittliche Grundtatsachen anschließendes - kunstvolles Gebilde ist, das nach Zweck und Mittel kategorisiert werden kann, wie es nach Zweck- und Mittelerwägungen geschaffen wurde; zweifelhaft ist aber dann schon, ob dasselbe für den Staat gilt (wobei man nicht im Staat ein willkürliches Vertragsprodukt gemäß dem Naturrecht der Aufklärung sieht) und vollends zweifelhaft ist, ob es für die Familie gilt. Ihrer Natur als einem organischen Gebilde nach läßt sich die Familie in ihrem Verhältnis zu ihrem Mitglied nicht adäquat nach den Kategorien "Zweck und Mittel" betrachten. Oder ist die Redewendung etwa sinnvoll: Die Familie ist Zweck ihrer Mitglieder oder Mittel ihrer Mitglieder? Gewiß, wenn sie ein rein rationales Zweckgebilde wäre, das so oder anders gestaltet werden kann, dessen Formen nach zufälliger Willkür und nach einem Zweckmäßigkeitsentscheid gewählt wäre. Aber wer will im Ernst behaupten, daß sie das ist! (vgl. dazu KOPPERS, Die Anfänge des menschlichen Gemeinsachftslebens, 19121, Seite 108f). Dabei gibt es neben der Familie noch verwandte Sozialgebilde, die ebensowenig nach Zweck und Mittel erschöpfend analysierbar sind. Man vergegenwärtige sich den Wesensunterschied zwischen Gebilden von der Art der Familie und etwa von der Art einer Aktiengesellschaft, eines Syndikates! Höchstens vom Standpunkt einer transzendenten Teleologie, einer metaphysischen Geschichtsphilosophie oder einer teleologisierenden (etwa auf Entwicklung und Forschritt ausgerichteten, insofern also nicht mehr auf rein wissenschaftlichem Boden befindlichen) Biologie wäre jene Betrachtungsweise aller Sozialgebilde nach Zweck und Mittel sinnvoll. Aber diese metaphysische naturrechtliche teleologisierende Betrachtungsweise lehnt DIETZEL in ausdrücklicher Berufung auf die Vernunft als Ausgangspunkt ab - und mit Recht! (vgl. dazu TÖNNIES' Darlegungen in "Gemeinschaft und Gesellschaft", Berlin 1912)

Man sieht deutlich: Es gibt Gebilde menschlich-sozialen Zusammenlebens, die ihrer ganzen Art nach einen vom Menschen gesetzten Zweckcharakter haben, Artefakte sind und auf "Willkür" beruhen. Es gibt aber auch solche, und zwar die fundamentalsten, die keinen Zweckcharakter tragen, "organisch" und wesenhaft sind. Wohl verstanden: Es wird damit nicht geleugnet, daß es Sozialtheoreme gegeben hat und vielleicht noch gibt, die unterschiedslos all jene Formen des menschlichen Zusammenlebens nach Zweck und Mittel, mechanisch und artefiziell behandeln - das mag bis zu einem gewissen Grad sogar einen gewissen Sinn ad hoc haben; zumal die Modetheoreme des 19. Jahrhunderts, dessen Exponent, der Großbetrieb und die Massenstadt, ja tatsächlich den Gegenbeweis gegen jede "organische" Menschenverbindung zu erbringen schienen (- schienen, denn Großbetrieb und Massenstadt lebten im Untergrund von der ernährenden Kraft und Gesundheit der "organischen" Verbände -), neigten dazu; aber die Hauptsache ist, daß andere Sozialtheoreme sogar rein rationaler Betrachtung (ohne metaphysische und naturrechtliche Einschläge) den organischen Charakter bestimmter Formen des menschlichen Zusammenlebens behaupteten und anerkannten - und sie muß ein systematisches Einteilungsprinzip erfassen. Das DIETZELsche tut es nicht, indem es Individuum und Gesellschaft nach einem reinen Zweckmittelverhalten erfaßt.

Gegen die Zweckmittelkategorie als adäquate Betrachtungsweise des Verhältnisses zwischen Individuum und Gesellschaft ist weiterhin einzuwenden, daß sie keine Möglichkeit läßt, den Eigenwert und die souveräne Seinsbestimmung sowohl des Individuums im Falle des Sozialprinzips wie der Gesellschaft im Falle des Individualprinzips zu retten. In einem Fall ist das Individuum, im anderen Fall die Gesellschaft nur "Mittel". Ethisch gleich unhaltbar ist die Behauptung, die Gesellschaft ist nur zu Zwecken des Einzelnen da oder das Individuum ist nur für die Gesellschaft da. Das Individuum und die Gesellschaft sind Werte, die in keinem Fall bloße Mittel darstellen und nur als Mittel Wert und Sinn haben. Das Suchen nach der letzten ethischen Formulierung kann sich also keinesfalls beruhigen bei dem Ergebnis, daß der Einzelne, bzw. die Gesellschaft nur Zweck oder Mittel sein kann. Die kantische Formel, daß niemand bloßes Mittel für Zwecke anderer sein soll, hätte DIETZEL vor dem Mißgriff bewahren müssen, in der "Mittel"stellung des Individuums eine mögliche letzte ethische Formulierung zu finden. Daß es Sozialtheoreme gibt, die das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft nach Zweck und Mittel abhandeln, ist eine Sache für sich. Und weiterhin: Die Fragestellung zwischen dem Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft, formuliert nach Zweck und Mittel, ist darum nicht die letzte, weil die Entscheidung in jedem Fall die Zielfrage akut werden läßt. Wenn ich mich für das eine oder andere Prinzip entscheide, so schwebt mir in jedem Fall ein "Ziel" vor, das ich mit der Entscheidung erreichen will. Man frägt sich immer: aus welchen Wertvorstellungen erkläre ich mich für dieses oder jenes Prinzip?
    "Alles, was Willenszweck heißt, setzt bereits die Vorstellung eines Zieles voraus. Nichts kann zu einem Zweck werden, was nicht vorher Ziel war. Der Zweck ist fundiert auf das Ziel. Ziele können ohne Zwecke niemals, aber Zwecke können ohne vorangegangene Ziele gegeben sein. Wir können einen Zweck nicht aus nichts erschaffen oder ihn ohne vorangegangenes Streben "nach etwas" setzen. Zweck aber unseres Wollens wird ein vorangestelltes Ziel erst dadurch, daß der so gegebene Inhalt eines Zieles (und zwar sein Bildinhalt) als ein zu Realisierendes (d. h. Real-sein-sollendes) gegeben ist, d. h. eben gewollt wird." (Scheler, Der Formalismus in der Ethik und materiale Wertethik, Seite 35; vgl. auch Sigwart, Logik II, Seite 763-764).
Auf rechtsphilosophischem Gebiet ist RADBRUCH (Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1914) vor dasselbe Problem gekommen, wie wir hier auf sozialwissenschaftlichem. Er geht davon aus, daß die philosophische Betrachtung nicht vor dem beziehungslosen Nebeneinander einer Mehrheit absoluter Werte haltmachen kann. Philosophie ist Vereinheitlichung des Weltbildes, Wertmonismus daher nicht nur eine mögliche Theorie wie Wertdualismus oder -pluralismus, "vielmehr eine apriorische Notwendigkeit allen philosophischen Denkens, neben welcher Pluralismus und Dualismus nur als unfertige Philosophien gelten dürfen " (Seite 87). Es genügt dem Bedürfnis der monistischen Zuspitzung des Systems der Werte nicht, daß man sich die absoluten Werte als Differenzierungen ein und desselben universellen Wertes nach Maßgabe des Substrates, auf dem er Anwendung fordert, vorstellt; es genügt deswegen nicht, weil die Werte nicht friedlich nebeneinander stehen, sondern in einem erbitterten Wettbewerb um den Primat kämpfen. Welche sollen den Vorzug haben, Persönlichkeitswerte oder die Werte "welche auf ursprünglich außersittliche oder auf Sozialwerte gerichtet sind". Dieses Problem ist "schlechthin die Frage nach dem Wesen der Kultur" (Seite 89). Denn "Kultur ist die Gesamtheit der absoluten Werten, sofern man sie sich in ein und demselben Substrat verwirklichkt, dadurch aber zugleich auch in einem Verhältnis hierarchischer Unter- und Überordnung gebracht denkt". Als "Kultursubstrat" aber kann entweder der Kulturmensch oder das Kulturwerk gedacht werden.
    "Ist als Substrat der Kultur (man vergegenwärtige sich Dietzels letzten Satz!) der Kulturmensch zu denken, so sind die Werke der Kunst und der Wissenschaft nur Kulturmittel ... Kulturzweck aber ist nur die sittliche Persönlichkeit. Ist dagegen Kultursubstrat das Kulturwerk, so ist in den Werken der Kunst und Wissenschaft der Kulturzweck bereits erreicht und die sittliche Persönlichkeit nur wertvoll, insofern sie als dienendes Glied zu dieser Welt der Wertobjektivationen beiträgt. Desgleichen kann die Rechtsordnung, als welche sich nicht an die einzelne Person, sondern am sozialen Ganzen verwirklicht, nur Kulturmittel sein, wenn die Persönlichkeit, Kulturzweck nur sein, wenn das Kulturwerk das Kultursubstrat bildet" (Seite 89-90).
Die Parallele zu DIETZELs Ausführungen wird ganz deutlich:
    Dort (wenn der Kulturmensch Substrat ist) erfüllt sich der Kulturzweck erst in der subjektiven, hier, wenn das Kulturwerk Substrakt ist, schon in der objektiven Kultur. Dort ist der Kulturzweck erst erreicht, wenn jedes Individuum monadengleich die kulturelle Leistung des Ganzen abspiegelt, hier schon in den kulturellen Leistungen selbst, mögen sie sich auch über die zahlreichen Glieder des sozialen Ganzen verteilen ... für die personalistische Kulturauffassung ist Wertpersonifizierung, für die transpersonalistische Wertobjektivierung, hier was einer leistet, dort was er ist ... der Sinn des Lebens." (Seite 90)
Genau wie bei DIETZEL folgt dann die Behauptung, es sei unmöglich, sich für die eine oder andere Auffassung "beweisbar zu entscheiden" (Seite 91) Und nun kommt RADBRUCH auf den Einwand, den wir gegen DIETZEL erhoben haben: Wird bei dieser Lage der Dinge nicht die Eigengesetzlichkeit der einzelnen Werte vernichtet, wenn man den einen Wert dem anderen dienstbar macht, ihn als Mittel für den anderen betrachtet? Verzehrt nicht der Persönlichkeitswert, wenn man sich für die Person als Kultursubstrat erklärt, alle anderen Werte? Verzehren nicht die Werk- und Sozialwerte, wenn man sich für sie als Kultursubstrat erklärt, die sittliche Autonomie der Persönlichkeit? RADBRUCH glaubt die Schwierigkeit dahin lösen zu können, daß die Persönlichkeitswerte die Werkwerte oder die Werkwerte die Persönlichkeitswerte "unter voller Wahrung ihrer Eigengesetzlichkeit in ihren Dienst" nehmen. Er bemerkt nicht, daß damit die absolute Fassung des Zweckmittelverhältnisses aufgegeben ist, denn wenn die Werkwerte bei geltenden Personenwerten ihre volle Eigengesetzlichkeit entwickeln, dann sind sie eben nicht mehr schlechthin Mittel, sondern insofern diese Eigengesetzlichkeit reicht, Zwecke ansich, Werte für sich. Und wenn die Personwerte bei geltenden Werk- bzw. Sozialwerten ihre volle Eigengesetzlichkeit entwickeln, dann sind sie eben nicht mehr schlechthin Mittel, sondern insofern ihre Eigengesetzlichkeit reicht, Zwecke ansich, Werte für sich. Problem: Was ist und wie weit reicht die Eigengesetzlichkeit eines Personwertes hier, eines Werk- bzw. Sozialwertes dort? Darüber bleibt uns RADBRUCH jede Antwort schuldig. Und zwar mit Recht, denn darauf gibt es keine allgemeine Antwort vom Standpunkt einer Leistungs- und Erfolgsethik aus, wohl hingegen vom Standpunkt einer auch das "Sein" als eigenen Wert unabhängig von aller Zweckerwägung bejahenden Wertethik. Aber RADBRUCH hätte den Widerspruch fühlen müssen, der darin liegt, daß ein Personenwerte bzw. Werkt- und Sozialwerte antinomisch gegenübergestellt werden in Gestalt eines Entweder - Oder; daß sie dann in Zweckmittelkategorien aufeinander bezogen werden und daß drittenns dazu behauptet wird: Die Mittel sind schlechthin Mittel, sondern haben Eigengesetzlichkeit, Selbstzweck und erst über ihre Eigengesetzlichkeit hinaus werden sie Mittel zu einem vorangesetzten Zweck. Ein Blick auf die Wirklichkeit des Lebens und eine kurze Besinnung über die inneren Bedingungen der Personkultur und der Sachkultur mußte die Antinomie als Gerade das Verhältnis zwischen Person- und Sachkultur erscheinen lassen, das völlig außer Frage steht für die allgemeine Betrachtung. Wo hat man jemals Personkultur und Werkkultur getrennt gesehen? Höchstens in der Vorstellung eines Althändlers oder eines Parvenüs; aber das sind doch wohl kaum Vorstellungsweisen, die man ernsthaft zum Ausgangspunkt über das Verhältnis von Personwert und Sachwert machen kann. Wo hat sich bei einseitiger Verfolgung der Werk- oder Sozialkultur unter Hintanstellung der Personkultur erstere erhalten lassen? Wo war je das Umgekehrte der Fall? Trotzdem nötigt uns der "antinomische" Scharfsinn RADBRUCHs die Antinomie auf: Entweder Personkultur oder Werk- bzw. Sozialkultur. Natürlich können im konkreten Einzelfall beide Kulturwerte gelegentlich gegeneinander prozessieren, aber der Scharfsinn und die Tiefgründigkeit sind wirr, wenn sie auf Einzelfällen ohne logische Berechtigung auf das Allgemeine schließen und bei Antinomien [Widersprüchen - wp] enden.

Was hier von RADBRUCH gesagt wurde, gilt auch gegen DIETZEL. RADBRUCH stieß noch hart an den Punkt heran, wo ihm die Zweckmittelbetrachtung in ihrer absoluten Form zweifelhaft wurde und er sie abschwächte, indem er das Mittel (und damit natürlich auch den Zweck) relativierte. DIETZEL trifft diesen Punkt nicht und stellt uns Individuum und Gesellschaft in Zweckmittelkategorien vor, entweder Individualprinzip oder Sozialprinzip, tertium non es [ein Drittes gibt es nicht - wp]. Auch er ist einem Scharfsinn zum Opfer gefallen, welcher sich selbst den Strick drehte.

AD. 3: Die Verfehltheit von DIETZELs letzten ethischen Prinzipien muß natürlich ihre Folgen haben für die Systematisierung der Sozialtheoreme. Wenn das principium divisionis [Unterscheidungsprinzip - wp] falsch ist, kann man von ihm keine zutreffende und erschöpfende Einteilung erwarten. Zunächst keine scharfe Einteilung. Man überlege ur, wieviele Abstufungen im Zweckmittelverhältnis möglich sind! Der Zweck kann das Mittel aufzehren, ihm alle Eigenwertigkeit rauben, ihm alle Eigengesetzlichkeit nehmen; und er kann das Mittel in so großer Eigengesetzlichkeit und Eigenwertigkeit lassen, daß sein eigener Zweckcharakter der Auszehrung verfällt. Konkret gesprochen: Bei unterstelltem Individualprinzip kann das Individuum alles Gesellschaftliche geradezu als Mittel zerstört wird (Anarchie) - es kann aber ebenso das Gesellschaftliche als so bedeutsam für seine (des Individuums) maßgebenden Zwecke ansehen, daß sich das Individuum selbst aufgibt in der Überzeugung, so am Besten zu fahren. Entsprechend umgekehrt das Sozialprinzip: Es kann das Individuum als Mittel aufzehren - es kann aber auch in der Überzeugung, so seinen gesellschaftlichen Zwecken am Besten zu dienen, das Individuum absolut schalten lassen. Wenn diese Spannungen zwischen Zweck und Mittel innerhalb des Individual- bzw. Sozialprinzips möglich sind, so folgt daraus, daß die Problemlösung nach Zweck- und Mittelkategorien und in der gegensätzlichen Ausschließlichkeit von Individualprinzip und Sozialprinzip nicht gefunden werden kann.

Die Formulierung DIETZELs besitzt also keine zureichende Schärfe. Aber sie ist auch nicht genügend erschöpfend. Sie faßt einfach nicht alle Systeme und was das Schlimmste ist, sie faßt gerade die wichtigsten nicht und sie faßt nicht die Wirklichkeit des Lebens. Sie erfaßt all jene Theoreme nicht, die in einer irgendwie gearteten Verbindung von Individuum und Gesellschaft in echter Einheit die richtige Lösung der sozialethischen Probleme sehen - das müssen nicht notwendig solche sein, die aus einer "geoffenbarten Religion" oder aus einer Metaphysik stammen; es gibt solidarische Systeme, die rein rational oder positivistisch von einer Verbindung zwischen Ich und Gesellschaft ausgehen; wir werden darauf zurückkommen. Aber sie faßt auch nicht jene Systeme, die von der grundsätzlichen Leugnung der Gesellschaft oder von der grundsätzlichen Leugnung des Individuums ausgehen. Daß diese sozial-ethischen Möglichkeiten auch da sind, hätte DIETZEL verschiedentlich merken können. In den "Beiträgen" (Seite 24) spricht er von "extremen" Formen des Sozialprinzips, ebenso spricht er verschiedentlich von den "extremen" Formen des Individualprinzips, von einem "übertriebenem" Individualprinzip und einem "übertriebenen" Sozialprinzip. Aber was sollen solche Quantifizierungen eines prinzipiellen (d. h. qualitativen) Standpunktes? Verbergen sich vielleicht hinter ihm Qualitätsdifferenzen, die bloß mit DIETZELs Schema nicht faßbar sind und darum als "Extreme", als "Übertreibungen" dem Individual- oder Sozialprinzip angeklebt werden müssen? Hier bricht in der Tat die ungenügende Fassungskraft von DIETZELs Formel durch. Noch bei einer anderen Gelegenheit rührte DIETZEL nahe an die Vieldeutigkeit seines Individualprinzips heran. In der ersten Veröffentlichung seiner "Beiträge" (a. a. O., Seite 20) deutet er PROUDHONs Auffassung der "Assoziation" als "Vernichtung" des Individuums. In der Neuherausgabe desselben Aufsatzes in PLENGEs "Musterbüchern", die, wie PLENGE in einer Vorbemerkung sagt, "vom Verfasser für den Wiederabdruck neu überarbeitet" ist, lautet die Deutung der "Assoziation" PROUDHONs nicht mehr "Vernichtung", sondern "Knebelung" des Individuums. "Knebelung" trifft den Gehalt von PROUDHONs Text sehr viel genauer. Aber davon abgesehen hätte DIETZEL hier merken können, daß "Vernichtung" und "Knebelung" des Individuums nicht dasselbe ist, und daß ein Einteilungsprinzip sowohl jene Sozialtheoreme erfassen muß, die das Individuum "vernichten", wie jene, des es nur "knebeln".

Fassen wir unser Ergebnis zusammen:
    1. Dietzel unterstellt Individuum und Gesellschaft als eindeutige, klare, unproblematische Gegebenheiten, die sie nicht sind.

    2. Es handelt sich nicht um axiomatische kontradiktorische Gegensätze im Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft.

    3. Es handelt sich nicht um ein absolut primäres Prinzip gegenüber der Klassifikation nach realen Forderungen.

    4. Die Zweckmittelkategorie ist in der von Dietzel gewählten Art unbrauchbar.

    5. Als Folge der materialen und formalen Mängel von Dietzels Problemfassung ergab sich die mangelnde Schärfe und mangelnde Fassungskraft der antinomischen Prinzipien Dietzels.
Damit können wir den negativen Teil unserer Aufgabe beschließen.

Wir müssen die Fragestellung tiefer legen. Man kann nicht davon ausgehen, das allgemeine Problem als eine Frage nach dem letzten ethischen Satz bezüglich des Verhältnisses zwischen Individuum und Gesellschaft zu formulieren, da die Realität dieser Gesellschaft ja gerade ein Problem ist, und andererseits das Individuum auch durchaus keine unproblematische Größe ist. Sondern wir müssen die Frage in allgemeinster Form erheben: Welche letzten ethischen Sätze lassen sich für das menschliche Zusammenleben (im allgemeinsten Wortverstand) aufstellen? Soweit ist die Frage eine sozial-ethische Frage. Daneben existiert die logische Frage: Wie und in welchen Formen ist menschliches Zusammenleben überhaupt denkbar? Welche Gestaltmöglichkeiten besitzt es? Daneben existiert die soziologische Frage: sie geht auf die empirischen Formen menschlich gesellschaftlicher Verbindungen, auf ihre Beschreibung und Erklärung. Daneben existiert die sozial-technische (bwz. die sozial-politische) Frage: Wie ist das menschliche Zusammenleben bei gegebenen Zielen, gegebener Gesetzmäßigkeit und gegebenen "Umständen zweckmäßig zu gestalten?

Die vier Fragen sind deutlich zu trennen. Die sozial-ethische geht auf die obersten Sollsätze menschlichen Zusammenlebens, sie sucht Normen, welche Geltung beanspruchen. Die logische Frage geht auf die denkbaren Möglichkeiten menschlichen Zusammenlebens überhaupt, auf die Begriffe "Individuum" und "Gesellschaft", auf die Form ihrer Verbindungen, zeigt die Möglichkeit ihrer Verbindung. Hier ist das Gebiet der allgemeinen Formenlehre des sozialen Lebens. Die soziologische Frage behandelt die empirischen Gestalten. Die sozial-politische Frage mißt die Normen an den gegebenen einzelnen gesellschaftlichen Aufgaben und an den gegebenen Umständen, sie will bei gegebenen Aufgabgen und Mitteln die Gesellschaft und deren Gliederung und Erscheinungen nach gegebenen Normen gestalten. Sie bedient sich der Sozialtechnik als eines Kunstverfahrens zweckmäßigen Vorgehens. Mit ihr haben wir hier naturgemäß nichts zu tun.

Wir wenden uns der logischen Frage zu: Welche theoretischen letzten Formen menschlichen Zusammenlebens sind möglich? Haben wir unter die Formen menschlichen Zusammenlebens schon das beziehungslose Nebeneinander von Einzelnen zu rechnen? Wäre ein eremitenhaftes und robinsonisches Leben der Menschen eine Form menschlichen Zusammenlebens? Es wäre kein Einwand, die praktische Unmöglichkeit eines solchen Eremitismus oder die bisher noch nicht gegebene literarische Vertretung einer solchen Idee zu berufen. Aus der Sache selbst heraus ist zu sagen, daß ein solches eremitenhaftes geistig wie sittlich beziehungsloses rein physisches Nebeneinander der Menschen kein soziales Problem darstellt. Es ist eben keine Form menschlichen Zusammenlebens, sondern menschlich isoliertes Leben. Damit können wir sie auf sich beruhen lassen.

Das Zusammenleben umschließt die Problematik. Aber es wäre ein Irrtum darunter nur das "Miteinander" gerichtete Verhalten von Menschen zu betrachten; auch das "Gegeneinander" gerichtete Verhalten von Menschen, veranlaßt durch irgendwelche Gegengefühle und Interessen, zählt dazu. Auch das "homo homini lupus" [ein Wolf ist der Mensch dem Menschen - wp] kann neben anderem ein Prinzip des menschlichen Zusammenlebens sein - Zusammenleben ist in unserem Zusammenhang rein formal zu verstehen ohne Beimischung irgendwelcher sozialer, genossenschaftlicher oder gefühlsmäßiger Bestimmungen, als "Aufeinander-Bezogenheit" von Menschen in einem Dauerzustand.

Es sind zwei äußerste theoretische Grenzfälle dieses Zusammenlebens möglich; beide haben eine literarische Vertretung gefunden. Der eine Fall ist dasjenige, was bisher als "extremer", "übertriebener", "maßloser", "zu weitgehender", "anarchischer" Individualismus, gelegentlich auch - so von SPANN - als "Subjektivismus" bezeichnet wurde und das, durch diese Bezeichnung quantifiziert, seiner Grundsätzlichkeit entkleidet zu einem "Unterfall" des Individualprinzips oder zu einem "verschrobenen Individualismus" erklärt wurde. Diesen Fall nenne ich in Ablehnung aller unklaren Quantifizierung des Grundsätzlichen einen Individualabsolutismus. Ich verstehe darunter folgende Auffassung vom menschlichen Zusammenleben:

Nur das Individuum hat Eigenrealität, menschliche Verbände irgendwelcher Art sind Summationen von Individuum und nichts weiter. Dabei wird das Individuum reduziert auf Träger von ausschließlichen Eigentinteressen und Ichgefühlen unter Leugnung aller echten auf Gemeinschaft und Gesellschaft gehenden wesensmäßigen Anlagen. Es gibt also nur "ich-interessierte" und "ich-beziehende" Einzelne. Daher gelten auch nur solche Werte, Ziele und Zwecke, solche Lebensanschauungen und Weltbilder, die aus dem ausschließlich individuellen einzelmenschlichen Wesen folgen. Das Lebensverhalten, die Anschauung und Wertung von Welt und Umwelt ist individuozentrisch. Das Individuum ist der erschöpfende Ausgangspunkt und die ausschließliche Norm allen Seins und Geschehens. Die Existenz der "anderen" wird nicht geleugnet, aber der "Andere" wird als Gegenstand, als Objekt, als bloßes Mittel betrachtet und gewertet für die eigenen Zielsetzungen und Zwecke; er wird "verbraucht", sei es in friedlicher Form, sei es eventuell mit Gewalt. Wesenlich ist dies, daß ihm eine Gleichberechtigung und Gleichwertung nicht zuerkannt wird: Egozentrismus.

Als Typus des Individualabsolutismus betrachten wir STIRNER. In der Vorrede zu "Der Einzige und sein Eigentum" faßt LAUTERWASSER das Wesentliche von STIRNERs Ideen dahin zusammen:
    "Ich bin Ich d. h. Seiender als alles Sein, das allzeugende Nichts, Geschöpf und Schöpfer in einem. Meinesgleichen ist nicht, kein Ich kehrt wieder. Alle Wahrheit ist von Mir, darum unter Mir. Gott ist Geist, ein Ich ist mehr als Geist. Ich, das ist nicht Teil des Ganzen, vielmehr selbst Ganzes, Gattung, Menschheit, Welt. Kein Begriff, keine Idee hat Dasein gleich Mir. Mensch, Staat, Volk, Gesellschaft sind Begriffe. Ich bin Pol und Gegner jedes anderen Ich, Verbrecher und Sünder, aber am Nicht-Ich, das meinen Platz usurpiert [widerrechtlich an sich reißen - wp] (Mensch, Geist). Ich bin mein Zweck, meine Bestimmung, mein Gesetz. Meine Vernunft ist Mich zu vernehmen. Meine Selbstheit ist meine Freiheit, meine Macht mein Recht. Alles gilt mir Mein. Alles tue Ich für mich, gewärtig, daß alle tun wie Ich."
Diese geistige Gestalt STIRNER kommt ideengeschichtlich zustande dadurch, daß STIRNER die Vorstellung von der allgemeinen Vernunftnatur des Menschen aufgegeben hat, dabei aber mit der idealistischen Philosophie darin einig bleibt, die Individualisierung der Personen werde erst durch ihre Leibhaftigkeit gegeben. (vgl. SCHELER, Formalismus in der Ethik etc., Seite 534) Von da aus sind zwei Folgerungen unvermeidbar. Zunächst: Das Ich mit seiner Leiblichkeit, seinen Triebregungen, seinen Launen und Einfällen ist der Ausgangspunkt.
    "Es ist ein mächtiger Unterschied, ob Ich micht zum Ausgangspunkt oder zum Zielpunkt mache. Als letzteren habe Ich Mich nicht, bin Ich Mir mithin noch fremd ..." (Stirner, Seite 384);
aber wenn das Ich Ausgangspunkt ist, dann
    "ist alles mein eigen; darum hole Ich mir wieder, was sich mir entziehen will, vor allem aber hole Ich mich stets wieder, wenn Ich zu irgendeiner Dienstbarkeit mir entschlüpft bin". (a. a. O., Seite 384).
Die weitere Folgerung ist die: Sein Wertindividualismus wird zur schrankenlosen Auslebemoral für alle leiblichen Triebregungen. "Ich entscheide, ob es in mir das rechte ist; außer mir gibt es kein Recht. Ist es mir recht, so ist es recht" (Seite 222). Notwendig stürzen damit, aus jener ersten Folgerung logisch und aus der zweiten praktisch alle großen Allgemeinbegriffe Menschheit, Gesellschaft, Recht, Pflicht, Verantwortung usw. Das Ich erhebt sich über die Wahrheiten und ihre Macht. "Ich bin wie übersinnlich so überwahr. Die Wahrheiten sind vor mir so gemein und so gleichgültig wie die Dinge ... sie sind Worte, nichts als Worte" (Seite 406). Wo bleiben die "Anderen"?
    "Ich halte mich nicht für etwas Besonderes sondern für einzig. Ich habe wohl Ähnlichkeit mit Anderen; das gilt jedoch nur für die Vergleichung oder Reflexion; in der Tat bin ich unvergleichlich, einzig."
Und das Verhalten zum "Anderen" kann daraus logisch nur dieses sein:
    "Ich will an Dir nichts anerkennen oder respektieren, weder den Eigentümer noch den Lumpen, noch auch nur den Menschen, sondern Dich verbrauchen ... Mir bist Du nur dasjenige, was Du für Mich bist, nämlich mein Gegenstand, und weil mein Gegenstand, darum mein Eigentum" (a. a. O. Seite 164-165).

    "Es ist keiner für Mich eine Respektsperson, auch der Mitmensch nicht, sondern lediglich wie andere Wesen ein Gegenstand ..." (Seite 365)
Die Gesellschaft ist gar kein Ich, das geben, verleihen, gewähren könnte (Seite 146). Sie besteht zwar aus Leibern, hat aber keinen Leib (Seite 138). Um die Gesellschaft völlig nutzen zu können verwandle ich sie vielmehr völlig in mein Eigentum und mein Geschöpf, d. h. ich vernichte sie ... (Seite 210).
    "Trachten Wir darum nicht nach der Gemeinschaft, sondern nach der Einseitigkeit ... es ist keiner Meinesgleichen, sondern gleich allen anderen Wesen betrachte Ich ihn als mein Eigentum" (Seite 364-365).
Die "Anderen" können also gebraucht werden, gewaltmäßig soweit die Macht reicht, friedlich, wenn die eigene Neigung dazu drängt.
    "Als ob nicht immer einer den anderen suchen wird, weil er ihn braucht (hier wechselt Stirner in den eigentlichen Individualismus über!), als ob nicht einer sich in den anderen fügen muß, wenn er ihn braucht. Der Unterschied (gegen Gesellschaft) ist aber der, daß dann wirklich der Einzelne sich mit dem Einzelnen vereinigt, wo er früher durch ein Band (Gesellschaft) mit ihm verbunden war" (Seite 161).
Es können also die absoluten Iche, jedes den anderen als seinen Gegenstand, sein Gebrauchsgut betrachtend zusammentreten, nicht um irgendwelche festen für sich bestehenden Verbindngen einzugehen, sondern nur als ein Prozeß des unaufhörlichen Sich-Vereinigens (Seite 358) je nach Triebregung in den einzelnen Ichen (4). An die Eigenheit des Ich darf nun dieser Verein der Egoisten nicht heranrühren.
    "Der Verein ist meine eigene Schöpfung ... nicht heilig, keine geistige Macht über meinen Geist ... Wie Ich kein Sklave meiner Maximen sein mag, sondern sie ohne alle Garantie meiner steten Kritik bloßstelle und gar keine Bürgschaft für ihren Bestand zulasse, so und noch weniger verpflichte Ich mich für meine Zukunft dem Verein (der Egoisten) ..., sondern Ich bin und bleibe Mir mehr als Staat, Kirche, Gott und dgl. folglich auch unendlich mehr als der Verein." (Seite 361, vgl. auch Seite 166-167).
Und dann folgt die konsequente Ausgangsformel eines jeden Individualabsolutismus:
    "Man sagt von Gott: Namen nennen dich nicht. Das gilt von Mir: kein Begriff drückt Mich aus, nichts was man als mein Wesen angibt, erschöpft Mich; es sind nur Namen. Gleichfalls sagt man von Gott, er sei vollkommen und habe keinen Beruf, nach Vollkommenheit zu streben. Auch das gilt allein von Mir. Eigner bin Ich meiner Gewalt und Ich bin es dann, wenn Ich Mich als Einzigen weiß ... Jedes höhere Wesen über Mir, sei es Gott, sei es der Mensch, schwächt das Gefühl meiner Einzigkeit und erbleicht erst vor der Sonne dieses Bewußtseins." (Seite 429)
Wir haben STIRNER als Typus genommen, weil er die individualabsolutistische Idee am reinsten entwickelt hat. Neben ihm wäre noch NIETZSCHE zu nennen, ein (wahrscheinlich unbewußter) "Deszendent" STIRNERs. (LAUTERWASSER, Vorrede zu STIRNER Seite 8). JOHN HENRY MACKAY behauptet in seiner STIRNER-Biographie, daß NIETZSCHE eine direkte Anlehnung an STIRNER genommen hat. Das ist unbewiesen. Aber es besteht die Wahrscheinlichkeit, daß NIETZSCHE STIRNER doch gekannt hat (JODL, Geschichte der Ethik II, Seite 497, auch 665). RICHARD M. MEYER erklärte in seinem NIETZSCHE-Buch (Seite 89):
    "er scheint es (Stirners Buch über den Einzigen) in Händen gehabt zu haben; von Einfluß ist für unbefangene Beobachter nichts zu merken ..., aber in der Konstellation von NIETZSCHEs Vorgeschichte gehört zweifellos der Mann, der den Momentkultus auf die höchste und spitzeste Spitze getrieben, den Immoralismus auf die rücksichtsloseste Art begründet und in der Vergöttlichung des Menschen zu Feuerbachs Vermenschlichung der Götter das schärfste Gegenstück geliefert hat." (a. a. O., Seite 190)
Der Hinweis, daß beide Denker nur in Bezug auf die Energie vergleichbar sind, mit der sie sich gegen "Gespenster" wenden, wobei die Menschheit, Gesellschaft, Gemeinschaft usw. als solche Gespenster begriffen werden, hat NIETZSCHE erst in seiner späteren Zeit (Zarathustra, Genealogie der Moral, Götzendämmerung) bezüglich Gesellschaft, Recht, Sittlichkeit usw. und vor allem bezüglich des Ethios im menschlichen Zusammenleben Formeln und Lösungen gefunden, die stärkste geistige Verwandtschaft mit dem Denken STIRNERs aufweisen. Das Sein der wertvollsten Person, des Übermenschen, ist der Maßstab für den Wert einer Gemeinschaft oder Gesellschaft; "das Ziel der Geschichte der Menschen besteht für Nietzsche in den höchsten Exemplaren der Menschen" (Scheler, Formalismus ect., Seite 524).
    "Einen sogenannten überpersonalen Wertträger, heiße er Gemeinschaft, Kultur und Kulturentwicklung, sittliche Weltordnung, heiße er Staat usw., kennt Nietzsche nicht." (a. a. O., Seite 525; vgl. auch Saitschick, Lichtenberg, Nietzsche, Zur Psychologie des neueren Individualismus, Berlin 1906, Seite 181f und Windelband, Geschichte der Philosophie, Seite 565).
JODL sieht in Abbé GALIANI einen "Vorläufer" STIRNERs; demnach wäre GALIANI auch als Vertreter des Individualabsolutismus zu bezeichnen. Interessant ist, neben der oben angedeuteten ideengeschichtlichen Verumstandung die psychologische Analyse des individualistischen absolutistischen Typus. JASPERS handelt in seinem Buch "Psychologie der Weltanschauungen" unter dem Titel "Skeptizismus und Nihilismus, Gestalten des Nihilismus, in denen der Mensch mit dem Nihilismus fertig wird" (Seite 261), folgendermaßen über ihn:
    "Der Mensch ist ganz sicher über sich, trotz aller nihilistischen Reden und Formen. Er ist nicht mehr angekränkelt, er ist fern von aller Verzweiflung. Er hat die ganze Sphäre des Nihilismus begriffen und sich zu eigen gemacht. Aber sie ist ihm Mittel. Der Mensch ist unbedingt von seinen Trieben beherrscht, er will sich nichts versagen, er bleibt in der Sphäre des sinnlichen Genießens und des Ringens um Macht und Geltung . . . Die tragende psychologische Kraft ist die Vitalität, ist der unbedingte Wille, den Trieben und Neigungen zu folgen, sich ganz als individuelles, subjektives Ego durchzusetzen, das heute Begehrte, und sei es das Gegenteil vom Gestrigen, zu verlangen ..."
JODL sieht in STIRNERs Haltung einen "praktischen Solispsismus".

Es ist nicht die Absicht dieser Aufweisung des individual-absolutistischen Typus in der Literatur, vollständig zu sein. Es galt nur, ein Beispiel herauszuheben und an ihm das Kennzeichnende des Falles nachzuweisen. Von mindestens gleichem Belang wie die literarische Belegung aber scheint mir die Tatsache zu sein, daß das individual-absolutistische Prinzip als Lebensverhalten breiter Gruppen und Schichten praktisch vorgekommen ist und immer wieder vorkommt. Hier ist die Sphäre des "a- und anti-sozialen" Typus Mensch, den jede Gesellschaftsverfassung aufweist, und der das Spannungs- und unter Umständen Auflösungsferment jeder gesellschaftlichen Formation bildet. Auf einem engeren wirtschaftlichen Gebiet ist er als Manchestertyp bekannt. Das "Manchestertum" ist in seinem logischen Begriff nichts anderes als die Negation von Gemeinschaft und Gesellschaft mit einem individual-absolutistischen Vorzeichen, unter Leugnung der Realität von Gemeinschaft und Gesellschaft, das praktische Verhalten von Egozentristen auf wirtschaftlichen Gebiet (5). Im Übrigen prüfe man das tagtägliche praktische Lebensverhalten und Denken ziemlich breiter Schichten und man wird die Feststellung am Platz finden, daß der Individualabsolutismus "kein leerer Wahn" ist.

Und doch wird die Unhaltbarkeit des Individualabsolutismus über alle Maßen deutlich gefühlt. "Wesentliche Dinge" stimmen nicht (SPANN). Der Begriff des "autarken" Individuums, der bei einem folgerichtigen Denken jedem Individualismus zugrundeliegt, ist unbrauchbar, die gesellschaftlichen Erscheinungen aller bekannten Art zu erklären, und die mit jedem Individualismus wesensnotwendig verbundene utilitaristische oder eudämonistische Grundlegung genügt dem sittlichen Empfinden schlechthin nicht. Und da bietet sich eine entgegengesetzte Auffassung. Individualabsolutismus ist eine logisch äußerste Art des Zusammenlebens von Menschen; ihr logisches Widerspiel ist der Fall, den ich entsprechend Sozialabsolutismus nenne. Auch dieser Fall ist bisher quantifiziert worden zu einem Unterfall des Sozialprinzps DIETZELscher Fassung oder zu einem "verschrobenen Sozialismus", in Redewendungen wie "übertriebe", "extrem", "zwangsmäßig" usw. SPANN vermerkt (Seite 246 des "Systems der Gesellschaftslehre") in richtigem aber dunklem Gefühl, die Auffassung, der Universalismus wäre das gerade Gegenteil eines Individualismus ist falsch, "nur ganz extreme Formen des Universalismus gehen so weit". Bei einer so quantifizierenden Betrachtung kam der Sozialabsolutismus nie zu seiner grundsätzlichen Eigenständigkeit und logischen Klarheit.

Versuchen wir zunächst begrifflich scharf zu fassen, was mit Sozialabsolutismus gemeint ist. Für die sozialabsolutistische Auffassung bestehen keine Individuen mit Eigenrealität und Eigenwert, mit selbständigen Bestimmungsgründen ihres Seins und Sollens. Realität, Wert und Bestimmungsgrund des Seins und Sollens ist nur das Kollektivum, heißt es nun Familie, Staat, Stamm, Gemeinschaft, Gesellschaft oder sonstwie. Diese Kollektivum kennt nur eine Art von Verpflichtung, nämlich die gegen sich selbst und seine Interessen; sie ist die einzige Richtschnur seiner Handlungen und das Perspektiv seiner Weltbetrachtung; man könnte mit Fug von einem "Soziozentrismus" sprechen, denn das Kollektivum betrachtet sich als allein maßgebenden Mittelpunkt allen gesellschaftlichen Seins, Werdens, Tuns und Lassens. Die Existenz von Individuen - genauer würden wir sagen: von menschlichen Einzelwesen - wird nicht geleugnet, aber diese Einzelwesen werden grundsätzlich gesehen und gewertet als Objekte, als Gegenstände, und können darum nur als Mittel, als Organe für kollektive Zielsetzungen in Betracht kommen. Die Einzelnen können vom Kollektivum friedlich genutzt - gebraucht - und gewaltmäßig verzehrt - verbraucht werden. Das Wesentliche ist in jedem Fall, daß die Einzelnen nur Gegenstand und Mittel sind.

DIETZEL bezeichnet in seinem "Beiträgen" (PLENGEs "Musterbücher", Seite 44) die platonische Politeia als "die vermutlich erste und bisher schroffste der Theorien, welche das Sozialprinzip ins Extrem trieben. Sie ist der Prototyp aller sozialistischen, d. h. extrem anti-individualistischen Theorien"; und eben dort (Seite 47):
    "Die Ekklesiazusen als Typus des extremen Individualprinzips und die Politeia als Typus des extremen Sozialprinzips ... niemals wieder ist der Kontrast so scharf herausgeschliffen worden wie in jenen Tagen."
Der Gegensatz ist richtig gesehen, aber nur hat ihn DIETZEL nicht in der wirklichen prinzipiellen Schärfe begrifflich gefaßt. Er muß, um den Ekklesiazusen wie der Politeia gerecht zu werden, mit Quantifizierungen ("extremes" Individual- bzw. Sozialprinzip) arbeiten, wie sich sehr deutlich auch in Folgendem (Seite 46) zeigt:
    "Plato konstruiert aus dem Sozialprinzip, das Proletariat der Ekklesiazusen aus dem Individualprinzip. Dort die unbedingte Bejahung des sozialen Ganzen, hier die unbedingte Bejahung des Individuums, dort Sozialismus, d. h. extremer Anti-Individualismus, hier Kommunismus, d. h. ein extremer Individualismus. Dort ein überspannter Individualismus, welcher dem Abstraktum Staat die konkreten Individuen ... unbarmherzig opfert. Hier ein maßloser Materialismus, welchem nichts heilig ist, als der Einzige und seine Lust."
Es kann nicht unsere Aufgabe sein, die in der Politeia PLATOs gezeichnete Soziallehre in ihre Einzelheiten hinein zu verfolgen. Nur jene Punkte seien aufgewiesen, in denen der sozialabsolutismus, dessen Strenge nur für die auserwählten Schichten des Idealstaates gilt, für die Weisen und die Wächter. PLATO sieht im Staat "ein großes beseeltes Individuum ... dem die einzelnen Individualitäten nicht etwa bloß als einzelne integrierende Bestandteile untergeordnet sind", sondern in dem
    "sie persönlich schlechthin gar keine Bedeutung und gar keinen Wert haben, da der Einzelne nur als qualitätsloser Summand einer Summe erscheint, wobei diese Summe erst mittels einer bestimmten Qualität ein Bestandteil des Staatsorganismus ist." (Prantl, Übersicht der griechisch-römischen Philosophie, Seite 102f).
Drei Stände enthält der Staat nach PLATO als wesentliche Bestandteile, entsprechend den drei Urpotenzen der Seele, da ja der Staat, ihm zufolge, gleichsam nur ein Mensch in großem Maßstab ist. Der oberste allein herrschende Stand hat (d. h. soll haben) die Weisheit der alle Verhältnisse lenkenden Vernunft. Von diesem werden der Stand der Krieger und der der Gewerbsleute und Ackerbauern beherrscht, wobei letzterer der niedrigste Stand ist, da er bloß auf Regungen der begehrlichen Seele beruth. (MINCKWITZ, Einleitung zu den Ekklesiazusen, ARISTOPHANES, Lustspiele, Seite 18). Der letztere wird in passiver Unterordnung gehalten; er hat, fern von den Staatsgeschäften, nur die materielle Lebensnotdurft der Gesamtheit zu beschaffen. Der Kriegerstand gehorcht zwar auch noch der lenkenden Vernunft, aber er setzt sie in die Tat um, er erwirbt sich zugleich hiermit die dialektische Bildung und wahres Wissen und so rekrutiert sich der Herrscherstand aus dem Wehrstand.
    "Und nun soll außer dieser Standesangehörigkeit am Einzelmenschen sonst nichts übrig bleiben: alle partikularen persönlichen Neigungen, Besitz, Ehe, Kindererziehung hat nur staatlich einen Wert; daher fordert Plato die gemeinsamen dorischen Mahlzeiten ... ebenso völlige Güter-, Ehe- und Kindergemeinschaft, um nur ja das geringste Aufkommen eines Privatgenusses zu verhüten; da nun Ehen um der Fortpflanzung willen aber doch nötig sind, so sollen sie ebenso wie die Kinderpflege bis in die kleinsten Einzelheiten vom Staat festgesetzt und überwacht werden."
MINCKWITZ bemerkt dazu mit Recht (a. a. O., Seite 19), daß diese Bestimmungen "die Vernichtung des Persönlichen zum Zweck haben" und ebenso (Seite 21) "man sieht ... wie das Individuum als solches dem PLATO nur die rein qualitätslose Ziffer, eine leere Niete ist". An anderer Stelle (Seite 22) bemerkt derselbe Autor, daß PLATO Weiber-, Kinder- und Gütergemeinschaft vertritt, "weil ihm die Individuen, bloß als solche, reine Nullen sind, er ihnen, als solchen, gar keine Existenzberechtigung zugesteht". Zu diesem Standpunkt konnte PLATO von seinen Voraussetzungen aus kommen, weil er 1. "die freie Unendlichkeit des Ich, der Persönlichkeit nicht anerkennt", weil er 2. "im Staat die höchste Form des sittlich Guten überhaupt sieht" (Seite 20 der Vorrede zu den Ekklesiazusen).

Zum engeren Beleg des Sozialabsolutismus der Politeia - im Gorgias und im Gastmahl vertritt PLATO bekanntlich eine abweichende Auffassung - sollen folgende Stellen der Übersetzung von PRANTL (Seite 135-136) zitiert werden:
    "Siehe also zu, sagte ich, ob sie etwa in folgender Weise leben und wohnen müssen, sofern sie eben derartige sein sollen: 1. nämlich, daß keiner eine ihm eigentümliche Habe besitzt, wenn es nicht durchaus notwendig ist; ferner, daß keiner eine Wohnung oder irgendeine Vorratskammer habe, in die nicht ein jeder, der will, eintreten kann; alles nötige aber, was besonnene und tapfere Kriegskämpfer bedürfen, sollen sie nach bestimmter Feststellung von den übrigen Bürgern als Lohn für ihren Wachdienst erhalten, und zwar gerade soviel, daß für den Zeitraum eines Jahres ihnen weder etwas übrig bleibt, noch sie Mangel haben; gemeinschaftliche Mahlzeiten aber sollen sie besuchen und so, wie im Feldlager, gemeinschaftlich leben; was aber Gold und Silber betrifft, so soll man ihnen sagen, daß sie von den Göttern her stets in ihrer Seele Gold und Silber besitzen und das menschliche nicht bedürfen und daß es nicht erlaubt ist, den Besitz des ersteren durch Mischung mit dem Besitz des sterblichen Goldes zu beflecken, weil ja viel Frevelhaftes betreffs des gewöhnlichen Geldes schon geschehen ist, das bei ihnen selbst befindliche aber makellos ist; hingegen ihnen allein unter den im Staate Lebenden soll es verpönt sein, Gold und Silber in die Hand zu nehmen und zu berühren oder unter demselben Dach mit ihm zu wohnen oder es als Schmuck umzuhängen oder aus silbernem und goldenem Geschirr zu trinken. Und auf diese Weise also möchten sie sowohl selbst bewahrt bleiben, als auch den Staat bewahren; wenn hingegen sie selbst eigenes Land als auch Wohnungen und Gold besitzen, dann werden sie nicht Wächter, sondern Haushälter und Landbauern sein und eher feindliche Gebieter als Bundesgenossen der übrigen Bürger werden, und hassend und gehaßt und Hinterlist übend und durch Hinterlist verfolgt werden sie ihr ganzes Leben hinbringen, da sie weit mehr und heftiger die Eingeborenen als die äußeren Feinde fürchten müssen und hiermit bereits sogleich dem Verderben entgegenrennen, sie selbst sowohl als auch der übrige Staat. Wollen wir also, sagte ich, um all dieser Dinge willen behaupten, daß auf diese Weise die Wächter betreffes ihrer Wohnung und des sämtlichen übrigen eingerichtet sein sollen, und wollen wir diese feststellen oder nicht? - ja allerdings, sagte Glaukon." - Zum weiteren Beleg die Stellen Seite 137, 184 und 190f in Prantls Ausgabe.
Vom Boden der naturwissenschaftlichen Gesellschaftslehre, zumal der biologischen Soziologie aus, liegt die Auffassung der Gesellschaft als eines mit Eigenrealität begabten dem Individuum gegenüber absolut primären Wesen nahe. In schärfster Form scheint mir der Franzose IZOULET diesen Gedanken vom Boden der biologischen Soziologie aus vertreten zu haben. Meine Darstellung folgt PAUL BARTH (Die Philosophie der Geschichte als Soziologie, zweite Auflage, Seite 386f). und L. HEISINGER, Der Solidaritätsgedanke als sozialethisches Prinzip in der Literatur (Freiburger Dissertation, Manuskript). Wenn COMTE schon gesagt hatte, daß ohne Vergesellschaftung der Mensch ein Tier geblieben wäre, so versucht IZSOULET zu beweisen, "daß der Mensch alles durch die Gesellschaft geworden ist". Und wenn COMTE behauptete, die Geschichte der Gesellschaft würde beherrscht von der Geschichte des menschlichen Geistes, so dreht IZOULET diesen Satz einfach um: "Die Geschichte des menschlichen Geistes wird beherrscht von der Geschichte der Gesellschaft." Die Gesellschaft ist ein Organismus, "ein Erzeugnis der allgemeinen schöpferischen Kraft, die alle Lebensformen hervorbringt" (BARTH, a. a. O., Seite 287). Während vom Tier nur das Ganze sichtbar ist, nicht der Teil (die Zelle), ist umgekehrt von der Gesellschaft nur der Teil (die Einzelnen), nicht das Ganze sichtbar. IZOULET hält es für falsch, darin einen grundsätzlichen Unterschied zwischen dem vielzelligen Tier und der Gesellschaft zu sehen, "es bleiben beide reale Organismen" (BARTH, Seite 387). Aus dem Tier entwickelt sich der Mensch, nicht durch rein physische Ursachen, nicht durch den Körper, nicht durch das Gehirn, "sondern durch den Zusammenschluß der anthropoiden Geschöpfe zu einer Gesellschaft (Cité). Diese bewirkt die Arbeitsteilung, ermöglicht die geistige Arbeit und bildet so erst das Gehirn. So wird aus dem Instinkt erst die bewußte Gewohnheit, dann die Vernunft. Diese, die Vernunft, oder auch die ganze Seele, ist darum die Tochter der Gesellschaft, zugleich aber auch, indem sie auf die Gesellschaft zurückwirkt, deren Mutter. Mehr jedoch beton IZOULET das erstgenannte Verhältnis als das zweite; der Einzelne verschwindet im Leben des Ganzen. Er geht so weit, zu erklären: "Nicht der Einzelne ist Musiker oder Mathematiker, sondern die Gesellschaft ist Musikerin oder Mathematikerin." Die ganze Moral ist ein Erzeugnis der Gesellschaft - moralité c'est socialité - die Willensfreiheit "ist ein Verdienst des sozialen Lebens" (BARTH, Seite 391).

Ansätze zu einem ähnlich gearteten Sozialabsolutismus finden sich bei manchen Soziologen und gelegentlich auch bei Marxisten. Ihnen im Einzelnen nachzugehen ist hier nicht der Ort. In unserem Zusammenhang kam es lediglich darauf an, ein Einteilungsprinzip als richtig zu belegen.
    "Zwischen der Abstraktheit des individuellen Atoms, die leer ist, und der absoluten Gebundenheit, liegen die empirischen Gestalten." (Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen, Seite 356).
Oder mit der von uns gewonnenen Terminologie ausgedrückt: Zwischen Individualabsolutismus und Sozialabsolutismus liegen die Gestalten des sozialen Zusammenlebens der Menschen, die allein praktisch geworden sind in der Geschichte und um die das sozialtheoretische Denken weitaus überwiegend gekreist hat, während "Individualabsolutismus" und "Sozialabsolutismus" ideologische Gestalten sind. Es liegt mir fern, die Bedeutung dieser ideologischen Gestalten für die soziale Ideenbildung und für das empirische Leben zu leugnen, aber nach den Entwürfen des Individualabsolutismus und des Sozialabsolutismus hat noch nie eine soziale Wirklichkeit bestanden. Alle Wirklichkeiten des sozialen Lebens lagen bisher auf der Linie einer irgendwie gearteten, beide in ihrem Recht anerkennenden Verbindung von Individuum und Gesellschaft.
    "Diesen Extremen (Unbedingtheit des Einzelnen, Unbedingtheit der Gesellschaft) gegenüber bleibt der konkret lebendige Mensch sich seiner Wurzeln, seiner spezifischen Bedingtheit und des Wertes dieses absolut Individuellen bewußt. Er kann zwar als einzelner existieren, aber nur indem er zugleich das Ganze aufnimmt. Für ihn ist das Individuum er selbst und zugleich Teil des Ganzen, von dem er sich nicht lösen kann. Er trägt, übernimmt den Wert und Unwert des Ganzen, dessen Glied er ist ... Er kann nicht verleugnen, nicht äußerlich und nicht innerlich, woher er kommt. Er fühlt sich treu, aber auch substantiell verbunden. Nie würde als abstraktes Atom ein bloßes Individuum Existenz haben." (Jaspers, a. a. O., Seite 357)
Von den Definitionen des Individualabsolutismus und des Sozialabsolutismus aus muß sich der "logische Ort" des Universalismus bestimmen lassen. Zunächst negativ. Wir können sagen, gestützt auf unsere Darlegungen über jene beiden Theoreme, was Universalismus nicht ist. "Universalismus" ist kein beziehungsloses Nebeneinander von Menschen, kein schlechthin und ausschließlich natürliches Miteinander von Menschen, kein Gegeneinander von Mensch und Gesellschaft, weder des Menschen gegen die Gesellschaft, noch umgekehrt; kein schlechthinniges Zweck-Mittel-Verhältnis vom Einzelnen zur Gesellschaft, bzw. umgekehrt. In der Idee des Universalismus liegt ebensowenig ein "Auseinander" von Mensch und Gesellschaft; die Betrachtung, die Individuum und Gesellschaft als irgendwie getrennte, gegeneinander prozessierende Größen nimmt, verfehlt den Kern des Universalismus, denn der Sehwinkel bleibt in beiden Fällen "individualistisch", d. h. er sieht "Dinge ansich" - man kann nicht einmal sagen Teile oder Stücke, denn das sind Relationsbegriffe, die notwendig auf ein Ganzes, auf eine Einheit hindeuten - wo Totalitäten, Einheiten vorhanden sind.

Wir können diese Analyse noch eindringlicher gestalten.
    1. Keine irgendwie definierte Bestimmung des Einzelnen ist erreichbar außerhalb des gesellschaftlichen Zusammenhangs, selbst der Einzige Stirners könnte nur auf dem Boden der Gesellschaft - mag er sie verneinen oder nicht - seine Existenz führen.

    2. Der absolut Einzige ist eine imaginäre Größe, eine Hilfshypothese bestenfalls für die Analyse, oder ein Phantasieprodukt illusionärer Gesellschaftstheorien. Es gehört zum Wesen, nicht etwa nur zu Erfahrung, daß der Mensch das gesellschaftenbauende und in Gesellschaft lebende animal rationale ist. Aller Hinweis auf die Zufälligkeiten historischen Vorfindens - Robinsone, Eremiten, Einspänner aller Art - scheitert an der Erkenntnis der Wesenhaftigkeit des gesellschaftlichen Seins der Individuen.

    3. Die absolute Gesellschaft ist eine imaginäre Größe, bestenfalls eine Hilfshypothese für sozialtheoretische oder soziologische Überlegungen, oder aber ein Phantasiegebilde sozialer Idealsysteme und Utopien.

    4. Die Gesellschaft ist eine Wirklichkeit und Wesenheit sui generis [aus sich selbst heraus - wp], die für sich existiert, zwar gebildet aus Individuen, aber sich nicht in Individuen erschöpfend; sie ist weder nach individueller Willkür zu setzen noch zu verneinen;

    5. Das Individuum ist eine Wirklichkeit und Wesenheit sui generis, zwar stets im gesellschaftlichen Verband und von ihm bedingt, aber nie reduzierbar auf rein gesellschaftliche Bedingungen.
Wir können nach all dem zusammenfassen: Universalismus ist die Lehre vom sozialen Zusammenleben der Menschen, die dieses Zusammenleben auffaßt als ein physisches wie geistig-sittliches Miteinander, Ineinander und Füreinander von Menschen zur Gemeinsamkeit der Lebensführung, der Lebenssicherung, der Kulturwerte, der sittlichen Verantwortung und eventuell der Heilsbestimmung. Die Intensitätsgrade und die Strukturprinzipien sind dabei sehr verschieden, nach dieser Verschiedenheit gliedern sich die mannigfachen Systeme, die als Artbegriffe unter den Gattungsbegriff des Universalismus fallen. Individuum und Gesellschaft sind für die universalistische Betrachtung (nicht absolut gegeneinander prozessierende oder auch nur "nach Ermessen" miteinander korrespondierende Gegebenheiten sondern) eine mehr oder weniger intensive Einheit, eine erlebte Realität, Gesellschaft ist zwar nur vorstellbar als bestehend aus Individuen, aber sie ist dabei doch nicht auf Individuen oder individuelle Qualitäten reduzierbar, sondern eine Wesenheit eigener Art. Individuen sind zwar nur vorstellbar im gesellschaftlichen Verband - das Gesellschaftlich ist dem Individuum irgendwie apriori - aber doch nicht auf gesellschaftliche Bestimmungen ausschließlich reduzierbar, sondern ebenfalls eine Wesenheit eigener Art.

"Das ist schwierig für den Verstand, aber durchaus notwendig." Damit schloß LORENZ von STEIN seine Auseinandersetzungen über die Einheit von Individuum und Gesellschaft (Der Begriff der Gesellschaft und die soziale Geschichte der französischen Revolution bis zum Jahr 1830, neu herausgegeben von Dr. Salomon, München 1921, Seite 14). von STEIN war, ausgehend von der Bestimmung des einzelnen - einer Bestimmung, die wir durchaus nicht annehmen können (siehe oben) - zur Erkenntnis gekommen, daß sie für den Einzelnen unerreichbar ist, solange er allein steht; diese Bestimmung enthält daher in ihrem Begriff die Notwendigkeit und zugleich das Wesen der menschlichen Gemeinschaft. Diese Gemeinschaft aber ist "ein selbständiges von den Einzelnen unabhängiges Dasein" (Seite 30). Da nun das Einzelleben ohne diese Gemeinschaft ein unlösbarer Widerspruch ist und da demnach die Gemeinschaft, deren Aufgabe es ist, jenen Widerspruch zu lösen, nicht durch den Einzelnen hergestellt werden kann, so muß man dieselbe ebensowohl wie den Einzelnen als eine "selbständige Form des Lebens überhaupt" anerkennen (Seite 14). Ein Schriftsteller unserer Tage, THEODOR LITT (Individuum und Gemeinschaft, Leipzig 1919), der sich mit dem gleichen Problem befaßt, kommt zu einer ähnlichen Lösung: "Das Sein und das Sollen, das im Solidariätsbewußtsein ergriffen wird, ist weder das Sein und das Sollen des Einzelnen ansich, noch auch das Sein und das Sollen der Gemeinschaft ansich, sondern beides in einem." Wie aber ist diese Einheit des Bewußtseins zu denken? Der Mensch erfüllt im solidarischen Bewußtsein und Handeln "ein aus den seelischen Tiefen emporquellendes Gebot seines Ich, in dessen Befolgung er sich nicht preisgibt, sondern vollendet" (Seite 102). Das theoretische Dilemma: Individualprinzip oder Sozialprinzip hebt sich nach LITT im Erlebnis des Solidaritätsbewußtseins durch die Tat auf. Wenn hingegen SPANN (System der Gesellschaftslehre, Seite 270) sagt
    "Gemeinschaft ist jede Wesensart und Werdeform, in der das Ich allein seine Lebensakte vollzieht, jene Bahn, in der allein es seine Schritte macht; sohin ist das Verhältnis des Ich zum Ganzen konstitutiv für das Ich ...",
so kommt dabei das tatsächliche Verhältnis zwischen Ich und Gemeinschaft doch nicht zu genügend deutlichem Ausdruck. Gegenüber dem Erlebnis eines abstrakten individualistischen Denkens, das, orientiert ausschließlich an der Leibhaftigkeit des Einzelnen, von ihr aus den Prozeß gegen die Gemeinschaft eröffnet, erhebt sich das stets neue Erlebnis der echten wesenhaften Einheit von Ich und Gemeinschaft. Dieses Erlebnis stammt aus der wesenhaft sozial angelegten Natur des Menschen.

Stellen wir an diesem Punkt das Ergebnis fest:
    1. Die ausschließliche Alternative, die uns die Problemlösung Dietzels aufnötigte, ist unhaltbar; Individualprinzip und Sozialprinzip nach Dietzelscher Artung sind nicht die einzig möglichen und letzten Lösungen. Es liegt zwischen beiden eine Lösung, die, von Dietzel aus, logisch und ethisch als unklarer Kompromiß gleich unmöglich schien. Auf dem Boden dieser Lösung bewegen sich die empirischen Gestalten (Jaspers), auf diesem Boden bewegt sich tatsächlich auch der weitaus stärkste Strom allen sozialtheoretischen Denkens und aller sozialphilosophischen Ideenbildung. Im Gewebe der Individualismen findet sich meistens der Einschlag irgendeines mehr oder weniger verschwiegenen sozialen Apriorismus - genau so wie im Gewebe aller Sozialismen irgendwo die Sehnsucht und die Idee des Individuellen und Persönlichen durchschlägt. Die tatsächliche, irgendwie vollzogenene Einheit von Ich und Wir ist zu sehr ein unverlierbarer Habitus des menschlichen Wissens, Fühlens und Seins, als daß selbst ein mit seiner Grundidee vollen Ernst machender Individualismus oder Sozialismus über dieses sein Wesen hinauskönnte.

    2. Von den gewonnenen Voraussetzungen aus kann eine tiefere Analyse von Individualismus und Sozialismus gewonnen werden; eine Analyse, die sich nicht bescheidentlich und verschwommen mit begrifflichen Quantifizierungen wie "extrem", "übertrieben", "potenziert" zu begnügen braucht und die das Wesen jener sozialen Ideen sehr viel genauer zu erfassen gestattet.

    3. Gleichzeitig ist erkannt, daß es für die Analyse nicht genügt, ein sozialethisches Prinzip zu berufen, aus dem die Gestalt sozialer Theorien und Ideen eindeutig deduzierbar ist. Die Frage nach den möglichen Gestalten des sozialen Lebens, nach dem zweckmäßigen Handeln und seinen Grenzen im sozialen Leben, und die eindringliche Erkenntnis und Kritik soziologisch gegebener und möglicher Formen stehen daneben. So geht die Analyse von Sozialtheorien letztlich von vier fundamentalen Gesichtspunkten aus.
Die mit dieser Skizze der Ergebnisse entworfenen Aufgaben ebenso wie die systematische Gliederung der unter den Universalismus fallenden Sozialtheoreme sollen einem weiteren Aufsatz vorbehalten sein.
LITERATUR: Goetz Briefs, Zur Kritik sozialer Grundprinzipien, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 49, Tübingen 1922
    Anmerkungen
    2) Den Ausdruck "Vernichtung" schwächt er später in seinem Neuabdruck der "Beiträge" (in PLENGEs "Musterbüchern") ab in "Knebelung", wobei dieser Ausdruck den Inhalt von PROUDHONs Zitat genauer wiedergibt.
    3) Es ist sehr bezeichnend, daß HUTH ("Soziale und individualistische Auffassung im 18. Jahrhundert, vornehmlich bei ADAM SMITH und A. FERGUSON, Leipzig 1907, Schmollers Forschungen Heft 125) von DIETZEL ausgehend über ihn hinauskommt in der Erkenntnis des Problemcharakters der Gesellschaft, indem er einen Standpunkt unterscheidet, von dem aus es nur Individuen gibt, einen weiteren, in welchem die Gesellschaft Zweck, das Individuum Mittel ist und einen dritten, in dem das Individuum Zweck und die Gesellschaft Mittel ist. Er übersieht dabei 1. daß das Korrelat jenes ersten Standpunktes ein solches ist, in dem die Gesellschaft alles, das Individuum nichts ist; 2. übersieht er die sehr problematisch Fassung des zweiten und dritten von DIETZEL stammenden Standpunktes. Immerhin ist bei dieser Gliederung der möglichen zentralen Standpunkte das antinomisch axiomatische Schema DIETZELs überwunden und im erstskizzierten Standpunkt das schon angedeutet, was ich weiterhin als Individualabsolutismus bezeichnen und behandeln werde.
    4) Dieser "Absolutismus des Einzelnen" gerät in eine geradezu komische Beleuchtung, wenn STIRNER (in einer Fußnote Seite 371) bezüglich eines im Text gebrauchten Wortes "Empörer" bemerkt, "Um mich gegen eine Kriminalklage abzusichern, bemerke ich zum Überfluß ausdrücklich, daß ich das Wort Empörung wegen seines etymologischen Sinnes wähle, also nicht in dem beschränkten Sinn gebrauche, welcher vom Strafgesetzbuch verpönt ist.
    5) Daher ist es falsch, das Manchestertum in seinem allgemeinen Begriff irgendwie als "freihändlerisch" oder "extrem liberal" kennzeichnen zu wollen (vgl. meine "Untersuchungen zur klassischen Nationalökonomie", Jena 1915, Seite 272). Manchestertum ist Individualabsolutismus, Betrachtung der wirtschaftlichen und sozialen Welt durch das Perspektiv der absolut egozentrischen Interessen - lägen diese Interessen auf eine Schutzzolllinie, so wäre der Manchestermann eben Schutzzöllner. Die Praxis des 19. Jahrhunderts beweist es. Das Wesentlich ist das innere Strukturprinzip der wirtschaftlichen und sozialen Weltbildes; und das ist individualabsolutistisch.