ra-2ra-4A. WeberF. LifschitzH. DietzelW. HasbachG. CohnC. Menger    
 
OTHMAR SPANN
[mit NS-Vergangenheit]
Zur Logik der
sozialwissenschaftlichen Begriffsbildung


"Bei der Frage nach der Eigenart des Objektes der Sozialwissenschaften handelt es sich um nichts Geringeres, als um den  Begriff des Sozialen,  der Gesellschaft selbst. Bekanntlich ist dieser bisher in allgemeingültiger Bestimmung noch nicht gebildet worden. Der Streit tobt um die Frage, ob es sich in der Sozialwissenschaft um die Beschreibung von Wertbeziehungen oder von Kausalbeziehungen handelt!"


I. Analyse

1. Das Wesen der naturwissenschaftlichen, d. h. kausaltheoretischen Begriffsbildung besteht darin, die extensive und intensive Mannigfaltigkeit, welche die Wirklichkeit uns darbietet, zu überwinden (1). Dies geschieht durch die Mittel der Allgemeinheit - d. h. der Heraushebung der  gemeinsamen  Eigenschaften mehrerer Dinge -, der Bestimmtheit - d. h. der  festen Abgrenzung  der allgemeinen Vorstellung - und der Gültigkeit des Begriffs - d. h. der Eigenschaft, auf  jeden Einzelfall,  wo immer er im Raum sein mag, zu passen.

Ist die Aufgabe des Begriffs die Überwindung einer bestimmten Mannigfaltigkeit, dann ist offenbar von der Eigenart derselben, als  von der Eigenart des Objekts,  die Eigenart des Begriffs in irgendeinem Sinn abhängig. So stellt sich die Physik, welche eine allgemeine Theorie der Körperwelt ist, eine andere Aufgabe, (d. h. sie hat eine andere anschauliche Mannigfaltigkeit durch ihre Begriffe zu überwinden), als z. B. die Chemie, welche Eigenschaften der Stoffe untersucht, von denen die Physik abstrahiert hat; und die Chemie hat wieder eine andere Aufgabe als die Biologie und die beschreibenden Wissenschaften der organischen Natur. Den Unterschieden in den  Objekten  dieser Wissenschaften entsprechen in der Tat Unterschiede in ihren Begriffen. Während in der Physik der vollständige Begriff jedes physikalischen Dings grundsätzlich ein  Gesetzesbegriff  ist, - z. B. ist der Begriff der Gravitation identisch mit dem Gravitationsgesetz, der Begriff des freien Falls identisch mit dem Fallgesetz -, ist bei den beschreibenden Naturwissenschaften der Begriff einer Erscheinung nicht viel mehr als ein Klassifikationsbegriff. Der klassifikatorische Begriff der Säugetiere enthält noch nicht die grundsätzliche Gesetzmäßigkeit, die einen lebenden Organismus den Säugetiercharakter verleiht; hingegen erscheint der freie Fall in der Tat als ein Spezialfall des Gravitationsgesetzes.

Die Ursache für diese grundlegenden Unterschiede in der Eigenart der Begriffsbildung liegt vor allem in der Summe von  historischen Elementen,  (2) welche ihren Objekten eigen ist. Während für die Physik jeder Dingbegriff ein Gesetzesbegriff (Relationsbegriff) ist, weil ihr alle Vorgänge schließlich in ein System letzter bewegter Teile - und der Begriff von diesen ist der einzige Dingbegriff, mit dem sie arbeitet - zerfallen, kann innerhalb jener Disziplinen, welche mit historisch bestimmten Individualitäten (z. B. bestimmten Organismen) zu tun haben, gar nicht einmal das Ziel aufgestellt werden, jeden Dingbegriff zu einem Gesetzesbegriff zu machen. Die Klassifikation der gegebenen tierischen Oranismen kann allerdings aus einer  allgemeinen Theorie der lebenden Organismen heraus  vorgenommen werden, und insofern enthalten die Klassifikationsbegriffe auch tatsächlich die Ansätze in sich, die von ihnen für bestimmte Individualitäten zusammengestellten Merkmale gleichzeitig zu  notwendigen  Elementen eines Naturzusammenhangs zu stempeln. Aber in demselben Maß, als es sich um Individualitäten, also um Gebilde historischer Natur handelt, kann es sich eben nicht um die letzten  grundsätzlichen  Zusammenhänge, nicht um Gebilde unbedingt allgemeingültiger, typischer Natur handeln.

Die bisherigen Erörterungen haben gezeigt, wie im allgemeinen der Gehalt an historischen Bestandteilen im Objekt einer Wissenschaft den  theoretischen  Charakter ihrer Begriffe beeinflußt; ferner geht aus ihnen hervor, daß die Qualität der historischen Bestandteile eines Objekts, also die Eigenart des Objektes überhaupt, auch den speziell- methodologischen  Charakter der Wissenschaft mitbestimmen kann. So verlangt die Welt der Organismen neben einer allgemeinen Theorie des Lebens (Biologie) beschreibende Disziplinen, die es nicht viel weiter als bis zur Klassifikation ihrer Objekte bringen können. Wir haben diese Beziehung für das Nachfolgende nicht weiter zu verfolgen, denn es handelt sich uns nur darum, an einem Beispiel zu zeigen,  daß sich überhaupt die Eigenart der Begriffsbildung von der Eigenart des Objekts in Abhängigkeit befindet.  Damit ist bewiesen, daß die Untersuchung einer besonderen Eigenart des Objekts auf eine besondere Eigenart der Begriffsbildung hin, jedenfalls erkenntnistheoretisch  möglich  ist. Dieser Untersuchung wollen wir uns nun für die Sozialwissenschaften zuwenden.

2. Eine nähere Charakteristik der sozialwissenschaftlichen Begriffsbildung kann nach dem Vorigen nur durch eine Untersuchung der Eigenart des Objektes der Sozialwissenschaften gewonnen werden.

Die Eigenart des Objektes der Sozialwissenschaften! Die Frage ist allerdings verfänglich. Denn hier handelt es sich um nichts Geringeres, als um den  Begriff des Sozialen,  der Gesellschaft selbst. Bekanntlich ist dieser bisher in allgemeingültiger Bestimmung noch nicht gebildet worden. Der Streit tobt um die Frage, ob es sich in der Sozialwissenschaft um die Beschreibung von Wertbeziehungen oder von Kausalbeziehungen, d. h. um eine teleologische oder eine kausaltheoretische (naturwissenschaftliche) Begriffsbildung handelt! - In den ganzen Streit an dieser Stelle einzugreifen, wäre unmöglich, jedoch muß zumindest das eine erklärt werden, daß die nachfolgende Untersuchung auf dem Standpunkt steht, die sozialwissenschaftliche Begriffsbildung sei kausaltheoretischer Natur. Von diesem Diktum abgesehen, müssen wir uns für das Nachfolgende jedenfalls begnügen, statt  aller  grundsätzlichen Merkmale nur  diejenige Eigenart des Objekts der Sozialwissenschaften festzustellen, welche für die sozialwissenschaftliche Begriffsbildung als wesentlich erscheint.  Diese Untersuchung wird dann von selbst wieder ein Beitrag zur Konstituierung des Sozialbegriffs werden - eine Beziehung, der wir übrigens an dieser Stelle nicht nachgehen können.

Um eine möglichst allgemeingültige, vom Streit um den Gesellschaftsbegriff möglichst wenig berührte Position zu gewinnen, trennen wir den Begriff des sozialwissenschaftlichen Objekts (Gesellschaftsbegriff) derart, daß die in ihm  strittige  Gruppe von Merkmalen unbestimmt und außerhalb der Untersuchung bleibt. Wir denken uns nämlich den Begriff des Sozialen folgendermaßen zerlegt: Es handelt sich
    1. um das soziale Objekt seiner  logischen Struktur  nach;

    2. um das soziale Objekt jenen Bestimmungen nach, welche das eigentliche Konstitutive des Gesellschaftsbegriffs abgeben, d. h. um die Charakteristik der grundsätzlichen Beschaffenheit des Sozialen.
In der letzteren Bestimmung (ad 2) ruht der Schwerpunkt eines jeden Sozialbegriffs; sie ist aber problematisch und kann, wie ausgeführt, in unserer Untersuchung keine Rolle mehr spielen.

Die Bestimmung  ad 1  dagegen ist für sich ausführbar - obwohl rein  formal  betrachtet, die Bestimmungen  ad 1  und  2  in ihren materiellen Inhalten zusammenfallen können.  (Logisch  bleibt die Unterscheidung  ad 1  und  2  natürlich nichtsdestoweniger gültig.)

Hinsichtlich der  Struktur  des Sozialen muß als grundsätzliche Charakteristik angesprochen werden,  daß es ein Ganzen aus Teilen  darstellt.

Gesellschaft  als Ganzes aus Teilen heißt, daß sich alles Soziale als ein  System von ineinander greifenden Komponenten,  als ein Zusammenfunktionieren von Teileinheiten darstellt. Die uns empirisch gegebenen sozialen Erscheinungen - wie z. B. "Preis", "Markt", "Verkehr" - lösen sich alle schließlich in letzte Komponenten, nämlich in Handlungen von menschlichen Individuen auf. Sollte ein Gesellschaftsbegriff es erfordern, daß auch die Lebenserscheinungen des  isolierten  Individuums  (Robinson)  als soziale zu betrachten sind, so gilt auch für diese Erscheinungen die Bestimmung, daß sie sich als ein Ganzes aus Teilen charakterisieren. Jede Handlung eines Individuums kann in eine Reihe von Komponenten zerlegt gedacht werden, denn sie stellt in der Tat ein  System von Teilhandlungen  dar, und zwar meist von Wertschätzungen, deren Gesamtverhältnis zueinander die Bestimmtheit der zutage tretenden äußeren Handlungen bedingt.

Wenn nun die Gesellschaft als  Ganzes von Teilen  zu begreifen ist, so hat die Sozialwissenschaft die sozialen Erscheinungen in zweifacher Weise zu betrachten. Einmal als Teile  für sich  als Einzelerscheinungen, und sodann als Teil des  Ganzen,  als eine, gleichsam in das Triebwerk einer Maschine eingreifende, am Aufbau und Leben eines ganzen Organismus teilhabende, d. h. als eine  Funktion  ausübende Erscheinung.

Damit ist es bereits gegeben, daß auch die von der Sozialwissenschaft verwendeten Begriffe  zweifacher Art sein müssen. Denn gemäß jener zweifachen  Betrachtungsweise gehen auch die Begriffe der einzelnen Erscheinungen auf zweierlei: einmal auf die isoliert gedachten sozialen Einzelerscheinungen wie die  für sich  als  "Teil"  gegebeen sind, d. h. auf das unmittelbar gegebene Was, auf die  Bedingtheit  (Wesenheit) dieser Einzelerscheinungen. Sodann geht die Begriffsbildung auf die Beschreibung der Teile in ihrer Eigenschaft als Teile  des Ganzen,  d. h. in ihren  Leistungen,  in ihrer Stellung und Bedeutung innerhalb des ganzen Systems ineinander greifender Einzelerscheinungen.

Im ersteren Fall geht demnach die sozialwissenschaftliche Begriffsbildung auf die  Bedingtheit  der  Wesenheit  der Einzelerscheinung, im letzteren Fall auf den Zusammenhang derselben im System des Zusammenwirkens, auf die  Funktion  im Ganzen, auf die  Leistung  im Ganzen. Man kann daher den ersteren  Begriff des Wesens,  den letzteren den  Begriff der Funktion  einer sozialen Erscheinungen nennen.

Erläutern wir dies an einem Beispiel, etwa der Werterscheinung. Die Werterscheinung in ihrer unmittelbaren Bedingtheit (Wesenheit) beschrieben, ist (psychologische) Theorie des subjektiven Wertes. Der  Wesensbegriff  des Wertes ist also in der psychologischen Theorie desselben niedergelegt, denn ihm erscheint der Wert nicht nach seinem Zusammenhang, (seiner Funktion im sozialen Körper), sondern  für sich  und somit schlechthin als  psychologische  Erscheinung. Hingegen ist die Beschreibung des Wertes in seinen Eigenschaften als  Teil des Systems  ineinander greifender Wertschätzungen, - d. h. in seinen  funktionellen  Eigenschaften - Beschreibung eines Phänomens, das von der psychologischen Werterscheinung  ansich  geschieden werden muß. Es ist die Theorie der  sozialen Werterscheinung:  dieselbe ist in der Nationalökonomie als Theorie des wirtschaftlichen Wertes und Preises zur Ausbildung gelangt. Hiermit ist der  funktionelle  Begriff des Wertes konstituiert.

Die Eigenart der sozialwissenschaftlichen Begriffsbildung haben wir also dahin charakterisiert, daß sie auf die Wesensbestimmung und auf die Funktionsbestimmung der sozialen Erscheinungen geht. Mittels einer solchen zweifachen Bestimmung werden  vollständige Begriffe  von den sozialen Erscheinungen gewonnen.

3. Unsere Unterscheidung von Wesensbegriff und Funktionsbegriff läßt sich vom erkenntnistheoretisch-logischen Standpunkt aus anfechten. Erkenntnistheoretisch betrachtet erscheint nämlich jeder Funktionsbegriff im Grund als gleichartig mit dem Wesensbegriff: mit anderen Worten: jeder Funktionsbegriff hat dieselbe erkenntnistheoretische Strukut wie ein Wesensbegriff. Bezeichnet doch der Begriff eines Dings nur die Summe seiner Eigenschaften. Da aber die "Eigenschaften" oder "Beschaffenheiten" nichts für sich Seiendes, sondern immer nur Eigenschaften eines Dinges sind, d. h. nur aneinander, in einem  Zusammenhang,  also als  Funktionen  auftreten,, so fällt eigentlich Funktional- und Wesensbegriff erkenntnistheoretisch zusammen. Jeder Begriff eines Wesens oder Dings mit seinen Eigenschaften (Ding- oder Wesensbegriff) löst sich, wie ersichtlich, grundsätzlich in einen Begriff von Beziehungen oder Funktionen auf (Relations- oder Funktionsbegriff). Es kann nämlich schließlich jeder Zusammenhang als "Funktional"-Zusammenhang bezeichnet werden. Zum Beispiel ist die Größe der Kugel-Oberfläche eine  Funktion  der Größe der Radien; oder auch: die Oberfläche hat die  Eigenschaft  durch die Größe des Radius bedingt zu sein.

Eine Summe von Eigenschaften wird nämlich als Begriff eines Dinges zusammengefaßt, weil mehrere Bedingungen eine einheitliche Bedingtheit in die Erscheinung bringen. Wenn wir von einer Erscheinung des Ding-Individuums sprechen, so will dies besagen: irgendwelche Eigenschaften (Bedingungen) erweisen sich als in einem gewissen funktionalen Zusammenhang miteinander stehend, sie bilden eine Zusammengehörigkeit, ein Ding (was, nebenbei gesagt, nicht auf ein transzendentes Sein zurückzuweisen braucht, sondern sich als Urteilsnotwendigkeit bestimmen läßt). Wenn diese Zusammengehörigkeit in irgendeiner Beziehung als Einheit auftritt, eine einheitliche Wirkung übt, so entsteht eine  neue, selbständige Kausalverknüpfung von Erscheinungen:  das Ding tritt  als solches  in einen neuen Zusammenhang ein. Dieser neue Zusammenhang ist für sich beschreibbar und die Beschreibung des Dings in Bezug auf denselben ist nichts anderes als sein  Funktional -Begriff, der Begriff seiner  Leistung  im Zusammenspiel mit anderen Bedingungskomplexen oder Dingen. Mit Rücksicht darauf, daß ein "Ding" schon eine Zusammenfassung des gesetzmäßigen Zusammenhangs von Bedingungen ("Eigenschaften") ist, ist jede Eigenschaft, die dieser Zusammenhang 
(als ein Ganzes) in einem  neuen  Zusammenhang zeigt, die  Funktion  des Dinges. Es ist ersichtlich, daß hier die Begriffsbildung in erkenntnistheoretischer Beziehung denselben Charakter wie beim Wesensbegriff hat. Es wird ja immer nur das Wesen der Funktion beschrieben. Deswegen hat die Unterscheidung von Wesen und Funktion allerdings keinen  erkenntnistheoretischen  Geltungsanspruch; hingegen eine große praktisch- methodologische  Bedeutung. Denn ist der Begriff des Funktionalzusammenhangs auch gleichfalls ein Wesensbegriff, so beschreibt er doch das betreffende Ding in einem  neuen  Zusammenhang und seine Sonderstellung ist demnach  methodologisch  notwendig, wenn auch erkenntnistheoretisch unmöglich. Jene  neuen  Zusammenhänge sind die  Leistungen  der Dinge in einem großen Ganzen. Und die Beschreibung diesern neuen Zusammenhänge ist eben für die Sozialwissenschaft von besonderer Bedeutung, weil jene Zusammenhänge selbst eine besondere Bedeutung in der Konstitution des Objektes der Sozialwissenschaften einnehmen.

Resümierend ergibt sich, daß unsere Unterscheidung von "Funktion" und "Wesen" nur methodischer nicht prinzipiell-erkenntnistheoretischer Natur ist. Der Wesensbegriff könnte daher auch als  genetischer  Begriff vom Funktionsbegriff abgetrennt werden, denn er gibt die Bedingungen an, unter welchen ein Ding grundsätzlich steht, die Wurzeln des Dings. Jedoch deutet der Terminus "genetisch" zu sehr auf die Entstehungs geschichte,  und dies wäre allzu mißverstänlich. Daher ist die Bezeichnung "Wesens"-Begriff vorzuziehen.

4. Bevor wir auf das Verhältnis von Funktionsbegriff und Wesensbegriff in der Sozialwissenschaft eingehen können, ist der Begriff der Leistung oder Funktion selbst näher zu untersuchen.

Im Begriff der  Leistung  könnten vor allem  teleologische  Elemente vermutet werden. Es scheint, als handelt es sich dabei um den  Erfolg  eines Mittels, um einen Zweck. Dies ist aber nicht der Fall. Ob es ein bewußter Zweckzusammenhang ist oder ein toter Mechanismus: die Leistung eines Elementes in einem Zusammenhang erscheint bloß als seine Kausal- Wirkung.  Daß die Wirsamkeit der Familie im sozialen Körper die  Bevölkerungserneuerung  ist, stellt eine kausaltheoretische Beschreibung dar, ebenso wie die Einsicht, daß eine Vergrößerung des Radius einer Kugel eine Vergrößerung des Umfangs bewirkt. Ebenso wie wir sagen, die Funktion oder Leistung der Familie im sozialen Körper sei die Bevölkerungserneuerung, ebenso kann man sagen, die Leistung der Radiusgröße sei eine bestimmte Verursachung der Größe des Umfangs. Daß es sich bei sozialen Erscheinungen um  Wert tatsachen handelt, tut dem kausalen Charakter der Untersuchung keinen Abbruch. Denn es handelt sich nicht um ein System von Zwecken, sondern um ein System von  Mitteln  für  gegebene  Zwecke. Also nicht um einen Zweckzusammenhang, sondern um einen (kausalen) Zusammenhang der Mittel. Die Diskussion der  Zwecke,  der letzten menschlichen Ziele, ist überhaupt nicht sozialwissenschaftlicher, sondern philosophischer Natur.

Übrigens folgt der kausale Charakter jedes Funktionsbegriffs schon aus unserer oben durchgeführten erkenntnistheoretischen Gleichstellung desselben mit dem Wesensbegriff.

5. Mit dem Beweis, daß sowohl Funktionsbegriff wie Wesensbegriff naturwissenschaftlicher (kausaler) Art sind, ist die Frage nach dem erkenntnistheoretisch-methodologischen Verhältnis der beiden im sozialwissenschaftlichen Denken bereits auf eine gewisse Grundlage gestellt. Keinesfalls reicht aber die mit jenem Beweis gegebene Einsicht aus, denn nun handelt es sich um eine Frage der  Erkenntnisleistungen  der beiden Begriffsarten für die sozialwissenschaftlichen Probleme.

Wir wissen, daß die Sozialwissenschaften den Zusammenhang von Teilen im sozialen Ganzen zu erforschen haben. Somit handelt es sich zunächst um Funktionsbegriffe. In welchem Verhältnis stehen nun zu diesen die Wesensbegriffe der betreffenden "Teile"? Da ergibt sich, daß die Beschreibung der Leistung von Teilen für ein Ganzes grundsätzlich gar nicht auf der Kenntnis der Eigenschaften jener "Teile", d. h. ihres Wesensbegriffes fußt. Denn der Wesensbegriff besagt nur, wie sich in einem  anderen  Zusammenhang jener "Teil" verhält, d. h. welche Eigenschaften er "sonst" zeigt. Der Begriff einer sozialen Funktion aber gibt seinen Wirkungswert nur im Zusammenhang "Gesellschaft" an. Ein Beispiel: Der Funktionsbegriff der Familie gibt uns an, was das Liebesphänomen im sozialen Körper leistet, d. h. er gibt die kausale Verknüpfung des Liebesphänomens mit den anderen sozialen Erscheinungen an. Der Wesensbegriff der Familie hingegen - er ist eine Theorie der Liebe - zeigt uns, an welche Bedinungen diese Erscheinung in einem anderen, nämlich psychologischen Zusammenhang gebunden ist; er zeigt also die Eigenschaften derselben in einem psychologischen Zusammenhang. Damit sagt er uns aber über die Leistung der Liebeserscheinung im sozialen Körper nichts aus, sondern sagt uns nur, welche kausale Verknüpfungn gewisse psychologische Elemente im Phänomen  Liebe  eingehen. Noch klarer läßt sich dies folgendermaßen darlegen: Das Phänomen der Bevölkerungserneuerung (A) erscheint im Funktionsbegriff der Famile als soziale Funktion der Liebes-Erscheinung (a), d. h.:  a  hat die Funktion  A,  oder: der Funktionsbegriff von  a  ist  A.  Der Wesensbegriff von  a  hingegen zeigt die Eigenschaften von  a  als  psychologischen  Zusammenhang zwischen den Bestandteilen  α, α', α'' ... (z. B. sexuelle und psychologische Eigenschaften menschlicher Individuen). Das heißt: wenn wir zwei Menschen als psychologische Phänomene beschreiben, so stoßen wir auf die Erscheinung der Liebe (a); dann wird aber diese Erscheinung in einem anderen als sozialen, nämlich  psycho-physischen  Zusammenhang beschrieben; im psychophysischen Zusammenhang erscheint  a  bedingt durch  α, α', α'' ...; im sozialen Zusammenhang erscheint  a  als  A, bleibt aber letztlich freilich immer auch von α, α', α'' ... bedingt. 

Trotzdem nun aber die Bedingungen  α, α', α'' ... immer gültig bleiben, somit auch indirekte Bedingungen der Erscheinung der Bevölkerungserneuerung (A) sind, ist es  für  die Beschreibung von  A,  also für die Bildung des Funktionsbegriffes, doch  ganz gleichgültig unter welchen Bedingungen a steht,  bzw. unter welchen  indirekten  Bedingungen  A  steht.  Die  sozialwissenschaftliche Aufgabe ist nur, die Bedingungen von  A  zu finden, d. h.  A  als die Wirksamkeit einer Erscheinung in  sozialen  Zusammenhang, im sozialen Körper zu verstehen.  Dafür  ist natürlich die Kenntnis der Bedingungen von  a  grundsätzlich belanglos (d. h. das Verhalten von  a  in einem anderen als sozialen Zusammenhang).

Wir sehen deutlich, wie es für die Erforschung der Wirksamkeit der "Teile" im sozialen Zusammenhang  an und für sich,  grundsätzlich ganz gleichgültig ist, wie sich jene Teile in anderen Zusammenhängen verhalten. Denn jeder neue Zusammenhang, in dem sich ein "Teil" befindet, stellt einen Kausalkomplex für sich dar, dessen Bestimmtheit von den anderen Zusammenhängen grundsätzlich unabhängig ist. Diese gänzliche Belanglosigkeit von Wesen und Funktionsbegriff einander gegenüber käme insbesondere dann in der Sozialwissenschaft faktisch ganz zum Durchbruch, wenn es sich beim Objekt derselben um ein starres, unveränderliches System von Elementen handelte. Dies ist aber nicht der Fall. Vielmehr handelt es sich um ein System von fortwährend veränderlichen Elementen, um die fortwährende Entstehung neuer Zusammenhänge. So erlangt aber die Kenntnis der Beschaffenheit  anderer  Zusammenhänge, in denen sich dieselben Elemente vorfinden,  die Bedeutung eines Verständnisses der Variationen der sozialen Erscheinungen, soweit diese Variationen ihre Bedingungen außerhalb der sozialen Sphäre,  nämlich in jenen anderen Zusammenhängen, haben. Wir nennen dieses Verhältnis ein  hilfswissenschaftliches. 

Indem uns also der Wesensbegriff die Eigenschaften der Bestandteile der sozialen Komplexe in  anderen  Zusammenhängen darstellt, vermittelt er uns nichts Geringeres, als die  Erkenntnis der mittelbaren Bedingungen, an welche die sozialen Funktionserscheinungen gebunden sind.  Und diese Erkenntnis ist für die Erforschung der sozialen Zusammenhänge selbst rein methodisch und praktisch wertvoll, wenn auch logisch grundsätzlich belanglos. Es ist eine  hilfswissenschaftliche  Erkenntnis. Wir sahen oben wie  A  an die Bedingung  a  gebunden war (wenn  a  als Teil im sozialen Ganzen gedacht ist). Die Bedingungen, an welche  a  wieder in seiner Existenz gebunden ist, zeigen sich aber niemals im sozialen Zusammenhang, sondern nur im psychologischen. Deswegen ist der Wesensbegriff von  a,  der psychologischer Natur ist, ein  hilfswissenschaftlicher Begriff  für  A. 

Aus dieser methodischen (hilfswissenschaftlichen) Notwendigkeit des Wesensbegriffs kann natürlich nicht folgen, daß die im Funktionsbegriff niedergelegte selbständige Gesetzmäßigkeit des (sozialen) Komplexes von der Gesetzmäßigkeit der (psychologischen) "Bestandteile"  ableitbar  sei. Vielmehr sind die Gesetze des Gesamtzusammenhangs von denen der "Bestandteile" unableitbar und der Wesensbegriff kann daher nur die dargelegte hilfswissenschaftliche Rolle spielen,  nicht etwa den Ausgangspunkt für die Deduktion abgeben.  Es ist schon das  historische Datum  einer neuen Kausalverknüpfung von "Teilen", das in jeder neuen Gattung von Komplexen ein  grundsätzlich Neues,  also selbständig Beschreibbares bedeutet. Selbst wenn wir das Ideal der Erkenntnis verwirklicht denken, können wir nie zu einer Zurückführung der Gesetze von Komplexen in die der Elemente gelangen. Umgekehrt muß das (historische) Datum des Komplexes bei jeder kausaltheoretischen Betrachtung der Bestandteile verloren gehen; denn indem die "Bestandteile"  für sich  untersucht werden, heißt das ja nur, daß sie nun auf einen  anderen  Zusammenhang hin untersucht werden. Zum GAY-LUSSAC-MARIOTTEschen Gesetz z. B. kann sich kein Gesetz von Atombewegungen so verhalten, daß es aus ihm unmittelbar ableitbar, in ihm enthalten wäre, wonach durch dasselbe je grundsätzlich überflüssig erschiene; denn das GAY-LUSSACsche Gesetz beschreibt ein  originäres  Ereignis. Ebenso auf dem Gebiet der Gesellschaft. Wenn ein gesellschaftlicher Komplex in allen seinen Komponenten  a, b, c ... von anderen Wissenschaften auf das exakteste nach den Gesetzmäßigkeiten derselben erfaßt wäre, so wäre damit über den Komplex  A  als solchen, d. h. über den spezifischen Kausalzusammenhang, der ihn eben als Komplex in der Gesellschaft konstituiert, dennoch gar nichts ausgesagt. Denn entweder führt dieser Gesamtzustand des Komplexes über die Gesetzmäßigkeit der Komplex- Bestandteile  hinaus - oder eine selbständige Wissenschaft von Komplexen wäre überhaupt unmöglich.

Man kann freilich einwenden, daß auch das GAY-LUSSACsche Gesetz nur Bestandteil einer allgemeinen Theorie der Körperwelt ist und sich demnach in diese Theorie einfügen und zu den Grundgesetzen der Bewegung in einem Verhältnis stehen muß. Dies ist ansich freilich richtig. Aber Gesetze  bestimmter  Konstellationen von Elementen der Körperwelt können aus den allgemeinsten Gesetzen dennoch niemals  abgeleitet  werden, weil ja die neue Konstellation nur durch ein  historisches Datum  möglich ist und sonach durch eine Gesetzmäßigkeit innerhalb konkreter, historischer Gültigkeit und Bestimmtheit beschrieben werden kann. Ein Gesetz, welches über den Komplex  A  aussagt, daß er durch einen bestimmten Zusammenhang der Bestandteil  a, b, c  charakterisiert ist, rekurriert wohl auf die Teile; aber indem es  a, b, c  für  A  verantwortlich macht, treten sie  bloß  in ihrem Zusammenhang als  A  auf, d. h. nicht als Teile, die wieder aus Teilen bestehen, sondern als absolute Reaktionseinheiten einer bestimmten Verbindung. Denn die Gesetze, nach denen  a  und  b  und  c  bestehen und sich verändern, erscheinen in jenem Gesetz (A) in einem selbständigen, d. h.  grundsätzlich neue  Zusammenhang. Das Gesetz über den Komplex  A  bezieht sich ja nur auf das grundsätzlich neue Datum der  Bedeutung von a  und  b  und  c  als Änderungsbedingungen  im System A,  also auf eine neue einheitliche Kausalverknüpfung in einem Gesamtzusammenhang. Die "neue Einheit" eines Gesetzeszusammenhangs ist nichts anderes, als die neue gesetzliche Verknüpfung von Teilen, welche dann in  anderen  Verknüpfungen natürlich  anders  als Teil oder Ganzes auftreten.

Wieder ergibt sich, daß daher selbst die erschöpfendste wissenschaftliche Erfassung der Teile  a, b, c  "ansich" (d. h. eigentlich nur in anderen Zusammenhängen,  a r s ... a y z ... etc.) uns kein Titelchen ihrer Bedeutung für den Gesamtzusammenhang  abc (= A)  mitteilen, woraus eine  Ableitung  der letzteren Beschreibung (d. h. des Gesamtzusammenhangs) als besonderer aus jener (d. h. des Teiles) als allgemeinerer sich unmöglich ergibt.


II. Folgerungen

1. Nachdem wir so das  erkenntnistheoretische  und methodologische Wesen von Funktions- und Wesensbegriff sowie das Verhältnis zwischen denselben völlig klargestellt haben, können wir uns jenen Problemen zuwenden, zu welchen die gewonnenen Erkenntnisse eine wichtigere Beziehung aufweisen. Wir beschränken uns an dieser Stelle auf folgende Hinweise:
    1. Zuerst erhebt sich die mit dem Problem des Sozialbegriffs in naher Beziehung stehende Frage,  ob der Funktions- oder Wesensbegriff  der  spezifisch sozialwissenschaftliche  Begriff ist.

    2. Da die Wesensbegriffe meistens Begriffe von  psychologischer  Struktur sind, erhebt sich die Frage:  welches Verhältnis die Psychologie zur Sozialwissenschaft hat. 

    3. Da unsere Untersuchung eine Aufklärung der sozialwissenschaftlichen Begriffsbildung überhaupt darstellt, auch (ad 2) eine spezielle Beziehung zum Methodenproblem auftritt, entsteht eine Beziehung zu der Frage nach dem  Verhältnis von induktiver und deduktiver Operation in der Sozialwissenschaft. 

    4. Infolge der Abhängigkeit der Eigenart der sozialwissenschaftlichen Begriffsbildung von der Eigenart des sozialwissenschaftliche  Objekts entsteht die Aufgabe, aus unseren Ergebnissen  die  Rückschlüsse auf die Beschaffenheit des Gesellschaftsbegriffs  zu ziehen.
Der Erörterung der ersteren drei Beziehungen wollen wir uns im nachfolgenden kurz zuwenden.

2. An erster Stelle steht die Frage, ob eine der beiden Begriffsarten die für die Sozialwissenschaft wesentliche, die  spezifische sozialwissenschaftliche  ist. Da ergibt sich nun, daß die Sozialwissenschaft ein System von Funktionsbegriffen darstellt, und daß die Wesensbegriffe nur Hilfsbegriffe für das sozialwissenschaftliche Denken sind.

Diese Antwort ist begründet: einmal durch die oben entwickelte erkenntnistheoretische Natur der beiden Begriffe und durch das daraus folgende  hilfswissenschaftliche  Verhältnis des Wesens- zum Funktionsbegriff; sodann durch unsere eingangs vorgenommene Zerlegung des Sozialbegriffs.

Aus dem erkenntnistheoretischen Verhältnis von Wesens- und Funktionsbegriff folgt unserer These insofern, als ja die grundsätzliche Fremdheit des Wesensbegriffs zum Funktionsbegriff darin offenbar wird. Der Wesensbegriff betrifft die Erscheinung in einem  anderen  Zusammenhang. Man kann allerdings fragen: muß denn dieser andere Zusammenhang  notwendig  ein nichtsozialer sein? Aber dies ist ja schließlich sogar gleichgültig, wenn man bedenkt, daß sich jede Erscheinung, die  sozialen  Charakters ist, in eine Funktionserscheinung auflösen läßt,  zuletzt  aber diese Zerlegung auf die Abhängigkeit von Bedingungen stoßen muß, die sich in einem sozialen Zusammenhang nicht zeigen können.

Vor allem aber beweist unsere eingangs vorgenommene Zerlegung des Sozialbegriffs in die zwei Teile: Zusammenhang von Teilen schlechthin und: Charakteristik dieses Zusammenhangs als sozial - das die "Teile" eben Phänomene sind, von denen sich ergibt, daß sie auch  außerhalb  des sozialen Zusammenhangs in Zusammenhängen vorkommen. Somit betreffen die Wesensbegriffe  notwendig  nicht-soziale Zusammenhänge. Ihr Hilfsverhältnis zu den Funktionsbegriffen erhält damit die Bedeutung eines  hilfswissenschaftlichen  Verhältnisses, denn sie gehören einer anderen Disziplin an als die Funktionsbegriffe. Umgekehrt erscheinen diese letzteren nun notwendig als die  spezifisch  sozialen Begriffe, wenn unsere Zerlegung des Prozesses der Begriffsbildung in der Sozialwissenschaft eine vollständige war.

3. Um die Frage nach dem Verhältnis von Psychologie und Sozialwissenschaft erschöpfend zu beantworten, müßte zuvor die andere Frage entschieden sein: ob alle Wesensbegriffe psychologischer Natur sind. Die Untersuchung hierüber würde leider zu weit führen. Es liegt aber auf der Hand, daß die Wesensbegriffe psychologischen Charakter haben müssen,  soweit es sich um menschliche Handlungen als  (mittelbare)  Bedingungen sozialer Erscheinungen handelt.  - Insofern nun die Wesensbegriffe sozialwissenschaftlicher Natur sind, ist nach dem Bisherigen ihr Verhältnis zu den sozialwissenschaftlichen Begriffen klar: sie erfüllen die Aufgabe der Orientierung über die Eigenschaften der in den sozialen Zusammenhängen stehenden Erscheinungen in  anderen  (den psychologischen) Zusammenhängen, also der weiter zurückliegenden psychologischen Bedingungen derselben. Durch diese Orientierung erleichtert und ermöglicht sie insbesondere das Verständnis der  Variationen  der sozialen Erscheinungen, z. B. aller krankhaften Gebilde. Sie hat einen hilfswissenschaftlichen Wert, dessen erkenntnistheoretische Natur schon weiter oben entwickelt wurde.  Niemals kann daher eine sozialwissenschaftliche Disziplin den Charakter einer "angewandten Psychologie" annehmen.  Die Psychologie liefert grundsätzlich nur Wesensbegriffe sozialer Erscheinungen, niemals aber Funktionsbegriffe, niemals sozialwissenschaftliche Begriffe selbst. Daher können die sozialen Begriffe niemals als bloß quantitativ Verschiedenes, als Variationen oder Anwendungen der psychologischen Begriffe erscheinen. Sie sind durch eine innere Kluft voneinander getrennt.

Diese völlig methodologische Trennung folgt übrigens auch schon daraus, daß das "Soziale" gegenüber dem "Psychologischen" eine grundsätzlich neue Erscheinungsart ist. Die Begriffe des einen Gebietes müssen daher den Begriffen des anderen Gebietes grundsätzlich fremd sein und können zueinander nur in einem äußeren Hilfsverhältnis stehen.

4. Die Frage der Bedeutung der gewonnenen Einsicht in die Eigenart der sozialwissenschaftlichen Begriffsbildung für den  Methodenstreit  in der Sozialwissenschaft kann an dieser Stelle gleichfalls nicht vollständig erörtert werden. Jedoch soll diese Bezeichung wenigstens in einigen Punkten untersucht werden.

Das sozialwissenschaftliche Methodenproblem in zweifacher Art:

Einerseits handelt es sich in demselben um einen Streit der Auseinanderlegung des Sozialen in eine Reihe von Teilsystemen (z. B. Wirtschaft, Recht, etc.) und um den daraus folgenden Grundcharakter der Methode.  diese  Frage nach der Eigenart der Methode betrifft die grundsätzliche Möglichkeit der  Deduktion  aus dem das betreffende soziale Teilsystem konstituierenden Prinzip (z. B. der "Eigennutz" für das System der Wirtschaft) und außerdem die Verhältnisbestimmung des deduzierten sozialen Teilinhaltes zum ganzen, ungeteilten Sozialen, zur sozialen Wirklichkeit. - Andererseits handelt es sich um eine Bestimmung des Verhältnisses von deduktiver und induktiver Operation überhaupt (auch wenn jenes erste grundlegende Methodenproblem schon entschieden wäre).

Diese beiden Teile des Methodenproblems lassen sich aber nicht getrennt voneinander behandeln. Deshalb können im Nachfolgenden nur einige unmittelbare Folgerungen aus unseren Ergebnissen im Hinblick auf das Verhältnis der deduktiven und induktiven Operationen zueinander gezogen werden.

Die vollständigen Begriffe der sozialwissenschaftlichen Erscheinungen sind solche, welche sowohl den Funktionsbegriff, wie den Wesensbegriff einer Erscheinung enthalten. Die vollständigen Begriffe geben nun in der Einzelforschung sowohl  Ausgangspunkt der Deduktion  wie  Leitfaden der Induktion  ab.

Dies haben wir uns zunächst so zu denken, daß durch die grundsätzliche Erfassung von Wesen und Funktion einer Erscheinung die Einordnung derselben in das  Gesamtsystem  des sozialen Organismus - z. B. eine Einordnung in die Gruppe der wirtschaftlichen, rechtlichen etc. Erscheinungen - ermöglicht wird. Damit werden alle  Beziehungen  der untersuchten Erscheinung zu jenem Gesamtsystem klar werden. Sind aber die grundsätzlichen Beziehungen ineinander greifender sozialer Erscheinungen zueinander klar,  so kann ihre gesetzmäßige Wirksamkeit und Gestaltung grundsätzlich deduktiv abgeleitet  werden. Es handelt sich dann nur mehr quasi um eine  Auswicklung  der im Fortgang der Wirksamkeit jener ineinander greifenden Erscheinungen zur Verwirklichung kommenden Funktionstatsachen. Sind z. B. Wesen und Grundfunktionen der  Familie  festgestellt, so können alle grundsätzlichen sozialen Gestaltungen welche sozusagen mit dem  Funktionieren  des Sozialgebildes Familie, d. h. mit seiner Wirksamkeit, gesetzt sind,  deduktiv  entwickelt werden. Denn nun handelt es sich nur mehr um die Entwicklung der fortgesetzten Wirksamkeit der Grundursachen jenes Sozialgebildes. Die Feststellung der grundsätzlichen Beziehung der ermittelten Funktion zu allen anderen sozialen Funktionen ergibt schließlich den  grundsätzlichen Gesamtzusammenhang einer Erscheinung mit allen übrigen sozialen Erscheinungen. 

Während die Ableitung des  grundsätzlichen  Gesamtzusammenhangs deduktiver Natur ist, wird die Feststellung des tatsächlichen  empirischen  Einflusses der Funktionen der anderen sozialen Erscheinungen wesentlich  induktiv  sein müssen. Es wird sogar selbst jene grundsätzliche rein deduktive Ableitung des  Gesamtzusammenhangs,  in dem eine Erscheinung auftritt, praktisch der Krücken der Induktion nicht entbehren können.  Die Hilfe der Induktion kann und soll also in keiner Hinsicht entbehrt werden.  Aber das  deduktive  Erfassen der sozialen Erscheinungen und ihre Tendenzen, mit einem Wort die Rationalisierung derselben kann nur von solchen Ausgangspunkte, wie sie ihre Begriffe darbieten, geschehen.

Ich habe bei einer statistischen Untersuchung über uneheliche Kinder diese methodischen Leistungen von Wesens- und Funktionsbegriff zu erproben Gelegenheit gehabt. Insbesondere hat mich der Funktionsbegriff der Unehelichkeit dazu geführt, diese Erscheinung in ihren verschiedenen Artungen  deduktiv  entwickeln zu können, wodurch sich für die Aufgabe der Differenzierung der gegebenen statistischen Massen von vornherein feste Ziel ergaben. Indem die Unehelichkeitserscheinung funktionell als  jene Art der Bevölkerungserneuerung, mit der ihrem Begriff nach eine Degeneration im sozialen Körper verbunden ist,  bestimmt wurde, ergab sich natürlich die Aufgabe, das System jenes Bevölkerungserneuerungsprozesses möglichst lückenlos in allen seinen Formen - und das heißt das System der Unehelichkeit in allen seinen funktionellen Leistungsgraden - zu bestimmen. Dies hat insbesondere zur Entdeckung der sogenannten Stiefvaterfamilie unehelichen Ursprungs geführt, eine Form der Bevölkerungserneuerung, die sich dem normalen Regenerationsprozeß in allen zur (induktiven) Untersuchung gekommenen Beziehungen völlig annähert.

Zum Schluß bemerke ich noch, daß man Freund Dr. SIEGFRIED KLAUS unabhängig von mir die gleiche Unterscheidung in der sozialwissenschaftlichen Begriffsbildung gefunden hat. In seinem Buch "Zur Erkenntnis der sozialwissenschaftlichen Bedeutung des Bedürfnisses" findet sich eine Durchführung derselben innerhalb geschichtsphilosophischer Probleme.
LITERATUR Othmar Spann, Zur Logik der sozialwissenschaftlichen Begriffsbildung, Tübingen 1905
    Anmerkungen
    1) Ich folge hier RICKERT, "Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung" - eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften, zweite Auflage, Tübingen 1902.
    2) Das Wort "historisch" wird im Nachfolgenden natürlich nur in rein  logischer  Bedeutung gebraucht. RICKERT charakterisiert den logischen Gegensatz von Natur und Geschichte folgendermaßen: "Alle empirische WIrklichkeit kann noch unter einen anderen Gesichtspunkt gebracht werden, als unter den, daß sie Natur ist.  Sie  wird Natur, wenn wir sie betrachten mit Rücksicht auf das Allgemeine, sie wird Geschichte, wenn sie betrachten mit Rücksicht auf das Besondere." (a. a. O., Seite 255)