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MAX HORKHEIMER
Zum Rationalismusstreit
in der gegenwärtigen Philosophie

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"Die Übereinstimmung von Urteil und wirklichem Sachverhalt ist nie unmittelbar gegeben, es besteht zwischen ihnen keine Identität. Sowohl die Aufgabe, die das Denken jeweils zu lösen hat, wie die Art und Weise dieses Denkens und auch das Verhältnis von Urteil und Gegenstand sind vergänglich. Trotzdem gibt es in jedem bestimmten Fall den Unterschied von wahr und falsch. Die relativistische Leugnung dieses Unterschiedes widerspricht sich selbst."

"Während aber die  Freud'sche Theorie, die ihrer Struktur nach der liberalistischen Periode angehört, zumindest in den Jahrzehnten ihrer Ausbildung den Menschen als Produkt einer Auseinandersetzung zwischen Bewußtem und Unbewußtem, einer unter dem Zwang der gesellschaftlichen Umwelt sich abspielenden Dialektik zwischen Ich und Es verstand, begann der Irrationalismus das Unbewußte zu vergötzen. Er greift dogmatisch einzelne theoretisch völlig unerhellte Faktoren wie etwa den unbewußten Einfluß historischer Verbundenheit, wie Rasse und Landschaft heraus, und setzt sie unmittelbar an die Stelle des vernünftigen Denkens der einzelnen, das er in Verruf bringt."

Da besonders im gegenwärtigen geschichtlichen Augenblick die Lösung der entscheidenden realen Probleme, an denen die Menschheit leidet, vom Ausgang der Kämpfe zwischen den gesellschaftlichen Gruppen abhängt, so entscheidet über das Gewicht einer Theorie vor allem der Umstand, wie weit ihr Konstruktionsprinzip durch die Aufgaben einer solchen Gruppe und nicht durch die private Lage ihres Autors mitbestimmt ist. Nach HEGEL wird der Gang der universalen Dialektik durch die immanente Dynamik der Begriffe eindeutig festgelegt; dagegen gilt dem Materialismus jede dialektische Konstruktion als ein Produkt, das Menschen in der Auseinandersetzung mit ihrer gesellschaftlichen und natürlichen Umwelt entwerfen. Sie ist daher in ihrem ganzen Verlauf nicht bloß vom Objekt, sondern auch vom geistigen Entwicklungsgrad und den bewußten und unbewußten Strebungen der Subjekte geleitet. Über den Wert einer Theorie entscheidet nicht das formale Kriterium der Wahrheit allein - wieviel Untersuchungen sind gerade in der jüngsten Vergangenheit geführt worden, welche die Erkenntnis um kein Haarbreit weiterbringen, aber für sich in Anspruch nehmen dürfen, wahr zu sein; wieviele Schriften haben ihren Daseinsgrund bloß in der Funktion, von den entscheidenden Problemen abzulenken, ohne daß ihnen logische Verstöße nachzuweisen wären! -, über den Wert einer Theorie entscheidet ihr Zusammenhang mit den Aufgaben, die im bestimmten historischen Moment von den fortschrittlichsten sozialen Kräften in Angriff genommen sind, und auch dieser Wert gilt nicht unmittelbar für die gesamte Menschheit, sondern zunächst bloß für die an der Aufgabe interessierte Gruppe. Daß in vielen Fällen sich das Denken von den Fragen der kämpfenden Menschenwelt völlig entfernt hat, begründet unter anderem das Mißtrauen gegen die Intellektuellen. Wenn auch das Kriterium für diese Entfernung keineswegs das ungeschulte Bewußtsein bilden kann, sondern einzig der wirkliche Nachweis, daß der Zusammenhang mit den jeweils entscheidenden Fragen verloren gegangen ist, so ist dieser Vorwurf gegen die scheinbar unbedingte Intelligenz, der sich mit dem des Rationalismus verbindet, insofern richtig, als diese Beziehungslosigkeit des Denkens nicht etwa die Freiheit des Urteils, sondern eine mangelnde Kontrolle des Denkens auf seine eigenen Motive hin bedeutet. Die Preisgabe einer historisch bestimmten Terminologie, das dauernde Neuprägen von Begriffen und das Vonvorne-Anfangen bei den Philosophen, die Sorge um neutrale Ausdrücke und die Sucht nach Originalität sind verräterisch. Aber nicht die Intelligenz, sondern ihr mangelnder Zusammenhang mit den geschichtlich gestellten Problemen ist anzuklagen. Die abstraktesten Gedankengänge können eine realere Bedeutung haben als ein scheinbar konkreter Problemansatz, der sich in seiner Ausdrucksweise möglichst alltäglicher und volkstümlicher Worte bedient. Besonders die handwerkliche und bäuerliche Sphäre werder hierbei bevorzugt. Je mehr der bewußte Zusammenhang mit den geschichtlichen Kämpfen verloren geht, desto kräftiger beteuern die Philosophen, daß ihr Denken Boden unter den Füßen und Wurzeln in ihm hat - eine Hilfsvorstellung, die in ihrer Unhaltbarkeit jenen Mangel vollends deutlich macht.

Begriffe, Urteile und Theorien sind Phänomene, die sich in der Auseinandersetzung der Menschen untereinander und mit der Natur entwickeln. Keineswegs ist zwar, wie der Pragmatismus meint, der Nutzen das Kriterium der Erkenntnis; diese weist sich vielmehr in den verschiedenen Wissenschafts- und Lebensgebieten aufgrund sehr mannigfaltiger Zeichen aus. Die Lehre, daß jede Erkenntnis nützlich ist, d. h. unmittelbar zur Befriedigung eines praktischen Bedürfnisses führen muß, ist falsch, aber das theoretische Bedürfnis selbst, das Interesse an der Wahrheit, wird entsprechend der Lage des Erkennenden gelenkt. Wenn sein Schicksal, in dem materielle und psychische Faktoren sich durchdringen, dazu führt, daß sich in seiner geistigen Arbeit nicht bloß private Schrullen, sondern die Bedürfnisse der Menschheit durchsetzen, kann sie geschichtliche Bedeutung gewinnen. Ein Gott vermöchte gar nichts zu erkennen, weil er keine Bedürfnisse hat. Keineswegs bloß durch die Anforderung, welche unmittelbar die materielle Lage stellt, werden die Denkvorgänge im einzelnen geleitet, sondern ebensosehr durch unbewußte Triebregungen, die freilich selbst wieder in letzter Linie Reaktionen der Individuen auf ihre Lage in der Gesellschaft darstellen. In einer Theorie kann z. B. ganz abgesehen von ihrer Richtigkeit oder Falschheit das Bedürfnis nach Selbstbestätigung, das im wirklichen Leben nicht befriedigt wird, zum Ausdruck kommen. Solche irrationalen Faktoren spielen zwar im geistigen Leben einer Gruppe eine umso geringere Rolle, je weniger ihre Lage zu Verdrängungen zwingt, doch entspringen die die Denkaufgabe selbst und die Mittel zu ihrer Bewältigung jedenfalls den Anforderungen, die eine bestimmte Situation an bestimmte Menschen stellt.

Selbst die Feststellung der Wahrheit nach den jeweils angemessenen Kriterien, auch wenn sie bloß durh psychischen Prozesse (z. B. durch Erinnerung) geschieht, durch Experimente oder durch Ereignisse, die vom Subjekt unabhängig sind, hat als Vorgang in der wirklichen Welt geschichtliche Bedingungen. Die Übereinstimmung von Urteil und wirklichem Sachverhalt ist nie unmittelbar gegeben, es besteht zwischen ihnen keine Identität. Sowohl die Aufgabe, die das Denken jeweils zu lösen hat, wie die Art und Weise dieses Denkens und auch das Verhältnis von Urteil und Gegenstand sind vergänglich. Trotzdem gibt es in jedem bestimmten Fall den Unterschied von wahr und falsch. Die relativistische Leugnung dieses Unterschiedes widerspricht sich selbst. Es läßt sich z. B. heute sehr wohl entscheiden, welche von den vielen Theorien über die Wirtschaftskrise richtig ist. Wahr und falsch sind unterscheidbare Eigenschaften theoretischer Gebilde, sie betreffen ihre Beziehung zum Gegenstand. Diese Beziehung ist durch die unterscheidenden Menschen zwar keineswegs willkürlich gestiftet, aber doch vermittelt: ohne diese Vermittlung gibt es keine Wahrheit. Daher ist die Theorie kein von den Menschen ablösbarer Tatestand. Niemand kann so über sich selbst oder gar über die Menschheit reflektieren, wie wenn er ein von bestimmten historischen Bedingungen freies Subjekt wäre. Ein Individuum mag freilich von gewissen persönlichen Interessen absehen, es mag tunlichst alle durch sein eigenes Schicksal bedingten Eigentümlichkeiten ausschalten, stets werden doch alle Schritte seines Denkens Reaktionen eines bestimmten Menschen einer bestimmten gesellschaftlichen Klasse in einem bestimmten Zeitpunkt sein. Dies versteht sich gewiß von selbst, aber der Charakter der gesamten idealistischen Philosophie läuft dieser selbstverständlichkeit zuwider. Das philosophische Denken wird darin - entweder ausgesprochen (wie z. B. im klassischen deutschen Idealismus) oder unausgesprochen (wie z. B. bei BERKELEY - als etwas verstanden, was sich zwar im empirischen Menschen zu vollziehen scheint, in Wirklichkeit aber die zeitlose Voraussetzung dieses empirischen Menschen oder zumindest eine von ihm selbst unabhängiger Vorgang ist. Die idealistische Philosophie ist eben im bürgerlichen Zeitalter, zumindest beim aufgeklärten Bürgertum selbst, weitgehend an die Stelle der Offenbarung getreten. Der umfassende Sinn, der Einblick in die Grundvesten der Welt wird nicht mehr von oben her verkündet, sondern durch ein in jedem einzelnen wohnende spirituelle Kraft entdeckt oder sogar hervorgebracht. Das Weltbild des Idealismus soll ebenso wie der affirmative Inhalt der Religion nicht die Züge des vergesellschafteten Menschen, die es hervorgebracht hat, an sich tragen, sondern als reiner Spiegel ewiger Ordnungen gelten. Die irrationalistischen Strömungen des Idealismus haben hier den rationalistischen nichts voraus. Zwar setzen sie anstelle des analytischen Denkens die Intuition oder andere Regungen des Gemüts, z. B. die Stimmung, die Freude, die Langeweile, die Angst, die Gläubigkeit, die Zucht (36), als Bedingungen der Einsicht, aber die Wesenheit, deren der Mensch in dieser Haltung inne wird, sie es Leben, Existenz oder Volkheit, gilt doch als Richtschnur, an die man sich unbedingt halten kann, mag diese auch nur in dem Gebot bestehen, die eigenen Prinzipien und Handlungen immer in Frage zu ziehen oder etwa den Platz, an den der jeweilige Mensch kraft seines Schicksals nun einmal gestellt ist, frei zu bejahen. Die Weihe, welche durch die idealistische Philosophie bestimmten Haltungen und Zielsetzungen verliehen wird, hängt notwendig mit dem unvollziehbaren Gedanken eines zeitlosen Subjekts zusammen. Indem der Materialismus diese Verbindung aufdeckt, entthront er den vergöttlichten Geist in einer gründlicheren Weise als der Irrationalismsus, der die Analyse negiert, um sich einem blinden Glauben zu verschreiben.

Der dialektische Materialismus erkennt die Berechtigung im Vorwurf gegen das bloß analytische Denken an. Alte und neue philosophische Lehren, welche die Ergebnisse der Analyse hypostasieren [einem Wort gegenständliche Realität zubilligen - wp] und Produkte der Abstraktion als den Grund oder die Elemente des Seins hinstellen, sind einseitig und beschränkt. Die verdinglichten Kategorien der irrationalistischen Philosophie wie z. B. Leben und Existenz - mögen sie auch als innerlich bewegt, geschichtlich und konkret behauptet werden - sind jedoch nicht weniger abstrakt als die ontologischen Prinzipien der als rationalistisch bekämpften Richtungen wie z. B. das Ich, die absolute Idee und die Summe der Empfindungen. Alle diese isolierten Einheiten, bei welchen der Prozeß, durch den sie gewonnen worden sind, vergessen oder als unerheblich betrachtet wird, erfüllen heute die ideologischen Funktionen metaphysischer Grundbegriffe. Im Gegensatz zum Irrationalismus versucht der Materialismus die Einseitigkeit des analytischen Denkens aufzuheben, ohne es zu verwerfen. Auch die dialektische Theorie selbst behält freilich einen abstrakten Charakter, schon deshalb, weil sie trotz der Bemühungen, den Gegenstand möglichst in der Mannigfaltigkeit seiner Entwicklungsformen zu spiegeln, bereits bei seinem Gewahrwerden und bei jedem ihrer Schritte von bestimmten historischen Bedingungen abhängt. Erkenntnis der Totalität ist ein sich selbst widersprechender Begriff. Das Bewußtsein der eigenen Bedingtheit, die das materialistische Denken kennzeichnet, ist beim gegenwärtigen Stand der Theorie identisch mit der Erkenntnis der gesellschaftlichen Bedingtheit der Individuen. Wie die Lehre von der Unabhängigkeit und Selbstherrlichkeit des Denkens dem Begriff des in sich geschlossenen monadischen Individuums zugeordnet ist, so gehört zur materialistischen Ansicht von der Endlichkeit des Denkens die Lehre, daß jeder einzelne in den gesamtgesellschaftlichen Lebensprozeß verflochten ist. Die Überwindung der Fehler des abstrakten Denkens geschieht im Materialismus ebenso wie bei HEGEL dadurch, daß versucht wird, die einzelnen Kategorien als abhängig von einem sie erzeugenden Prozeß zu begreifen. Aber dieser ist im Materialismus nicht selbst wieder geistiger Art, sein Resultat ist nicht die sich selbst begreifende und daher unendliche Idee. Vielmehr hängt für den Materialismus das Individuum mit allen seinen Kategorien von der gesellschaftlichen Entwicklung ab; diese wird in der ökonomischen Geschichtstheorie dargelegt. Subjekt und Objekt fallen hier niemals ganz zusammen, sie befinden sie vielmehr je nach der Rolle, welche die Theorie in der Gesellschaft spielt, je nach dem Grad der Herrschaft der Menschen über sich und die außermenschliche Natur in einer variablen Spannung.

Wenn auch die Gesellschaft keineswegs die Totalität der Bedingungen für die individuellen Lebensschicksale enthält, wenn vor allem aus der Zugehörigkeit eines Individuums zu einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe durchaus nicht folgt, daß es auch die für diese Gruppe typischen Fähigkeiten und Anschauungen zeigen muß, so geht doch die Abhängigkeit viel weiter, als in der vorwiegend individualistisch gerichteten Philosophie und Psychologie gemeinhin angenommen wird. Abgesehen davon, daß auch bei einem äußerst verschiedenen Gebaren der Angehörigen einer Klasse die für ihr Handeln bestimmenden Gesichtspunkte sehr viel einheitlicher zu sein pflegen, als der oberflächliche Betrachter wahrnimmt, sind auch die wirklichen Verschiedenheiten nicht als unmittelbar natürliche anzusehen. Die charakterlichen Differenzen gehen, wie wir heute wissen, nicht bloß auf die bewußte Erziehung, sondern mehr noch auf Erlebnisse in der Kindheit zurück. Sowohl das Inventar dieser Erlebnisse als auch ihre verschiedenen Ursachen sind durch die Eigentümlichkeiten der Familie wie sie sich in den verschiedenen Gesellschaftsklassen im Lauf der Geschichte herausgebildet haben, ebenso wie durch das besondere Schicksal seiner Familie für den einzelnen mitbestimmt. Jede Persönlichkeit hat ihre Natur, aber diese Natur ist weit über das gegenwärtig wissenschaftlich faßbare Maß hinaus gesellschaftlich bedingte Natur.

Aus dieser materialistischen Auffassung des Individuums geht nicht nur seine kritische Haltung gegenüber der Hypostasierung des analytischen, ja auch des dialektischen Denkens hervor, sondern sie bildet auch den Ausgang für seine Stellung zum Individualismus, dem zweiten großen Wurf, der heute den rationalistischen Strömungen der Philosophie entgegengehalten wird. Wenn die Handlungen und mehr noch das Glück jedes einzelnen immer Funktionen der Gesellschaft gewesen sind, so war doch in manchen Zeitabschnitten, vor allem in den kapitalistischen Aufschwungsperioden, das - freilich gesellschaftlich bedingte - Individuum in großen sozialen Schichten imstande, durch seine besonderen Überlegungen, Entschlüsse und Unternehmungen seine Lage weitgehend zu verbessern. Heute ist aufgrund der ökonomischen Verhältnisse das Leben der Menschen auch in den höchstentwickelten Ländern mit verschwindend wenig Ausnahmen durch Faktoren beherrscht, welche ihrem Willen überhaupt nicht unterworfen sind, verhalten sich zu den großen gesellschaftlichen Ereignissen wie zu den Wirtschaftskrisen und den eng mit ihnen verknüpften Kriegen so ohnmächtig, daß vorübergehende Erfolge eines einzelnen oder gar ein ganzes erfolgreiches Dasein, soweit der Entschlußkräftige nicht zu dem kleinen Kreis der ökonomisch mächtigsten Herren oder ihrer nächsten Diener gehört, wie ein Versehen anmuten, wie eine der kleinen Ungenauigkeiten in der Apparatur, die nie ganz zu beheben sind. Wenn daher der Materialismus in früheren Phasen mit Recht die Menschen zur Besorgung ihres individuellen Wohles ermutigte, so enthält er gegenwärtig den klaren Einblick in die fast vollständige Aussichtsslosigkeit dieses Tuns. Die Aufmerksamkeit auf das persönliche Schicksal ist weitgehend in eine Teilnahme an den gesellschaftlichen Kämpfen umgeschlagen. Dies darf nicht mechanistisch mißverstanden werden. Wer im Sinn der materialistischen Theorie an den gesellschaftlichen Aufgaben arbeitet, will nicht etwa aufgrund abstrakter Überlegungen mittels der gesellschaftlichen Veränderung sein eigenes Wohl betreiben. Dies wäre in der Tat selbst ein höchst einseitiges Denken, das sich schon wegen der Zeiträume der gesellschaftlichen Veränderung notwendig als eitel erweisen müßte. Der Übergang vom individualistischen Denken zur Erkenntnis der gesellschaftlichen Situation ist weniger dadurch gekennzeichnet, daß ein einzelnes Subjekt seine Ansichten revidiert, als dadurch, daß die richtige Theorie von sozialen Schichten, die durch ihre Stellung im Produktionsprozeß besonders dazu vorbereitet sind, ergriffen wird. Große Massen verdrängen lange Zeit hindurch die Erkenntnis der Aussichtslosigkeit individualistischen Strebens in der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung, auch wenn sie ihnen praktisch und theoretisch noch so deutlich offenbart wird. Aufgrand der Erziehungsbedingungen, wie sie in den meisten gesellschaftlichen Gruppen herrschen, werden immer aufs Neue psychische Mechanismen reproduziert, kraft deren dieses Wissen als unerträglich empfunden und entsprechend verarbeitet wird. Die vom Standpunkt der Eigeninteressen des Individuums schmerzliche Erkenntnis wird nur dort ertragen, wo die individualistischen Werte sowohl im Sinn eines persönlichen guten Lebens wie eines individuellen Aufstiegs nicht mehr als die höchsten gefühlt werden. Der Typus  Mensch,  bei dem das klare Wissen über die gegenwärtige Lage der Gesellschaft wirklich Macht gewinnt, verändert den Sinn, den dieses Wissen in der skeptischen Reflexion des enttäuschten bürgerlichen Individuums besaß. Die Erkenntnis bildet in diesem Typus eine vorwärtstreibende Kraft. Sie weist alle, welche durch die Aufrechterhaltung der veralteten Formen des gesellschaftlichen Lebens zu einer aussichtslosen Existenz verurteilt sind, auf ein bloß solidarisch zu erreichendes Ziel: die Veränderung dieser Gesellschaft in eine den Bedürfnissen der Allgemeinheit angemessene Form. In der Solidarität ist das Selbstinteresse nicht einfach verneint, denn es bildet als Wissen von der Aussichtslosigkeit des individuellen Strebens in der bestehenden Welt einen fortwährenden Antrieb zur Aktivität. Aber es verliert die Gestalt, die im bürgerlichen Zeitalter ihm eigentümlich war, nämlich seinen Gegensatz zum Interesse der Allgemeinheit.

Im irrationalistischen Begriff der "Zersetzung" verbindet sich die Anklage, das Denken zerstöre seinen Gegenstand, mit dem Vorwurf seiner individualistischen Tendenz. Dieser Begriff zielt nicht bloß auf die Haltung eines Menschen, der, unfähig sich an die großen Gehalte des Lebens hinzugeben, aus Schwäche und Ressentiment die für andere begeisternden Erlebnisse begrifflich zerpflückt, sondern er will auch besagen, die Entwertung alles Großen durch die Analyse geschieht im Dienst des bloß auf Selbsterhaltung bedachten, gegen die Gesamtheit gleichgültigen Individuums. Rationalistische Kritik wird nicht nur angegriffen, weil sie religiöse, metaphysische oder sonstige ideologische Lehren dem Denken und damit der Gefahr eines berechtigten Zerfalls aussetzt, sondern auch weil sie Normen und Werte an individualistischen Zwecken mißt. In der Tat war bereits der cartesianische Rationalismus insofern individualistisch, als er den Widerspruch von Urteilen gegen die in jedem Individuum der Anlage nach vorhandene Vernunft als Kriterium der Falschheit ansah. Das Maß für Normen und Theorien wurde zunehmend das als absolut gesetzte Individuum, und mit dem monadischen Ich wurden seine jeweiligen Zwecke hypostasiert. Entgegen dem Satz von der Gleichheit der Menschen, den das Bürgertum nach Übernahme der Macht aus einer Forderung in eine Behauptung umgedeutet hat, ist aber der Mensch ein historisch bestimmter. Die gesellschaftlich bedingten Unterschiede sind groß genug. Und ähnlich wie im heutigen Irrationalismus diese Unterschiede als naturgesetzt und gottgegeben eine Verklärung finden wie zur Zeit der Sklavenwirtschaft, sind sie in der liberalistischen Periode dogmatisch abgeleugnet worden. Das ausschließlich auf ökonomischen Vorteil gerichtete Individuum erschien als Prototyp des Menschen. Ratio war seine  ratio,  Zweckmäßigkeit die Übereinstimmung mit seinen Zwecken und am Ende die Übereinstimmung mit den Zwecken des einer eigenen Dynamik folgenden geschäftlichen Unternehmens. Der Grund dieser Entwicklung lag im Prinzip der freien Warenwirtschaft, derselben, die nach einer ungeheuren Förderung des ganzen gesellschaftlichen Lebens heute zur Fessel wird. Das Gesetz des ökonomischen Nutzens beherrscht in ihr als natürliches Gesetz die psychischen Reaktionen der Menschen. Der Irrationalismus verwirft die Denkart, die diesem Gesetz entspricht. Er bekämpft das Selbstinteresse, wie er auch den Verstand bekämpft.

Die rationalistische Scheidung des Menschen in die zwei selbständigen Hälften von Körper und Geist hatte das gesamte unbewußte und halbbewußte seelische Geschehen der wissenschaftlichen Theorie entzogen. Von wenigen Ausnahmen in der französischen Psychologie (vor allem bei LAROCHE FOUCAULD und VAUVENARGUES) und in der deutschen Philosophie (vor allem in den theoretischen Schriften GOETHEs und der Romantik) abgesehen, hatte der eigentlich seelische Teil des menschlichen Lebens fast ausschließlich in der schönen Literatur Beachtung gefunden. Die nicht individualistischen Regungen entgingen damit der Aufmerksamkeit des Rationalisms; seine Psychologie wurde zur Theorie des "self-interest". Daß der moderne Irrationalismus diesen Mangel angriff, ist sein Verdienst. Während aber die FREUD'sche Theorie, die ihrer Struktur nach der liberalistischen Periode angehört, zumindest in den Jahrzehnten ihrer Ausbildung den Menschen als Produkt einer Auseinandersetzung zwischen Bewußtem und Unbewußtem, einer unter dem Zwang der gesellschaftlichen Umwelt sich abspielenden Dialektik zwischen Ich und Es verstand, begann der Irrationalismus das Unbewußte zu vergötzen. Er greift dogmatisch einzelne theoretisch völlig unerhellte Faktoren wie etwa den unbewußten Einfluß historischer Verbundenheit, wie Rasse und Landschaft heraus, und setzt sie unmittelbar an die Stelle des vernünftigen Denkens der einzelnen, das er in Verruf bringt. Aber es ist ein ebenso großer Fehler, die Bedingtheit des Denkens, das durch die gesamte Lebenssituation, wie freilich auch durch den Gegenstand, geleitet wird, auf einzelne als ewig gedachte Faktoren zu reduzieren, wie diese Bedingtheit nach rationalistischer Manier zu leugnen.

Die Bloßstellung der rein egoistischen Reflexion, des "Eigennutzes" enthält wie die des analytischen Denkens einen richtigen Inhalt in falscher Form. Das nur auf individuelle Werte gerichtete Handeln ist gegenwärtig für den überwiegend großen Teil der Menschheit eitel. Die Zentrierung aller Sorgen um bloße Lebenserhaltung, die möglichst geschickte Anpassung des eigenen Lebens an die vorhandenen Bedingungen, das fortwährende Messen aller Ereignisse am eigenen und der Seinen Wohl bildete in einem entschwundenen ökonomischen Zustand die angemessene Reaktionsform aufgeklärter Individuen. Soweit das Denken heute noch ausschließlich diesen Charakter trägt, ist es in der Tat nicht rational, sondern rationalistisch. Aber wenn es wahr ist, daß das Individuum von der Gesamtgesellschaft abhängt und heute die Aufmerksamkeit auf das Ganze vor der blinden Besorgung der eigenen Interessen zu stehen hat, so liegt der Grund für diese Wahrheit darin, daß die Gesellschaft in ihrer gegenwärtigen Gestalt in Widerspruch steht zu den Selbstinteressen der meisten Menschen. Nicht die Unterdrückung der Interessen, sondern die Überwindung des Widerspruchs ist die Aufgabe, die nach der materialistischen Theorie nur durch eine bestimmte Veränderung der Produktionsverhältnisse, der Grundlage des gesamten Gesellschaftsbaus, zu lösen ist. Der Irrationalismus leugnet dagegen das Recht der individuellen Selbsterhaltung und sieht im Ganzen unmittelbar den Sinn und das Ziel aller menschlichen Tätigkeit, so, als ob das Interesse am Ganzen nicht durch das der Individuen an sich selbst und ihresgleichen, sondern durch die bedingungsloe Unterwerfung vermittelt wäre. Ähnlich wie er das Bild lebendiger Prozesse nicht durch eine gedankliche Rekonstruktion aus den Ergebnisse der Analyse, sondern durch unmittelbares Erleben gewinnen will, soll die Teilnahme am sozialen und politischen Geschehen nicht im Hinblick auf die wirklichen Bedürfnisse der Menschen, sondern durch eine unkontrollierte Hingabe des Einzelnen an das Ganze, wie es gerade besteht, erfolgen. Durch beides macht er sich zum Diener der jeweils herrschenden Gewalt. Die Feindschaft gegen das Denken schützt, wie oben dargelegt, einzig die Unwahrheit, nämlich die falschen Glaubensinhalte der Metaphysik und Religion. Die Hingabe an das Ganze, der "Gemeinnutz" ist auch der schlechten Herrschaft ein willkommenes Prinzip. Es ist ebenso dogmatisch wie der Eigennutz, solange das Ganze nicht am Glück der Menschen sein dauerndes Korrektiv hat. Ohne die Erfüllung der HEGELschen Bestimmung, "daß der Zweck des Staates das allgemeine Interesse als solches und darin als ihrer Substanz die Erhaltung der besonderen Interessen" ist (37), bliebe die Forderung der völligen Hingabe an seine Belange bloßer Dogmatismus.

Unter dem Gesichtspunkt der Weltgeschichte mag freilich der auf weite zurückgebliebene Schichten in Stadt und Land ausgeübte Zwang, die eigenen engen Interessen unterdrücken zu lernen, eine Kur sein, die auch unter anderen Verhältnissen unumgänglich wäre. Ihrer veralteten Produktionsweise entspricht eine geistige Haltung, von der aus keine rationale, sondern bloß eine durch Autorität vermittelte Angleichung an den gegenwärtigen Erkenntnisstand möglich ist. Die Forderung des Verzichts auf die eigenen Interessen, der Aufruf zu Disziplin und Heroismus, das Loblied auf die Armut wird jedoch vornehmlich an die fortschrittlichen Gruppen der Gesellschaft gerichtet, die weit mehr das allgemeine Interesse "zu ihrer Substanz" haben, als es beim jeweiligen Ganzen der Fall zu sein pflegt, in dessen Namen jene Forderung erhoben wird. Daher fällt der Irrationalismus mit seiner ansich richtigen Kritik gegen den Individualismus ebenso hinter den Liberalismus zurück wie mit seinem Angriff auf das Denken. Er ist eine "Gegenbewegung". In der Kritik, in der Zerstörung, die als Prinzip ihm selbst verhaßt ist, bleibt er erfolgreich, im "Aufbau", den er als Prinzip bejaht, in der Eroberung neuer Lebensgebiete vermag er nur etwas zu leisten, sofern die ihm entgegengesetzten Elemente zwangsläufig in ihm selbst zur Wirkung kommen: mit Hilfe des Denkens und des Motors der besonderen Interessen.

Das bloße Selbsterhaltungsstreben, die rein egoistische Zielsetzung, neben der andere Triebregungen verkümmern, kennzeichnet heute in der Tat ein armseliges Leben. Wird diese Einsicht aus einer theoretischen Reflexion zum Herrschaftsprinzip gemacht, so gewinnt sie freilich eine besondere ideologische Funktion. Der philosophische Irrationalismus NIETZSCHEs und BERGSONs hatte die herrschenden Schichten selbst gegen ihre wirtschaftlich bedingte innere Verarmung aufgerufen, indem er sie an ihre eigenen Möglichkeiten, an die Möglichkeiten des "Lebens" erinnerte. Bedienen sich die Herrschenden des gleichen Aufrufs gegenüber der Gesamtheit, ohne dabei jeweils eine rationale, an das Selbstinteresse der Individuen anknüpfende Begründung zu geben, so wird er zur bequemen Zumutung, das entbehrungsreiche Dasein, das sie unter den gegebenen Verhältnissen zu führen hat, geduldig zu ertragen. Er bedeutet den Verzicht auf Rechenschaft. Wenn vernünftiges Denken auch keineswegs auf das Messen an egoistischen Zwecken einzuengen ist, wie die extrem-liberalistische Ideologie es will, so kann doch jede vernünftige Begründung einer Handlung sich in letzter Linie nur auf das Glück von Menschen beziehen; eine Regierung, welche sich des Nachweises, daß ihre Akte diesen Sinn für die Regierten haben, entschlagen würde, wäre eine bloße Despotie. Die Despotie braucht nicht notwendig schlecht oder auch nur rückschrittlich zu sein: die Staatstheorien, welche die Formen der Regierung unter Vernachlässigung ihres Inhalts behandeln und der Vertretung der Interessen mehr Aufmerksamkeit als ihrer Erfüllung widmen, haben ihre große Zeit längst hinter sich. Es gibt eine aufgeklärte, ja revolutionäre Despotie. Über ihren Charakter entscheidet ihr Verhältnis zu den wirklichen Interessen der beherrschten Menschen. Wenn es auch keine unbedingten Maßstab gibt, nach dem dieses in den verschiedenen Perioden zu beurteilen wäre - schon deshalb nicht, weil die Härte und Ungerechtigkeit der Despotie nicht allein aus ihr selbst, sondern auch aus dem allgemeinen Entwicklungsgrad der von ihr beherrschten Massen zu erklären ist -, so bestimmt sich in der ganzen neueren Zeit doch ihre soziale Funktion, ihre fortschrittliche oder reaktionäre Bedeutung, dadurch, wie weit ihre Ausübung den Interessen der Allgemeinheit oder denen einer privilegierten Partikularität entspricht. Selbst wenn man auch die grausamsten Perioden der Menschheit nur teleologisch, also im Hinblick auf ihre Höherentwicklung, auf die Heranzüchtung des Menschen dazu, daß er "ein paar primitive Erfordernisse des sozialen Zusammenlebens" (38) im Gedächtnis behält, betrachtet, ist das Ziel dieser Entwicklung nur durch bestimmte menschliche Interessen definiert. In der Gegenwart beherrscht der Widerspruch zwischen den Lebensinteressen der Menschen und der Aufrechterhaltung der diesen Interessen zuwiderlaufenden Lebensformen die gesamten geschichtlichen Ereignisse. Der Irrationalismus, der die individuellen Interessen bei den Massen durch die Forderung des gedankenlosen Gehorsams und des blinden Opfers verneint, anstatt sie durch Reflexion auf die Grundlagen des Gesellschaftsprozesses in ihrer Struktur zu verändern und über das bloße Trachten nach einem Vorteil hinauszuheben, dient heute unbewußt den keineswegs verneinten, besonderen Interessen der Herrschenden, die vom Bestehenden in seiner alten Gestalt auch weiterhin einen Vorteil haben.

Der logische Irrtum liegt dabei in der undialektischen Verwendung der der Begriffe  Ganzes  und  Teil.  Es wird zwar im Gegensatz zur positivistischen Methodologie des Liberalismus richtig gesehen, daß das Ganze nicht bloß mehr, sondern überhaupt etwas Anderes ist als die Summe seiner Teile, besser gesagt, daß die Summe ein Grenzfall von Ganzheiten ist. Diese Einsicht lag bereits in der irrationalistischen Kritik des abstrakten Denkens. Sie drückt in der ausschließlichen Betonung der Selbständigkeit des Ganzen "nur die Tautologie aus, daß das Ganze als Ganzes nicht den Teilen, sondern dem Ganzen gleich ist." (39) Von hier aus erscheint das Verhältnis zwischen Ganzem und Teil einseitig so, daß der Teil im Ganzen bloß durch dieses allein und gar nicht durch sich selbst bestimmt ist. Die einfache Wahrheit, daß das Ganze ohne die Teile nichts ist, eben diejenige, die von der positivistischen Wissenschaftstheorie ihrerseits einseitig festgehalten wurde, spielt in der irrationalistischen Ganzheitslehre eine untergeordnete Rolle. Es gilt aber zu begreifen, daß die Dynamik jedes Ganzen je nach seiner Eigenart ebenso durch seine Elemente wie durch die ihm eigentümliche Struktur bestimmt wird, und in der menschlichen Geschichte geht es sogar darum, daß auch noch die Struktur des Ganzen, die Formen des gesellschaftlichen Lebens unter die Kontrolle der Elemente, nämlich der in ihnen lebenden Menschen gelangen.

In der liberalistischen und gewiß auch in der ihr nachfolgenden Periode sind die Gesellschaft und alle ihre Einrichtungen, das gesamte kulturelle Leben, bloß scheinbar von den Menschen beherrscht worden; sie bildeten sich ein, die wichtigen Entscheidungen, sei es in ihren geschäftlichen Unternehmungen, sei es in den Parlamenten, sei es auch in der Person ihrer politischen Führer selbst zu treffen, während doch gerade diejenige Sphäre, welche in letzter Linie den allgemeinen Gang der Geschichte bestimmt, nämlich die ökonomische, sich jeder vernünftigen Regelung entzog. Die aus ihr sich ergebenden Notwendigkeiten, die Lebensfragen der Menschheit im eigentlichen Sinn, wirken daher blind, d. h. unter einer unnötigen Entwicklung von sozialer Not, Kriegen und Rückfällen in barbarische Zustände der Gesellschaft. Weil der Produktionsprozeß der Menschheit trotz aller Monopole der eigentlichen Organisation und Kontrolle ermangelt, ja, weil die neuzeitlichen Monopole als isolierte Organisationsversuche die allgemeine Desorganisation noch vermehren, entzieht sich auch das Ganze des gesellschaftlichen Lebens, das in letzter Linie von den ökonomischen Faktoren abhängt, dem menschlichen Willen. Es tritt den Individuen als ihnen fremde Schicksalsmacht, als Natur gegenüber. Genau soweit aber wie die Bestimmung bewußter Wesen durch blinde Natur, die Begrenzung des Reichs der Freiheit durch das der Notwendigkeit reicht, soweit herrschen der Zufall und der Tod über das Leben. Deshalb kommt es darauf an, daß das gesellschaftliche Ganze nicht bloß scheinbar, sondern wirklich unter die Kontrolle seiner Teile kommt. Diese selbst werden trotz der Kontrolle andererseits auch weiterhin in bestimmtem Maß vom Ganzen beherrscht, weil das von ihnen Geschaffene auf sie selbst wieder zurückwirken muß. Dies versteht sich von selbst: es ist ein Satz, der allgemein für lebendige Prozesse gilt.

Der undynamische Gebrauch der Begriffe von Ganzem und Teil liegt der irrationalistischen Lehre vom Individuum und der Gemeinschaft zugrunde. Er spielt gegenwärtig besonders in der von OTHMAR SPANN ausgehenden universalistischen Philosophie eine Rolle. Hauptsächlich zwei methodische Fehler beherrschen heute das Reden über Individuum und Gemeinschaft. Erstens wird bei der einseitigen Festlegung des Verhältnisses die besondere Natur des jeweils zu untersuchenden Prozesses, in welchem Ganzheit und elementare Faktoren sich je in verschiedener Weise bestimmen, mangelhaft berücksichtigt. Dies kommt in Folgerungen zum Ausdruck, die in ihrer metaphysischen Primitivität kaum zu überbieten, aber dafür leicht eingänglich sind. Da wird zum Beispiel vom Satz: "Das Ganze ist früher als der Teil" (40) behauptet, damit sei kein Ursachenverhältnis gesetzt, es handle sich nur um die logische Priorität; die ursächliche Betrachtungsweise habe "in der Gesellschaft gar keinen Platz". (41) Es zeigt sich jedoch rasch, daß dieser Angabe bloß eine terminologische und gar keine sachliche Bedeutung beigemessen wird, denn jener in der reinen Logik freilich sinnlose Satz wird unbekümmert auf genetische Probleme der Wirklichkeit bezogen. Seine Übertragung auf gesellschaftliche Fragen geschieht ganz mechanisch:
    "Ist die Tatsache, daß geistige Gemeinschaft oder Ganzheit Grund und Wesen aller gesellschaftlichen Erscheinungen ausmacht, einmal anerkannt, dann ergibt sich von selbst, daß die erstwesentliche Wirklichkeit in der Gesellschaft liegt und der Einzelne erst das in ihr abgeleitet (weil gliedhaft) Entstehende ist. Der Einzelne ergibt sich jetzt nicht als selbstwüchsig (autark), sondern als Glied, die Gesellschaft nicht als Haufen, sondern als Ganzheit, die sich ausgliedert." (42) "So ergeben sich zwei Merkmale: a) das Ganze, die Gesellschaft, ist die eigentliche Wirklichkeit, und b) das Ganze ist das Primäre (begrifflich Erste), der Einzelne ist gleichsam nur als Bestandteil, als Glied desselben wirklich vorhanden, er ist daer das Abgeleitete." (43)
Die meisten der gegenwärtigen philosophischen und soziologischen Ausführungen über Individuum und Gemeinschaft pflegen auf keiner strengeren Betrachtungsweise zu beruhen. Sie sind ihren individualistischen Gegnern, welche die umgekehrte These, also die logische und ontologische Priorität der Teile über das Ganze behaupten, keineswegs überlegen; ja diese sind insofern der Wahrheit noch näher, als für die mechanischen Naturwissenschaften, oberflächlich gesehen, ihre Lehre zutrifft und in der Soziologie die Individuen zumindest in dem oben dargelegten Sinn der zu erstrebenden Kontrolle einen Vorrang haben. Beide Parteien sehen nicht, daß die ausschließliche Betonung einer Seite des Verhältnisses "eine hohle Abstraktion" ist; sie verfallen beide in pure Metaphysik.

Die heutige Diskussion über das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft ist aber noch mit einem zweiten Irrtum behaftet. Das Problem pflegt nämlich nicht in einem bewußten Zusammenhang mit den realen Bedürfnissen bestimmter Menschengruppen, also nicht im Zuge der geschichtlichen Praxis gestellt zu werden, sondern so, als ob die handelnden Menschen sich immer und ewig in gleicher Weise nach der allgemeingültigen Antwort auf das philosophische Problem von Ganzem und Teilen, von Individuum und Gemeinschaft zu richten hätten. Statt als ein Moment bei der Bewältigung ihrer Aufgaben, das freilich eine eigene Wirkung ausübt, wird die philosophische Auskunft als ewige Norm genommen, die dem Handeln Sinn und Ziel geben soll. Der Philosoph glaubt, die Ziele der Menschen zu bestimmen, und verfällt, eben weil er sich über die Verflechtung des Denkens mit den realen Bedürfnissen und mit den wirklichen Kämpfen der Menschen nicht im Klaren ist, leicht in eine blinde Abhängigkeit von den jeweils herschenden Mächten. Die Ergründung des Verhältnisses von Ganzem und Teil auf dem abstrakten Gebiet der Logik oder eine prinzipielle Betrachtung über Individuum und Gemeinschaft vermögen unter Umständen auch für die Theorie, welche im Kampf um eine Verbesserung der gegenwärtigen Gemeinschaft steht, eine untergeordnete Verwendung zu finden; aber feste Normen aus solchen Betrachtungen können nur außerwissenschaftliche Dienste leisten. Der Rückgriff auf solche entfernten und als ewig gedachten Probleme, ebenso wie das Zurückgehen auf das vorgeblich ursprüngliche Wesen des Menschen haben insofern ideologische Funktion, als sie im Hinblick auf eine Leistung unternommen werden, zu der sie prinzipiell untauglich sind: auf die Gewinnung oder Rechtfertigung eines bestimmten von den Menschen geforderten Verhaltens, das in der passiven Unterordnung besteht. Der Gedanke, daß Ontologie, Anthropologie, Folklore oder Psychologie bloße Abzüge aus dem Gewesenen und nicht Vorbilder für die Zukunft sind, pflegt dabei gar nicht vorzukommen. Ja nicht allein die Vorgeschichte des Menschen, sondern sogar die außermenschliche Natur soll als Muster dienen. Wollte ein Kind bei einer Unart auf seine "Natur" oder ein kleiner Gauner auf das Machtstreben als menschlichen Urtrieb verweisen, würde man ihnen gewiß bedeuten, der Mensch müsse damit fertig werden. Den Völkern aber tischen die Philosophen als Begründung für den unwürdigen Zustand der Welt heute die abgeschmacktesten Vergleiche aus der Pflanzen-, Rassen- und Entwicklungslehre auf. Solche Erwägungen aus fernabliegenden Gebieten des Wissens und mehr noch des Unwissens können die menschlichen Zielsetzungen bloß verwirren. Diese hängen gewiß in vielfacher Weise vom jeweiligen Stand der wissenschaftliche Erkenntnis ab. MAX WEBERs radikale Trennung von Zielsetzung und Wisenschaft ist nicht zu halten. Aber selbst eine fortgeschrittene Wissenschaft, geschweige denn die gegenwärtige philosophierende (44) Biologie, vermag die Ziele nicht etwa vorzuschreiben, aus sich allein heraus zu begründen oder zu rechtfertigen. Beim Kampf um eine bessere Ordnung spielt die Verfeinerung der Theorie vielmehr als kritisches, korrektive, weitertreibendes und stärkendes Element eine wichtige Rolle. Wenn man gegenwärtig Wissenschaft und Philosophie um den abstrakten Nachweis bemüht, daß die Gemeinschaft immer alles und das Individuum, mit Ausnahme einiger Heroen, immer nicht sei, so haben diese Anstrengungen mit der fortschrittlichen Funktion der Wissenschaft nichts zu tun. Sie gehören in die Geschichte der ideologischen Beherrschungsmethoden und nicht in die der menschlichen Erkenntnis.

Der Irrationalismus überwindet das bloß individualistische Denken nicht mit Hilfe der Einsicht, daß der weitaus größte Teil der Menschheit ein gemeinsames Interesse an einer vernünftigen Organisation der Gesellschaft hat, sondern er fordert den Verzicht auf das individuelle Glück zugunsten metaphysischer Wesenheiten. Die Erkenntnis der Ursachen des Massenelends, das in der gegenwärtigen Not und weiter in der Perspektive auf einen qualvollen Untergang in den mit diesem System verknüpften Kriegen besteht, vermöchte die Menschheit nicht bloß bewußtseinsmäßig, sondern auch in ihrem ganzen psychischen Wesen zu verändern. Die bloße Sorge um das persönliche Vorwärtskommen, die ausschließliche Richtung auf den ökonomischen Vorteil wie das zwanghafte Reagieren auf "rationale" Gründe hat sich im Laufe des bürgerlichen Zeitaltes freilich verselbständigt und die Menschen jener Schichten, die im gegenwärtigen System noch Chancen zu haben glauben, zu Automaten der individuellen Selbsterhaltung herabgedrückt. Indem angesichts der Unmöglichkeit, die individualistischen Instinkte angemessen zu befriedigen, das reale Individuum als Lebenssinn verneint und an seiner Stelle die gerade gegebene Gemeinschaft als das wahre Selbst von oben her bezeichnet wird, richten diese Individuen ihre unbefriedigten sozialen Aufstiegswünsche zum Teil auf die kollektive Einheit, der sie jeweils angehören, und statten in ihren Gedanken und Gefühlen den Staat unmittelbar mit jenen individualistischen Werten aus, welche die liberalistische Epoche dem Einzelnen als Ideale anerzogen hat. Sie befriedigen ihre eigenen Wünsche nach sozialer Geltung in repräsentativen Individuen. Das individualistische Denken ist dabei in Wahrheit gar nicht überwunden, sondern übertragen worden. Entsprechend gelten auch rationalistische Erwägungen, die beim Einzelnen ausgeschaltet werden sollen, in der großen Politik als höchst legitim. In Bezug auf den Staat kann das Denken gar nicht egoistisch genug sein. Der vernünftige Begriff der Gemeinschaft beruth dagegen auf der Erkenntnis gemeinsamer Lebensinteressen. Diese verbinden jene beherrschten Gruppen, die infolge des gegenwärtigen, vom Irrationalismus begünstigten, ja der Intention nach verewigten Gesellschaftszustands sich im Frieden untereinander gegenseitig schädigen und im Krieg vernichten müssen. Der scheinbare, ja teilweise wirklich bestehende Interessengegensatz der in Nationen aufgespaltenen Menschheit, an den die irrationalistische Philosophie und Weltanschauung in ihrem Aufruf zur Unterordnung des Individuums unter das ihm zugeordnete Ganze mit einer Spur von vernünftiger Begründung anzuknüpfen vermag, ergibt sich aus der schlechtgewordenen Organisation und Einteilung der Welt. Sie hat einmal eine Förderung des Lebens bedeutet; ihre Aufrechterhaltung liegt heute nur noch im Interesse eines verschwindend kleinen Teils der Menschheit, die ihn bei Gefahr des Untergangs verändern muß.

Indem der Irrationalismus den ökonomisch bedingten Triebverzicht weltanschaulich verherrlicht, trägt er dazu bei, die Menschen mit ihm auszusöhnen. Er erleichtert die Anpassung der Massen an ihre gegenwärtige Situation und stellt durch die psychische Befriedigung, die er gewährt, Kräfte, die ihr sonst notwendig entzogen blieben, in den Dienst der herrschenden Politik. Es ist ein wichtiger sozialpsychologischer Satz, daß die unmittelbare Stillung physischer Bedürfnisse zumindest teilweise und eine Zeit lang durch andersartige Befriedigungen der Massen vertreten werden kann. Die seelische Haltung, die aufgrund der Anpassung an die schlechten Existenzbedingungen mit Hilfe des gegenwärtigen Irrationalismus überall entsteht, ist eine bestimmte Art der Opferwilligkeit. In dieser asketischen Haltung sind die Menschen ebenso an individualistische Werte fixiert wie beim rücksichtslosesten Egoismus - nur daß diese Werte positiv auf das Ganze übertragen sind und beim Individuum selbst mit umgekehrtem Vorzeichen auftreten: anstelle der persönlichen Macht steht nun der Gehorsam, anstelle des Reichtums die Armut, anstelle der Libertinage die Keuschheit.

In einem Leben, das die bürgerlichen Existenzformen in einem fortschrittlichen Sinn transzendiert, werden die individualistischen Werte weder bekämpft noch unterdrückt, sondern treten hinter die für die Gesamtgesellschaft entscheidenden Zielsetzungen zurück. Die Moral des Opfers und der Selbstverleugnung ergibt sich dagegen aus der Anpassung egoistischer Existenzen an eine Lage, welche die adäquate Triebbefriedigung unmöglich macht. Weil die Individuen dabei ihre Triebe nur gleichsam dem Vorzeichen nach verändern und auch bei dieser Transformation zumindest ein Teil der egoistischen Triebmasse in der ursprünglichen Form erhalten bleibt, so pflegt im Herzen dieser Opferwilligen neben der Askese gewöhnlich ein Stück wilden Eigennutzes, Ehrgeizes und sozialen Machtstrebens zu wohnen und sich überall dort zu äußern, wo ihm die Wirklichkeit einen kleinen Spielraum läßt. Der Umstand, daß der Verzicht bewußt um der bestehenden Gemeinschaft willen geübt wird, bedeutet ja keineswegs, daß die Liebesfähigkeit im Charakter dieser Menschen die Selbsterhaltungstriebe überwiegt; in einem solchen Fall würde der Gedanke an das Opfer bestimmt keine so hervorragende Rolle in ihren Anschauungen spielen, und ihr Weltgefühl hätte keineswegs den "tragischen" Anstrich, auf den die Literatur heute so viel Wert legt. Der Begriff der Gemeinschaft, um den es sich hier handelt, beruth auch nicht auf der Erkenntnis des gleichen Ursprungs eigenen und fremden Elends: in diesem Fall gälte vorerst nur das Elend als gemeinsam, und die Gemeinschaft als Kennzeichen des gesellschaftlichen Lebens erschiene nicht als wirklich, sondern erst als etwas, das zu verwirklichen aufgegeben ist. Die Gemeinschaft, auf die sich das Opfer bezieht, wird vielmehr von oben als schlechthin zu verehrende Wesenheit gesetzt. Sie kann scheinbar als etwas Bestehendes verkündet werden, weil ihre Realisierung nicht bloß von der Erfüllung materieller Forderungen unterschieden wird, sondern gar nicht mit ihnen zusammenhängen soll. Sie ist ein Symbol, mittels dessen sich die Umkehr der individualistischen Triebe, die Aussöhnung mit der gegebenen Realität vollzieht. Seelische Kräfte, die sich sonst auf seine Veränderung hätten richten können, wirken jetzt im Sinne der Erhaltung des den meisten individuellen Interessen zuwiderlaufenden Systems. Insofern auch dieses, freilich in immer zufälligerer Weise und unter furchtbaren Reibungsverlusten, das Leben der Gesellschaft erhält und erneuert, entbehrt die Hingabe an das Bestehende, das Handeln für diese schlechte Wirklichkeit nicht völlig des positiven, rationalen Sinns, wie umgekehrt der Kampf um ihre Veränderung manche Kräfte, auf deren Entfesselung er abzielt, zunächst lähmen muß. Jede Tätigkeit in dieser widerspruchsvollen Realität trägt selbst widerspruchsvollen Charakter. Der Verzicht auf die individuellen Interessen und ihre Übertragung auf das Symbol der Gemeinschaft mag somit nicht bloß für die ökonomisch Mächtigsten, sonden auf bestimmte Dauer auch für andere Schichten, ja selbst für die Mehrheit eines der bestehenden Machtgebilde relativ nützlich und vernünftig sein. Von der umgreifenderen Theorie aus erscheint jedoch diese Vernunft in ihrer Beschränktheit: der kleine Nutzen, den die Menschen innerhalb einer der rivalisierenden Machtgruppen in ihrer gegenwärtigen Gestalt auf Kosten einer anderen gewinnen können, indem sie ihren Anspruch auf Glück, ja das eigene Leben in die Waagschale werfen, wird nicht bloß mit diesem Ersatz, sondern mit einer Verlängerung und Verschlimmerung des sinnlosen Elends, mit der Ungerechtigkeit und Barbarie auf der ganzen Welt erkauft. Die Wirkungen dieses Zustands müssen schließlich auch auf jene, die ursprünglich den Vorteil hatten, oder auf die Ihrigen zurückschlagen. Das Bewußtsein dieser Sinnlosigkeit des Opfers für die Individuen, die es bringen, ist im Irrationalismus in der Tat vorhanden, ja es gehört zu seinem Wesen. So geschieht es, daß nach ihm die Opfer unserer Zeit "umso höher geschätzt werden müssen, als sie am Rande der Sinnlosigkeit dargebracht worden sind." (45)

Der psychologische Mechanismus, durch den die Vorzeichenänderung der Triebe erfolgt, ist in der Psychologie weitgehend erforscht. Durch die Begriffe  Ambivalenz  und  Reaktionsbildung  hat FREUD die grundlegenden Tatbestände des Seelenlebens bezeichnet, die dabei wesentlich wirksam sind (46). Die soziale Bedeutung der psychischen Fähigkeit, aus der Not eine Tugend zu machen, indem die Ohnmacht umgedeutet wird, hat aber vor allem NIETZSCHE gesehen. Das asketische Ideal ist nach ihm "ein Kunstgriff in der Erhaltung des Lebens" (47). Die psychischen Mittel, durch welche die depressiven Wirkungen des durch die ökonomischen Verhältnisse erzwungenen Verzichts bei der Unterklasse bekämpft werden, sind von ihm bis in die Einzelheiten studiert worden. Neben der "Hypnotisierung" nennt er zunächst die
    "machinale Tätigkeit und was zu ihr gehört - wie die absolute Regularität, der pünktliche bedingungslose Gehorsam, das Ein-für-alle-Mal der Lebensweise, die Ausfüllung der Zeit, eine gewisse Erlaubnis, ja eine Zucht zur Unpersönlichkeit, zum Sichselbst-Vergessen, zur incuria sui [Unbekümmertheit - wp]" (48). NIETZSCHEs Analyse bezieht sich unmittelbar freilich auf den Priester. Seine Technik hat er jedoch in einer Weise dargestellt, die für den neuesten Irrationalismus durchaus zutrifft:

    "Gerade wenn er mit Leidenden der niederen Stände, mit Arbeitssklaven oder Gefangenen zu tun hatte (oder mit Frauen. die ja meistens beides zugleich sind, Arbeitssklaven und Gefangene), so bedurfte es wenig mehr als einer kleinen Kunst des Namenwechselns und der Umtaufung, um sie in verhaßten Dingen weiterhin eine Wohltat, ein relatives Glück sehen zu machen: - die Unzufriedenheit des Sklaven mit seinem Los ist jedenfalls  nicht  von den Priestern erfunden worden. - Ein noch geschätzteres Mittel im Kampf mit der Depresseion ist die Ordinierung einer kleinen Freude, die leicht zugänglich ist und zur Regel gemacht werden kann; man bedient sich dieser Medikation häufig in Verbindung mit der eben besprochenen." (49)
Durch die gesellschaftliche Entwicklung seit NIETZSCHE ist freilich seine vor allem auf die Praxis des Christentums bezogene Untersuchung, die ohnedies nur bestimmte seiner historischen Funktionen begriff, in mancher Weise überholt. Die Religion, die in der neueren Zeit manche humanistische Züge angenommen hatte, paßt sich gegenwärtig dem veränderten Zustand der Wirklichkeit durch eine weitgehende Preisgabe dieser Züge an und hat sich der biologistischen Seite von NIETZSCHEs Philosophie stark genähert. Ferner wird sie bei ihrer Bekämpfung der Unzufriedenheit durch neue Erziehungsmächte in weitem Umfang ergänzt. NIETZSCHEs Analyse der "Umwertung" behält jedoch trotz ihrer Mängel auch für diese neuen gesellschaftlichen Funktionen ihre Bedeutung. An die Stelle religiöser Begriffe treten jetzt weitgehend symbolische Kategorien anderer Ordnung, oder sie gelten beide nebeneinander. Was in der Religion um Gottes Willen gefordert wurde, geschieht jetzt für das Ganze, für die Gemeinschaft. Das rechte Leben, das ehemals durch die Gnade bewirkt wurde, soll jetzt aus der vitalen Naturgebundenheit, aus den Mächten des Blutes und Bodens hervorgehen. Die gegenüber dem schwindenden Rationalisms richtige Ansicht, daß der Verstand nicht aus sich selbst schöpft und die intellektuellen Kräfte eine Äußerung der gesamtmenschlichen Verfassung sind, wird zu Unrecht hypostasiert, indem die Unterschiede dieser Verfassung bei Individuen und Völkern als unmittelbar durch die Natur gesetzt und nicht als Ergebnis einer gesellschaftliche und außergesellschaftliche Faktoren integrierenden Entwicklung begriffen werden. Die Natur wird dabei willkürlich mit Wert- und Unwertakzenten versehen, je nachdem gerade die der eigenen oder der gegnerischen Gruppe gemeint ist. Zuweilen wird sie mit Gott verwechselt oder doch vergottet.

Das materialistische Denken vermag auch zum Problem des Opfers keine ein für allemal gültige Ansicht aufzustellen, es ist nicht radikal wie die Metaphysik. Weil die geschichtlichen Tendenzen, mit denen es verknüpft ist, zwar durch die Bedrohung von Glück und Leben der Individuen mitbestimmt, aber nicht bloß auf die Selbsterhaltung des je eigenen Individuums gerichtet sind, so gilt ihm das Dasein keineswegs als der höchste und einzige Zweck. Eine Preisgabe der Existenz kann im Zuge der geschichtlichen Praxis unbestreitbar gefordert sein und die ausschließliche Sorge darum den Menschen völlig entwerten. Die Motive, aus denen heraus der Einzelne an dieser Praxis teilnimmt, gründen gewiß nicht allein im Intellekt, sondern entspringen dem Gesamtcharakter der handelnden Person; aber ohne die richtige Theorie der Gesamtgesellschaft bleibt das soziale Handeln, selbst wenn es in den technischen Einzelheiten noch so ausgeklügelt ist, dem bloßen Zufall preisgegeben, es dient bloß vermeintlich seinen eigenen Zielen, in Wahrheit aber einer ihm verschleierten Interessenkonstellantion. Die Theorie der Gesellschaft, nach der sich das vernünftige Handeln richtet, ist - wie oben dargelegt - keine bloße Summation abstrakter begrifflicher Elemente, sondern der Versuch, unter Zuhilfenahme aller Einzelwissenschaften ein Bild des gesellschaftlichen Lebensprozesses nachzuzeichnen, das zur tiefgreifenden Erkenntnis des kritischen Weltzustandes und der Ansatzmöglichkeiten für eine vernünftigere Ordnung verhelfen kann. Die Darstellung dieser Theorie setzt die Analyse voraus, und von ihr ist in der Tat für jenen dogmatischen Begriff von Gemeinschaft sehr viel zu befürchten. Nicht der Einsatz des Lebens als solcher, sondern sein Einsatz für widermenschliche Interessen, dasjenige Opfer, das das  sacrificium intellectus  oder zumindest einen Mangel an Intellekt voraussetzt, widerspricht dem Materialismus. Die Forderung, ganz auf der Höhe der jeweils erreichbaren Erkenntnis zu bleiben, ist für die fortschrittlichsten gesellschaftlichen Gruppen kein Rationalismus, sondern ergibt sich zwingend aus ihrer Lebenssituation. Die Erkenntnis für sich allein bedeutet ihnen freilich wenig. Diese gewinnt ebenso wie das Handeln, an dem sie teilhat, erst im Zusammenhang mit den Kämpfen um eine Vermenschlichung des Lebens Bedeutung. Losgelöst von aller Not und Hoffnung haben auch die wahren Gedanken der Menschen für sie selbst keinen Wert.

Hat aber nicht der Kampf um die Verwirklichung einer menschenwürdigen Ordnung selbst einen tieferen Sinn? Gibt es nicht eine den Individuen vielleicht verborgene Bestimmung der Geschichte, so daß doch jeder, der sich an seiner Stelle einsetzt, einem Höheren, Unerkennbaren und doch Verehrungswürdigen dient? Rationalismus und Irrationalismus haben auf diese Fragen viele positive Antworten gegeben. Sie verfallen dabei in eine optimistische Metaphysik und machen sich dadurch ihren sozialen Pessimismus gegenwärtig noch leichter. Der Materialismus kennt keine zweite Wirklichkeit, weder eine, die der unsrigen zugrunde liegt, noch eine, die sie überwölbt. Glück und Friede, die den Menschen auf der Erde nicht geschenkt sind, haben sie nicht bloß scheinbar, sondern wahrhaft und in alle Ewigkeit verloren; denn der Tod ist nicht der Friede, sondern er führt wirklich ins Nichts. Die Liebe zu den Menschen, wie sie der Materialismus versteht, gilt nicht Wesen, die nach ihrem Tod in der Ewigkeit geborgen sind, sondern den ganz im Ernst vergänglichen Individuen.

Auch der Ausweg der modernen Philosophie, angesichts des Schwindens der Jenseitshoffnung den Eintritt des Todes "als notwendige Erfüllung eines Lebenssinnes" (50) hinzustellen, dieser besondere Versuch einer gedanklichen Aussöhnung mit der sinnlosen Realität hält vor der materialistischen Erkenntnis nicht stand. Sie entbehrt jeder Art eines weltanschaulichen Optimismus und hat es daher schwerer, sich mit dem Gang der Weltgeschichte abzufinden. Alle Energien, auch noch die verzweifeltsten lenkt sie auf das Diesseits und setzt freilich damit den einzigen Glauben, den sie zuläßt, die Hoffnung auf die irdischen Möglichkeiten des Menschen, der Enttäuschung aus. Der metaphysische und religiöse Optimismus ist im Gegensatz dazu nicht darauf angewiesen, selbst die kleinste Aussicht für die Menschen im Diesseits zu erspähen und energisch an ihr festzuhalten.

In Zeiten wie der gegenwärtigen, wo die Zukunft der Menschheit auf das Höchste gefährdet und der Rückfall in die Barbarei dem für die Entfaltung aller kulturellen Fähigkeiten vielversprechendsten Weltteil unmittelbar zu drohen scheint, tritt daher der unbedingte Verzicht der materialistischen Denkweise auf jede ideelle Harmonisierungsmöglichkeit besonders krass in Erscheinung. Alle die verschiedenen Auskünfte, die Rationalismus und Irrationalismus als Zweige idealistischer Metaphysik in den trübsten Augenblicken der Existenz gewähren: die ewigen Ideen und das unversiegbare Leben, das autonome Ich und der echte Sinn der Existenz, der unzerstörbare Kern der Persönlichkeit und der göttliche Auftrag an das eigene Volk erweisen sich als abstrakte Begriffsgebilde in denen der Widerschein einer vergänglichen Realität verewigt ist. Rationalismus und Irrationalismus haben beide die Funktion gewonnen, mit dem Bestehenden auszusöhnen: der Rationalismus gab der liberalistischen Periode die Überzeugung, daß die Zukunft in der Vernunft des einzelnen vorweggenommen ist. Die Weltgeschichte war gleichsam die Entfaltung des vernünftigen Wesens, das jeder als seinen Kern im Innern trug; es konnte der Einzelne sich der Substanz nach unvergänglich fühlen. Der rationalistische Fortschrittsglaube drückt nicht bloß die Achtung vor den begrenzten Möglichkeiten der menschlichen Machtentfaltung und den moralischen Wunsch auf eine bessere Zukunft der Menschheit aus, sondern ist zugleich auch die narzistische Projektion des eigenen zeitbedingten Ichs in alle Ewigkeit. Im Monopolkapitalismus, der die meisten Individuen als bloße Massenelemente erfaßt, liefert dann der Irrationalismus die Theorie, das Wesen dieser Individuen existiere in der übergreifenden geschichtlichen Einheit, der sie jeweils angehören, weiter, und - falls sie bloß gehorsam wären - hätten sie sich nicht zu sorgen: ihr besseres Selbst sei nach dem Tod in der Gemeinschaft aufgehoben. So leisten Rationalismus und Irrationalismus beiden den Dienst der Verklärung.

Daß der Materialismus ganz dieser Eigenschaft entbehren soll, scheint seinem historischen Ursprung zu widersprechen. Durch das Denken Furcht und Verzweiflung aus der Seele zu verbannen, ist das erklärte Grundmotiv der epikuräischen Philosophie; sie spricht der Theorie die Kraft der Heilung zu (51). Aber im Gegensatz zur idealistischen Philosophie hat der Materialismus auch im Altertum diesen psychologischen Dienst nicht so geleistet, daß er auf ein Unvergängliches verwies und den Menschen wie PLATO in den verewigten Begriffen oder wie die Stoa im vergöttlichten Naturlauf eine Heimat schuf, in welche sie zurückzukehren hoffen konnten. Durch die Aufdeckung der metaphysischen Idole, welche seit jeher ein Hauptstück seiner Lehre bildete, lenkte der Materialismus vielmehr die Liebesfähigkeit des Menschen von den Produkten seiner Phantasie, von den bloßen Symbolen und Spiegelbildern auf die wirklichen lebendigen Wesen hin. Nicht nur aus der Solidarität mit ihnen, sondern auch der Klarheit des Bewußtseins mag bei manchen Charakteren auch eine größere Gefaßtheit hervorgehen. Schon die Feststellung der Gemeinsamkeit des Leidens und die Bezeichnung quälender Verhältnisse, welche durch den ideologischen Apparat im allgemeinen vor dem Licht des Bewußtseins verborgen wirken, kann befreiend sein.

Dabei ist es nicht das Denken schlechthin, das eine solche Bedeutung gewinnen kann, sondern die jeweilige Struktur, in welcher die Gedanken untereinander und zur Wirklichkeit stehen. Das noch so differenzierte und sorgsame Wissen bedeutet ansich für den Materialismus noch wenig. Es kommt darauf an, daß einige wenige Einsichten im Zentrumm des Wissens stehen, die im jeweiligen geschichtlichen Augenblick die Wirklichkeit zu erhellen vermögen. Dabei spielt die bloße Quantität des Wissens eine recht untergeordnete Rolle. Während etwa zu verschiedenen Perioden des Altertums und auch da nur jeweils für bestimmte herrschende Schichten ein präziser Begriff der Substanz und die Befreiung von der Götterfurcht von entscheidender Bedeutung waren, zentrierte sich in der Renaissance das richtige Wissen um eine fortgeschrittene Anthropologie und Kosmologie. Subtile Meinungsverschiedenheiten über Gegenstände, welche zu anderen Zeiten für den Charakter der philosophischen Lehren und den ihrer Anhänger gleichgültig sein mochten, kennzeichneten damals Männer und Gedanken. Gegenwärtig sind es bestimmte Grundeinsichten in das Wesen der Gesellschaft, die entscheidender für die Wahrheit einer Gesamtanschauung sind als der Besitz oder Nichtbesitz ausgedehntester Spezialkenntnisse. In diesen Grundeinsichten selbst kommt es aber auch auf die scheinbar geringfügigste Schattierung an. Die Grenze, die man hinsichtlich des Gewichts ihrer Erkenntnis heute zwischen den Menschen ziehen könnte, hätte sich darum weniger nach dem Ausmaß ihrer wissenschaftlichen Bildung als nach bestimmten Zeichen in ihrem Verhalten zu richten, in denen ihre Stellung zu den gesellschaftlichen Kämpfen zum Ausdruck kommt. Demjenigen, der die entscheidenden Einsichten hat, fallen, wenn es Not tut, die Kenntnisse auf anderen Gebieten zu; von einer unzeitgemäß strukturierten Bildung aus ist aber der Weg unter Umständen mit schweren Hindernissen besät. Von der Einzelwissenschaft in ihrer Begrenzung ist manchmal nur ein kleiner Schritt zum Aberglauben: manche Vertreter solcher Wissenschaften, die auf ihrem Gebiet selbst Ausgezeichnetes geleistet haben, beweisen das, sobald sie von Dingen reden, welche alle Menschen besonders nahe angehen. Die Masse der Kenntnisse, die für die Gesamtgesellschaft als Mittel der Produktion freilich äußerst wichtig ist, bedeutet für den Einzelnen heute auch darum nicht mehr so viel wie in der positivistischen Wissenschaftsperiode, weil seit HEGELs Dialektik die Ansicht Platz gegriffen hat, daß der Fortschritt der Erkenntnis sich nicht mehr durch eine Summation von Daten vollzieht. Nicht der Zuwachs von Tatsachen und Theorien, sondern die sprunghafte Umgestaltung tragender Kategorien kennzeichnet die Etappen der Wissenschaft. Ihr geht freilich jeweils die fortschreitende Revision des Einzelwissens voraus, diese erfolgt notwendig im Hinblick auf oberste Systemprinzipien, die den Maßstab der Korrektur abgeben. Die Revolutionierung der fundamentalen Kategorien, die auf diese Weise nur vorbereitet wird, hebt dann die Erkenntnis überhaupt auf eine höhere Ebene und betrifft ihre ganze Struktur. Wenn das materialistische Denken und seine Verbreitung daher neben seiner historischen Rolle als Waffe in den sozialen Kämpfen auch eine befreiende und bestätigende Wirkung auf den Einzelnen ausübt und somit gerade in solchen Augenblicken wie den gegenwärtigen eine psychische Hilfe bedeutet, so geschieht dies nicht deshalb, weil der Besit an Wissen unabhängig von allen praktischen Aufgaben und Zielen durch den Materialismus selbst als hohes Gut bewertet würde, sondern weil manche seelische Fessel unter der die Menschen heute leiden, aufspringt, wenn das treffende Wort ertönt, und weil dieses Wort auch die gewaltsame Isolierung der Menschen voneinander, die der gegenwärtigen Periode eigentümlich ist, weitgehend aufheben kann. Diese Kraft eignet der Wahrheit, obgleich sie auf jeden ideologischen Trost nicht bloß verzichtet, sondern bestrebt ist, ihn zu zerstören.

Im Streit zwischen Rationalismus und Irrationalismus schlägt sich der Materialismus auf keine der beiden Seiten. Der Rationalismus hat seit der cartesianischen Isolierung der geistigen Substanz von aller räumlichen Wirklichkeit eine bestimmte Form des Denkens, die Auffindung abstrakter Begriffe und die Stiftung rein statischer Beziehungen zwischen ihnen als die höchste Tätigkeit des Menschen verabsolutiert. Im Zusammenhang damit hat er an einer intellektualistischen Psychologie festgehalten und die menschlichen Handlungen allein aus ihren bewußten Motiven erklärt. Weil seine Anthropologie von Anfang an durch einen Begriff der isolierten geistigen Substanz, die Monade, bestimmt war, in welchem zwar die Einseitigkeit des Menschen in der bürgerlichen Epoche zu ihrem wahren Ausdruck kommt, aber seine Abhängigkeit vom gesamtgesellschaftlichen Lebensprozeß übersehen wird, konnte entweder das gesellschaftliche Ganze mit seinen Ansprüchen nur als Förderung oder Hemmnis egoistischer Zwecke bei ihm eine Rolle spielen, oder diese Ansprüche traten ihm in mythologisierter Form als Gewissen oder göttliche Gebote gegenüber. "Der Irrationalismus - als Gegenbeispiel des Rationalismus redet nur schielend von dem, wogegen dieser blind ist." (52) Durch seinen Begriff der  Gemeinschaft  schiebt er die unerledigten Probleme in das "Refugium des Irrationalen" ab. Er hat seinen logischen Ursprung im Versagen des Rationalismus vor den Problemen der Gesellschaft. Seine Macht stammt aus der gegenwärtigen Untergangsperiode einer Gesellschaft von selbstbewußten Einzelnen. Der falsche rationalistische Begriff der Gleichheit, der logisch in der Hypostasierung [einem Wort wird gegenständliche Existenz zugeschrieben - wp] der abstrakten Denkfähigkeit jedes Individuums fundiert ist und anstatt der Forderung auf eine vernünftige Gestaltung der Verhältnisse zur metaphysischen Doktrin wird, schlägt heute der Wahrheit ins Gesicht. Aus dem Konkurrenzkampf der nur um ihre eigenen Interessen bekümmerten bürgerlichen Individuen sind kraft der Gesetze der sich entwickelnden Ökonomie bloß ganz kleine Gruppen als wirkliche Sieger hervorgegangen. Die weitaus größte Zahl der Menschen verliert tatsächlich ihre Individualität und wird zur Masse, die nur heteronom zu handeln vermag, wenn auch in die Ziele, die man ihr vorsetzt, wohl oder übel ihre eigenen Bedürfnisse in einem gewissen Umfang mit hineingenommen werden müssen. Der Irrationalismus stellt den Bankrott des Rationalismus richtig fest und zieht daraus die falsche Konsequenz. Das einseitige Denken und das egoistische Interesse kritisiert er nicht etwa zugunsten einer Einrichtung der Welt, wie sie den tatsächlich zur Verfügung stehenden Kräften der Menschheit entspräche. Vielmehr läßt er die ökonomischen Gesetze, welche die gegenwärtigen Verhältnisse herbeigeführt haben, in ihren wesentlichen Zügen unberührt und besorgt die Zwecke der wirtschaftlich Mächtigsten, die bloß die Vollstrecker jener ökonomischen Gewalten sind, indem er ihre blinde Anerkennung durch das Gebot der Unterordnung unter das vorgebliche Ganze und Allgemeine betreibt. Für eine Neugestaltung der Gesellschaft ist er ein Hindernis, indem er ihre Notwendigkeit scheinbar anerkennt, sie aber auf eine innere Umkehr und die bloße Erneuerung im Geiste beschränkt. Er macht - was für zurückgebliebene Schichten passen mag, die zu dieser Philosophie in inniger Beziehung stehen, - aus dem komplizierten sozialen Problem ein primitiv pädagogisches. Aus den Eigentümlichkeiten der Periode, in der er eine Rolle spielt, ergibt sich der negative Charakter des Irrationalismus, wie der positive des Rationalismus mit den großen schöpferischen Leistungen des Bürgertums zusammenhängt. Dieser wird in der Gegenwart zur leichten Beute seines Gegners; die Geschichte hat die Zeit der rationalistischen Systeme längst hinter sich gelassen. Die Vernunft, welche im Namen des Rationalismus enthalten ist, wirkt heute in der Theorie, deren Methode er unter dem Titel der Dialektik noch selbst entwickelt hat.
LITERATUR: Max Horkheimer, Zum Rationalismusstreit in der gegenwärtigen Philosophie, Zeitschrift für Sozialforschung, Jahrgang III, Paris 1934, Heft 1
    Anmerkungen
    36) Vgl. zu einnigen dieser Bedingungen MARTIN HEIDEGGER, "Was ist Metaphysik?", Bonn 1929, Seite 15-19: "Die tiefe Langeweile, in den Abgründen des Daseins wie ein schweigender Nebel hin und her ziehend, rückt alle Dinge, Menschen und einen selbst mit ihnen in eine merkwürdige Gleichgültigkeit zusammen. Diese Langeweile offenbart das Seiende im Ganzen ... Eine andere Möglichkeit einer solchen Offenbarung birgt die  Freude  aus der Gegenwart des Daseins ... eines geliebten Menschen ... die Befindlichkeit der  Stimmung  enthüllt ... je nach ihrer Weise das Seiende im Ganzen. ... In der hellen Nacht des Nichts der Angst entsteht erst die  ursprüngliche  Offenbarkeit des Seienden als  eines solchen:  daß es  Seiendes  ist - und nicht Nichts."
    37) HEGEL, Grundlinien einer Philosophie des Rechts, § 270.
    38) NIETZSCHE, Zur Genealogie der Moral, II. Abhandlung, 3. - WW. Großoktavausgabe Bd. VII, Seite 319.
    39) HEGEL, Wissenschaft der Logik, 2. Buch - WW., Jubiläumsausgabe, Stuttgart 1928, Bd. 4, Seite 644.
    40) OTHMAR SPANN, Gesellschaftslehre, 1930, Seite 562.
    41) SPANN, a. a. O., Seite 562-563.
    42) OTHMAR SPANN, Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. 8, Jena 1928, Artikel "Universalismus", Seite 456.
    43) SPANN, Gesellschaftslehre, a. a. O., Seite 100.
    44) Vgl. die ausgezeichnete Kritik an ihr bei MAX HARTMANN, Die methodologischen Grundlagen der Biologie, Leipzig 1933.
    45) ERNST JÜNGER, a. a. O., Seite 170.
    46) Vgl. FREUD, Gesammelte Schriften, Bd. 5, Wien, Seite 452-58.
    47) NIETZSCHE, Zur Genealogie der Moral, a. a. O., Seite 430
    48) NIETZSCHE, a. a. O., Seite 449
    49) NIETZSCHE, a. a. O., Seite 449-50.
    50) MAX SCHELER, Schriften aus dem Nachlaß, Bd. 1, Berlin 1933, Seite 26.
    51) Vgl. z. B. LUKREZ, II, 58-60 und V, 1-55.
    52) MARTIN HEIDEGGER, Sein und Zeit, a. a. O., Seite 136.