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MAX SCHELER
Der philosophische Pragmatismus
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"Diese pragmatische Deutung des Prinzips möglicher Beobachtung wird aber in dem Augenblick eine strenge allgemeingültige Notwendigkeit, wenn die motorische Wahrnehmungs- und Empfindungstheorie als wahr unterstellt wird. Denn geschieht es, so wird eben jene Handlung oder jener Handlungsimpuls, der die Vorbedingung ausmacht für den Eintritt der Beobachtung, ein Aktus der Verifikation und Bewährung des Gedankens und dieser selbst wird eine Art vorentwerfenden Planes für eben diese Handlung."

"Versteht man unter Tatsache etwas schlechthin ohne all unser Zutun Gegebenes, so gibt es irgendwie bestimmte Tatsachen überhaupt nicht. Tatsache wäre demnach eine völlig unbestimmte fluktuierende und bestandslose Summe chaotischer Eindrücke, in der sich noch keinerlei Einheiten und Gliederungen und Abteilungen finden. Mit diesem Chaos soll aber unsere Gedanken doch so wenig übereinstimmen, daß vielmehr umgekehrt dasselbe immer nur das Arbeitsmaterial für die von uns vollzogenen Umformungen sein darf. Eine Tatsache - lehrt daher der Pragmatismus - ist im gewöhnlichen und wissenschaftlichen Wortsinn immer bereits etwas, das durch unsere geistige Tätigkeit irgendwie bestimmt und geformt ist."


A) Die zwei Hauptsätze des Pragmatismus

WILLIAM JAMES, der am meisten dazu getan hat, Wort und Sache des Pragmatismus als philosophischer Lehre zu verbreiten, erzählt in seinen berühmten Vorlesungen "Der Pragmatismus" (1), daß der Pragmatismus in die Philosophie von dem amerikanischen Mathematiker und Philosophen CHARLES SANDERS PEIRCE in einem Aufsatz eingeführt wurde, der im Januarheft der Zeitschrift "Popular Science Monthly" im Jahr 1878 erschien und den Titel trug: "Wie wir unsere Ideen klar machen können". PEIRCE stellt hier die Frage an die Spitze: "Was ist der Sinn und die Bedeutung eines Gedankens?" Er antwortet: Wir müssen die Handlungsweise bestimmen, die dieser Gedanke herbeizuführen geeignet ist. "Die Handlungsweise ist für uns die ganze Bedeutung dieses Gedankens." JAMES fährt fort:
    "Die konkrete Tatsache, die allen unseren noch so subtilgen Gedankendistinktionen zugrunde liegt, ist diese: Keine dieser Distinktionen ist so subtil, daß sie in irgendetwas Anderem bestände als in einer Unterscheidung, die das Handeln beeinflussen kann. Um also vollkommene Klarheit in unseren Gedanken über einen Gegenstand zu bringen, müssen wir nur erwägen, welche praktischen Wirkungen dieser Gegenstand in sich enthält, was für Wahrnehmungen wir zu erwarten und welche Reaktionen wir vorzubereiten haben. Unsere Vorstellung von diesen Wirkungen, mögen sie unmittelbare oder mittelbare sein, macht dann für uns die ganze Vorstellung des Gegenstandes aus, insofern diese Vorstellung überhaupt eine positive Bedeutung hat." (a. a. O., Seite 29).
In dieser Form aufgestellt, ist das PIERCE'sche Prinzip in den verschiedensten Richtungen vieldeutig. Zunächst sollte man nach dem Titel des Aufsatzes vermuten, PIERCE will nicht sagen, daß "Sinn und Bedeutungen" eines Gedankens lediglich in seinen praktischen Folgen besteht, sondern nur, daß wir durch die Erwägung dieser Folgen zu größerer Klarheit über diesen Sinn und diese Bedeutung kommen. Wie auch immer es aber mit dem steht, was PIERCE gemeint hat, sicher ist, daß JAMES und die eigentlichen Pragmatisten der radikalen Deutung anhängen, daß die praktischen Folgen des Gedankens mit seinem Sinn und seiner Bedeutung, die Vorstellung dieser praktischen Folgen aber mit der Erfassung und dem Wissen von dieser "Bedeutung" identisch ist. Wie könnte sonst JAMES behaupten, daß die Sätze: "Die Materie und ihre Bewegung ist der Urgrund aller Dinge" und "Gott ist der Ursprung aller Dinge" nur in Worten verschieden, tatsächlich aber gleichsinnig sind, wenn sie nicht eine verschiedene Art des Lebens und Handelns setzen? Kann hier also kein eigentlicher Zweifel bestehen, wie der PIERCE'sche Satz seitens des Pragmatismus aufgefaßt wird, so besteht eine erhebliche Vieldeutigkeit in der Auffassung dessen, was unter "Folgen", und was unter "praktischen Folgen" verstanden wird. Gesprochen wird auch von der "logischen Fruchtbarkeit" eines Gedankens, und es gibt in der Tat einige dem Pragmatismus nahestehende Forscher, die nichts anderes als dies meinen, daß das Sein und die Bedeutung eines Gedankens mit den logischen Folgen zusammenfällt, die man aus ihm gewinnen kann. Die Einheit unseres Weltbildes, die Widerspruchslosigkeit der Sätze untereinander, die Leistung, die der Gedanke besitzt zur Herleitung schon bewährter oder bewiesener Theorien und Systeme, die Fülle und quantitative Genauigkeit beobachteter Tatsachen, die man durch ihn verständlich machen kann, sind so zum Beispiel einige der Kriterien dieser "logischen Fruchtbarkeit". Natürlich werden bei dieser Interpretation die Gesetze reiner Logik schon vorausgesetzt und nicht selbst erst pragmatisch gerechtfertigt. Eine pragmatische Herleitung dieser Gesetze, wie sie der eigentliche Pragmatismus vornimmt, erfolgt erst da, wo die genetische Theorie hinzutritt, nach der die logischen Gesetze selbst als tatsächliche Wege des menschlichen Denkens durch "Erfolg und Mißerfolg" für das Handeln auf die Welt sich aus einem versuchenden Experimentieren nicht mit den Dingen selbst, sondern mit Zeichen für Dinge allmählich gebildet haben, indem erfolgreiche Denkwege durch eine Häufung der Erfolge sich allmählich befestigt und, sei es durch soziale Tradition - so ist die Meinung von WILLIAM JAMES -, sei es durch Blutserbschaft - so ist die Meinung von HERBERT SPENCER -, sich übertragen haben nach dem Prinzip der Vererbbarkeit auch psychischer funktionell erworbener Eigenschaften. Nur im Falle dieser "Erklärung" der logischen Gesetze selbst ist das Prinzip des Pragmatismus als solches gewahrt. Nicht aber ist es gewahrt, wenn man in den logischen Gesetzen immanente Funktionsgesetze einer stabil gedachten menschlichen Vernunft sieht (wie viele Anhänger KANTs), oder Gesetze, die auf onologische Wesens- und Sacheinsicht zurückgehen, die von aller induktiven Erfahrung unabhängig ist. Im ersteren Fall fällt der Satz von der "logischen Fruchtbarkeit" zusammen mit Lehren, die - dem Pragmatismus näher stehend, als sie denken - auch von den älteren Forschern der Marburger Schule, insbesondere COHEN und NATORP, aufgestellt worden sind - Lehren, nach denen "das Denken" eine immer neue "Hypothesis", eine immer neue "Grundlegung" für die Sätze und Theorien der Wissenschaften zu vollziehen hat, aus dem Prinzip heraus, eine immer neue "Rechenschaftslage" für die objektiv logische Möglichkeit der wissenschaftlichen Erfahrung zu liefern; nach denen ferner der Stellenwert im System der Wissenschaft, der logische Ort gleichsam, gleichfalls das Einzige ist, was den Sinn eines Satzes ausmacht. Es scheint mir zumindest für die Probleme der Axiomatik der Wissenschaften, sofern es sich nicht nur um rein logische Axiome handelt, sondern um solche materieller Natur, kein wesentlicher Unterschied zu sein, ob man die Axiome als glücklich bewährte und zu bewährende "implizite Definitionen" und ihre Anwendungsgrundsätze auf Quanta als "Konventionen" der Forscher ansieht, wie MORITZ SCHLICK und innerhalb der Mathematik HENRI POINCARÉ und HILBERT, oder ob man ihnen den "vornehmeren" Namen "apriorischer Grundlegungen des reinen Denkens" erteilt - wenn doch einmal der altkantische Gedanke aufgegeben ist, daß die Axiome und Verstandesprinzipien immanente (unvermehr- und unveränderbare) Funktionsgesetze der Vernunft selbst sind, die wir an der Leistung, die sie für die Möglichkeit der wissenschaftlichen Erfahrung haben, nur reflexiv und reduktiv erkennen, nicht aber erst "legen" und "rein hervorbringen". Denn beide Male werden die Axiome doch nur gerechtfertigt aus der Kraft, die ihnen zur Ableitung bestimmter Satzinbegriffe und Theorien innewohnt, nicht aber für sich selbst auf ihre Einsichtigkeit hin geprüft. (2)

Eine zweite Interpretation, die man dem Gedanken von PIERCE geben kann, fällt mit dem zusammen, was schon LEIBNIZ le principe d'observabilité [Prinzip der Beobachtung - wp] genannt hat - ein Prinzip, das schon ARISTOTELES, LOCKE, besonders BERKELEY, ferner JOHN STUART MILL in ihren Schriften vielfach angewandt haben und das erst jünst im Werden der Relativitätstheorie EINSTEINs eine fundamentale Rolle spielte. Auch ERNST MACH und HENRI POINCARÈ stellen es mehrfach auf, und der letztere macht von ihm besonders Gebrauch zur Unterscheidung von Sätzen, die nur Konventionen sind, und solchen, die Tatsachenwahrheiten enthalten. WILLIAM JAMES zitiert dieses Prinzip in einer Form, die ihm (allerdings unklar mit dem eigentlichen Pragmatismus vermischt) WILHELM OSTWALD in einem Brief an JAMES gab:
    "Ich pflege in meinen Vorlesungen die Frage so zu stellen: In welcher Beziehung wäre die Welt anders, wenn diese oder jene Alternative wahr wäre? Wenn ich nichts finden kann, das anders wäre, dann hat die Alternative keinen Sinn."
ERNST MACH pflegte mit dem gleichen Prinzip alle "metaphysischen" Fragen als "sinnlos" abzulehnen, wenn er mehrfach hervorhebt, daß alle Fragen entweder durch eine mögliche Beobachtung als lösbar nachgewiesen werden müßten oder als sinnlose Fragen aufzugeben sind. JOHN STUART MILL schließt bei Gelegenheit seines Versuches, seine Lehre zu erhärten, daß die Materie aus dem "Inbegriff aller geordneten Wahrnehmungsmöglichkeiten" besteht:
    "Setzt oder setzt nicht das Dasein einer materiellen Substanz unabhängig von unseren möglichen Wahrnehmungen und Empfindungen; in unserer Erfahrung wird sich beide Male nichts ändern. Also hat die Annahme einer solchen Substanz als eine überflüssige und als eine solche, die im Bestand möglicher Erfahrung nichts ändert, keinen Sinn."
Man kann diese Interpretation der PIERCE'schen These über Sinn und Bedeutung eines Gedankens respektive einer Wortfolge "empiristisch" und, wenn gefordert wird, daß sich die Folgen des Gedankens verglichen mit den Folgen einer anderen Wortfolge in einer anderen "Empfindung" unserer Sinne darstellen müßten, "sensualistisch" nennen; sie ist noch nicht eigentlich "pragmatistisch". Aber diese These geht sofort in die pragmatistische These über, wenn man die veränderte Erfahrung, Beobachtung, Empfindung selber, nicht also erst das, was wir mit der gewonnenen Erfahrung, Beobachtung des ferneren anfangen (indem wir etwa ein so gefundenes Gesetz praktisch-technisch "anwenden"), als das Endglied einer Handlung auf die Ereignisse der Natur ansieht; und zwar nicht nur als das zeitliche Endglied, sondern als ein Endglied, das auch mit durch uns bewirkt und hervorgerufen ist. Denn dann erscheint auch zum Beispiel das Experiment, der Gebrauch irgendwelcher materieller Apparate zur Größenmessenung usw., schon als ein Grenzfall eines technischen Eingriffes in die Natur, durch den etwas sonst nicht Vorhandenes allererst hervorgebracht wird. Diese pragmatische Deutung des "Prinzips möglicher Beobachtung" wird aber in dem Augenblick eine strenge allgemeingültige Notwendigkeit, wenn die motorische Wahrnehmungs- und Empfindungstheorie (die auch wir, wie sich zeigen wird, prinzipiell für richtig halten) als wahr unterstellt wird. Denn geschieht es, so wird eben jene Handlung oder jener Handlungsimpuls, der die Vorbedingung ausmacht für den Eintritt der Beobachtung, ein Aktus der Verifikation und Bewährung des "Gedankens" und dieser selbst wird nur eine Art vorentwerfenden Planes für eben diese Handlung.

Damit ist eigentlich erst die "pragmatistische" Interpretation des PIERCE'schen Gedankens voll erreicht. Es ist hervorzuheben, daß eben damit der "Geist" des Erkennens und der Erkenntnistheorie sich gegenüber dem älteren Empirismus, respektive Sensualismus, aber auch dem Rationalismus (eben sowohl ontologisch-dogmatischer als transzendentaler Art) tiefgehend ändert. Der Pragmatismus versucht, nicht nur mit dem uralten Gedanken, daß der "Sinn" eines Urteils etwas vom Urteilsakt Verschiedenes, in einer Mehrheit von individuellen und interindividuellen Akten streng Identifizierbares ist, zu brechen, sondern nicht minder mit der Annahme, daß die zu erkennenden "Tatsachen" dem Erkennen präexistieren. Sowohl dieser "Sinn" als die "Tatsachen" werden durch den Erkennenden geradezu erschaffen. Die Welt - soweit sie nicht erkannt ist - gleicht einer absolut "plastischen Masse", einer noch ganz unbestimmten "Hyle" [ungeordnete Materie, Stoff - wp], die der Mensch in diesem unteilbaren dynamischen Prozeß von Gedankenentwurf - Handlung - Empfindung und Beobachtung - neue Handlung - gleichzeitig sich erst zu einer Welt des Sinnes und der Tatsachen (zu einem Kosmos) formt. Darum ist das pragmatistische Denken nicht weniger, ja noch weit mehr konstruktiv als das rationalistische Denken und eben darin vom empiristischen Denken ganz radikal verschieden. Da der Pragmatismus aber nicht nur jede ontologische Ordnung und Sinnstruktur der Weltbereiche, sondern nicht minder jede einheitliche ursprüngliche selbstgesetzliche Vernunft, deren Funktionsgesetze zu "entdecken" sind, leugnet, ist er nicht minder von allem Rationalismus aufs Tiefste geschieden. Es ist daher nur konsequent, wenn WILLIAM JAMES in seinem Werk "Pluralistic Universe" zu seinem radikalen Weltpluralismus kommt.

Aber in diesen drei Interpretationen scheint uns der erste der Sätze von PIERCE gleichmäßig völlig unhaltbar, sofern er zumindest allgemein und für alle Arten von "Gedanken" aufgestellt wird, nicht nur für eine besondere Funktion, die Gedanken in einer gewissen Art des Erkennens annehmen können, die später genauer zu charakterisieren ist. Zunächst ist der "Sinn" eines Satzes durchaus nicht identisch mit den logischen Folgen, die sich aus ihm ergeben. Dies steht in einem offenbaren Widerspruch schon mit dem zweifellosen Satz der formalen Logik, daß mit der Folge der Grund keineswegs eindeutig gesetzt ist. Verschiedene Sätze (ihrem "Sinn" nach) können dieselben Folgen haben, weshalb ja auch eine Tatsache, die gegen eine Hypothese spricht, sie aufhebt, noch so viele Tatsachen, die ihr entsprechen, sie aber niemals streng beweisen. Wendet man aber ein, dieser alte Grundsatz der Logik verliere seine Gültigkeit, wenn man eben nicht nur diese und jene, sondern alle Folgen eines Satzes ins Auge faßt, so widerspricht diese Behauptung offensichtlich der Tatsache, daß wir den Sinn eines Satzes eindeutig vom Sinn eines anderen Satzes unterscheiden, "alle" (objektiven) Folgen eines Satzes aber überhaupt nicht zu erkennen vermögen. Der Sinn eines Satzes ändert sich nicht, wenn ich ihn in mehrfachen Akten denke oder wenn viele ihn denken; und er ändert sich auch nicht, wenn zu einer Reihe seiner Folgen neue Folgen treten, die ich nacheinander erkenne. Ein Satz ist wahr oder falsch, gleichgültig ob er bewiesen ist oder, ob er unbeweisbar ist, eventuell sogar beweisbar unbeweisbar ist, ob er direkt oder indirekt, so oder anders bewiesen wird. Nach der Lehre von PIERCE müßte sich mit jedem neuen Beweis (und es gibt stets viele Beweise für einen Satz) auch der Sinn des Satzes ändern, während doch ein Satz mit völlig eindeutigem Sinn auf beliebig viele Arten bewiesen werden kann. Ferner folgt aus einem Satz überhaupt nichts, und erst aus einer Mehrheit von Sätzen kann etwas folgen. Ein Satz ändert nicht seinen Sinn, wenn er mit einem anderen Satz A oder B oder C oder N zusammen eine Prämissenfunktion annimmt. Für die pragmatistische Logik gäbe es gar kein eigentliches "Folgern"; es gäbe nur ein Ablesen des Schlußsatzes aus einem Gesamtbild, das den Prämissen gemäß konstruiert ist. Diese Auffassung des Folgerns aber als einer Art des Konstruierens macht ganz unerfindlich, wieso wir aus dem konstruierten Vorstellungsgebilde gerade dasjenige ablesen und in ein Urteil fassen, was aus den Prämissen und aus eben diesen Prämissen "folgt", mit denen wir eben arbeiten, und nicht etwas ganz Anderes, das gleichsehr aus diesem "Bild" abgelesen werden kann. Denn jedem Bild gegenüber kann man eine unbegrenzte Zahl von Urteilen fällen, die von diesem Bild "erfüllt" werden. Wie unsagbar viele Irrtümer, Täuschungen, Jllusionen haben sich ferner als logisch viel "fruchtbarer" erwiesen als sehr viele einfache streng evidente Wahrheiten? Sie hören darum nicht auf, Irrtümer, Täuschungen, Jllusionen zu sein!

Nimmt man den Gedanken von PEIRCE in der zweiten Interpretation, so ist er für die Bestimmung des Sinnes wie der Bedeutung einer Wortfolge auf alle Fälle nicht weniger unannehmbar. Der Nachweis, daß die Folgen eines Satzes solche sind, daß eine Deckung dieser Folgen mit einer möglichen Tatsache der Beobachtung und Messung ausgeschlossen ist (sei es durch die bisher "bekannten" Methoden und Maßinstrumente, sei es überhaupt), könnte den Satz in Bezug auf wahr-falsch höchstens unentscheidbar machen, nimmt ihm aber keineswegs seinen eindeutigen "Sinn". Die Gesetze des Sinnes, ferner des Unsinns, Widersinns, sind total andere als diejenigen, die den Unterschied von "wahr" und "falsch" regieren. Wie "tiefsinnig" und "sinnreich" können Mythen, Sagen, Märchen sein, ohne doch sinnvoll prüfbar auf wahr und falsch zu sein. Keine Frage verliert nur dadurch ihre Sinn, daß wir sie jetzt oder nie lösen können. Die metaphysischen Fragen, die KANT theoretisch für unlösbar hält, sind nach ihm gleichwohl "vernunftnotwendige" Fragen, wogegen sie nach dem Pragmatismus schon um ihrer Unlösbarkeit nach so sinnlos wären wie Abrakadabra.

Aber - und dies ist die Hauptsache - es gibt eben ein gewaltiges Reich von Gedanken, Bedeutungen, Sätzen, die oder deren Folgen schon darum aus ihrer konstitutionellen Eigenart heraus in der erfahr- und beobachtbaren Welt nichts "ändern" können, da sie die konstanten Daseinsformen, ferner die Ideen und Urphänomene selbst meinen und intendieren, in die alles Beobachtbar der Welt als in die Wesensstruktur jeder "möglichen" Welt hineingebaut ist. Es definiert geradezu alles Apriori-Wissen, daß es ein Wissen ist, das durch mögliche Beobachtung, Induktion, ferner durch Beweis weder zu erhärten noch zu widerlegen ist, daß man im Versuch, es also zu prüfen - sei es wirklich, sei es nur durch die Phantasiebildung einer "möglichen" Beobachtung -, es immer schon haben und anerkennen muß, um Operationen solcher Art vorzunehmen. Alles, was schon die mögliche Weltstruktur konstituiert, das ist sinnvoll (eventuell auch wahr oder falsch), ohne daß es Folgen hat, die eine erfahrbare Welt verändern. Ja! hätte es solche bestimmte, auch nur mögliche Folgen für den zufälligen Inhalt der Erfahrung, so wäre es eben kein Apriori-Wissen. Daß aber ein solcher "Sinn" - trotzdem seine Folgen die sinnliche Erfahrung nicht abändern, ja nicht abändern dürfen - überhaupt nicht prüfbar ist auf einsichtig oder blind, das wäre nur dann eine Folge, wenn all unsere Anschauung mit sinnlicher Anschauung identisch wäre und es eine andere Anschauung und Urphänomene gar nicht gäbe. Analog müßte jeder Satz beweisbar sein, wenn es nur mittelbares Denken und gar kein unmittelbares Denken gäbe - wobei es doch evident ist, daß die sämtlichen Schlußgesetze zum Beispiel, nach denen wir schließen und mittelbar beweisen, nicht wieder erschlossen und bewiesen, sondern nur in ontologischen Grunddaten als einsichtig aufgewiesen werden können. Man sieht: dieses Prinzip wirft mit einem Gewaltakt und ohne nähere Prüfung alles Apriori-Wissen beiseite oder überantwortet es der Willkür und bloßer Zweckmäßigkeit der Definition und Konvention. So ist es zum Beispiel ganz falsch, mit MILL zu sagen, es ändere sich nichts an unserer Erfahrung, wenn wir die Existenz einer die sinnlichen Attribute eines Körpers fundierenden Substanz und die Ordnung, nach denen sie Substanz fundiert, oder die "Dynamis" und "Tendenz" in jeder Bewegungserscheinung oder das "Wirken", das im Aneinanderprall zweier Kugeln stattfindet, aufgehoben denken. Gewiß: Es ändert sich nichts in unserer möglichen sinnlichen Beobachtung. Aber in unserer Anschauung des Tatbestandes, die unvergleichlich weiter und tiefer reicht als unsere Beobachtung, ändert sich nachweisbar außerordentlich viel - wie gerade pathologische Ausfallserscheinungen solcher nichtsinnlichen Elemente unserer Anschauung deutlichst zu zeigen vermögen.

Darum verliert das "Prinzip der Beobachtung" keineswegs alle Bedeutung. Es gilt - und zwar gerade in seiner zweiten, nichtempiristischen, sondern pragmatischen Deutung - unumgänglich für die Entscheidung, ob eine Frage, bzw. der Sinn einer Frage, einen positiv-wissenschaftlichen Wert hat oder ob sie keine Frage der positiven Wissenschaft, sondern etwa philosophischer Natur ist. Denn das ist gerade die spezifische Aufgabe aller positiven Wissenschaft, alle Wesensfragen, alle Fragen ach der Weltkonstitution auszuschalten, um aus dem Kreis sinnvoller Fragen nur diejenigen übrig zu behalten, für deren Entscheidung eine Tätigkeit angegeben werden kann, welche die beiderseitigen Folgen einer Alternative oder einer vollständigen Disjunktion [Unterscheidung - wp] entscheidet, indem sie die zu erwartende Reaktion der Welt (auf unsere Aktion hin) entscheiden läßt. Gerade dann, wenn man dem Prinzip der Beobachtung den pragmatistischen Sinn gibt, den ihm die dazutretende motorische Wahrnehmungstheorie und Empfindungslehre erteilt, ist es aber auch völlig klar, daß das Prinzip nicht imstande ist, unsere Erkennbarkeit der Welt überhaupt zu begrenzen. Das dürfte man noch eher annehmen, wenn man der sinnlichen Wahrnehmung, so wie es der Sensualismus und Empirismus tut, einen theoretisch-spekulativen Sinn erteilt. Ist dagegen die sinnliche Wahrmachung nur ein Index für die Aktion des vitalen Zentrums und die Reaktion der Welt auf es, so wäre der Gedanke, das Sein der Dinge nur soweit reichen zu lassen, wie die Dinge auf unsere möglichen Handlungen direkt oder indirekt bestimmend einwirken, geradezu absurd. Über das Sein der Dinge selbst etwas zu erkennen, ist nicht Sache der positiven Wissenschaft, sondern der Metaphysik, die auf die durch eine mögliche Beobachtung unveränderliche Wesensstruktur der Welt - der Welt als einer Ganzheit - erkennend gerichtet ist, bzw. auf die Beschaffenheit und die Seinsart jenes Grundes aller Dinge (seinem Wesen und Dasein nach), der eine "solche Welt" - das heißt eine Welt der vom Subjekt je erkannten Weltstruktur - möglich macht. Alles darf dabei als ansich seiend (so oder anders) gesetzt werden, was, wenn wir es setzen, unsere mögliche Beobachtung nachweislich unverändert läßt. Das ist ein wenn auch nur negativer Grundartikel der Freiheit der Metaphysik, der für sie nicht weniger erläßlich ist als das Prinzip der Beobachtbarkeit für die positive Wissenschaft. Was sie aber positiv als absolut seiend - und nicht bloß auf die mögliche Aktion und Reaktion eines Vitalwesens zur Welt daseins- und soseinsrelativ - setzt, das richtet sich allein nach dem Sinn und der Bedeutung nur jener Anschauungen und jener Gedanken, die es mit der Wesensstruktur der Weltganzheit zu tun haben, das heißt nach einem Wesenswissen um die Welt, das auch bei aller möglichen praktischen Veränderung der Welt durch unsere Handlungen dasselbe bliebe. -

Der zweite Gedanke in der Abhandlung von Definition der Wahrheit: Ein Satz, dessen Sinn und Bedeutung in der eben angegebenen Weise festgestellt wurde, ist dann wahr, wenn sich die vorgestellten Handlungen, zu denen er Anlaß gibt, als zweckmäßig erwiesen, d. h. durch jene Handlung eine Absicht erreicht, ein Wunsch befriedigt, eine Erwartung erfüllt wird. Auch die Wahrheitsidee hat also hiernach einen wesentlich praktischen Sinn und wird zu einer Art der Brauchbarkeit und Nützlichkeit. Dieser Wahrheitsbegriff von PIERCE ist dann späterhin von JAMES, aber besonders eingehend von F. C. SCHILLER (3) in seinem Buch über den "Humanismus" weiter ausgebaut worden. Gleichzeitig aber wurde der Versuch unternommen, die älteren Wahrheitsideen von dieser Grundlage aus zurückzuweisen. Wahrheit ist nicht, wie die scholastische Definition lautet, eine Angleichung des Verstandes an eine gegebene Wirklichkeit, oder eine "Abbildung dieser Wirklichkeit". Wer die Wahrheit so definiert, unterliegt nur der Verführung durch ein Bild, demgemäß man sich die Gedanken als mit den Dingen in derselben Relation befindlich vorstellt, wie sie ein Porträt zum abgebildeten Menschen hat. Wäre auch eine solche "Abbildung" möglich, so könnten wir, da wir uns in die Dinge selbst nicht verwandeln können, ja auch nie wissen, ob das Bild dem abgebildeten Gegenstand faktisch gleich ist oder nicht. Und außerdem: Welchen Sinn und Zweck hätte so eine unnötige Verdoppelung der Welt im Geiste? Wäre sie nicht als bloße "Weltverdoppelung" ein eitles nichtswürdiges Tun? Dieselben Einwände gelten gegen diejenigen, die unter Wahrheit eine bloße Übereinstimmung der Beziehungen unserer Vorstellungen mit den Beziehungen der Dinge verstehen wollen, während uns die Dinge selbst unbekannt und unerkennbar blieben. Sagt man aber, Wahrheit bestünde zwar nicht in der Abbildung einer transzendenten Wirklichkeit, d. h. einer solchen die unabhängig von unserem Bewußtsein besteht, (bzw. ebensolcher Beziehungen), sondern sie liege in der Übereinstimmung unserer Gedanken und Aussagen mit sinnlich wahrnehmbaren Tatsachen, so vergißt man, dabei genau anzugeben, was denn eine sogenannte "Tatsache" ist. Versteht man unter Tatsache etwas schlechthin ohne all unser Zutun Gegebenes, so gibt es irgendwie bestimmte Tatsachen überhaupt nicht. Tatsache wäre demnach eine völlig unbestimmte fluktuierende und bestandslose Summe chaotischer Eindrücke, in der sich noch keinerlei Einheiten und Gliederungen und Abteilungen finden. Mit diesem "Chaos" soll aber unsere Gedanken doch so wenig übereinstimmen, daß vielmehr umgekehrt dasselbe immer nur das Arbeitsmaterial für die von uns vollzogenen Umformungen sein darf. Eine "Tatsache" - lehrt daher der Pragmatismus - ist im gewöhnlichen und wissenschaftlichen Wortsinn immer bereits etwas, das durch unsere geistige Tätigkeit irgendwie bestimmt und geformt ist. Tatsachen heben sich erst aus jenem Chaos heraus und werden gleichsam daraus herausgeschnitten, sofern wir dem Gegebenen irgendeine Frage vorlegen, deren Antwortsreaktion dann eben jene "Tatsache" ist. In schroffem Gegensatz also zur älteren empiristischen Erkenntnislehre und zum Beispiel zum neueren Sensualismus von ERNST MACH leugnen die Pragmatisten, daß die Wahrheit in der Übereinstimmung unserer Gedanken mit dem unseren Sinnen Gegebenen beruth. Endlich besteht Wahrheit auch nicht - wie zum Beispiel die Schule der Neukantianer sagt, die gleichfalls das ebengenannte empiristische Kriterium mit ähnlichen Gründen zurückweist - darin, daß unsere Gedanken gewissen apriorischen Gedankenformen und Prinzipien folgen müssen, die das Wesen eines in uns allen tätigen transzendentalen Verstandes bilden und daß sie hierdurch einen streng systematischen Zusammenhang untereinander gewinnen, der nur an seiner inneren Folgerichtigkeit, nicht aber an einem außerhalb von ihm befindlichen Tatsachenmaterial zu messen wäre. Die Idee eines solchen "Systems" weist der durchaus anti-systematische Pragmatismus ebenso zurück wie die Voraussetzung eines solche "transzendentalen Verstandes", der sich unabhängig von unseren menschlichen Trieben und Bedürfnissen betätigen könnte. Immerhin aber bestehen einige Analogien zwischen dem Pragmatismus und jenen Gedanken der neukantianischen Schule, worauf ich ja bereits aufmerksam gemacht habe. Gemeinsam ist beiden Richtungen das, was wir "Szientifismus" und "Instrumentalismus" nennen wollen. Unter Szientifismus verstehen wir eine geistige Richtung, die bei der Frage, was Erkenntnis und Wahrheit sind, die Tatsache der positiven Wissenschaft, ihre Methoden und Aufgaben bereits voraussetzt und die Frage dann in der Richtung beantwortet, es sei Wahrheit und Erkenntnis eben das, "wozu" die Methoden der Wissenschaft führen; daß man also nicht zuerst die Begriffe der Wahrheit und Erkenntnis bestimmt, um dann zu fragen, wie weit die Wissenschaft vermöge ihrer Methoden Wahrheit und Erkenntnis erreichen kann - was allein für sie wissenswert ist - und wieweit etwa eine außerwissenschaftliche, zum Beispiel philosophische, religiöse oder künstlerische Erkenntnisart dies vermag. Unter "Instrumentalismus" aber verstehe ich jede Richtung, welche, anstatt die Methoden sich nach den Gegenständen richten zu lassen, behauptet, es sei die Methode, welche bestimmte Gegenstände erst erschafft; oder anders ausgedrückt, die behauptet, daß das Wort Wahrheit gleichzusetzen ist den Ergebnissen eines "richtigen", d. h. gewissen Normen gemäßen Denkens. Diese Normen können nach dieser Definition natürlich nicht selbst wieder "wahr" heißen. Wahrheit soll ja eben darin bestehen, daß ihnen gemäß verfahren wird. Im Widerspruch zu diesem Prinzip des Instrumentalismus steht daher der Satz, "richtig" darf und kann nur dasjenige Denken heißen, das zur Wahrheit führt und das selbst nach Sätzen oder Axiomen erfolgt, die evident wahr sind. Dies ist der Standpunkt einer auf Ontologie aufgebauten Logik, zu der der Instrumentalismus im Gegensatz steht. Eine dritte gemeinsame Idee der Pragmatisten und der Neukantianer ist endlich in der Behauptung zu sehen, daß dasjenige, was in der geistigen Betätigung gegeben ist, ein Chaos von Eindrücken, ein fluktuierendes "Gemenge" von Inhalten darstellt, das durch unsere Geistestätigkeit erst einer bestimmten Formung zu unterliegen hat. In beiden Fällen erscheint die Wahrheit nicht als etwas, das wir zu finden und zu entdecken haben, sondern als ein Erzeugnis unseres Geistes. -

Noch einige Worte über die historischen Quellen der pragmatistischen Bewegung, sofern es sich um entferntere Ursachen handelt: So neu und originell der Pragmatismus als Ganzes ist, so hat er doch in seinen einzelnen Bestandteilen tiefe Wurzeln in der Geschichte der wissenschaftlichen Philosophie. Nach einer Richtung stellt er sich als ein Abzweiger der großen Denkrichtung des Utilitarismus und Empirismus Englands dar. Schon BACON, der Vater dieser Denkrichtung, hatte der Wissenschaft die Aufgabe gestellt, Macht über die Natur zu gewinnen. Alle spekulative Beschäftigung, zum Beispiel mit rein mathematischer oder astronomischen Problemen des Fixsternhimmels, hatte er als ein "eitles" Unterfangen gekennzeichnet. Dieser Gedanke blieb auch in den späteren Kreisen der Positivisten lebendig und liegt auch der Forderung von AUGUSTE COMTE zugrunde "voir pour prévoir" [sehen um vorherzusehen - wp]. Auch vom pragmatistischen Kriterium über die Bedeutung eines Satzes finden wir schon von WILLIAM JAMES (ich kenne die Stelle nicht), dem hierin auch MILL folgte, die Annahme einer außerhalb von uns bestehenden Materie mit der Überlegung zurückweist, daß ihre Setzung in der Erfahrung unserer Sinne nichts ändern kann und darum eine solche Annahme überhaupt keinen "Sinn" macht. Freilich im Ganzen gesehen ist die pragmatistische Lehre von einem ganz entgegengesetztem Geist beseelt wie der Empirismus. Der Empirismus faßte den menschlichen Geist als vorwiegend passiv auf, und seine Lehre war, daß wir uns den sinnlich gegebenen Tatsachen in jeder Hinsicht sklavisch zu unterwerfen und alle Begriffe aus unserem Denken auszuschalten haben, die keine unmittelbare Deckung in den "Sensationen" der Sinne finden können. Darum war der Empirismus auch anti-konstruktiv und anti-theoretisch. Im Gegensatz hierzu ist der Kern des menschlichen Geistes nach der pragmatistischen Lehre in allererster Linie Tätigkeit, Wollen, Handeln. Nicht liebevolle Versenkung in die Tatsachen des sinnlich oder sonstwie Gegebenen, sondern aktive herrschaftliche Formung des sinnlichen Chaos führt hier zur Erkenntnis. Darum ist es auch eine kühne Theoriebildung und Konstruktion, wozu er uns einlädt. Viel näher steht in dieser letzteren Richtung der pragmatistischen Erkenntnislehre jene nominalistische Erkenntnistheorie, wie sie in England der äußerst konstruktive Denker THOMAS HOBBES vertreten hat. Er ist der eigentliche Großvater des Pragmatismus. Die pragmatistische Lehre vom Denken stellt ja auch nur eine besondere Abart des strengen Nominalismus dar. In der Richtung auf die Hervorkehrung des Arbeitsgedankens knüpft der Pragmatismus stark an die Ideengänge von KARL MARX an. MARX äußert schon zu Beginn seiner literarischen Laufbahn einmal zu seinen Genossen: "Bisher hat man die Welt immer nur erkennen wollen; auf, laßt sie uns verändern!" Auch MARXens Zurückführung alles ökonomischen Wertes auf die nach ihm allein schöpferische Arbeit, und noch mehr eine der beiden Fassungen, welche bei ihm die sogenannte ökonomische Geschichtsauffassung gewonnen hat, nämlich die technologische, kommen insbesondere den geschichtsphilosophischen Anwendungen des Pragmatismus weithin entgegen. Die technischen Arbeitsformen sind es, die nach ihm ja auch die Rechtsnormen, die künstlerischen Stilformen und die Formen der wissenschaftlichen Kultur erzeugen. Andererseits aber steht der Pragmatismus zur marxistischen Lehre darin im äußersten Gegensatz, daß die Freiheit des Willens lehrt, wogegen der Marxismus alle politische Aktion darauf beschränkt, daß sie der bloße Geburtshelfer einer streng determinierten ökonomischen Entwicklung zur neuen kommunistischen Gesellschaftsordnung zu sein hat. Neuerdings hat der revolutionäre Syndikalismus in Frankreich und England, der eine unmittelbare tatkräftige Aktion kühner Minoritäten zur Heraufführung der neuen Ordnung fordert, sich bewußt auf die pragmatistische Lehre aufgebaut. Wieder in anderer Richtung stellt der Pragmatismus eine Weiterentwicklung der Philosophie KANTs und noch mehr der J. G. FICHTEs dar. Auch nach KANT besteht der Grund der Übereinstimmung unseres Verstandes mit der Natur ja darin, daß der Verstand der Natur "seine Gesetze vorschreibt" und am Chaos des Gegebenen eine Ordnungstätigkeit ausübt, die es erst zu der gegliederten Natureinheit kommen läßt. Weit entfernt aber ist KANT davon, auch diesen Verstand selbst wieder als ein Ergebnis der vitalen Entwicklung anzusehen und ihn unter dem Druck von empirischen Bedürfnissen und Trieben und der durch sie bestimmten Arbeit erst entstehen zu lassen. Auch seine Lehre vom Primat des Willens läßt die Selbständigkeit der theoretischen Erkenntnissphäre als Ganzes völlig unangetastet und ordnet sie nur in ihrer Gesamtheit der sittlichen Lebensaufgabe unter; wogegen bei den Pragmatisten der Wille dem Verstand sozusagen auch in eine Einzelarbeit hineinredet, so daß jede Art von bestimmter Grenze zwischen unserem Gemüts- und Strebensleben einerseits, unserem Verstand andererseits, sowie auch jede Grenze zwischen Verstandesprinzipien und sogenannten "Postulaten" aufgehoben wird. J. G. FICHTE dagegen könnte man geradezu einen idealistischen Pragmatisten nennen. Ist doch auch ihm die Welt an erster Stelle das "Material unserer Pflicht", ordnet doch auch er die Idee der Wahrheit der des Guten unter und läßt doch auch er die theoretische Vernunft in die praktische aufgehen. Was ihn vom modernen Pragmatismus unterscheidet, das ist natürlich der transzendentale Vernunftgedanke, den er von KANT übernimmt, ferner die spekulative Methode der Philosophie. Auch der deutsche Logiker CHRISTOPH von SIGWART steht dem Pragmatismus durch seine Lehre nahe, nach der das Kausalprinzip und andere oberste Prinzipien der wissenschaftlichen Welterklärung weder beweisbare Sätze noch Empeireme [Wahrnehmungssätze - wp]
noch synthetische Urteile a priori im Sinne KANTs sein sollen, sondern "Postulate unseres freien sittlichen Willens zur Erklärung der Dinge".

Nach einer ganz anderen Richtung kann man SCHOPENHAUER für einen Vorgänger des Pragmatismus nicht als Philosophie, sondern als Methodologie der Wissenschaft ansprechen, insofern er den "Intellekt" als eine bloße Waffe des blinden Lebenswillens im Kampf ums Dasein ansieht und eben darum für die Philosophie und ihre Erkenntnis nur ein intuitionistisches Erkenntnisprinzip als oberstes gelten läß. Auf alle Fälle ist er in dieser Scheidung von Wissenschaft und Philosophie in Bezug auf beider Erkenntnisart der Vorgänger BERGSONs, der mit seinem Schüler Le ROY den pragmatistischen Gedankengang für die Methodologie der exakten Wissenschaften auszubauen suchte (4). Wieder eine neue Abart des Pragmatismus begann sich in Deutschland (unter der leitenden Anregung SCHOPENHAUERs) durch FRIEDRICH NIETZSCHEs "Wille zur Macht" auszuwirken. Seine Eigenart hebt sich dadurch schärfstens vom amerikanischen Pragmatismus ab, daß NIETZSCHE nicht die Wahrheitsidee pragmatistisch umzudeuten sucht, sondern die alten kontemplative Wahrheitsidee als einzig mögliche festhaltend, den Wert der Wahrheitsidee in Frage stellt. Ich sage, NIETZSCHE versuchte nicht, wie der amerikanische Pragmatismus, die Idee der Wahrheit neu zu deuten. Alle seine Ausführungen im "Willen zur Macht" über die Kategorien als Werkzeuge des menschlichen Herrschaftswillens, vor allem aber sein Versuch, die Idee der Wahrheit als eine Form des "asketischen Ideals" zu deuten, zugleich als eine Idee, die notwendig mit dem Gedanken einer nur geistigen Gottheit verknüpft ist, die also mit der Ablehnung des Gottesgedankens, mit der Ansicht "Gott ist tot" selbst dahinfallen muß, setzen voraus, daß er nach wie vor unter "Wahrheit" eine Übereinstimmung des Gedankens mit der Realität versteht. Die geistige Situation, aus der NIETZSCHE zuerst in der europäischen Geistesgeschichte diese radikalste aller radikalen Fragen: "Ist die Wahrheit überhaupt erstrebenswert?" zu stellen sich vermißt, ist keineswegs nur eine solche der individuellen Entwicklung NIETZSCHEs, sie ist vielmehr tief verankert in der gesamten wissenschaftlichen Kultur der Zeit, in der NIETZSCHE denkt und schreibt. Er hatte nur die radikale Kühnheit, diese Frage zu stellen und die antik-christliche Position, es gäbe so etwas wie eine dem Menschen und nur ihm eigene "Vernunft", die in ihren Formen und Kräften dem Weltall selbst gewachsen ist und seinen Sachgehalt zu erreichen vermag, nicht nur als eine im Kern durchaus metaphysische, sondern auch als eine im Grunde nur historisch-positive und europäische Position zu erkennen. Zum Zeugnis dafür möchte ich einen Aufsatz von WILHELM DILTHEY anführen, der sicher nicht unter NIETZSCHEs Einfluß geschrieben ist (5). Hier heißt es:
    "Die rationalistische Position wird heute von der Schule Kants hauptsächlich zur Geltung gebracht. Der Vater dieser Position war Descartes. Er hat zuerst der Sourveränität des Intellekts einen siegreichen Ausdruck gegeben. Diese Souveränität hatte ihren Rückhalt in der ganzen religiösen und metaphysischen Position seiner Epoche, und sie bestand ebenso bei Locke und Newton wie bei Galilei und Descartes. Nach dieser ist die Vernunft eben das Prinzip der Konstruktion der Welt, nicht eine episodische Erdentatsache. Doch kann niemand sich heute dem entziehen, daß dieser großartige metaphysische Hintergrund nicht mehr selbstverständlich ist. Vieles wirkte in dieser Richtung. Die Analysis der Natur scheint die konstruktive Vernunft als ihr Prinzip allmählich entbehrlich zu machen; Laplace und Darwin repräsentieren am einfachsten die Umwandlung. Und die Analysis der Natur scheint ebenfalls dem heutigen wissenschaftlichen common sense den Zusammenhang dieser Natur mit einer höheren Ordnung entbehrlich zu machen. In beiden Veränderungen ist als drittes enthalten, daß der religiöse Zusammenhang zwischen Schöpfer und Geschöpf für uns keine zwingende Tatsache mehr ist. Aus all dem geht hervor, daß eine Ansicht, welche den souveränen Intellekt des Descartes als ein vorübergehendes singuläres Produkt der Natur auf der Oberfläche der Erde und vielleicht unserer Gestirne ansieht, nicht mehr von vornherein abzuweisen ist. Viele unserer Philosophen bekämpfen sie. Aber für keinen derselben ist Vernunft als Hintergrund des ganzen Weltzusammenhangs selbstverständlich. So wird das Vermögen dieser Vernunft, sich der Realität denkend zu bemächtigen, zur Hypothese oder zum Postulat."
Indem NIETZSCHE die Radikalfrage nach dem Wert der Wahrheit stellte, gab er der von DILTHEY hier meisterhaft gekennzeichneten Situation nur einen Ausdruck von einer zynischen Großartigkeit, der die "vielen Philosophen" der Zeit, die so lebten und taten, als gäbe es eine Vernunft und Wahrheit, an deren religiös-metaphysische Voraussetzung sie doch nicht mehr glaubten, nur Lügen strafen konnte. Mit dieser Wendung NIETZSCHEs erst entsprang auch die deutsche Abart des modernen Pragmatismus, - die ehrlich-kynische, wie ich sie nennen möchte. Das heißt eine Form des Pragmatismus, die sich nicht den cant [Scheinheiligkeit - wp], die Wahrheitsidee im Sinne eines praktischen Interessen- und Brauchbarkeitswertes umzudeuten, die vielmehr ernsthaft frägt: Warum dann nicht lieber Irrtum, Jllusion, Fiktion - wenn sie besser der Auswirkung des Lebens- und seines innersten Nervs, des "Willens zur Macht", dienen? Anstelle des idealistischen und geistigen Pragmatismus J. G. FICHTEs, SIGWARTs usw., die alle Erkenntnis der Idee einer praktischen Vernunft unterordnen, die Souveränität der Vernunft selbst also festhalten, entstand mit NIETZSCHE der vitalistische Pragmatismus - vom Pragmatismus der Arbeit und des Nutzens durch seine neue extrem aktivistische Auffassung des Lebens scharf unterschieden. Zu einer wissenschaftlich ausgebauten Erkenntnistheorie aber wurde diese deutsche Form des Pragmatismus im sogenannten Fiktionalismus VAIHINGERs, der einen durch die Brille F. A. LANGEs gesehenen KANT mit diesen Anregungen NIETZSCHEs in engste Verbindung brachte. Die Ausführung dieser fiktionalistischen Form des Pragmatismus kann hier nicht genauer untersucht werden. Wesentlich ist dem Fiktionalismus, daß er unter den herkömmlichen Erkenntnis- und Wahrheitsbegriffen den sensualistischen festhält, wie ihn DAVID HUME am schärfsten ausgeprägt hat. "Wahr" an Ideen und Ideenverknüpfungen ist hiernach nur dasjenige, was sich als "Kopie" auf Impressionen zurückführen läßt. Ohne die Voraussetzung dieses streng sensualistischen Wahrheitsbegriffs hätte ja auch der Begriff der "Fiktion" keinen Sinn mehr. Indem nun aber gezeigt werden soll, daß alles, was an unseren wissenschaftlichen Grundbegriffen und deren gemeinten Gegenständen über Impressionen und Derivaten [Ableitungen - wp] von solchen hinausgeht, eine auf unseren Trieben und Bedürfnissen beruhende Phantasieschöpfung ist, d. h. eine "Fiktion", beruth schließlich unser gesamtes wissenschaftliches Weltbild und seine Gegenständlichkeit auf Fiktionen und auf "res fictae"; und erst recht sollen unsere religiösen IDeen und ihre Gegenstände darauf beruhen. Es ist dabei für die sensualistische Grundlage des Fiktionalismus charakteristisch, daß er zwischen übersensuellen Seinsformen, Wirkformen (Kategorien), und bloßen in der Tat fiktiven Hilfsbegriffen (ideales Gas, ideal starrer Körper, juristische Person einer Gesellschaft, "homo oeconomicus" usw.) und "idealen Gegenständen" wie denen der Mathematik, hypothetischen Realitätsannahmen in den Lehren von Materie und Zelle, religiösen Gegenständen, keinerlei inneren Wesensunterschiede gelten läßt, sie vielmehr alle gleichsehr als Fiktionen bzw. res fictae ansieht. Die pragmatisch-motorische Wahrnehmungstheorie - das gesichertste Element allen Pragmatismus - schließt den Fiktionalismus gerade aus, da der Fiktionalismus ja die Empfindung als ein letzt Vorgefundenes und Gegebenes gelten läßt.
LITERATUR: Max Scheler, Der philosophische Pragmatismus, Die Wissensformen und die Gesellschaft, Leipzig 1926
    Anmerkungen
    1) Unter dem Titel "Der Pragmatismus" (Leipzig 1908) ins Deutsche übertragen von WILHELM JERUSALEM, der selbst (siehe seine "Einleitung in die Philosophie") dem Pragmatismus nahe stand. Zur Geschichte der Bewegung, die im tieferen Sinne noch nicht geschrieben ist, vgl. daneben ÉMILE BOUTROUX, "William James", deutsch von BRUNO JORDAN, Leipzig 1912. Vgl. ferner JULIUS GOLDSTEIN, "Wandlungen in der Philosophie der Gegenwart", Leipzig 1911. Ein weiter ausgeführtes System der pragmatischen Philosophie gibt F. C. SCHILLER in seinem Werk "Humanismus - Beiträge zu einer pragmatischen Philosohie, deutsch von RUDOLF EISLER, Leipzig 1911.
    2) Vgl. über diese verschiedenen Arten von Axiomatik jetzt das Buch MORITZ GEIGERs "Axiome der euklidischen Geometrie", in dem versucht wird, eine einsichtige Wesensaxiomatik der euklidischen Geometrie anstelle der bloßen Fruchtbarkeitsaxiomatik zu setzen, die unsere stark nominalistische und formalistische gegenwärtige Mathematik meist allein kennt. Die tiefgehenden Unterschiede beider Arten von Axiomatik sind wohl noch niemals so eingehend gekennzeichnet worden wie in diesem Buch.
    3) FERDINAND CUNNINGHAM SCHILLER, "Humanismus", Beiträge zu einer pragmatischen Philosophie, Leipzig 1911, Bd. 25 der Philosophisch-soziologischen Bibliothek.
    4) Über BERGSONs starke Einwirkung auf WILLIAM JAMES vergleiche man das Buch von EMILE BOUTROUX "William James", Seite 97f.
    5) Vgl. den Aufsatz von DILTHEY "Erfahren und Denken", eine Studie zur erkenntnistheoretischen Logik des 19. Jahrhunderts (1892) (Bd. V der Gesammelten Werke).