p-4ra-1 BergsonA. SteenbergenA. Liebert    
 
HANS PRAGER
Henri Bergsons
metaphysische Grundanschauung


"Die Philosophen, die die Persönlichkeit mittels psychologischer Analyse zu rekonstruieren unternehmen, seien sie nun  Empiristen  oder  Rationalisten,  begehen denselben Fehler, indem sie  wirkliche Teile  mit einer  partiellen  Bezeichnung derselben verwechseln, daß sie also das  Ding  mit dem  Begriff selbst  zu erfassen glauben. - Abgesehen davon, daß der Begriff entweder zu wenig oder zuviel  über  das Ding sagt, ist er stets ein stellvertretendes  Symbol,  nie aber die  Realität  selbst."

"Die  Dauer  als Begriff gefaßt ist leer; d. h. wir können analytisch die Dauer entweder durch die Einheit oder durch die Vielheit entstanden denken; niemals jedoch sind wir imstande all die Grade, Nuancen, Mannigfaltigkeiten der inneren Zustände auf diese Weise klarzulegen; denn mit der Analyse heben wir eben die Dauer auf. In der  Intuition  dagegen  erleben  wir eine unbeschränkte Anzahl von Dauermomenten, ebenfalls unbeschränkte Koexistenzen und Sukzessionen, was allein der Wirklichkeit entspricht."

"Die Welt ist  in mir  und ich habe die Macht, sie zu erfassen. Hier gibt es keine Antinomien, denn Antinomien sind Begriffe und Begriffe sind  Gedankendinge.  In der Intuition jedoch gibt es keine  Verdinglichung.  Jede Verdinglichung liegt einem Schema zugrunde und jedes Schema ist antinomienhaft. Dieser Qual entrinnen wir, wenn wir uns klar hierüber sind, daß das  Wesen des Begriffs  im letzten Grund in der Intuition gegeben ist."


I.

Bei  Diederichs, Jena, ist soeben von BERGSON eine "Einführung in die Metaphysik" erschienen, eine kleines Werkchen, dessen wesentlicher Inhalt im nachfolgenden dargestellt werden soll.

Zwei Stellungnahmen gegenüber dem  Absoluten sind - nach BERGSON - möglich: Die  relative, symbolische, die je nach dem Koordinatensystem, auf das sie bezogen ist, sich darstellt.  Relativ ist sie deshalb, weil ich mich  außerhalb des Objekts stelle (wie ja der Standort des Koordinatensystems ständig gewechselt werden kann) und  symbolisch deshalb wiederum, weil ich eines  Gesichtspunkte, eines  Bildes, kurz eines  Begriffs bedarf, welcher für mich Ersatz,  Symbol der konkreten Realität bezeichnen soll, der eine noch so vorzügliche  Übersetzung des  Originals sein kann, aber dennoch eben nur  Übersetzung ist. - Die  andere Stellungnahme nun dem  Absoluten gegenüber ist die der  Intuition. In der Intuition dringe ich in das Objekt  selbst ein; ich bedarf hier keiner stellvertretenden Symbole, weil ich das Objekt unmittelbar, von  innen ergreife, während die  Analyse (eben die erste Art) mir Beziehungen, Vergleiche,  Stücke des Objekts darbietet, also immer  quantitative Bestimmungen liefert, die wohl  wissenschaftliche, aber  keine metaphysische Bedeutung für mich haben. - Das  Wesen  des Objektes kann mir eben nur die Intuition nahebringen, weil ich das Objekt in ihr unmittelbar ergreife; in der Intuition erfasse ich das Objekt in einer  Einheit, während ich es eben durch die  Analyse als Vielheit von Stücken, Beziehungen auffasse, die ich vergebens wieder zur Einheit zusammenzusetzen versuchen werde. Denn das  X,  das mir als  ineffabile  [unaussprechlich - wp] gegeben ist, kann ich nur von  innen,  also  intuitiv, nie  von  außen,  also  begrifflich  und  quantitativ  erfassen.
    "Hieraus folgt, daß ein Absolutes nur in einer  Intuition  gegeben werden kann, während alles Übrige von der  Analyse  abhängig ist. Intuition heißt jene Art von intellektueller Einfühlung, kraft deren man sich in das Innere eines Gegenstandes versetzt, um auf das zu treffen, was er an Einzigem und Unausdrückbarem besitzt. Die Analyse dagegen ist das Verfahren, das den Gegenstand auf schon bekannte, also diesem und anderen Gegenständen gemeinsame Elemente zurückführt."
Der Gegensatz zwischen Analyse und Intuition ist also klar. Es ist weiter klar, daß die Analyse oder sagen wir nur ruhig: die (bisherige)  Metaphysik  als  Begriffswissenschaft  unendlich kompliziert ist. Denn die Analyse  vermehrt  die Gesichtspunkte, wodurch eben dann einerseits jene verschiedenen metaphysischen Schulsysteme hervorgehen, die einander bekämpfen, und andererseits jene  Antinomien,  deren Auflösung unmöglich oder nur gekünstelt möglich ist. - Die  positive  Wissenschaft ist also  analytisch,  denn sie  bearbeitet  das Objekt; die Metaphysik ist  intuitiv,  denn sie sucht das  Wesen  des Objekts zu erfassen. - Wo ist nun - sozusagen - die  erste  Intuitioin gegeben? - An unserer eigenen Person  in ihrem Verlauf durch die Zeit.  Dieser Zusatz ist bedeutungsvoll. Denn wir erleben uns  nicht  als Ding, als Sachverhalt, sondern wir erleben uns sicherlich als  Dauer,  als das in der Zeit immer größerwerdende Objekt, wie ein kleiner Schneeball, der, von der Spitze des Berges herabrollend, am Fuß desselben zu einer großen Kugel angewachsen ist. -
    "Alles, was sich in meinem Ich nach  außen  hin zeigt, sind alle jene Äußerungen meines Seelenlebens, die jedem Menschen und Psychologen bekannt sind; Erinnerungen, Bewegungen, Bestrebunen usw. Wenn ich jedoch nach  innen  in mein eigenes Ich eindringe, so finde ich  Eines,  Kontinuität des Verfließens eine Folge von Zuständen, deren jeder anzeigt, was folgt, und deren jeder enthält, was ihm vorangeht."
Dieses Grundagens meines Seelenlebens ist mein Bewußtsein, mein Gedächtnis. - Kein Moment kann dem andern in ihm identisch sein; denn das Gedächtnis ist eine  Reihe,  die  nicht  aus einzelnen Gliedern  zusammengesetzt  ist, sondern den Gliedern als  Ausdrucksteilen,  als  qualitativen  Momenten und nicht als  Bestandteilen,  als  quantitativen  Momenten  vorangeht.  Wir dürfen - wollen wir uns das Wesen des Bewußtseins als Gedächtnis vergegenwärtigen - nicht an ein  Ding etwa eine  Linie,  sondern an eine  Tätigkeit  denken, die sich  gradweise  verändert, verschiedene Nuancen annimmt, wie sie nur ein tausendfarbiges Spektrum zeigen kann; wir  müssen  vom  Raum  abstrahieren als einem  Substrat  der Bewegung und dürfen nur allein vom  Akt  der Bewegung sprechen, in  demselben  Sinn etwa, in dem GALILEI die  Bewegung  als  solche  studierte, ohne Rücksicht auf räumliche Begrenzung, während dagegen ARISTOTELES die Bewegung als einen räumlichen Verlauf zwischen einem "Oben" und "Unten" definierte. - Durch  Begriffe  können wir nun unmöglich das Wesen der inneren Dauer darstellen. Denn die Begriffe  zerlegen,  sie lösen in Teile auf, was dann zusammengesetzt noch lange nicht die ursprüngliche Einheit ergibt. -  Bilder  jedoch, die uns im  Konkreten  erhalten, dienen der Intuition bei weitem besser; denn  kein  Bild steht unverrückbar auf seinem Platz, wie ein Begriff; es läßt sich verschieben, verändern, kurz, es läßt  dieselbe  Mannigfaltigkeit der Behandlung zu, wie es der Mannigfaltigkeit in der Einheit der inneren Dauer entspricht.

Die Metaphysik kann die Begriffe wohl aus Voraussetzungen zu ihr (sofern sie eben  Wissenschaft  sein soll) nicht entbehren; denn die  anderen  Wissenschaften arbeiten zumeist mit Begriffen und die Metaphysik kann der anderen Wissenschaften nicht entbehren. Jedoch muß sie über die  Begriffe  hinausschreiten können, um zur Intuition zu gelangen, deren Wesen dem  Wesen fester, starrer  Begriffe, die  Stücke, Dinge, nie  aber  Bewegungen, Eigenschaften  ausdrücken, entgegengesetzt ist. - Was ist nun die Dauer? Ist sie Einheit, wie sie durch den  Begriff  der Einheit umschrieben wird? Wenn sie es wäre, dann könnte es nur jene  abstrakte  Einheit sein, die ich erhalte, wenn ich von der  lebendigen, die in mir ist,  absehe und eine  Unterlage  annehme, auf der eben die in mir lebendige Einheit beruhen soll. - Dies widerspricht ja offenbar jeder Erfahrung. Denn die Einheit der Dauer in mir ist keine  unbewegliche, farblose, leere  Einheit, sondern eine immer  werdende, bestimmt gefärbte, erhellte  Einheit: Sie läßt sich also durch den  Begriff  der Einheit  gar nicht  umschreiben. -  Dasselbe  gilt von der  Vielheit.  Auch hier im  Begriff  eine leere, unbewegliche Abstraktion anstelle einer  lebendigen, werdenden konkreten Realität Und die Schwierigkeiten nun, die innere Dauer zu umschreiben, durch eine Kombination von Einheit  und  Vielheit, wachsen jetzt ins Ungeheuerliche; denn ich erhalte zum Schluß ja dennoch wieder nur Begriffe, die dann im Grunde genommen zu einer  Antinomie,  zur  Skepsis  führen. - Nur durch die  unmittelbare  Einfühlung in die Dauer mit hilfe der  Intuition  kann ich mir eine Vorstellung, ein Bild von ihr zurechtlegen. - Sie zu  erfassen  reicht allerdings auch das Bild nicht völlig aus. -

So beruth die Metaphysik in letzter Linie auf der  Psychologie.  Gewiß; aber die  Psychologie  ist bisher stets  analytisch  wie die anderen Wissenschaften vorgegangen. Sie hat z. B. die Empfindung, die ja nur stets im  Gesamtkomplex  der  Persönlichkeit die im bewußten Leben des Menschen, also in seiner  Erinnerung,  als unablösbares Moment in einem lebendigen Prozeß  mitenthalten  ist, als  Teil  isoliert und sie mit den anderen  Teilen  der Persönlichkeit in Beziehung gebracht. - So klar nun ist, daß diese  analytische  Methode der Psychologie als  Wissenschaft  unentbehrlich ist, so klar ist wiederum, daß  so  Metaphysik  nicht  gegeben werden kann. Läßt sich denn die Persönlichkeit überhaupt in Teile zerlegen und dann wieder  aus  ihnen zusammensetzen? Gewiß nicht. - Dasselbe gilt für die analytische Behandlungsweise der übrigen "Elemente" der Psyche. - Man erhält so nur Skizzen, Relationen, isolierte Aspekte, aber  niemals  die Persönlichkeit selbst. - Die Psychologie ist eine "interesselose" Wissenschaft. - Sie läßt deshalb all das, was eben die bestimmte Nuance einer Persönlichkeit ausmacht, ihren eigentümlichen Gehalt völlig außer acht. - Die Metaphysik dagegen ist - sozusagen - die  höchstinteressierteste  Wissenschaft. - Sie betrachtet das  Wesen  des Menschen unter einem  bestimmten  Aspekt, in einer  bestimmten  Stellung, in einer  besonderen  Art; z. B. im Hinblick auf das Glück, die Zufriedenheit, die Nützlichkeit. Die Psychologie dagegen läßt die Persönlichkeit als  Ganzes  außer Auge; sie  analysiert  sie lediglich als Komplex von Teilen. - Das  Interesse  der Psychologie richtet sich lediglich auf einen  "Teil,  das der Metaphysik ist höchstgesteigertes Interesse selbst.

Die Philosophen, die die Persönlichkeit mittels psychologischer Analyse zu rekonstruieren unternehmen, seien sie nun  Empiristen  oder  Rationalisten,  begehen denselben Fehler, indem sie  wirkliche Teile  mit einer  partiellen  Bezeichnung derselben verwechseln, daß sie also das  Ding  mit dem  Begriff selbst  zu erfassen glauben. - Abgesehen davon, daß der Begriff entweder zu wenig oder zuviel  über  das Ding sagt, ist er stets ein stellvertretendes  Symbol,  nie aber die  Realität  selbst. Beide Philosophengruppen vermengen Intuition und exakte Analyse, Metaphysik und Wissenschaft. - Würden diese Philosophen  im Rahmen ihrer Methode  bleiben, würden sie reine  analytische  Philosophen, also Wissenschaftler bleiben, so würden sie ihr Gebiet mit Erfolg bearbeiten; aber sie beginnen mit der  Intuition,  um mit der  Analyse  zu enden, was ein unmögliches Verfahren ist. -
    "Sie suchen das Ich und behaupten es in den psychologischen Zuständen zu finden, während doch diese Mannigfaltigkeit von psychologischen Zuständen nur dadurch zu erhalten war, daß man sich aus dem Ich herausversetzte, um von der Person eine Reihe mehr oder weniger schematischer und symbolischer Skizzen, Aufzeichnungen, Darstellungen aufzunehmen."
Rationalismus und Empirismus sind also im Grunde genommen einander nicht so entgegengesetzt; denn  beide  versetzen sich aus dem Ich heraus, lösen seine Teile ab, um dann wieder das Ich zu rekonstruieren; es ist hierbei gleichgültig, ob dieses Verfahren  empiristisch  geschieht, d. h. mit Ausschaltung des Seelenbegriffs oder rationalistisch  mit  Seelenbegriff. Beide enden notwendigerweise mit derselben Skepsis. - Begriffe werden nicht aus den Gegenständen gewonnen, sondern mit  fertigen  Begriffen wird an die Gegenstände herangetreten, statt in die Gegenstände einzudringen und sie so unmittelbar zu erfassen. - Die Begriffe bezeugen Richtungsweisen unseres Denkens; soviele Denkmethoden, soviele Richtungsbegriffe.  Quantitativ  wird unser Wissen dadurch sicherlich erweitert; aber die Philosophie ist  qualitativ;  das qualitative Moment läßt sich jedoch  nur  in der  Intuition  erfassen, weshalb sich dieselbe und eine Begriffswissenschaft gegenseitig ausschließen.

Die Natur dieser Intuition besteht in folgendem: Begriffe sind  fest;  daher werden psychologische Zustände in Begriffsform gebracht notwendig unveränderlich, starr gemacht. -
    "Nun gibt es keinen seelischen Zustand, so einfach er auch ist, der nicht jeden Augenblick wechselt, da es kein Bewußtsein ohne Gedächtnis gibt, keine Fortsetzung eines Zustandes ohne die Addition der Erinnerung der vorangegangenen Momente zur gegenwärtigen Empfindung. Darin besteht die Dauer."
Dies ist eine  Analyse  der Dauer; aber diese Analyse hebt die Dauer nicht auf, wie es geschehen würde, wenn man  Stücke  des Bewußtseins herausgreifen und sie analysieren wollte. Denn  dann  würde allerdings die Dauer beseitigt und damit das eigentümliche Wesen der inneren Dauer unerforschlich gemacht werden. Bei der obigen Analyse bleibt man jedoch in der  Zeit,  die allerdings nur ein  Zeitmoment  sein kann (denn ich ziehe Zustände aus der  gesamten  Dauer des Bewußtseins heraus und betrachte sie als  dauernde  Zustände), so daß man  jederzeit  in der Lage ist, den  ursprünglichen Zustand  wieder herzustellen,  weil man eben in der Zeit geblieben ist. 

Ich gelange also vom einfachen Schema leicht wieder zur konkreten Wirklichkeit;  hier  ist die scharfe Linie zwischen  Analyse und Intuition.  - Denn in der Intuition bin ich stets in der gesamten Dauer, in  einer, konstanten  Veränderlichkeit, während in der Analyse  bestenfalls  eine vereinfachte Rekonstruktion gegeben ist. - Man kann also von der Intuition zur Analyse gelangen, niemals  jedoch  ist der umgekehrte Weg möglich.

Wenn BERGSON sagt: "Ein Objekt  denken  bedeutet von seiner  Beweglichkeit  eine oder mehrere  unbewegliche  Ansichten aufnehmen", so umschreibt er in diesem kurzen Satz die  praktische  Erkenntnis der Wirklichkeit durch die  Wissenschaft,  während das  Wesen  der Realität d. h. die  metaphysische  Erkenntnis eben nur durch die Metaphysik, durch die  Intuition  möglich ist. - Die  Dauer  als Begriff gefaßt ist leer; d. h. wir können analytisch die Dauer entweder durch die Einheit oder durch die Vielheit entstanden denken; niemals jedoch sind wir imstande all die Grade, Nuancen, Mannigfaltigkeiten der inneren Zustände auf diese Weise klarzulegen; denn mit der Analyse heben wir eben die Dauer auf. In der  Intuition  dagegen  erleben  wir eine unbeschränkte Anzahl von Dauermomenten, ebenfalls unbeschränkte Koexistenzen und Sukzessionen, was allein der Wirklichkeit entspricht.

Die Ewigkeit des  Lebens nicht die des  Todes die die begriffliche ist, erfassen wir dadurch, daß wir die Dauer bis auf das Intensivste anspannen, daß wir über uns hinausgehen. Geht diese Intuition nach  abwärts,  d. h. in eine immer größer werdende  Zerstreuung  der Dauer in ihre Momente, so gelangen wir an eine Grenze, wo die  Qualität  verloren geht und die  Quantität,  Homogenität (die auf Wiederholung, d. h. Gleichheit beruth) kurz: die  Materialität  beginnt. Geht sie nach  aufwärts,  d. h. in eine immer größer werdende  Verdichtung  der Dauermomente, so gelangen wir zur  Ewigkeit. 

Zwischen diesen beiden Polen bewegt sich die Intuition; und je tiefer sie dringt, desto klarer wird ihr das Wesen der Dauer.

Deshalb ist die Metaphysik nichts Fertiges, sondern eine "schmerzhafte Anstrengun", die wir in unablässiger Arbeit vollziehen.

Metaphysik ist kein System, keine Abstraktion, sondern Intuition in das Wesen der inneren Dauer. 

Damit ist BERGSONs  allgemeine  metaphysische Anschauung wiedergegeben. Im Folgenden stellt er nun Thesen zur  spezielleren  Metaphysik auf, die er kurz erläutert.

Wir können uns mit dem Bisherigen begnügen und wollen daran folgende Betrachtung knüpfen.


II.

Wenn KANT die Möglichkeit bzw. die Unmöglichkeit der Metaphysik als  Wissenschaft  dartun wollte, so ist klar, daß er hierbei mit einem vorgefaßten  Plan,  mit einem bestimmten  Gedankenschema  an diese Aufgabe herantrat. - Es wäre nun verfehlt zu meinen, daß KANT sich hierbei in  prinzipieller  Weise von seinen Vorgängern unterschied. PLATO, ARISTOTELES, DESCARTES, SPINOZA und LEIBNIZ,  alle  haben sie genau  dieselbe begriffliche  Ansicht des Metaphysischen besessen und sich  nur  in der Formulierung und Gestaltung eben dieser  begrifflichen Vormeinung  voneinander unterschieden. - Bei KANT kommt jedoch noch der, allerdings wichtige Umstand hinzu, daß er in seinem  kritischen  Bewußtsein und durch seine  kritische  Methode sich des pro und contra im Hinblick auf die Metaphysik wohl bewußt war. Andererseits wieder muß jedoch beachtet werden, daß z. B. PLATO insofern eine tiefere Einsicht in das Wesen der Metaphysik hatte, daß er die  Seele  auf sie bezog, als der  Intuition  nahe kam, während KANT  rein  diskursiv,  rein  begrifflich an die Metaphysik herantrat. Aber auch PLATO bleibt im Begrifflichen, allerdings -  sit venia verbo  [Man verzeihe den Ausdruck - wp] - im  Seelisch-Begrifflichen. Nach  KANT nun hat sich in der prinzipiellen Frage der Metaphysik wenig geändert. Den hervorragendsten Platz nehmen FICHTE und SCHOPENHAUER ein. Jener durch seine Ich-Metaphysik, dieser durch seine platonisch-indische Metaphysik. - Aber auch hier noch  prinzipiell  die  begriffliche  Seite der Metaphysik. Man sucht eine  Weltformel,  einen  Weltbegriff  und die  Seele  geht dabei verloren!

Bei SCHOPENHAUER nun vollzieht sich eine Wendung, allerdings nicht von ihm direkt gewollt. - Die  Antinomien,  die KANT andeutet, von HEGEL einseitig ausgebeutet werden, werden von SCHOPENHAUER in die  Seele  getrieben; halb und halb zeigt sich bei SCHOPENHAUER die  Unmöglichkeit eines Weltbegriffs wegen seiner ewigen, unzerstörbaren Antinomien.  Die  radikalste  Konsequenz hinsichtlich der Tatsache, daß jede  begriffliche  Metaphysik an der  Antinomie  zugrunde geht, hat der tiefe, leider so wenig bekannte JULIUS BAHNSEN gezogen. - BAHNSEN versucht sogar eine  negative  Metaphysik zu begründen d. h. eine solche, die sich um das  andere  Glied der Antinomie dreht. - Warum sollte dies auch nicht möglich sein? Nur hebt er sich selbst auf, indem er, eben im  Begrifflichen  bleibend, dennoch das positive Begriffliche negiert; das ist aber philosophischer Selbstmord. - Ich wage zu behaupten, daß BAHNSENs "Widerspruch im Wissen und Wesen der Welt" das  tiefste  Buch über die ewige Antinomie ist (BAHNSEN ist von SCHOPENHAUER ausgegangen) und daß es den  Tod  jeder begrifflichen  Metaphysik  in  negativer  Hinsicht bedeutet. - Den  positiven  Neubau ener  anderen  Metaphysik liefert BERGSON.

Zwischen SCHOPENHAUER und der Gegenwart ist auch noch NIETZSCHE; NIETZSCHEs  ewige Wiederkunft des Gleichen  kann wohl als Ahnung einer  neuen  Metaphysik aufgefaßt werden (1). - So zeigt sich nun in der Gegenwart HENRI BERGSON.

Es ist mir nicht bekannt, ob jemand in der Gegenwart in derartig  entschiedener  Weise wie BERGSON gegen jede begriffliche Metaphysik zu Felde gezogen ist, etwa SIMMEL ausgenommen, der in seiner "Religion" das Wesen des Religiösen in so schöner Weise als Fließendes in der Seele darstellt, oder in jüngster Zeit etwa OSCAR EWALD, der in seinen "Gründen und Abgründen" ebenfalls die reiche  metaphysische  Mannigfaltigkeit des Seelischen ergründet (2). -  Prinzipiell  jedoch dürfte BERGSON der Hauptgegner der begrifflichen Metaphysik sein.

Wie könnte nun eine Kritik dieses Standpunktes beschaffen sein? Offenbar ist nur ein  Zirkelbeweis  gegen BERGSON möglich. Andererseits soll nicht geleugnet werden, daß die einfachste und leichteste Kritik gegen BERGSON im Faktum des  Begriffszwangs  liegt, dem die Intuition - zumindest bei ihrer  Darstellung  - unterworfen ist. (Vgl. "Henri Bergson", von RICHARD KRONER, "Logos", Bd. 1, Heft 1, Seite 125f, Tübingen 1910). Um das Begriffliche zu retten, muß ich eben bereits mit  Begriffen  arbeiten. - Indem ich nämlich die  Intuition negiere,  negiere ich sie  begrifflich,  womit ich mich im Kreis drehe, denn an die Intuition kann  kein  Begriff, sondern nur wieder Intuition heran. -  Diese Antinomie ist begrifflicher Art, daher der klarste Beweis für die Unmöglichkeit der Metaphysik als Begriffswissenschaft.  Der Intuition ist diese Antinomie fremd; wie es seinen  logischen Zwang  gibt, so gibt es einen  intuitiven Zwang.  Wer sich diesem letzteren nicht fügt, begeht philosophischen Selbstmord, gerät in eine rettungslose Skepsis oder wird  religiös.  - Die Vergeblichkeit der bisherigen metaphysischen Systeme beweist dies zur Genüge.

Es sei mir gestattet, an einem Beispiel meine Ansicht zu erläutern.

Wie auch immer ich mir den  Urgrund  der Welt denke, sei es als  Idee  (PLATO), als  unendliche Substanz  (SPINOZA), als  Gott  (Religionen), als  ursachloser Wille  (SCHOPENHAUER),  niemals  kann ich die  Welt restlos  aus ihm ableiten. - Restlos! Erwidert man mir, daß ich  zuviel  von der Metaphysik fordere, daß ich  Unmögliches  verlange, so antworte ich darauf: Entweder Metaphysik oder Glaube! Den letzteren will ich nicht, denn ich bedarf einer  ungezwungenen  Weltanschauung. Ergo Metaphysik. Wenn aber  diese,  so muß sie mir meinen Verlust an religiösem Glauben ersetzen; d. h. sie muß mir  meine  Stellung in der Welt verständlich machen. - Dies aber brachte noch keine Metaphysik zu Wege, denn die Metaphysik war bisher hauptsächlich Metaphysik des  Menschen  in der Natur und  nicht  der Natur  im Menschen,  was lange nicht dasselbe ist. - Bloß SCHOPENHAUER und NIETZSCHE haben  den  Menschen zum metaphysischen Objekt gemacht,  ersterer  ihn als Kristallisation eines dummen Willens dargestellt und damit zum  Ding  gemacht,  dieser im  Menschen den  Willen  dargestellt, womit der  Wille  zum  Ding  wurde. -  Verdinglichung  des Menschen oder seines Willens kann aber nicht das Ziel der Metaphysik sein.

BERGSON dagegen weiß von einer solchen Verdinglichung nichts. - Ihm  ist der Mensch der Urgrund der Welt  selbst;  denn in ihm ist es gelegen, sich der Welt zu versichern.  Gibt es etwas Großartigeres, Trostvolleres, Einleuchtenderes? Gewiß nicht. - Wozu die Qual, was ich  in  der Welt zu suchen habe? Die Welt ist  in mir  und ich habe die Macht, sie zu erfassen. Hier gibt es keine Antinomien, denn Antinomien sind Begriffe und Begriffe sind  Gedankendinge.  In der Intuition jedoch gibt es - wie gesagt - keine  Verdinglichung.  Jede Verdinglichung liegt einem Schema zugrunde und jedes Schema ist antinomienhaft. Dieser Qual entrinnen wir, wenn wir uns klar hierüber sind, daß das  Wesen des Begriffs  im letzten Grund in der Intuition gegeben ist. - Wer also mit  Begriffen  an die Welterklärung herantritt, der hat - ungewollt - mit der Intuition begonnen; und die Unmöglichkeit, die Antinomien von den Begriffen fernzuhalten, wird ihn dann wieder zur Intuition zurücktreiben. - Die Zukunft wird es lehren. Die Frage natürlich, wie die Intuition als subjektives Erlebnis zu allgemeiner Gültigkeit gelangt, ist unlösbar; ebenso unlösbar ist die Frage, wie die Entstehung des diskursiven Denkens aus der Intuition zu begreifen ist. Wir müssen ganz einfach das intutitive Erlebnis als erstes und letztes Moment aller Philosophie, als unwiderlegliches Faktum hinnehmen; mitten darin liegt die Erkenntnistheorie, die so viel am  Begreifbaren  zu arbeiten und zu klären hat, daß sie das  Unbegreifliche  einer anderen Erkenntnisquelle überlassen sollte, die glücklicher ist, weil ihr keine Antinomien drohen. Es gibt in der reinen Theorie des Erkennens soviel theoretische Metaphysik, das man diese - als  begriffliche, wissenschaftliche  Hypothese - vom  Faktum des inuitiven, metaphysischen Erlebnisses  endlich scheiden lernen sollte.
LITERATUR - Hans Prager, Henri Bergsons metaphysische Grundanschauung, Archiv für systematische Philosophie, Bd. 16, Berlin 1910
    Anmerkungen
    1) Denn es soll hier wenigstens die ewig-gleiche unzerstörbare Realität der Seele postuliert werden, die frei sein soll von gedanklicher Reflexion über sie und die lediglich  erlebt  werden kann.
    2) Interessant ist die Ähnlichkeit zwischen RICKERT und BERGSON; denn RICKERT fordert für das historische (psychologische) Geschehen eine prinzipiell andere Begriffsbildung als für das Naturgeschehen und leugnet konsequenterweise die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Metaphysik, sofern diese auf eine Erkenntnis des  Seins  gehen will (HEINRICH RICKERT: Zwei Wege der Erkenntnistheorie, Kant-Studien, Bd. 14, Seite 228).