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GERARD HEYMANS
(1857-1930)
Zurechnung und Vergeltung
[3/5]

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"Die Behauptung, wenn der Egoismus eine Naturkraft sei, setze doch die Natur dem Menschen seine Zwecke, verwechselt die beiden scharf zu trennenden Bedeutungen des Wortes Natur: als stoffliche Welt und als kausale Welt überhaupt. Darum sind auch jene Vergleichungen des wollenden Menschen mit einem geworfenen Stein (Spinoza), einer Magnetnadel (Leibniz) oder einer Windfahne (Bayle) so gefährlich: der wohlmeinende Determinist, der sie zur Aufklärung über seine Lehre anstellt, denkt sich dabei jene Dinge als Menschen, während derjenige, der sie hört, leicht dazu kommt, umgekehrt sich die Menschen als Dinge zu denken."


Dritter Artikel

Nachdem ich also der einen Hälfte der SCHOPENHAUERschen Lehre, derjenigen von der Unveränderlichkeit des Charakters, eine feste Grundlage zu geben versucht habe, wende ich mich jetzt der anderen Hälfte, der Verantwortlichkeitsfrage, zu. Nach SCHOPENHAUER trifft diese Verantwortlichkeit bloß zunächst und ostensibel[zur Schau gestellt - wp] die Tat, im Grunde aber den Charakter; auch hier wird unter der wissenschaftlich ungenauen Ausdrucksweise ein tiefer, wertvoller Kern aufzuweisen sein.

Da muß dann zunächst der scharfen Kritik LIEBMANNs und DROBISCH gegenüber zugestanden werden, daß es an sich etwas Widersprechendes zu haben scheint,  Einen  verantwortlich zu machen für das, was er gar nicht ändern kann, was er zwar selbst, aber doch nur durch einen unbewußten "vorzeitlichen Willensakt" sich gegeben haben soll. "Alles Gute und Schlechte im empirischen Charakter des Menschen," sagt DROBISCH, "wird hier auf einen angeblichen Willensakt zurückgeführt, der ganz außerhalb des Bewußtseins liegt, auf eine Tat, in welcher zuletzt alle Schuld und alles Verdienst wurzeln soll, welche aber vollbracht zu haben uns nicht die leiseste Spur einer Erinnerung anzeigt und anzeigen kann, da sie ganz außerhalb aller Zeitlichkeit liegen soll ... Wie uns nun aber eine ganz jenseits unseres Bewußtseins liegende Willenstat - wenn es anders eine solche gäbe - zugrechnet werden könnte, ist nicht einzusehen." (1) Und ganz in demselben Sinne LIEBMANN: "Sonderbar! Ich, die vernünftige Person, soll etwas verantworten, was geschehen ist, ohne daß ich davon wußte! Mira narras [Gar wundersame Geschichte - wp]! Wo bleibt denn hier jene notwendige Identität des Angeklagten mit dem Täter? Wie in aller Welt soll ich mich verpflichtet fühlen, über etwas Rede zu stehen, für etwas Strafe auf mich zu nehmen, was, vom Wollen ganz zu schweigen, ganz ohne meine Wissen geschehen ist? Verantworten kann ich doch wohl nur das, worüber ich einem kompetenten Richter und zunächst meinem eigenen Gewissen, Antwort geben kann. Verantwortlichkeit ist das Gehaltensein zur Antwort auf die Frage: wie konntes und durftest du das tun? Von meinem vermeintlichen "intelligibeln Charakter" aber - mag SCHOPENHAUER wissen:  ich  weiß gar nichts davon; also kann auch kein Richter jene Frage an mich richten und ich nicht darauf antworten." (2) Und dann: "Bei SCHOPENHAUER soll der Mensch nicht für seine Tat verantwortlich sein, weil diese mit Notwendigkeit aus der Einwirkung des Motivs auf den Charakter erfolgt, also unfrei ist und weil Verantwortlichkeit nur da ist, wo Freiheit; andererseits kann er auch nicht für den Charakter verantwortlich sein, weil das selbstbewußte Subjekt nur darüber Rede und Antwort zu stehen vermag, was mit seinem Wissen vor sich geht, also z. B.  nicht  über die Genesis des ihm angeborenen Charakters." (3)

Auf alledem läßt sich nun wirklich, wenn man die SCHOPENHAUERsche Terminologie beibehält, sehr wenig sagen. Man könnte freilich den Stein zurückwerfen und meinen, es sei auch LIEBMANN nicht gelungen, eine wirkliche Verantwortlichkeit ausfindig zu machen. Denn wenn man von einem nach sittlichen Maximen handelnden Individuum wissen wollte, was denn der tiefste Grund seines So-und-nicht-anders-handelns sei und er antwortete mit einem Hinweis auf seine Maximen, so bleibe doch immer die weitere Frage berechtigt, warum er denn diese Maximen gewählt habe. Natürlich weil er ihren Wert eingesehen hat; auch diese Einsicht muß aber wieder ihre Gründe haben. Vielleicht liegen sie, wie LIEBMANN selbst angibt, in schlimmen Erfahrungen, vielleicht auch im Rat eines verehrten Freundes oder in anderen äußeren Umständen; hätten also diese gefehlt, so wäre auch die Einsicht nicht zustande gekommen und das Leben hätte einen ganz anderen Inhalt bekommen als jetzt. Sinkt aber das Ich solcherart zum bloßen Durchgangspunkt gewisser Naturwirkungen herab, wie kann ihm dann noch etwas zugerechnet, wie Lohn und Strafe mit gutem Recht zuerteilt werden? (4)

Damit ist aber die SCHOPENHAUERsche Lehre nicht rehabilitiert; etwas verantworten zu sollen, worüber man gar keine Antwort geben kann, das scheint noch immer der reine Widerspruch in höchster Potenz. Anders jedoch gestaltet sich die Sache, wenn man (wie es unbeschadet der Bedeutung geschehen kann) den Ausdruck SCHOPENHAUERs in diese Fom kleidet:  wir sind verantwortlich für unsere Taten, soweit sie eine Hinweisung enthalten auf unseren Charakter,  d. h. soweit wir sie auf unseren Charakter zurückführen können. Nur dieser Charakter wird und  zugerechnet,  nicht als unsere Schöpfung, sondern als eine Eigenschaft, ein Merkmal unseres Wesen, ganz in demselben Sinne also, wie man dem Stoff die Gravitation, den Elementen chemische Affinität zuschreibt; - ethischen Beschwerden wird späterhin begegnet werden. Die Zurückführung der Handlungen auf den Charakter gelingt aber niemals vollständig, eben weil der Charakter an sich, ohne darauf einwirkende Motive, nicht zum Handeln kommt. Erst aus dem Zusammenstoß der Motive und des Charakters geht die Tat hervor; also können wir an der Tat nur dasjenige als das  Unsrige  betrachten, was auf Rechnung des Charakters kommt. Dieses ist nun aber nicht so gemeint, als ob wir jede Tat in zwei Hälften scheiden könnten, deren eine das reine Resultat der Motive, die andere aber das ausschließende Ergebnis des Charakters wäre; vielmehr so, daß jede Tat eine bestimmte Beschaffenheit des Charakters bezeugt, also etwa aussagt, daß für diese Person egoistische Motive von bestimmter Stärke gewisse sittliche Interessen überwiegen oder umgekehrt. Nicht durch Teilung, sondern durch logischen Schluße läßt sich aus der Tat der Charakter entwickeln. Die volle Tat ist das Ergebnis des Charakters, aber zugleich der Motive, das Ergebnis der Motive, aber zugleich des Charakters; wären die Motive bekannt, so könnte man aus der Tat die Beschaffenheit des Charakters konstruieren; wenn aber diese, die Stärke der Motive und zwar mit umso größerer Genauigkeit, als mehrere Data vorliegen. Einerseits die Genüsse und Schmerzen, andererseits die sittlichen Motive besitzen neben ihrer qualitativen Verschiedenheit quantitative Intensitätsunterschiede; besäßen wir nun genügende Meßinstrumente, die Stärke der Motive zu bestimmen, so ließe sich für jeden Charakter ein Punkt auffinden, wo die sittlichen und die egoistischen Motive einander genau im Gleichgewicht erhalten; man könnte z. B. von irgendeiner Person sagen, für sie habe ein Genuß von der Intensität  a  dieselbe Kraft als ein sittliches Motiv von der Intensität  a'  und damit wäre dann der Charakter vollständig bestimmt, - ganz wie man das Längenverhältnis der Arme einer Waage bestimmen kann, wenn man weiß, in welchem Verhältnis die beiden Schalen belastet werden müssen, um im Gleichgewicht zu sein. In diesem Sinne gilt es, daß man  einen  erst recht  kennt,  wenn man den Punkt gefunden hat, wo er  schwankt. 

Insoweit nun in jeder Tat sich solcherart unser Charakter ausspricht, insoweit wir dieselbe auf unserem Charakter zurückführen können, sind wir für dieselbe verantwortlich; denn nur insoweit können wir sie  aus  uns erklären; es ist eben an der ganzen Tat nur der Charakter unser, alles andere ist uns fremd, gehört der äußeren Natur an. Dieser Charakter aber und nicht die Tat, ist das Objekt der sittlichen Wertschätzung; mehr hat auch SCHOPENHAUER im Grunde mit seiner "Verantwortlichkeit für den Charakter" wohl nicht sagen wollen. Daß dem aber wirklich so ist, das ist einfach Erfahrungstatsache. Dieselbe Tat wird in ganz verschiedenem Sinn beurteilt, je nachdem man derselben diese oder jene Motive unterschiebt; - d. h. (denn die Motive an sich können als etwas rein Äußeres nicht den Grund der verschiedenen Wertschätzungen abgeben) je nachdem man dieselbe diesem oder jenem Charakter zuzuschreiben sich genötigt findet. Für die moralische Beurteilung bilden die Willensentscheidung, welche sich in der Handlung offenbart und die Motive, wie man dieselben aus den bekannten äußeren Umständen ableitet, nur die Prämissen, woraus man den sich in der Handlung betätigenden Charakter aufbaut. An sich ist die Tat weder gut noch böse, - ja es gibt wohl keine, die nicht nach Umständen beides sein könnte; d. h. also, die sich nicht ebensowohl als Äußerung eines guten wie auch eines schlechten Charakters denken ließe.

Streng gefaßt, bleibt es also eine ungenaue Redeweise, zu behaupten, daß man für seinen Charakter verantwortlich ist, denn von einem Entstehen dieses Charakters weiß man nichts und kann darüber also auch keine Verantwortung geben; die ganz gewöhnliche Verwechslung psychologischer und ethischer Gesichtspunkte bei der Verantwortlichkeitsfrage läßt aber den Ausdruck, wenn auch nicht gerechtfertigt, doch immerhin begreiflich erscheinen. Richtiger wäre es allenfalls zu sagen: man ist verantwortlich für seine Handlungen, soweit sich darin der Charakter äußert und nach diesem Charakter wird man beurteilt. Das sind erwiesene Tatsachen. Ob nun aber, aus einem anderen Standpunkt betrachtet, diese Beurteilung nach dem Charakter als ein Unrecht erscheint, d. h. also, ob in den Tatsachen der sittlichen Wertschätzung innere Widersprüche nachweisbar sind, das ist eine Frage, die uns jetzt noch zu behandeln übrig bleibt.

Weil aber jene Frage über die rein psychologischen Probleme der Verantwortlichkeit und Zurechnung hinausgeht und uns ins ethische Gebiet hinüberführt, wird es geraten sein, ihre Beantwortung zu verschieben, bis wir in den Problemen, welche uns jetzt beschäftigen, eine vollständig klare Einsicht gewonnen haben. Zu diesem Zweck ist es aber unbedingt nötig, daß wir für die Tatsachen der Beschränkung und Aufhebung der Verantwortlichkeit die wissenschaftliche Erklärung und Formulierung zu geben versuchen, - eine Aufgabe, welche zwar durch die Vorarbeiten SCHOPENHAUERs und vieler anderer ziemlich leicht erscheint, deren Lösung hier aber schon der Vollständigkeit wegen nicht übergangen werden darf. Dann aber auch deshalb nicht, weil man ohne schärferes Zusehen meinen könnte, das vorher gegen die BÖRNER-VÖLKERsche Erklärung Angeführte finde auch gegen den hier verteidigten Standpunkt seine Anwendung; auch von hier aus gesehen, äußere sich in jeder Handlung ohne Ausnahme der Charakter und es lasse sich also auch für diese Lehre keine Beschränkung der Zurechnung rechtfertigen. Dem ist nun aber, wenn man nur nicht über den Worten die Meinung vergißt, so nicht. Zwar mauß unbedingt zugestanden werden, daß zu jeder Tat, auch zu derjenigen des Wahnsinnigen, des Affektierten, des einem physischen Zwang Unterlegenen, der Charakter als bedingender Faktor mitwirkt und daß also jede Tat etwas, wenn auch noch so wenig, über den Charakter aussagt; daneben aber müssen die Motive die äußeren Umstände, die Erziehung usw. berücksichtigt werden. Ein einfacher Rückverweis auf dasjenige, was oben zur Frage der Charakterkonstanz vorgebracht wurde, wird genügen, dieses deutlich zu machen. Denn an jener Stelle hat sich herausgestellt, daß alle scheinbare Änderung des Charakters durch Erziehung, Lebenserfahrung usw. sich darauf zurückführen läßt, daß entweder die Einsicht in die entfernten Folgen irgendwelcher Handlung aufgeklärt oder verdunkelt wird, oder aber durch Gewohnheit und Assoziation der ethische oder Genußwert bestimmter Zwecke eine Änderung erfährt, daß also jedenfalls zu verschiedenen Zeitpunkten dieselbe äußeren Umstände Motive von sehr verschiedener Stärke abgeben und also auch mit dem konstanten Charakter sehr ungleiche Handlungen erzeugen müssen. Nun ist es aber deutlich, daß man, woe es gilt, aus Tat und Motiven den Charakter zu konstruieren, diese Motive keineswegs in der bloßen Vorstellung der äußeren Umstände suchen darf; vielmehr kommt es ausschließlich darauf an, welche Bedeutung diesen Umständen für die betreffende Person zuerkannt werden muß, welchen Genuß die als möglicher Zweck betrachtete Vorstellung  ihm  verspricht, welchen ethischen Wert dieselbe  für ihn  repräsentiert usw. Finden wir nun z. B., daß irgendeinem Menschen vollständig die Kraft abgeht, sich den Versuchungen gegenüber aufrecht zu erhalten, daß er der besten Vorsätze ungeachtet immer wieder in seine alten Laster zurücksinkt und alle höheren Interessen seiner Genußsucht opfert, so werden wir aus diesen Tatsachen zwar schließen dürfen (was wir auch ohnedem schon mit Bestimmtheit voraussagen könnten), daß in ihm, wie in anderen, die Kraft des Egoismus, das Moralisch-böse, nicht fehlt. Bevor wir berechtigt sind, seinen Charakter zu verurteilen, d. h. also ein  starkes Überwiegen  des egoistischen Faktors anzunehmen, müssen wir erst seine Vorgeschichte einem genaueren Studium unterwerfen; wir müssen die Frage zu beantworten suchen, ob nicht vielleicht dasjenige, was anderen nur einen mäßigen Genuß verspricht und also leicht von sittlichen Motiven überstimmt werden kann, auf ihn einen unvergleichlich höheren Reiz ausübt und also für ihn ein Motiv von ungleich höherer Intensität bildet als für jene. Dem kann aber aus sehr verschiedenen Ursachen so sein. Es kann sich seit der frühesten Jugend infolge unvernünftiger Erziehung und fortwährender Befriedigung irgendeine schlechte Neigung zur Leidenschaft herausgebildet haben, so daß die langeingewöhnte Gedankenassoziation bei jeder neuen Verlockung das Bild ihres Gegenstandes in stets klareren und reizenderen Farben vor Augen führt; es können auch theoretische Verbildung und einseitiges Studium den Glauben an sittliche Ideale zerrüttet und eine systematische Unterdrückung der ethischen Motive herbeigeführt haben, - ja es ist möglich, daß ein tiefer sittlicher Schmerz über die Unvollkommenheit der Welt jemanden dazu treibt, in den Orgien des sinnlichen Genußlebens Vergessenheit zu suchen (ALFRED de MUSSET!); - in allen solchen Fällen geht dem Glücklichen, bei dem eine strenge Erziehung und allseitige Bildung das Entstehen gefährlicher Assoziationen und materialistischer Anschauungen gehindert haben und dessen kälteres Temperament ihn vor den Qualen der Verzweiflung schützt, vollständig die Befugnis ab, ohne weitere Untersuchung das Verdammungsurteil über den unglücklich Verirrten auszusprechen. Ähnliches gilt für die Zustände des Affekts und des Wahnsinns. Dem Jähzornigen fehlt die Möglichkeit, im Moment der Entscheidung die Motive zu wägen; seine volle Aufmerksamkeit richtet sich auf diejenigen Vorstellungen, welche seinen Zorn erregt haben; andere Motive bestehen für ihn eben nicht; und wenn man aus seiner Tat einen Schluß auf seinen Charakter ziehen will, darf man nur die ihm wirklich gegenwärtigen Motive in die Rechnung ziehen. Hat er z. B. in einem solchen Zustand seinen Feind erschlagen, so war der Mann eben in jenem Moment für ihn  nur  Feind; seine guten Eigenschaften hatte er vergessen, er stand ihm gegenüber, wie man einem Dämon gegenübersteht, der nur Hass, nichts anderes, einflößt; an die Angehörigen des Opfers dachte er ebensowenig, wie an die gestörte Rechtsordnung; - so ist es dann demjenigen, der ruhig draußen steht, nicht erlaubt, all jene Erwägungen, welche ihm selbst gegenwärtig sind, auch bei dem Zürnenden vorauszusetzen. Ob aber dieser nicht für die Macht, welche der Affekt über ihn hat, verantwortlich gemacht werden muß, - diese Frage zu beantworten, müßte man wieder sein Temperament, seine Vorgeschichte, sein Verhalten in unaffektiertem Zustand in Rechnung ziehen und sich dann fragen, inwiefern diese Macht seinem Charakter und inwiefern sie äußeren Umständen zugerechnet werden muß.

Die gründlichste Motivfälschung aber tritt beim Wahnsinnigen ein, dessen Handlungen zwar ebenso wie bei jedem anderen das Gesamtergebnis des Charakters und der Motive sind und der deshalb prinzipiell auch ohne Zweifel dafür verantwortlich gemacht werden muß, dessen wirkliche Motive jedoch für den Außenstehenden in tiefste Nacht gehüllt sind, so daß nur ein Allwissender, aber kein Mensch, sich über seinen Charakter ein Urteil zu bilden imstande wäre.

Wenden wir nun noch zuletzt unsere Aufmerksamkeit denjenigen Handlungen zu, die unter dem Einfluß physischen Zwangs oder aus Notwehr verübt worden sind, so ist es zunächst deutlich, daß auch hier die Verantwortlichkeit prinzipiell uneingeschränkt bestehen bleibt; nur muß man bei der moralischen Beurteilung dem mächtigen Motiv der Lebensgefahr seine gebührende Bedeutung zuerkennen. Zwei Personen also, welche, der  eine  um finanziellen Gewinn, der andere angesichts des Feuertodes, ihre Überzeugung verleugnet haben, sind zweifelsohne  beide  für ihre Tat verantwortlich, insofern sie  beide  die Motive dafür anzugeben, die Handlung auf ihren Charakter zurückzuführen imstande sind; nur wird die moralische Beurteilung die Verschiedenheit der Motive nicht übersehen, vielmehr den  einen  ohne weiteres einen Schurken nennen, vom anderen aber nur sagen können, daß er die höchste Stufe der Sittlichkeit, den Heroismus, nicht erreicht hat.

Wenn aber die Sprache des gewöhnlichen Lebens in allen diesen Fällen von einer Beschränkung oder Aufhebung der  Verantwortlichkeit  redet, so ist das nur dem Wortlaut nach von meiner Ansicht verschieden; gemeint ist damit doch immer nur das, daß die moralische Beurteilung allen diesen Umständen Rechnung tragen und nicht ohne deren genaueste Kenntnis ihr Verdammungsurteil aussprechen soll.

Übrigens gilt natürlich dasjenige, was hier hinsichtlich der unsittlichen Handlungen erörter worden ist, in gleichem Maße von den sittlichen. Auch hier gibt es Fälle, wo die scheinbare Moralität entweder auf das Fehlen der zum Verbrechen anspornenden Motive oder aber auf egoistische Motive zurückgeführt werden kann: Keuschheit auf "Dürre des Herzens" (5), Ehrlichkeit auf Überfluß oder Furcht vor der Strafe, ein tadelloser Lebenswandel auf feige Unterwerfung an die öffentliche Meinung. Auch hier können feste, durch langjährigen Zwang eingehämmerte Assoziationen die freie Sittlichkeit scheinbar ersetzen, nicht aber deren unendlichen Wert für sich in Anspruch nehmen. Auch hier endlich kann der Affekt im Rausch der momentanen Begeisterung zu Taten führen, welche dem Charakter des Handelnden nicht entsprechen und welche er, nachher bei kaltem Blut Vor- und Nachteile erwägend, bitter bereut. Alle diese Umstände zieht auch die gewöhnliche Meinung bei der Beurteilung solcher Handlungen in Betracht; nur spricht sie hier auffallenderweise nicht von einer Beschränkung oder Aufhebung der Verantwortlichkeit: ein neuer Beleg dafür, wie unstatthaft es ist, bei der Erklärung der Tatsachen des menschlichen Bewußtseins allzuviel Wert auf die Worte zu legen, in welche die Sprache bestimmte Gruppen von Erscheinungen zusammenfaßt. Nur zu groß ist die Gefahr, daß sie, das Ganze mit dem Namen des Teils oder den Grund mit demjenigen der Folge benennend, die schlimmsten Mißverständnisse vorbereitet. Böse und gute Handlungen - beide werden dem Täter zugerechnet; über beide kann er Antwort geben, aber nur bei den ersteren wird gewöhnlich danach gefragt; so hat sich denn das Wort Verantwortlichkeit nur an diese Gruppe festgeheftet. Wir haben gesehen, wie gefährlich dieser scheinbar unschuldige Sprachfehler besonders den englischen Denkern geworden ist.



Nachdem ich nun also im Vorhergehenden versucht habe, die Bedeutung des allgemein menschlichen Verantwortlichkeitsgefühls theoretisch klarzumachen, wende ich mich jetzt, meiner ausgesprochenen Absicht gemäß, dem Gebiet der Ethik zu: der Frage nämlich, ob wir denn auch dasjenige, was sich in der Tat als das Ergebnis des konstanten Charakters herausgestellt hat, dem Täter zuzurechnen berechtigt sind, - ob nicht vielmehr der konsequente Determinismus uns nötigen wird, diesen Charakter, der doch auch in der Zeit entstanden zu sein scheint, wieder als das Resultat vorhergehender Ursachen, namentlich der Vererbung, zu betrachten und ob wir also im Verbrechen nicht das Opfer seines egoistischen Charakters zu bemitleiden, statt das Subjekt desselben zu verurteilen und zu strafen hätten. Denn es ist eine unerschütterliche Tatsache des sittlichen Bewußtseins, daß demjenigen gegenüber, was man in letzter Instanz als das Produkt eines anderen zu betrachten sich genötigt findet, die moralische Beurteilung verstummt; erscheint also auch der Charakter als das notwendig bedingte Ergebnis äußerer Ursachen, so müssen auch die Begriffe des Guten und des Bösen im ethischen Sinne vollständig ihre Bedeutung einbüßen. Wahrscheinlich sind es diese Erwägungen, welche SCHOPENHAUER zu seiner Hypothese einer vor- oder außerzeitlichen Charakterwahl Veranlassung gegeben haben, - einer Hypothese, die in ihrer wüsten Abenteuerlichkeit und vollständigen Ungenügendheit mir gänzlich verfehlt erscheint. Denn es galt doch nicht zu erklären, wie ein allwissender Geist oder ein Philosoph aus der SCHOPENHAUERschen Schule, - sondern wie die gewöhnlichen Menschen dazu kommen, jemanden je nach seinem Charakter zu hassen oder zu lieben, zu belohnen oder zu strafen; diese gewöhnlichen Menschen aber wissen von der "vorzeitlichen Willensentscheidung" gar nicht. Gesetzt aber, daß jeder sich dieser Begebenheit sonnenklar erinnerte, so wäre doch das Problem seiner Lösung noch um keinen Schritt näher gerückt. Denn entweder diese Charakterwahl war selbst eine motivierte oder aber sie war (wie SCHOPENHAUER behauptet) eine freie; im ersten Fall setzt sie aber wieder einen Charakter voraus und führt also zu einem unendlichen Regress; im zweiten kann sie schon deshalb nicht den Grund der Zurechnung bilden, weil eine motivlose Tat, die nicht auf einen Charakter schließen läßt, niemals und nirgends Gegenstand der sittlichen Beurteilung sein kann. Um also die Zurechnung der  unfreien  Tat zu erklären, führt SCHOPENHAUER dieselbe auf eine  motivlose  Tat zurück; das eine ist aber ebenso ungereimt als das andere.

Betrachten wir die SCHOPENHAUERsche Hypothese näher, so zeigt sich dieselbe als eine notwendige Folge seiner ungenauen Terminologie. Die Tatsache, daß nur der Charakter  Gegenstand  der moralischen Beurteilung ist, kleidet er in die unrichtige Form, daß man nur für seinen Charakter  verantwortlich  sei; Verantwortlichkeit aber setzt die Fähigkeit voraus, über etwas Antwort zu geben, sein Dasein erklären, es auf etwas anderes zurückführen zu können; also muß auch der Charakter auf etwas anderes und zwar wieder auf eine Tat, zurückführbar sein. Wenn aber SCHOPENHAUER den entsprechenden Ausdruck für seinen Gedanken gefunden hätte, also etwa diesen: Jeder ist verantwortlich für seine Handlungen, soweit sie das Ergebnis seines Charakters sind, - so hätte er ohne weiteres eingeseen, daß man weder für seinen Charakter, noch auch für eine angeblich motivlose Tat verantwortlich gemacht werden kann, eben weil beide  nicht  auf etwas anderes zurückgeführt werden können, - daß aber das sittliche Bewußtsein einer solchen Zurückführung gar nicht bedarf, um sich zu einem Urteil berechtigt zu fühlen. Dieses Urteil trifft eben  nur  den Charakter; je nachdem in demselben die sittlichen oder die egoistischen Neigungen überwiegen, krönt oder verdammt es, fragt aber gar nicht danach, ob dieser Charakter auch anders hätte sein können. Erst nachdem man zu ahnen anfängt, der Charakter könne wohl von Grund auf eine von außen importierte Ware sein, werden Zweifel an der inneren Berechtigung dieses Verfahrens rege; ansich hat aber die sittliche Beurteilung mit dem "Anders-sein-können" nichts zu schaffen. Was sie zu wissen nötig hat, ist nur, inwiefern diese bestimmte Tat wirklich  meine  Tat gewesen, das Ergebnis  meines  Charakters ist; ist dieser Punkt festgestellt, so erfolgt ohne Bedenken das Urteil über ihre sittliche Bedeutung.  Handlungen  allerdings sind nur Gegenstände der sittlichen Beurteilung, wenn ihr Täter auch "anders hätte handeln können", d. h. wenn ihm die physische Möglichkeit mehr als eine Richtung zur Willensentscheidung freigelassen hat,  eben weil nur in einem solchen Fall die Tat einen Schluß auf den Charakter zuläßt;  für den Charakter selbst aber fehlt dieser Grund und damit auch jene Folge. Ob der Charakter auch anders hätte sein können, ist also nicht nur eine unmöglich zu beantwortende, sondern auch für unseren jetzigen Gegenstand eine vollständig müßige Frage. Es ist ein lehrreiches Beispiel für die Macht anererbter Assoziationen, daß SCHOPENHAUER, nachdem er klar eingesehen hat, daß das moralische Urteil nur den Charakter trifft, dennoch dieser Frage so viel Wert beilegen und den Versuch machen konnte, jenen Charakter wieder auf eine Tat zurückzuführen, - alles nur, um die Behauptung zu retten, der Mensch hätte doch wenigsten ein anderer  sein  können. Der Schluß von der Handlung auf den Charakter hat eben im Laufe der Zeiten seinen bewußten Charakter eingebüßt; gleiche Handlungen gehen sehr oft aus gleichen oder verwandten Motiven hervor und so haben sich Assoziationen festgesetzt, welche uns in den meisten Fällen erlauben, unmittelbar die Tat zu beurteilen. Weil wir nun aber zu jeder solchen Beurteilung notwendigerweise das Anders-handeln-können, die physische Freiheit voraussetzen, kommen wir sehr leicht dazu, diese Gewohnheit auch auf die Beurteilung des Charakters selbst zu übertragen. So wird dann dieser als Ergebnis eines außerzeitlichen, freien, unbewußten Geschehens betrachtet, das noch immer Willenstat heißen soll, mit demjenigen aber, was uns unter diesem Namen bekannt ist, nichts mehr gemeinsam hat und auf das namentlich die Kategorien der Verantwortlichkeit, der Zurechnung, des Verdienstes und der Schuld in keiner Weise mehr anwendbare sind.

Die moralische Beurteilung trifft also nicht die Tat, wozu etwas Äußeres, die Motive, mitgewirkt hat; sie trifft ebensowenig die erworbenen Neigungen, Leidenschaften usw., welche durch Erziehung und Lebensverhältnisse bedingt sind; sie trifft nur dasjenige, was ich im engeren Sinne Charakter genannt habe: die ursprünglichen Naturkräfte des menschlichen Wollens. Es fragt sich nun, ob wir nicht auch diese Kräfte als etwas Verursachtes, von äußeren Umständen Abhängiges zu betrachten haben oder aber ob wir denselben in irgendeinem Sinn Freiheit beizulegen berechtigt sind.

Diese Frage zu beantworten, tut aber zuerst eine vorläufige Erörterung des Freiheitsbegriffes not. Zwar sind alle Denker darin einverstanden, daß dieser Begriff ansich etwas Negatives: die Abwesenheit eines Zwanges, der Gebundenheit, der Beschränkung bedeute; über die Bedingungen, unter welchen derselbe anwendbar ist, herrscht aber keineswegs die gleiche Übereinstimmung. So behauptet LIEBMANN, die Freiheit setze als positive Bedingung ein Streben voraus: "Freiheit im Allgemeinen ist das Vermögen eines Wesens, sich so zu äußern, wie es sich zu äußern bestrebt ist", (6) - eine Definition, welche die Anwendung des Freiheitsbegriffs nur auf das Handeln, nicht auf das Sein zulässig macht und also die Frage nach einer etwaigen Freiheit des Charakters als eine Ungereimtheit betrachten läßt. Dem gegenüber hat aber schon GÖRING richtig bemerkt, "man würde bei der wissenschaftlichen Feststellung des Freiheitsbegriffes wahrscheinlich niemals darauf gekommen sein, ihm irgendeine positive Bedeutung unterzuschieben, wenn nicht die feststehende Ansicht über die Freiheit des Willens dazu veranlaßt hätte, nach ihr den allgemeinen Begriff der Freiheit zu bestimmen". (7) Faktisch wird auch im gewöhnlichen Leben unzählige Male das Wort  Freiheit  gebraucht, wo von einem Streben nicht die Rede sein kann: freie Luft, freier Sauerstoff, freie Schönheit usw. lassen sich in keiner Weise der LIEBMANNschen Definition unterordnen; wogegen man irgendeiner Handlung in letzter Instanz unbedingt die Freiheit abspricht, wenn die Neigung, das Streben, dem sie entsprossen, durch Erziehung oder andere Umstände bedingt erscheint. Nicht jede ungehemmte Äußerung eines Strebens wird also frei genannt; dagegen das Wort oft gebraucht, wo kein Streben nachweisbar ist. Da scheint es denn zur vollständig erschöpfenden Begriffsbestimmung geraten, zur alten Definition SPINOZAs zurückzukehren: "ea res  libera dicetur,  quae ex sola suae naturae necessitate existit et a se sola ad agendum determinatur:  necessaria autem , vel potius  coacta,  quae ab alio determinatur ad existendum vel operandum certa ac determinata ratione" [Zur Natur der Substanz gehört es, daß sie existiert. Die Substanz kann von etwas anderem nicht hervorgebracht werden; sie ist daher Ursache ihrer selbst, d. h., ihr Wesen schließt notwendig die Existenz ein, oder zu ihrer Natur gehört das Dasein]. (8)

In diesem Sinne betrachtet erscheint nun aber jede äußere oder innere Naturkraft als vollständig frei: von allem anderen unabhängig, determinierend, nicht selbst determiniert. Zwar kann man diese Kräfte und die Gesetze, welche sie bestimmen, auch notwendig nennen, nur in dem Sinne aber, daß uns unumgängliche Voraussetzungen sind, ohne welche wir die Regelmäßigkeit des Geschehens nicht zu erklären vermögen; nicht das Dasein, sondern die Annahme dieser Kräfte ist notwendig. "Diese Notwendigkeit", sagt aber DROBISCH sehr richtig, "ist nur eine subjektive und relative, keine objektive und absolute; sie gilt nur für uns, sie macht unserem Denken die wunderbare Regelmäßigkeit, die das empirische Gesetz an den Erscheinungen nachweist, begreiflich." (9) Das tatsächliche Wirken der Kraft also nötigt  uns,  ihr Dasein vorauszusetzen; wir haben aber keinen Grund, anzunehmen, daß dieses Dasein selbst in irgendeinem Abhängigkeitsverhältnis zu anderen Dingen stehen sollte. Zwar gelingt es dann und wann der Wissenschaft, Kräfte, welche man bisher für irreduzibel gehalten hat, auf ursprünglicher zurückzuführen; dieses beweist aber nur, daß man vorher die Kraft im strengen Sinn des Wortes noch nicht gefunden hat, vielmehr das Sekundäre, Abgeleitete, für etwas Primäres genommen hatte. Und wenn es je möglich wird, alle Kräfte der äußeren Natur als Modifikationen einer einzigen mechanischen Urkraft zu erklären, so wird eben diese sich als die einzig wirkliche Kraft herausstellen; niemals aber wird man den Begriff der unabhängigen, unbedingten, freien Kraft vollständig zu beseitigen imstande sein. Es mag dem in der alten Auffassung der Willensfreiheit Befangenen schwierig sein, der ewigen unveränderlichen Kraft das Prädikat der Freiheit beizulegen, diese Schwierigkeit wird verschwinden, wenn man als das essentielle Merkmal der Freiheit die Unbedingtheit und Unabhängigkeit erkannt, dagegen eingesehen hat, daß diese Freiheit keineswegs ansich, sondern nur in einem Spezialfall, als Freiheit des  Werdens,  des  Geschehens  gefaßt, ein Anders-können voraussetzt. Wenn es eine Freiheit des Geschehens, also auch des Wollens oder Handelns, geben soll, muß die Kausalkette durchbrochen sein; denn diese knüpft durchgehends die Änderungen des einen Dinges an diejenigen des anderen fest, weist also ohne Ausnahme ein Abhängigkeitsverhältnis nach. Auf dem Gebiet des unveränderlichen Seins aber gehen Freiheit und Determinismus ohne Widerspruch zusammen, denn hier ist die Notwendigkeit des So-und-nicht-anders nicht in etws Äußerem, sondern im Wesen der Dinge selbst ausschließlich begründet.

Nicht anders aber ist es auf dem Gebiet der psychischen Erscheinungen mit den Kräften des Denkens, des Fühlens und des Wollens. Jeder Willensentschluß ist kausal bedingt; jede Gewohnheit, jede Leidenschaft erscheint als das notwendige Ergebnis der verschiedenartigsten inneren und äußeren Faktoren; die ursprünglichen Kräfte aber, denen zu Folge gewisse quantitativ und qualitativ bestimmte Vorstellungen mit Notwendigkeit Strebungen von bestimmter Intensität und dadurch einen Entschluß in dieser oder in jener Richtung hervorrufen, sind selbständig, von nichts anderem bedingt und, wenn auch unveränderlich, im vollen Wortsinn  frei.  Auch hier ist es für diese Freiheit völlig gleichgültig, ob sich einzelne Kräfte auf andere zurückführen lassen; könnte man das sogenannte sittliche Handeln ohne Rest aus dem Egoismus erklären, so bliebe doch noch immer auf den Charakter, der dann mit diesem Egoismus zusammenfallen würde, das Prädikat der Freiheit ungeschwächt anwendbar.

Fragt man aber, ob denn nicht dieser Charakter durch die Organisation des Gehirns, dann weiter durch die Konstitution der Eltern und Ahnen bestimmt ist, so läßt sich diese Frage nicht mit einem Wort erledigen. Zuerst muß unbedingt zugestanden werden (was schon aus der ausnahmslosen Gültigkeit des Kausalitätsgesetzes auf physischem Gebiet, im Zusammenhang mit den nicht zu leugnenden Parallelismus der psychischen und physischen Erscheinungen hervorgeht), daß aus der vollständig genauen Kenntnis der Kraft- und Stoffverteilung im Raum vor einer beliebigen Anzahl Jahre sich für einen allwissenden Geist mein jetziger Charakter ohne Rest deduzieren ließe; - womit, wie ich glaube, auch der eingefleischeste Materialist zufrieden sein kann. Man muß aber zwischen Erkenntnisgrund und Realgrund unterscheiden. Wenn auch mein Charakter aus der Stoff- und Kraftverteilung vor Jahrhunderten  gekannt  werden könnte, braucht er darum noch keineswegs durch diese Faktoren  verursacht  zu sein; - so wie auch z. B. mein jetziger Willensentschluß, eine Zigarre zu rauchen, in Verbindung mit bestehenden Assoziationen und Erinnerungen, mir die volle Gewißheit gibt, daß diese Zigarre innerhalb einer Stunde zu Asche verbrannt sein wird, während ein vollkommener Mechaniker als wirklichen  Realgrund  dafür tausend Umstände nennen würde: elektrische und chemische Prozesse in meinem Nerven- und Muskelsystem, chemische Wirkungen im Zündhölzchen und in der Zigarre, zahllose Muskelbewegungen, den Druck der atmosphärischen Luft, usw., - nur nicht jene psychischen Erscheinungen, welche sich doch als  Erkenntnisgrund  vollständig genügend erweisen. Wir dürfen eben niemals vergessen, daß wir es mit zwei selbständigen Kausalreihen zu tun haben, welche zwar ausnahmslos parallel laufen und sich durch unsere mangelhaften Kenntnisse oft wechselseitig zu verschlingen scheinen, welche aber die strenge Wissenschaft stets gesondert halten und jede für sich betrachten muß. So oft wir von einer solchen Doppelerscheinung psychisch nur das Antezedens [Vorwegnahme - wp], physisch nur das Sequens [das Folgende - wp] wahrnehmen oder umgekehrt, liegt die Gefahr nahe, diese Regel zu übertreten, also etwa den Willensentschluß als Ursache des Handelns zu betrachten usw.; nachdem aber die Naturwissenschaft mit dem Gesetz der Erhaltung der Kraft solchen Versuchen ein für allemal einen Riegel vorgeschoben hat, wird es nachgerade für die Psychologie Zeit, diesem Beispiel zu folgen. Es ist aber für das natürliche Bewußtsein außerordentlich schwer, sich vom Gedanken loszumachen, daß die materielle Natur, wenn auch nur Vorstellung, doch etwas Massiveres, Reelleres, Wesenhafteres sei, als die Welt der "flüchtigen" psychischen Erscheinungen. Dieser Gedanke ist jedoch ein reines Vorurteil; die beiden Erscheinungskomplexe sind einander völlig nebengeordnet; jeder für sich hat seine eigene Kausalität, ist seinen eigenen selbständigen und unveränderlichen Naturkräften unterworfen und wenn wir die psychische Kausalkette nur bis zu unserem ersten Lebensjahr zurückzuverfolgen imstande sind, so gilt, streng genommen, von der physischen ganz dasselbe. Nur kommt uns hier der Umstand zu Hilfe, daß die äußere Welt für alle Menschen dieselbe ist, wodurch wir dann mittelbar, durch Erzählung und Überlieferung anderer, unser Weltbild noch eine Strecke weiter zurückverfolgen können. Die psychische Welt dagegen ist rein individuell; also geht hier unsere Kenntnis nicht weiter als unser Gedächtnis; ob vor unserer leiblichen Geburt in dieser Welt auch etwas stattgefunden hat, das wissen wir ganz einfach nicht, haben aber ebensowenig Grund es zu verneinen, als es zu bejahen. Die Leibeskonstitution unserer Elten aber und was weiter in der stofflichen Natur unserer Geburt vorangegangen ist, muß allerdings als die determinierende Ursache unserer Leibes-, also auch Hirnkonstitution betrachtet werden; um darin aber auch den Realgrund unseres Charakters, der logischen Gesetze usw. sehen zu dürfen, müßte vorher nachgewiesen sein, daß der materiellen Welt nicht nur eine empirische Realität für unseren Geist, sondern auch eine transzendente außer demselben zukommt. Statt dessen bringt uns weiteres Nachdenken leicht zur Einsicht, daß die ganze äußere Welt doch wieder im Grunde genommen eine innere ist; daß wir sie nur kennen, soweit sie für uns erscheint und keine Ursache haben, ihr auch außer unserem Bewußtsein noch ein selbständiges Dasein beizulegen; und da wird uns denn die volle Bedeutung des LOTZEschen Ausspruchs klar: "Unter allen Verirrungen des menschlichen Geistes ist diese mir immer als die seltsamste erschienen, daß er dahin kommen konnte, sein eigenes Wesen, welches er allein unmittelbar erlebt, zu bezweifeln oder es sich als Erzeugnis einer äußeren Natur wieder schenken zu lassen, die wir nur aus zweiter Hand, nur durch das vermittelnde Wissen eben des Geistes kennen, den wir leugneten." (10) Wir sehen ein, daß,  wenn  ein Rangunterschied gemacht werden soll, der inneren Welt eine größere, mehr primäre Realität zugesprochen werden muß, als der äußeren und daß das System von Kräften, welches dieselbe beherrscht, von keiner fremden Macht abhängig, vielmehr "ex sola suae naturae necessitate existens" [aus der Notwendigkeit seiner eigenen Natur heraus existiert - wp] gedacht werden muß.

Nur auf den Charakter, niemals auf die einzelne Handlung, ist also der Begriff der Freiheit anwendbar. Im Grunde ist auch dasjenige, was man meint, wenn man seine Freiheit behauptet, nicht eine Freiheit des Wollens oder Handelns selbst, sondern der wollenden und handelnden Person:  "ich  bin bei dieser Handlung frei", d. h. mein tiefstes Wesen, wie es sich an dieser Handlung mitbetätigt, ist durchweg selbständig, von nichts Äußerem bedingt. Dadurch läßt sich dann auch erklären, daß man diese Freiheit beeinträchtigt glaube, wenn man im Irrtum gehandelt hat. Es läßt sich die Beschreibung eines jeden Charakters in eine Reihe hypothetischer Urteils auseinanderlegen: in diesen Umständen werde ich so handeln, in jenen so, usw.; - habe ich nun aber, während die Umstände da waren, in Folge ungenügender oder falscher Erkenntnis derselben anders gehandelt, so scheint es später, wenn sich die Einsicht berichtigt hat, diese Tat sei nicht die wirkliche Offenbarung meines Charakters; sie passe vielmehr zu einem anderen; dasjenige, was in mir frei ist, sei also gar nicht dabei beteiligt gewesen. Dies ist nun freilich falsch; denn der Charakter hat diese Tat ebensowohl wie jede andere mitbestimmt; nur muß man, um denselben herauszufinden, nicht die wirklichen, sondern die vorgestellten, bekannten Umstände in Rechnung ziehen, wie es denn auch tatsächlich geschieht. Ähnliches gilt von der physischen Unfreiheit: infolge der Anwesenheit anormaler Motive kann der Charakter nicht seiner Natur gemäß auf die normalen reagieren, was dann wieder als eine Unfreiheit ausgelegt wird.

So scheint denn mit dieser Auffassung des Charakters als eines Systems von psychischen Naturkräften die vollständige Rettung der Freiheit gegeben, - freilich nicht des liberum arbitrium [Willensfreiheit - wp], aber doch der Erklärbarkeit aller psychologischen und ethischen Tatsachen, welche man damit hat begründen wollen. Zwar wird man sich auf den ersten Blick schwerlich damit begnügen können; man wird es als eine Ungereimtheit ansehen, eine Naturkraft moralisch beurteilen zu wollen und man wird sich nicht zufrieden geben ohne eine Freiheit, kraft deren man nicht nur die Welt, sondern auch sich selbst verändern könnte; man vergißt dabei aber, daß das "freie" Ich, dem man die Bestimmung des eigenen Charakters aufzubürden bestrebt ist, bei dieser Bestimmung doch immer nur wieder als wollend, einen Charakter äußernd, gedacht werden kann. Bei näherem Zusehen erscheint es sogar als der reine Widerspruch, das Ich sich selbst bestimmen zu lassen: also dasselbe Wesen zugleich als Schöpfer und als Schöpfung, als Subjekt und als Ergebnis einer Handlung zu betrachten; man wird genötigt sein, ein Ich 2-ter, 3-ter, n-ter Ordnung anzunehmen und weiter ins Unendliche. man mag aber in die Kette so weit hinaufsteigen als man will, niemals wird man eine tiefere, wahrere Freiheit als diejenige des Selbstwollens erhaschen.

Daß aber einer "Naturkraft" gegenüber sich das Gefühl gegen die Anwendbarkeit moralischer Kategorien sträubt, das hat seinen guten Grund in der Vorstellung des unbewußten Wirkens, welche sich nun einmal assoziativ mit jenem Wort verbunden hat. Man denkt eben dabei nur an die physischen Naturkräfte, von deren Manifestationen man gar nicht weiß, ob sie auch eine innerliche, bewußte Seite haben; aus dem Umstand aber, daß man keinen Grund findet, diesen etwas moralisch zuzurechnen, folgt keineswegs, daß ein Gleiches auch für die psychischen Naturkräfte gelten müßte. Man richtet seine ganze Aufmerksamkeit auf das Allgemeine, die Abstraktion und vernachlässigt das Spezifische; man meint, einem "konstanten Verhältnis zwischen bestimmten Ursachen und Wirkungen" könne man doch unmöglich die Prädikate gut und böse beilegen und man hat, wenn man die Sache in dieser Allgemeinheit faßt und keine weiteren Merkmale hinzukommen läßt, ganz entschieden Recht. In gleicher Weise wäre es unerlaubt, von den Säugetieren als solchen zu sagen, sie leben im Wasser, was doch bei einigen Arten derselben wirklich der Fall ist; es könnte aber ein Mann, der sein Lebtag nur Landsäugetiere gesehen hat, leicht dazu kommen, zu behaupten, es sei ein Widerspruch, von Wassersäugetieren zu reden. So ist auch die Naturkraft als solche moralisch indifferent; die physischen Naturkräfte sind es auch; warum muß aber dasselbe gelten, wenn die Naturkraft eine psychische, bewußte ist? wenn sie zusammenfällt mit demjenigen, was uns allen als "Charakter" innigst vertraut ist? Ändert sich denn das Wesen dieses Charakters, wenn man zur Einsicht gelangt, daß es bei den Naturkräften untergebracht werden muß? Die Natur, von welcher hier die Rede ist, ist eben nichts Äußeres, sondern das tiefste Wesen der wollenden Person selbst; die Behauptung, wenn der Egoismus eine Naturkraft sei, setze doch die Natur dem Menschen seine Zwecke, verwechselt die beiden scharf zu trennenden Bedeutungen des Wortes Natur: als stoffliche Welt und als kausale Welt überhaupt. Darum sind auch jene Vergleichungen des wollenden Menschen mit einem geworfenen Stein (SPINOZA), einer Magnetnadel (LEIBNIZ) oder einer Windfahne (BAYLE) so gefährlich: der wohlmeinende Determinist, der sie zur Aufklärung über seine Lehre anstellt, denkt sich dabei jene Dinge als Menschen, während derjenige, der sie hört, leicht dazu kommt, umgekehrt sich die Menschen als Dinge zu denken. Denn der unbefangene Verstand meint immer, er kenne die materielle Welt, die er sehen und tasten kann, weit besser als die geistige und will also immer diese aus jener erklären; während tatsächlich von jener nur eine, die äußere, von dieser aber außerdem noch die innere Seite uns bekannt ist. Es kann aber niemals das weniger Bekannte den Erklärungsgrund für das Bekannteres abgeben; nur wenn man die psychische Kausalität ihres wichtigsten Merkmales beraubt, kann man sie auf die physische zurückführen. Es würde auch die hier bezeichnete Gefahr nicht so groß sein, wenn wir mehr, statt in blutlosen Abstraktionen, in lebendigen Vorstellungen zu denken uns gewöhnten; wer sich sein eigenes Geistesleben klar vergegenwärtigt, der fühlt wohl, daß die naturwissenschaftliche Auffassung der Wollenserscheinungen in keiner Weise das Recht der Zurechnung und der moralischen Beurteilung in Frage stellt. Dagegen wer sich gewöhnt hat, die psychischen Tatsachen sich immer nur in ihrer äußeren Erscheinungsform vorzustellen, andere mehr zu beobachten als sich selbst und besonders sich in den Massenerscheinungen der Geschichte und Statistik zu vertiefen, der kommt sehr leicht dazu, den Menschen als bloßes Stück Natur und die bewußte Kausalität als einen Spezialfall der unbewußten zu betrachten, wobei dann die Verantwortlichkeit und moralische Zurechnung selbstverständlich wegfällt. Diese Betrachtungsweise ist aber logisch nicht berechtigt, sondern nur psychologisch, als eine Folge dauernder Assoziationen und so als eine Art Krankheit des Geistes erklärbar. Sie ist die Ursache, daß man nicht nur, wie es notwendig ist, die Erscheinungen des Fühlens und Wollens theoretisch zu erklären, auf die beherrschenden Kräfte zurückzuführen versucht, sondern auch denselben eine ganz heterogene, rein theoretische  Grundlage  zu geben und bestrebt ist, also das Werkzeug mit dem Resultat der Arbeit verwechselt. In gleicher Weise, aber in umgekehrter Richtung wie der Gläubige, der auf der Basis gewisser hedonistischer oder ethischer "Bedürfnisse des Gemüts" seine Dogmatik, also theoretische Sätze auf Gefühlsgründe aufzubauen versucht, wird hier den Erscheinungen des Gefühls das Daseinsrecht abgesprochen, es sei denn, daß sie sich auf theoretische Thesen zurückführen lassen. Man fragt, warum denn einiges gut, anderes böse sei; man will ein Maß für das Maß, ein Kriterium für das Kriterium; statt sich, wie die Physik, mit dem Nachweis der Gesetzmäßigkeit im Geschehen wenigstens vorläufig zu begnügen, gibt man sich nicht zufrieden, bis alle Grenzen verwischt und die Gefühlserscheinungen auf die "solide" Grundlage theoretischer Tatsachen festgeschmiedet sind. Bei dieser ethischen Skepsis ganz wie bei jenem auf das Gefühl sich stützenden Glauben, haben wir es aber mit einer Desorganisatioin, einer Zerstückelung des Geistes zu tun, welche nur aus einseitiger Bildung, ausschließlicher Pflege eines Vermögens mit Vernachlässigung aller anderen erklärt werden kann, welche aber immer mehr eine wesentliche Gefahr für alle höhere Kultur zu werden droht und welche vor allem die strenge, konsequente Wissenschaft selbst energisch zu bekämpfen hat.

Ich glaube nun keineswegs, daß obenstehende Ausführungen genügen werden, selbst dem wissenschaftlich unbefangenen Leser ohne weiteres meine Ansicht als ein vertrautes Gedankenheim erscheinen zu lassen, wo alle Rätsel ihre Lösung, alle Bedürfnisse des Gemüts ihre Befriedigung finden. Vielmehr wird mancher meinen, was da herauskommt, sei eben nicht die wahre Verantwortlichkeit, diese sei ja ohne Freiheit im landläufigen Sinne gar nicht zu denken, usw. Darauf läßt sich nun entweder nichts antworten, oder sehr viel. Wenn die absolute Freiheit, die Freiheit des Wollens, für dich einen essentiellen Faktor der Verantwortlichkeit bildet, für mich aber keineswegs, - nun so ist eben dasjenige, was wir unter Verantwortlichkeit verstehen, etwas ganz Verschiedenes, es fehlt die zu jeder Debatte unerläßliche gemeinsame Grundlage und ich kann es nur bedauern, daß der Titel meines Artikels Erwartungen erregt hat, welche derselbe gewiß nicht zu befriedigen imstande ist. Erfaßt man aber die Sache tiefer, so läßt sich folgende Erwägung aufstellen. Du meinst also, Handlungen, welche nicht frei sind, können nicht Lob oder Tadel erregen, Lohn oder Strafe herausfordern. Genau betrachtet, sagt diese Behauptung etwas aus über ein psychisches Gesetz, kraft dessen die Gefühle der Billigung und Mißbilligung nur von denjenigen Vorstellungen, welche sich auf ein "freies" Wollen beziehen, könnten hervorgerufen werden. Nun wissen wir aber, daß die Ideenassoziation imstande ist, kunstmäßige Gedankenverbindungen ins Leben zu rufen, denen oft eine große Festigkeit innewohnt, so daß es nur dauerndem Studium und wiederholten Anstrengungen gelingt, dieselben zu zerstören. Wenn wir nun auf den sonderbaren Widerspruch achten, daß die Menschen zwar einerseits die Freiheit des Wollens als notwendiges Element der Verantwortlichkeit postulieren; andererseits aber zugestehen müssen, daß der absolute Zufall, die Motivlosigkeit, welche mit dieser Freiheit identisch ist, ebensowohl die Verantwortlichkeit ausschließt, so werden wir zur Vermutung geführt, es müsse hier etwas dergleichen vorliegen. Es können unmöglich zwei kontradiktorisch entgegengesetzte Begriffe: Freiheit des Wollens und Motivierung, zugleich Merkmale eines und desselben Dinges sein; das eine oder das andere muß richtig sein und diese Unrichtigkeit gilt es zu erklären. Nehmen wir nun an, die Freiheit sei das ursprüngliche, wesentliche Merkmal der verantwortlichen Handlungen, so läßt sich gar nicht einsehen, wie man je dazu kommen konnte, nicht nur solche Handlungen, deren Motive man sehr deutlich einsieht, für verantwortlich zu halten, sondern auch dieselben lediglich nach den Motiven zu beurteilen; - es würde ein unlöslicher Widerspruch vorliegen, den man in keiner wissenschaftlichen Untersuchung als Resultat hinnehmen darf. Völlig anders aber gestaltet sich die Sache bei der entgegengesetzten Annahme. Wenn die moralische Verantwortlichkeit durch die Motiviertheit der Handlung bedingt ist, weil sie den Charakter trifft, der sich in derselben äußert, so läßt sich unschwer begreifen, daß die physische und intellektuelle Freiheit, ohne welche der Schluß von der Tat auf den Charakter vielfach unmöglich ist und welche deshalb bei aller moralischen Beurteilung vorausgesetzt wird, sich im Laufe der Jahrtausende assoziativ auch die Freiheit von Motiven assimilieren mußte. Denken wir uns einen unbefangenen Menschen, vor dem das Problem der Willensfreiheit niemals aufgetaucht ist, der aber fortwährend wahrgenommen hat, daß nur solche Handlungen seine sittliche Beurteilung erregen, bei denen auch ein anderes Betragen physisch möglich und als solches bekannt war, so ist es nicht mehr als natürlich, daß er diese Tatsache in die Worte kleidet: nur da ist Verantwortlichkeit, wo man auch anders hätte handeln können (wenn man gewollt hätte). Der Mann denkt eben dabei nur an Freiheit von physischem und intellektuellem Zwang: die einzigen Formen der Notwendigkeit, welche ihm geläufig sind. Wenn nun aber diese Meinung, daß das "Anders-können" für die Verantwortlichkeit eine unerläßliche Vorbedingung ist, sich einmal in Fleisch und Blut in der Volksüberzeugung festgesetzt hat, so muß, wenn später die Wissenschaft auch bei "willkürlichen" Handlungen die Notwendigkeit, das Nicht-anders-können nachweist, der bezeichnete Widerspruch notwendigerweise entstehen; man muß meinen, eben das Dasein der Motive, nach denen man fast unbewußt immer die menschlichen Handlungen beurteilt hat, beraube dieselben ihres sittlichen Wertes, mit der "Freiheit" falle auch die Zurechnung. Führt man dann dagegen an, unsere Handlungen seien doch jedenfalls nur das Ergebnis  unseres  Charakters, so spukt noch immer der Gedanke des "Anders-könnens" im Geist herum und man fragt, ob wir denn auch hätten  anders sein  können, - eine Frage, deren Ungereimtheit sich am deutlichsten zeigt, wenn man sich das nicht geäußerte, aber doch stillschweigend hinzugedachte "wenn wir wollten" damit verbunden denkt. Wir sind eben wie wir wollen und wir wollen wie wir sind: operari sequitur esse [Jedes Ding wirkt gemäß seiner Beschaffenheit. - wp]. Die Richtung unseres Wollens ist nicht etwas neben unserem Wesen, welches darauf irgendwelchen Einfluß auszuüben berufen wäre, sondern eines der essentiellen Merkmale dieses Wesens selbst; das Wollen ist die Manifestation des Charakters, wie die Bewegung die Manifestation der mechanischen Kraft. Daß sich aber der gerügte Irrtum bilden mußte, das ist, wie ich darzutun versucht habe, nach den bekannten Gesetzen der Ideenassoziation durchaus erklärlich. Es wird also zu schließen erlaubt sein, daß keineswegs die Freiheit vom Kausalzusammenhang, wohl aber die Motivierung eines essentiellen Kennzeichens der moralisch verantwortlichen Handlungen bildet.

Wenn wir nun aber auf dem zurückgelegten Weg noch einen Blick werfen, so könnte es scheinen, als hätten wir doch noch nicht sehr viel erreicht, vielmehr nur das eine Problem mit dem anderen vertauscht. Denn die zu beantwortende Frage war: wie ist es erklärlich, daß wir in der ausnahmslos dem Kausalgesetz unterworfenen Welt einige Erscheinungen (diejenigen des Wollens) als frei zu betrachten nicht umhin können; - als Resultat unserer Forschung hat sich aber eine Freiheit herausgestellt, die nicht nur für die Kräfte des Wollens, sondern auch für diejenigen des Fühlens und Denkens, nicht nur für die innere, sondern auch für die äußere Welt ihre Gültigkeit hat. Da scheint denn das Problem, ein wirklicher PROTEUS, in umgekehrter Form wieder aufzuleben: wie ist es begreiflich, daß von allem, was an dieser Freiheit Teil hat, nur dem Wollen das Prädikat derselben zuerkannt wird? - und man möchte meinen, wir seien noch nicht viel weiter als am Anfang unserer Untersuchung. So schlimm aber steht die Sache dann doch nicht; vielmehr wird man finden, daß wir, wie es auch in der Mathematik üblich ist, das schwierige, auf direktem Wege unlösbare Problem auf ein viel leichteres, lösbares zurückgebracht haben. Denn die Frage ist jetzt nicht mehr, wie man etwas gar nicht Daseiendes in einige Dinge hineingeschmuggelt haben mag, - sondern wie man etwas in allen Dingen Gegenwärtiges in einem Teil derselben übersehen haben kann und damit stehen wir auf bekanntem, festem Boden. Hier lassen sich dann für den erwähnten Tatbestand folgende Gründe angeben. Erstens ist der natürliche Mensch bei nichts so sehr, als bei den Erscheinungen seines Wollens interessierte: alles andere ist ihm nur wichtig, so weit er es mit diesen in Beziehung setzt und so mag er dann über diese auch wohl ein wenig tiefer als über das andere nachgedacht haben. Zweitens aber mußte auch schon die Verschiedenheit des menschlichen Handelns neben der Gleichmäßigkeit des mechanischen Geschehens das ungeschulte Denken dazu führen, dort eher als hier ein verborgenes, die Motivierung beherrschendes Prinzip wenigstens zu ahnen. Wenn es wahr ist, daß die Verwunderung die Mutter allen Philosophierens ist, daß aber beim Naturmenschen nur das Außergewöhnliche Verwunderung erregt, so mußte sich auch die Aufmerksamkeit des Denkens zuerst  dem  Gebiet zuwenden, wo die Überraschungen, Enttäuschungen usw. am zahlreichsten sind, wo auf dieselbe Ursache der eine so, der andere ganz verschieden reagiert. Da mußte man dann bald einsehen, daß die äußeren Umstände für das menschliche Handeln nicht ven vollständig genügenden Erklärungsgrund abgeben, daß vielmehr noch etwas anderes, etwas in jedem Individuum Verschiedenes, zu Hilfe gezogen werden muß. Hier bot aber das Bewußtsein der eigenen Unabhängigkeit einen willkommenen Anhaltspunkt.  Ich  bin es eben, der will; da muß dann auch wohl in diesem Ich der Grund jener Verschiedenheit zu suchen sein. Daß man aber nur dem wollenden, nicht dem denkenden und fühlenden Ich das Prädikat der Freiheit beilegte, während doch auch hier das Bewußtsein des selbständigen Wirkens nicht fehlt, -  ich  urteile,  ich  fühle ja, ganz so wie  ich  will, - auch das läßt sich unschwer begreifen. Die Notwendigkeit des "ich will" ist eben eine ganz andere als diejenige des "ich urteile": diese allgemein menschlich, jene rein individuell; hier der deutliche Anspruch auf  Objektivität  und Allgemeingültigkeit, dort die kräftige Betätigung eines geheimnisvollen, in jeder Person verschiedenen Agens [das Tuende - wp]. So hatte dann das naturwüchsige, nur durch das Unerwartete in Tätigkeit zu setzende Denken vorläufig keine Veranlassung, sich den Erscheinungen des Denkens und Fühlens, umso mehr aber, sich denjenigen des Wollens zuzuwenden. Dazu kam der ethische Gesichtspunkt. Die Erscheinungen des Wollens erwecken Lob und Tadel; diese treffen aber niemals die äußeren Umstände, sondern immer nur die wollende Person. Auf das Denken und Fühlen bezieht sich die sittliche Wertschätzung nicht; also auch von dieser Seite gab es keinen Grund, sich zur Einsicht in die Freiheit der Denk- und Gefühlskräfte zu erheben. Daß aber die Freiheit des wollenden Ich, wie früh auch geahnt, doch lange Zeit unrichtig aufgefaßt werden mußte, ist ebenfalls sehr verständlich. Es mußte ja dieses Ich dem ungebildeten, nur mit der äußeren greifbaren Welt vertrauten und ohne klare Erkenntnis des Kraftbegriffes operierenden Denken in jeder Hinsicht als ein reines Mysterium erscheinen. Überall sonst, auch im logischen und ethischen Urteil, fühlt es ohne Ausnahme die Notwendigkeit und Gesetzmäßigkeit des Geschehens heraus; allerdings auch hier finden sich Verschiedenheiten, aber es hat jeder die volle und oft durch die Tatsachen bestätigte Gewißheit einer Allgemeingültigkeit, die nur momentan durch Mißverständnisse verdunkelt werden kann. Auf praktischem Gebiet dagegen findet sich mit den gleichen äußeren Ursachen bald diese bald jene Folge verknüpft und das Denken ist nicht genug geüht, die konstanten Kräfte herauszufinden. So ist es dann natürlich, daß man dazu kommt, hier den Kausalzusammenhang durchbrochen zu glauben und nicht nur den Charakter, sondern auch das einzelne Wollen als frei zu betrachten, - besonders auch noch deshalb, weil eben hier die moralische Beurteilung anknüpft, für welche, wie oben gezeigt, wenigstens physische und intellektuelle Freiheit die notwendigen Bedingungen sind. Da wurde dann ohne weiteres der Begrif der absoluten Willensfreiheit hypostasiert [einem Gedanken gegenständliche Realität unterschieben - wp]: man hatte sich ja über das Wesen der Vergeltung noch keine Rechenschaft gegeben und dem ungeübten Denken ging die Kraft ab, bis zu den Widersprüchen vorzudringen, worauf die bezeichnete Annahme notwendig stoßen mußte. Alle jene Unklarheiten aber, durch zahlreiche Geschlechter überliefert und immer fester gewurzelt, bilden jenes verwirrte und widerspruchsvolle Konglomerat von ethischen und psychologischen Anschauungen, welches uns nocht jetzt als die landläufige Theorie der Willensfreiheit vor Augen steht.
LITERATUR Gerard Heymans, Zurechnung und Vergeltung - eine psychologisch-ethische Untersuchung, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 8, Leipzig 1884
    Anmerkungen
    1) OTTO LIEBMANN, Über den individuellen Beweis für die Freiheit des Willens, Stuttgart 1866, Seite 84, 85
    2) LIEBMANN, a. a. O. Seite 69
    3) LIEBMANN, a. a. O. Seite 70
    4) Vgl. OTTO LIEBMANN, a. a. O. Seite 129 und 130
    5) Der energische Ausdruck rührt von dem, leider in Deutschland noch zu wenig bekannten, niederländischen Schriftsteller MULTATULI (E. D. DEKKER) her.
    6) OTTO LIEBMANN, a. a. O. Seite 34
    7) CARL GÖRING, Über die menschliche Freiheit und Zurechnungsfähigkeit, Leipzig 1876, Seite 9
    8) SPINOZA, Ethik I, Def. VII
    9) MORITZ DROBISCH, a. a. O. Seite 2
    10) HERMANN LOTZE, Mikrokosmus, Leipzig 1856-64, Seite 288