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WILHELM SCHUPPE
Grundzüge der Ethik
und Rechtsphilosophie

[1/2]

"Eine Wissenschaft vom Sittlich-Guten und dem Sein-sollenden, d. h. der sittlichen Pflicht, ist möglich ohne von den Vorstellungen eines Gottes, der unsterblichen Seele oder einer im Transzendenten liegenden Freiheit irgendeinen Gebrauch zu machen."

"Wer nicht aus eigener Erfahrung weiß, was Lust und Unlust, Wohl- und Übelbefinden, angenehm und unangenehm ist, dem kann es durch keine Kunst des Definierens beigebracht werden."

"Erst die selbsteigene Tat der Anspannung des Aufmerkens, das angestrengte sich Besinnen, die Macht, welche einige der auftauchenden Vorstellungen als zur Zeit nicht erwünschte wieder verscheucht, andere fixiert und festhält, um wieder andere mit ihnen verwandte und zusammenhängende endlich hervortreten zu sehen, erst das macht eine Erkenntnis möglich, ohne dies wäre nicht so viel Erkenntnis in der Welt, als ein dreijähriges Kind hat."

"Das Interesse an Wahrnehmungen und Gedanken ist gewiß ein Wohlgefallen am Wahrnehmen und Denken, aber auch gewiß kein bloßes Erleiden eines angenehmen Zustandes, sondern unaufhörliche Aktion in der Anspannung der Aufmerksamkeit."


V o r w o r t

Die Darstellung der Ethik und Rechtsphilosophie, welche ich hiermit der Öffentlichkeit übergebe, bezeichnet sich als "Grundzüge". Mein Interesse richtete sich vorzugsweise auf die Fundamentierung und die Klärung der Grundbegriffe; speziellerer Ausführungen habe ich mich der Kürze halber geflissentlich enthalten.

Sodann wollte ich an dieser Stelle noch besonders darauf aufmerksam machen, daß Ethik und Rechtsphilosophie in der folgenden Darstellung ein Ganzes sind. Die Ethik bedarf der Rechtsphilosophie zu ihrer Ergänzung und ist ohne diese Durchführung ihres Prinzips bis in seine letzten Konsequenzen eben um der Unvollständigkeit willen den größten Mißverständnissen ausgesetzt. Die Rechtsphilosophie aber bedarf der Ethik als ihres Fundaments, ohne welches ihre Begriffe in der Luft schweben und ihre Forderungen unbeweisbar sind.

Das Buch zerfällt sonach in zwei Hauptteile, die Grundlegung und die Ausführung. Letztere führt den Titel: "Die Konsequenzen aus der fundamentalen Wertschätzung" und zerfällt in zwei Abschnitte (III und IV des ganzen Buches), "die direkten Konsequenzen, welche die Ethik im engeren Sinn ausmachen", und die Rechtsphilosophie, welche in einer bestimmten Anwendung und Einschränkung jener besteht. Die Bezeichnung des dritten Abschnittes mit dem eben genannten Titel ist im Text durch ein Versehen unterblieben.

Die Überschriften der Kapitel und Paragraphen nennen meist nur den Gegenstand, von welchem in ihnen die Rede ist, ohne den Gedankenzusammenhang, der seine Behandlung an dieser Stelle nötig macht, anzudeuten. Auch ließ das Bedürfnis der Gliederung zuweilen Gleichartiges als ein kleineres Ganzes unter einer besonderen Überschrift zusammenfassen, obgleich es sich eigentlich dem Titel des vorhergehenden Kapitels oder Paragraphen als Hilfsuntersuchung oder ein Teil der Ausführung unterordnete. Die genauere Markierung dieser Verhältnisse hätte eine noch größere Zahl von Über- und Untereinteilungen nötig gemacht. Ich hielt sie für überflüssig und hoffe, daß die Überschriften auch so dem Zweck der leichteren Orientierung dienen werden.

"Erk.Log." bedeutet "Erkenntnistheoretische Logik", Bonn 1878.



E i n l e i t u n g

Die Ethik nimmt ihren Gegenstand aus der Erfahrung. Es ist ein Faktum, daß unzählbar Viele einen Begriff des Guten kennen, welcher sich sehr bedeutend vom Guten des subjektiven Lustgefühls und der Geeignetheit zu irgendeinem Zweck, wobei letztere wieder auf das Gute der Lust, d. h. der Befriedigung einer Begierde, zurückgeht, unterscheidet. Der Unterschied zwischen jenem Guten und diesen Gütern wird als ein durchgreifender geschildert und gemeinhin durch die mit jenem verbundenen Gefühl des Erhabenen und Heiligen, der Erhebung und Erbauung gekennzeichnet, welchen die Güter des bloßen Lustgefühls oft geradezu widersprechen. Mit dem Begriff eines solchen Guten ist die Vorstellung von einer absoluten Verbindlichkeit, einer Pflicht oder einem Sollen, welche den Zuwiderhandelnden der Zufügung eines Übels, d. h. des "Strafübels", für würdig und diese Zufügung selbst für recht und gut erachten läßt, verquickt. Jedenfalls haben diese Vorstellungen schon das Leben von Milliarden von Menschen beherrscht und in der Entwicklung der Völker eine hervorragende Rolle gespielt. Was an ihnen kann und muß Gegenstand einer wissenschaftlichen Untersuchung werden?

Die wissenschaftlichen Fragen kommen meist nur allmählich zu einer klaren Formulierung; die Schwierigkeiten der Sache zeigen sich zuerst als Widersprüche in den Konsequenzen derselben; diese ziehen zuerst die Aufmerksamkeit und das Nachdenken auf sich. Die Bedeutung, welche in der gemeinen Meinung das Sittlich-Gute hat, scheint sich nicht damit zu vertragen, daß bei verschiedenen Völkern in verschiedenen Zeiten ganz Entgegengesetztes für sittlich gut, bzw. unsittlich gegolten hat. Das "du sollst", welches sich an den Willen richtet und im Weigerungsfall Strafe in Aussicht stellt, scheint das Können zu seiner unerläßlichen Voraussetzung zu haben, und doch sind es uralte psychologische Beobachtungen, welche dieses Können im einzelnen Fall bezweifeln ließen. Und endlich ist kein Mensch imstande, von der Forderung einer engsten und innigsten Beziehung zwischen dem Sittlich-Guten und dem Guten überhaupt, zwischen Tugend und Glücks- oder Lustgefühl endgültig und konsequenz Abstand zu nehmen, wobei diese Forderung die Wirklichkeit nicht nur niemals erfüllt, sondern auch die Theorie noch nicht begrifflich klar zu begründen vermocht hat. Ich lasse die Wunderlichkeit der verschiedenen Lösungsversuche außer Acht; gewiß ist nur das Eine, daß, wer ohne andere Hilfsmittel direkt an die Lösung dieser Widersprüche geht, nichts ausrichten kann, es sei denn, daß er sich entschließt, zugunsten der gewünschten Konsequenz nach der einen oder anderen Seite hin dem natürlichen Gefühl Gewalt anzutun. Die widersprechenden Bestimmungen können nicht durch eine von außen herankommende Betrachtung versöhnt werden; sie sind Konsequenzen und können somit nur von Innen her, aus der Tiefe, aus welcher sie fließen, ihre Erklärung und Berichtigung finden. Begriffe entstehen, aus ihrer Entstehung allein läßt sich ihre Gültigkeit, ihr Anwendungsgebeit, der Kreis ihrer Konsequenzen beurteilen; die Entwicklung der Menschheit ist von einem Zustand tierähnlicher Unwissenheit und Roheit ausgegangen, das Denken begann seine Arbeit, ohne ins Bewußtsein zu treten und nur ganz allmählich und langsam hat sich eine bewußte Überlegung und Besinnung eingestellt; die überkommenen Begriffe sind älter, als diese. Wer das nicht begreift, kann auch nicht begreifen, was es heißt, wenn als Aufgabe die Untersuchung der Begriffe "gut" bzw. "sittlich-gut" und "Pflicht" und "Sollen" hingestellt wird. Übrigens muß ich auch zugeben, daß das Wort "Untersuchung der Begriffe" nicht viel auf sich hat, wenn nicht eine Logik vorliegt, welche durch den speziellen Nachweis der Entstehung und inneren Bildung aller möglichen Begriffe eine methodische Analyse der im einzelnen Fall gegebenen ermöglicht. Wie also sind diese Begriffe entstanden? Welches ist ihr Inhalt? Die Aufgabenstellung kann der wissenschaftlichen Forderung der Einheit noch nicht genügen; denn die Erfahrung, aus welcher wir den Gegenstand der Untersuchung entnehmen, zeigt diese Duplizität der überkommenen Begriffe gut und Pflicht. Erst die Ausführung selbst kann zeigen, ob und wie sie zusammenhängen.

Unser Weg wird also die erkenntnistheoretisch-logische Begriffsanalyse sein, durch welche Bestimmung jede Zuhilfenahme metaphysischer Hypothesen ausgeschlossen ist. Diese Absicht ist nicht neu; aber es ist schwer, sie vollständig durchzuführen. Es ist ein Faktum: das metaphysische Bedürfnis durchzieht mit seinen Forderungen und Ahnungen alle ethischen Fragen. Der Wert, den wir der treuen Pflichterfüllung beilegen, die Gewalt selbstverleugnender Liebe, das Großartige der sittlichen Begeisterung erscheint völlig inkommensurabel [unvergleichbar - wp] mit den meßbaren Größen des Sicht- und Greifbaren. Kein Preis kann es lohnen; alle Herrlichkeiten der Erde verschwinden vor der Bedeutung einer einzigen wahrhaft sittlichen Regung, und wenn das Wort unendlich irgendwo einen faßbaren Sinn gewinnt, so ist es in denjenigen Gefühlen, auf welchen unsere moralische Wertschätzung beruth. Und welcher Art ist der Gegenstand, dessen Wert alles Endliche zu transzendieren scheint? Es sind Handlungen, welche einen Zeitpunkt erfüllen und der Vergänglichkeit angehören. Und auch die edlen Gesinnungen, aus welchen sie hervorgehen, leben unsichtbar und untastbar in der Seele einzelner sterblicher Menschen. Wo sind sie, wenn ihre Träger in Staub zerfallen sind? Der Gedanke ist unerträglich, daß das Wertvollste, was wir erdenken können, in der Zeit auftaucht und verschwindet, und gewesen so gut wie nie gewesen ist. Wir begreifen vollständig, daß, was theoretische Spekulation von einem Urgrund, einem Etwas, "was die Welt im Innersten zusammenhält", einem Ansich, einem Absoluten zu lehren sich unterfängt, naturnotwendig mit diesen Postulaten die engste Verquickung eingeht und sich zu einem Wesen gestaltet, welches der Urquell der Liebe, das Gute selbst in Person ist und zu uns in einer Art von persönlichem Verhältnis steht. "Die metaphysische Bedeutung" des Sittlich-Guten, von der SCHOPENHAUER spricht, ist mir ein äußerst wohlklingendes Wort, aber sie besteht gewiß nicht in dem, worin dieser kritiklose Phantast sie gefunden hat, und sie ist überhaupt erst zu finden, wenn vorher und unabhängig von ihr der Begriff des Sittlich-Guten festgestellt worden ist. Fehlt diesem noch die nötige Klarheit, so schwebt seine angebliche metaphysische Bedeutung in der Luft; viel eher ist der sichere Tatbestand dieses Begriffs geeignet, von einer besonnenen Überlegung zu metaphysischen Untersuchungen benützt zu werden. Es gilt dasselbe, was ich in der "Erkenntnistheoretischen Logik", Seite 175, hinsichtlich des Ursprungs der Sinnesqualitäten in Zeit und Raum gesagt habe.
    "Die Spekulation behält freies Feld. Es ist nur sehr wichtig, daß das, was eine genaue Feststellung und Zerlegung des Tatbestandes zu leisten vermag, durchaus getrennt und unabhängig bleibt von aller Spekulation."
Es wäre traurig, wenn die Verpflichtung in ihrer bindenden Kraft immer erst davon abhängig wäre, daß es uns glückt, dem zu Verpflichtenden das Zugeständnis der Existenz eines persönlichen Gottes oder irgendeines metaphysischen Grundwesens, zu welchem er in dem und dem Verhältnis steht, abzugewinnen, gerade so, als wenn der Begriff der Wahrheit erst von einem vorauszusetzenden System der Metaphysik abhängig sein und seine Gültigkeit erhalten sollte. Eine Wissenschaft vom Sittlich-Guten und dem Sein-sollenden, d. h. der sittlichen Pflicht, ist möglich ohne von den Vorstellungen eines Gottes, der unsterblichen Seele oder einer im Transzendenten liegenden Freiheit irgendeinen Gebrauch zu machen. Dagegen wird unser Weg uns auch zu denjenigen Punkten führen, welche auf Metaphysik hinweisen und von der Ethik für sich allein nicht aufgeklärt werden können. Die Ethik selbst beruth auf ganz anderen sicheren Prämissen und erfährt somit keine Beeinträchtigung dadurch, daß sie Fakta vorfindet, welche noch unerklärte Widersprüche zu enthalten scheinen. Wer um dieser willen wiederum das System der Ethik verwerfen zu sollen glaubt, müßte ein Doppeltes nachweisen,
    1. daß und warum die Prämissen, auf welchen sie ruht, falsch sind, und

    2. daß durch ihre Ablehnung nun auch wirklich die beklagte Dunkelheit verschwindet.
Beides wird sich als völlig unmöglich zeigen. Ich hoffe also auf dem bezeichneten Weg eine größere Festigkeit und Unabhängigkeit der ethischen Theorie zu erreichen; die Klärung der Grundbegriffe wird eine Versöhnung der bisherigen prinzipiellen Gegensätze ermöglichen, indem sie das relative Recht eines jeden zeigt und zugleich erkennen läßt, daß die Konsequenzen, um deren willen er von den Gegnern perhorresziert [abgelehnt - wp] wird, Mißverständnisse sind. Eine abgesonderte Kritik der einseitigen Richtungen glaube ich mir ersparen zu dürfen. Absolut neue Standpunkte sind nicht mehr zu finden. Die Wahrheit ist auch an und für sich nicht so verborgen, daß sie bisher noch von Niemandem berührt wäre. Vielmehr ist es immer die Unklarheit der Begriffe, die Flüchtigkeit und Inkonsequenz der Betrachtung, infolge deren die von selbst sich darbietenden Wahrheiten wieder verdunkelt werden und durch falsche Folgerungen, die man an sie knüpft wähnt, unbrauchbar erscheinen. Werden diese Fehler vermieden, so zeigt sich häufig die unannehmbare Konsequenz als eine bloß vorläufige, als ein bloßer Durchgangspunkt, nach dessen begrifflicher Klärung sich wieder ganz andere Aussichten darbieten.

Wir gehen jetzt an die Untersuchung der Begriffe "gut" und "sollen", und zwar zuerst in denjenigen Anwendungen, welche unentbehrlich und unbestreitbar sind, um von ihnen aus, worin das Spezifische des Sittlich-Guten und der Pflicht besteht, zu erkennen.


Erster Teil: Grundlegung
I. Die formalen Kennzeichen des
Prinzips der Ethik.


Der Begriff des Guten
Die Quelle der Wertbestimmungen

1. Die Data der äußeren Sinne und alle Regungen psychischer Art, deren wir uns unmittelbar bewußt werden, sind das Material, aus welchem das Denken Begriffe von Dingen und Ereignissen und ihren Eigenschaften schafft. Jeder Teileindruck oder jedes einzelne Sinnesdatum kann als Prädikat des Ganzen ausgesprochen werden, eben in dem Sinn, daß es ein Teil von demjenigen ist, was das Denken zu einer Einheit zusammengefaßt hat, z. B. "Blut ist rot" und dgl. Können die Prädikate der Wertschätzung in derselben Weise mit den Daten der äußeren Sinne zu einem solchen Ganzen verbunden werden, wie diese untereinander? Koordiniert sich das Prädikat "schön" allen denjenigen Sinnesdaten, aus welchen der Begriff einer Landschaft, das Prädikat "gut" oder "angenehm" denen, aus welchen der Begriff des Weines oder der Ruhe besteht? Wird die Schönheit und die Güte und Annehmlichkeit direkt so wie rot und grün gesehen, wie glatt und rauh getastet? Die Antwort ergibt ein leichtes Experiment. Wir können von den Gefühlen der Lust und Unlust, welche die Dinge in uns hervorrufen, abstrahieren. Ist unter dieser Abstraktion eine Landschaft noch schön, ein Wein gut? Wer es bejaht, vermag diese Abstraktion nicht auszuführen; oder er fingiert Gefühllosigkeit nur wie einen Ausnahmezustand, hält aber dabei in Gedanken fest, was andere zu fühlen pflegen und was er sonst gefühlt hat; dieses ist alsdann der Inhalt des prädizierten schön und gut. Abstrahieren wir aber ganz und gar von allem Gefühl, so zeigt eine Landschaft etwa große Berge mit zackigen Spitzen, grüne Wälder und blaue Seen, aber das Alles ist gleichgültig und die Worte "schön" und "gut" sind vollständig sinn- und inhaltslos. Jede Wertschätzung beruth auf einem Gefühl. Wenn auch gesagt werden kann, daß die Schönheit der Landschaft gesehen, die Güte des Weines geschmeckt wird, so heißt das nur, daß die gemeinten eigentümlichen Lustgefühle sich an die Eindrücke des Gesichts- und des Geschmackssinns knüpfen. Die Schönheit und Güte selbst wird nur gefühlt. Sehen wir vorläufig davon ab, in welchem Sinn aus dem Gefühl der Lust oder Unlust in uns eine Eigenschaft von Dingen gemacht wird. Die gemeine Meinung, welche wir vorläufig akzeptieren, läßt die Dinge auf uns einwirken und in uns die Gefühle der Lust oder Unlust hervorbringen. Das Ding gilt also dann als Quelle unserer Lust oder Unlust, und in diesem Sinn wird es gut oder nicht gut genannt.


Abwehr von Mißverständnissen
und Einwänden

2. Leider ist es nicht überflüssig, einige naheliegende Mißverständnisse zu berücksichtigen. Mancher wird meinen, daß wir doch oft rein verstandesmäßig den Nutzen und die Güte einer Einrichtung beurteilen und daß das Werturteil, welches der sachverständige Taxator abgibt, von keinem Gefühl der Lust in ihm herrührt. Aber solche Urteile beruhen auf der Voraussetzung, daß unter bestimmten Umständen in allen oder einer bestimmten Art von Menschen sich die und die Gefühle regen und subsumieren einen gegebenen Fall unter das allgemeine Gesetz. Die Subsumtion kann ohne jede Teilnahme des Gemüts vollzogen werden, der allgemeinere Satz aber, unter welchen subsumiert wird, hat seinen Sinn nur darin, daß ein Ding oder eine Einrichtung Lust oder Unlust erweckt und um dieser willen das Prädikat gut oder nicht gut erhält. Und wenn der Taxator den Wert einer Hinterlassenschaft auf 100 oder auf 1000 Euro schätzt, so stützt sein Urteil sich auf die Erfahrung, wieviel ungefähr gegenwärtig für solche Dinge von solcher Beschaffenheit gezahlt zu werden pflegt. Der Zahlende aber wägt ab, wieviel Lust bzw. Vermeidung von Unlust er von einem Gegenstand zu erwarten hat und hat für die Verwendung seiner Geldmittel keinen anderen Maßstab. Jedes Werturteil also ist, direkt oder indirekt, eine Aussage des Gefühls. Es versteht sich von selbst, daß ich dem Gefühl nicht eine Funktion zu urteilen zuschreibe. Das Urteil ist Sache des Denkens, aber der Inhalt der Wertbegriffe stammt ausschließlich aus dem Gefühl, und welches Wertprädikat jegliches Ding zu erhalten hat, kann weder die äußere Wahrnehmung noch der Verstand bestimmen, sondern ist Sache des Gefühls; jedes Dinges Wert, d. h. ob und wieviel Lust oder Unlust es schafft, wird gefühlt. Mancher wird vielleicht auch einwenden, daß nicht alles, was Lust erregt, gut ist, wie auch nicht alles, was gut ist, Lust erregt. Allein was zwar Lust erregt, aber nicht gut ist, ist es deshalb nicht, weil es zwar Lust erregt, aber noch größere dauernde Unlust im Gefolge hat, oder vielleicht, weil es von einem anderen Standpunkt aus nicht gut erscheint. So wird, was dem einen Lust erregt, nicht gut genannt, weil es einem andern, oder gar vielleicht, weil es vielen anderen größere dauernde Unlust schafft. Aber wer sieht nicht, daß auch in diesem Fall die Grundbedeutung von gut die der Lustquelle ist, nur daß noch eine andere Rücksicht geltend gemacht wird, und daß diese schon auf einem ethischen Theorem beruth. Vorläufig kann in der Tat dasselbe für den einen gut und für den andern nicht gut sein, und wie die Bedeutung von gut in einem sittlichen Sinn zu erreichen ist, steht eben noch in Frage. Der numerische Unterschied zwischen den durch ein und dasselbe Geförderten und den Benachteiligten kann doch wohl keine prinzipielle Entscheidung geben. Denn vorher müßte schon festgestellt sein, daß und in welchem Sinn das allgemeinere Wohl auch demjenigen, welcher in seinen individuellen Interessen dadurch geschädigt wird, als gut gelten soll. Sehen wir also von dem eben zu erklärenden Sinn und Inhalt des Begriffs "sittlich-gut" ab, so ist die Richtigkeit der obigen Erklärung unbezweifelbar.

Aber hat sie den Wert einer Definition? Ist das >definiens "Lust" so klar, wie es sein soll? Kann man, muß man nicht wieder fragen: aber was ist Lust? was erregt Lust? Die letztere Frage ist ganz anderer Art als die erste. Sie hebt hervor, daß die Eigenschaft, Lustquelle zu sein, nicht zu den objektiven Eigenschaften der Dinge gehört, weil ein und dasselbe Ding dem einen Lust und dem anderen Unlust bereitet; dabei ist offenbar vorausgesetzt, daß im einzelnen Fall, was jedem Lust bereitet, mit Sicherheit durch Erfahrung festgestellt werden kann, daß zumindest jeder selbst darüber eine unbezweifelbare Auskunft geben kann. Das letztere ist mir genug. In der Tat ist auch keine Erkenntnis so sicher, als die eines jeden über sein eigenes augenblickliches Wohl- oder Übelbefinden; nur daß jemand sich selbst oder andere täuschen will, ist möglich. Der Begriff des Irrtums hat hier keinen Inhalt. Ist dies der Fall, so hat auch ganz gewiß der Begriff der Lust und Unlust einen positiven Inhalt, welcher zum unmittelbar Gegebenen gehört und unverkennbar erfahren wird, und dann ist, wie viel auch noch darüber zu untersuchen ist, die Undefinierbarkeit desselben kein Grund, die Gleichung gut = Lustquelle für wertlos zu erklären. Der Begriff des Lustgefühls ist bestimmter, als der des Guten, und hebt hervor, daß sein Inhalt ursprünglich Gegebenes und nur unmittelbar erfahrbar ist. Wer nicht aus eigener Erfahrung weiß, was Lust und Unlust, Wohl- und Übelbefinden, angenehm und unangenehm ist, dem kann es durch keine Kunst des Definierens beigebracht werden. - Die Rückführung von Lust und Unlust auf Verhältnisse unter den Vorstellungen bedarf heute keiner Widerlegung mehr, aber ihre Erklärung als Befriedigung oder Nichtbefriedigung des Willens ist erwähnenswert, weil das Verhältnis des Gefühls zum Willen überhaupt einer Erörterung bedarf.


Gefühl und Wille. Gefühl nicht
auf den Willen reduzierbar.

3. Wenn es einem Leser sogleich einleuchtet, daß Lust eine Befriedigung des Willens ist, wozu schon das Wort "Befriedigung" verleitet, so liegt es nur daran, daß er sich dabei, ganz ohne sich weiter Rechenschaft darüber zu geben, den ihm aus seinem Innern bekannten Willen und die Befriedigungen, welche er schon erfahren hat, denkt. Diese Befriedigungen sind eben gefühlte und dieser Wille ist sozusagen ein fühlender Wille und ist ganz und gar erfüllt und durchtränkt von einem "tiefgefühlten Bedürfnis", von der Lust am Gewollten und der Unlust am Gemiedenen. Ist es so gemeint, so hat die Erklärung als solche gar keinen Wert, denn sie läßt die begriffliche Unterscheidung von Gefühl und Willen bestehen und behauptet nur das faktische Zugleich und Zusammen von Lustgefühl und Erreichung des Gewollten. Soll aber das Gefühl in seinem begrifflichen Was eben erst erklärt werden, so darf es nich beim Willen schon als tatsächlich, so wie wir es undefiniert aus unserer inneren Erfahrung kennen, Vorhandenes mitgedacht werden, und so erscheint dieser Wille ohne Gefühl und somit auch ohne Motiv, sinnlos und unverständlich, wie eine blind wirkende Kraft, kaum noch wie unsere eigene Tat, sondern wie ein zufälliges Ereignis in uns. Wie in diesem Fall aus der Erreichung des Gewollten lebendig gefühlte Lust werden soll, ist und bleibt ein Rätsel; nur daß sie faktisch eintritt, bestätigt unsere Erfahrung, aber als etwas begrifflich von jenem Willen wohl zu Unterscheidendes. Ethisch und psychologisch ist also diese Erklärung absolut wertlos; sie sollte auch nur den vorgefaßten metaphysischen Meinungen ihrer Urheber dienen, welche keine Widerlegung wert sind. Ich erwähnte sie nur, weil die wirklich vorhandenen engsten und innigsten Beziehungen zwischen dem wertschätzenden Gefühl und den Trieben und Willensakten zur Sprache kommen sollten. Diese machen sich auch in der Erklärung: gut ist, was um seiner selbst willen gewollt wird, geltend. Auch diese findet natürlich nur solange Zustimmung, als der Wille selbst mit der ganzen Wärme des wertschätzenden Gefühls ausgestattet gedacht wird. Abstrahieren wir dabei gänzlich von letzterer, so hört auch das Verständnis auf und es wird entweder nur die Bedeutung des Wortes gut in dieser seiner Anwendung gefunden, oder wenn es außerdem noch einen positiven erkennbaren Inhalt hat, nur das merkwürdige Faktum betont, daß, was dieses Merkmal an sich hat, immer auch ein Objekt des Wollens ist und umgekehrt. Aber dann wäre das gewollt werden nur zur äußeren Kenntlichmachung nützlich, als Erklärung weder nötig noch ausreichend, vielmehr die Angabe jenes Merkmals selbst erforderlich. Übrigens ist auch nicht zu übersehen, daß unter völliger Abstraktion von einem wertangebenden Gefühl nicht mehr ersichtlich ist, was das heißt, "um seiner selbst willen" gewollt werden. Es hätte wohl noch die negative Bedeutung, "nicht um eines anderen willen", aber der Begriff, "um etwas willen" gewollt werden, hätte überhaupt keinen Sinn mehr. Welches ist nun das Verhältnis zwischen dem Gefühl und dem Wollen? Sind Fühlen und Wollen überhaupt in der Art zwei verschiedene Dinge oder Arten von Ereignissen oder von Regungen in uns, daß ihre gegenseitige Abhängigkeit erst induktiv erforscht und welches von ihnen die vorhergehende Bedingung und welches die nachfolgende Wirkung ist, festgestellt werden muß? Oder sind sie eines? Kann Wollen auf Fühlen oder Fühlen auf Wollen reduziert werden? Solange wir Hypothesen über transzendente Dinge und Ereignisse verschmähen und uns nur an die unmittelbaren Tatsachen des Bewußtseins halten, ist es gewiß unmöglich, den Unterschied zwischen Fühlen und Wollen zu übersehen oder das Spezifische des einen durch eine Art von Umwandlung aus dem andern entstehen zu lassen. Solche Umwandlungen sind auf dem Gebiet des Stofflichen begreiflich, aber zu ihrer Übertragung auf das Seelenleben fehlt jeder Halt; denn gerade, was dort ihre Begreiflichkeit ausmacht, ist hier nicht vorhanden.


Vorbereitung. Verbindung der objektiven
Erkenntnis mit dem subjektiven Fühlen
und Wollen.

4. Worin besteht nun die Verbindung von Fühlen und Wollen? Die Antwort hängt an all den Schwierigkeiten, welche zur Zeit noch die Psychologie drücken. Wie kann man genau angeben, worin eine Verbindung und relative Einheit besteht, wenn es noch den größten Schwierigkeiten unterliegt, das Nebeneinanderbestehen der Verbundenen, ohne welches doch eine Verbindung nicht denkbar ist, zu präzisieren? Wie existiert das Gefühl, wie der Wille in der Seele? Die Frage ist nur beantwortbar, wenn wir im Allgemeinen erwägen, was und wie etwas in der Seele existiert. Der Begriff des Vermögens der Seele kann uns nicht helfen. Die Schwierigkeiten sind metaphysischer Art, und so hilft nur eines, freilich nicht zu der ersehnten letzten Erkenntnis, wohl aber vorläufig zum nächsten Schritt, d. h. diese Schwierigkeiten wie eine uneinnehmbare Festung zu umkreisen, d. h. fest umgrenzt zu halten und nur den beobachtbaren Tatbestand festzustellen und aus ihm, was zu jenen Schwierigkeiten gehört und von ihnen herrührt, genau auszusondern. Diese Sonderung ist oft genug verlangt worden, aber es fällt dem Menschen gar zu schwer, die Grenzlinie zu finden und festzuhalten; gar zu sehr neigt er dazu, in alle seine Auffassungen altüberkommene metaphysische Begriffe einzumengen, wodurch in den erfahrungsmäßigen Tatbestand unvermerkt die metaphysische Schwierigkeit immer wieder hineingetragen wird. Zum Überfluß erkläre ich noch besonders: ich denke gar nicht daran, diese Schwierigkeiten auf empiristische Weise in letzter Instanz lösen zu wollen; ich meine nur, daß ihrer einstigen Lösung nur durch die vollkommene Herstellung der Grenzlinie vorgearbeitet werden kann und daß nur durch sie diejenige Benützung psychologischer Begriffe möglich wird, welcher wir zu der unabweisbaren, wäre es auch immer nur erst vorläufigen Beantwortung der ethischen Fragen bedürftig sind.

So wie man nicht fragen kann: "wie kann das Denken sein Objekt ergreifen", weil es eben nur das Denken eines Objekts gibt und dies der Begriff des Denkens ist, so kann man auch nicht fragen, ob und wie ein Ich einen Inhalt seines Bewußtseins haben kann, und wie etwas in diesem existieren kann. Alle anderen Arten von Existieren gehen auf diese zurück; womit sollte diese erklärt werden, da eben dies zum Begriff eines bewußten Ich gehört, einen Inhalt des Bewußtseins zu haben? Wir haben es also nur mit Bewußtseinsinhalten zu tun. Diese sind verschiedenartig. Denken wir erst an die Verbindung der objektiven Erkenntnis mit dem subjektiven Fühlen und Wollen. Die Welt der Dinge und Ereignisse mit ihren Eigenschaften besteht aus den unmittelbaren (lokalisierten) Sinnesempfindungen und einem anderen Bestandteil, welchen das Bewußtsein sich selbst als sein Werk zurechnet, d. h. dem Denken. Aber diese im Zentrum selbst befindliche Denktätigkeit ist an und für sich selbst gar kein Bewußtseinsinhalt; vielmehr werden wir uns nur desjenigen bewußt, was als Resultat des Denkens an seinem Objekt als dessen Beziehungen, Verhältnisse und Gestaltungen hervortritt. Als Bewußtseinsinhalt also befindet sich das Denken, d. h. das, was dem Denken als sein Werk zugerechnet wird, eben dort, wo sein Objekt ist, am Objekt haftend. Es ist selbst nur die Erkenntnis eines inneren Zusammenhangs, wenn wir, was in den Begriffen von den Dingen und Ereignissen als logische Funktion von den unmittelbaren Sinnesdaten unterscheidbar ist, dem Bewußtsein als sein Werk zuschreiben. Das ist das aus dem Bewußtsein als solchem stammende und daher notwendige und allgemeingültige Denken, welches die erkenntnistheoretische Logik darstellt. Seine Darstellung ist zugleich Ontologie. Was es denkt und wie es denkt, das und so ist eben die Wirklichkeit, welche uns umgibt. Dieser steht also das Ich als das Subjekt des Bewußtseins gegenüber. Nach dem Bisherigen muß es als der bloße Koinzidenpunkt erscheinen, an und für sich völlig inhaltslos. Aber ein solches Ich kennen wir nicht; es wäre nur wie ein Spiegel, leblos, zwecklos, sinnlos; aber es ist auch unmöglich. Schon um eine objektive Erkenntnis zustande kommen zu lassen, ist eine Reproduktion der Vorstellungen und die Wirksamkeit der Phantasie nötig, ein Denken also, welches im Inneren des Subjekts allein existiert. Denken ist es; die Tätigkeit selbst, d. h. das Hervorbringen des Erfolgs tritt gar nicht ins Bewußtsein und der Erfolg besteht eben darin, daß etwas ein Objekt des Bewußtseins ist, wenn auch freilich nicht in der Weise eines sinnlich Wahrgenommenen, so doch in seinen einzelnen Bestandteilen diesem entnommen. Denken also ist es, aber in seiner Subjektivität doch ganz anders, als jenes logische Denken. Das Bewußtsein von den äußeren Eindrücken und den Dingen der Außenwelt ist nun nicht mehr ein bloßes Abspiegeln, das Ich nicht mehr ein bloßer Koinzidenzpunkt, sondern ein Subjekt, welches Wirkungen erleidet, ein Inneres, in welches die Eindrücke hineinwirken, und in welchem eigener Gesetzlichkeit gemäß eine Wirkung wieder aus einer Wirkung hervorgeht. Es ist unmöglich, die individuellen Eigentümlichkeiten der Reproduktion bloß durch die Besonderheit in der Koexistenz und Sukzession der äußeren Eindrücke, welche das Individuum erfahren hat, zu erklären. Schon diese Unmöglichkeit weist auf einen positiven Inhalt hin. Und dieser wird sogleich sichtbar, wenn wir beachten, daß das Aufsteigen und Entschwinden von Vorstellungen nach ihrer eigenen Gesetzlichkeit ohne alles Zutun unsererseits überhaupt selten ist und außerdem auch nicht geeignet wäre, die Begriffsbildung und die Erkenntnis der Welt wesentlich zu fördern. Erst die selbsteigene Tat der Anspannung des Aufmerkens, das angestrengte sich Besinnen, die Macht, welche einige der auftauchenden Vorstellungen als zur Zeit nicht erwünschte wieder verscheucht, andere fixiert und festhält, um wieder andere mit ihnen verwandte und zusammenhängende endlich hervortreten zu sehen, erst das macht eine Erkenntnis möglich, ohne dies wäre nicht so viel Erkenntnis in der Welt, als ein dreijähriges Kind hat. Das ist nun der wichtigste Punkt. Wir klar sich Denken und Fühlen im Begriff scheiden, so eng ist ihre faktische Verbindung, so eng, daß wir leicht erkennen, daß das eine ohne das andere real unmöglich wäre. Was heißt Sensibilität ohne Interesse? Wenn das Kind nicht ursprünglich am bloßen Wahrnehmen selbst und am Denken die innigste Lust fühlt und mit Aufmerksamkeit Eindrücke und Vorstellungen fixiert, so wäre seine Fähigkeit, zu empfinden, zu reproduzieren, zu denken wertlos, wie ein Uhrwerk ohne Feder, eine Dampfmaschine ohne Dampf, wie ein tierischer Leib ohne Herz und Blut, so gut wie nicht vorhanden. Und eine Interesse ohne Objekt? - selbstverständlich begrifflich undenkbar.


Die Einheit von Gefühl und Wollen, zuerst im
Interesse und in anderen ohne bewußten Willensakt
erfolgenden Handlungen - Unterschied des bewußten
Willensaktes von letzteren.

5. Aber was ist Interesse? Auf einen Definitionsversuch verzichte ich von vornherein. Es gehört zum unmittelbaren Bewußtseinsinhalt; wer es nicht aus sich kennt, dem kann es niemand klar machen. Ich habe nur darauf aufmerksam zu machen, daß das Interesse weder bloß als Gefühl, noch bloß als Wille, noch als eine nachträgliche Zusammensetzung beider bezeichnet werden kann, sondern daß jeder darunter das lebhafte Gefühl von einem Wert und das entsprechende Streben zugleich versteht, beides durch den einen Laut ausgedrückt, weil es tatsächlich nur als eine innere Regung wahrgenommen wird (1). Es gibt freilich Fälle, in welchen ein Gefühl allein auftritt oder doch allein aufzutreten scheint; so wird der kühle Wind, welcher sich am Abend eines schwülen Tages erhebt und alle Kreatur erfrischt, von allen als Lust gefühlt, ohne daß dabei eine Spur von Wollen und Streben ins Bewußtsein tritt, - und ebenso Fälle, in welchen der Willensakt allein hervortritt oder doch zumindest allein im Vordergrund steht; so, wenn nicht augenblickliche Lust oder Unlust den Willen bestimmt, sondern ein berechnendes Abwägen stattfindet, welches endlich den Entschluß herbeiführt. Diesen Fällen der Geschiedenheit von Wille und Gefühl wollte ich gleich am Anfang den Fall ihrer Ungeschiedenheit gegenüberstellen. Das Interesse an Wahrnehmungen und Gedanken ist gewiß ein Wohlgefallen am Wahrnehmen und Denken, aber auch gewiß kein bloßes Erleiden eines angenehmen Zustandes, sondern unaufhörliche Aktion in der Anspannung der Aufmerksamkeit. Freilich bedarf es zu dieser Tätigkeit keines ins Bewußtsein tretenden Entschlusses, welcher ihr vorherginge und sie erst ins Spiel setzt, aber es wird sich fragen, ob gerade darauf alles Gewicht zu legen ist. Auch bei einer großen Zahl zweckvoller körperlicher Bewegungen bedarf es keines besonderen Entschlusses, vielmehr treten sie zugleich mit einer bestimmten Wahrnehmung oder einem Gefühl ganz von selbst ein. Zum Teil sind es sogenannte Reflexbewegungen, aber jedenfalls nur zum geringen Teil. Der Willensakt tritt als Entschluß immer erst dann ins Bewußtsein, wenn zum Zweck der Wahl unter verschiedenen möglichen Entscheidungen, dem Tun und dem Unterlassen, oder unter verschiedenen möglichen Objekten eine Überlegung stattfindet, wenn also - was ja die Voraussetzung der Überlegung ist - eine Hemmung oder eine Suspension [Aussetzen - wp] der Willensbewegung stattgefunden hat. Von Natur aus erfolgt die Handlung ursprünglich in einem ununterbrochenen Zusammenhang mit den Wahrnehmungen und Gefühlen. Das Kind wird sich eines Willensaktes gar nicht bewußt. Zuerst lehrt die Erfahrung eines unbesiegbaren äußeren Widerstandes den Wunsch und die Absicht von der Ausführung einer Handlung als zwei verschiedene Dinge zu unterscheiden und die Möglichkeit des Unterbleibens letzterer erkennen. Dann kommt die Erfahrung erheblicher Unlust, welche sich unmittelbar an die Ausführung einer Handlung geknüpft hat und lehrt die Hemmung derselben selbst zu vollziehen. Und erst wenn dieses ausreichend geübt und zu einem klaren Bewußtsein gekommen ist, kann die Überlegung "soll ich oder soll ich nicht", "soll ich dieses oder soll ich jenes tun" den Entschluß als besonderen Akt des Willens hevortreten lassen. Wenn wir jemanden erzählen hören: als ich dies sah, war ich sofort entschlossen etc.", so ist zu verstehen, daß die zweckentsprechende Richtung des Handelns, die sonst von einer Überlegung, welche immer einige Zeit in Anspruch nimmt, bestimmt wird, diesmal ohne jeden Zeitverlust erkannt wurde. Also wenn hier auch ein besonderer Akt zeiterfüllender Überlegung fehlt, so meint doch der Entschluß, von welchem berichtet wird, nur die Bestimmtheit dessen, was zu tun ist, die vollzogene Wahl, bzw. Auswahl. Ich behaupte auch, daß die psychischen Ereignisse des Vorstellens und Denkens, des Fühlens und Handelns ein naturgesetzliches Kontinuum darstellen. Wodurch der Willensakt sich von diesem naturgesetzlich erfolgenden Handeln unterscheidet, das ist das zum Bewußtseinkommen der treibenden Kraft zugleich mit der Möglichkeit ihrer Sistierung [Entfernung - wp] aus dem Motiv, die schon erfahrene Unlust aus unüberlegtem Handeln zu meiden, und der Möglichkeit die Hemmung wieder aufzuheben, also die zur Handlung drängende Kraft wieder in eine Wirksamkeit treten zu lassen, aus dem Motiv, die berechnete Lust zu genießen. Es kommt also in diesem bewußten Wollen eigentlich sachlich nichts Neues hinzu, nur die wirkenden Motive haben sich kompliziert und machen das eben beschriebene Ereignis möglich. Also ist auch das Verhältnis des Willens zum Gefühl kein anderes, als das des von selbst erfolgenden Handelns. Nur daß es ein von selbst erfolgendes Handeln geben kann, welches gar kein Verhältnis zum Gefühl hat, ist, um Mißverständnisse auszuschließen, zu berücksichtigen, und ebenso, daß es Gefühle gibt, welche sich von selbst einstellen, ohne irgendwie gewollt und erstrebt zu sein. Aber diese Fakta sind kein Einwand. Denn die unwillkürlichen und zwecklosen Bewegungen der Glieder, welche das Nebenprodukt anderer Vorgänge im Leib sind, werden auch, wenn der kausale Zusammenhang erkannt worden ist und ins Bewußtsein tritt, niemals gewollt und gewählt, scheiden also aus dem Kreis der in Betracht kommenden Handlungen aus; sollte sich aber in der Erfahrung zeigen, daß ihre absichtliche Unterdrückung Unlust erweckt, so ist die Unterlassung ihrer Hemmung durch die Furcht vor dieser Unlust motiviert. Und die ungewollten Gefühle andererseits, von denen oben ein Beispiel genannt worden ist, treten zwar ein als Wirkungen von Ereignissen, welche entweder der Wirkungssphäre des Fühlenden entzogen sind, oder - wenn ihre Wirkungen ungünstige sind - sicher nicht in der Voraussicht derselben von ihm hergebracht worden sind, aber sie bleiben nicht in dieser Stellung. Denn unvermeidlich tritt mit dem Gefühl, welches sie hervorbringen, das Streben ein, entweder sie zu entfernen, bzw. zu vermeiden oder sie zu erhalten bzw. wiederherzustellen.


Aller Wille naturnotwendig abhängig von
dem allein wertschätzenden Gefühl -
gut = gewollt werden.

6. Also: unverwischbar ist der Unterschied zwischen Fühlen und Wollen - er ist schon mindestens so groß wie der zwischen den Ortsbestimmungen, im Innern, und von innen nach außen. Aber sie sind wie die beiden Stücke oder Bestandteile eines Dings; jedes für sich allein ist ohne das andere gar nicht fähig zu existieren; zusammen bilden sie ein Ganzes und der Übergang von einem zum andern ist ein stetiger. Ist es doch überhaupt nicht anders denkbar, als daß das ganze Seelenleben in einem durchgängigen inneren Zusammenhang steht. Was auch immer im Bewußtsein als sein Objekt vorhanden sein mag, es wird von innen her vom Gefühl ergriffen und in Empfang genommen, freundlich willkommen geheißen oder - wenn auch vergeblich - unfreundlich abgewiesen. Diese Resonanz, welche unausbleiblich von innen her alles Wahrnehmen und Denken begleitet und keinen Augenblick unseres wachen Lebens schweigt, hat zwar ihre individuelle Gesetzlichkeit, d. h. sie ist nicht für alle Individuen dieselbe und nicht bloß vom objektiven Inhalt der Gedanken und Wahrnehmungen abhängig, sondern gehört wesentlich zu den individuellen Eigentümlichkeiten, aber innerhalb der individuellen Gesetzlichkeit ist der Eintritt von Lust oder Unlust von den Gedanken und Eindrücken abhängig, und in dieser Abhängigkeit können die jedesmal auftretenden Gefühle wie direkte Fortsetzungen der Gedanken und Eindrücke erscheinen, welche von außen nach innen dringen, freilich nicht ohne auf diesem Weg total umgewandelt zu werden. Ich will mit diesem Bild die Auffassung des Gefühls als einer Reaktion, welche von innen herkommt, durchaus nicht bestritten haben; ich wollte nur den inneren Zusammenhang und die Kontinuität der seelischen Vorgänge dadurch veranschaulichen, und füge nun dasjenige hinzu, um dessen willen überhaupt diese Veranschaulichung des Verhältnisses zwischen Denken, Wahrnehmen und Fühlen unternommen wurde: ganz ebenso ist die gewollte Handlung (mag der Willensakt als Entschluß bewußt werden oder nicht) wie eine ununterbrochene Fortsetzung des Gefühls, welche von innen nach außen dringt; sie ist die Kraftäußerung des Gefühls, ohne welche dieses gar nicht denkbar ist, welche zu seinem Begriff gehört. Die tat- und kraftlose Hingabe an den Schmerz wird hoffentlich niemand einwenden; sie ist nur als Krankheitszustand zu erklären. Und auch den Einwand befürchte ich nicht, daß das unaufhörliche Gefühl in uns ja nicht unaufhörlich in Handlungen ausbricht. Denn unaufhörlich ist ein dirigierender Wille in uns vorhanden, dessen Wirkung nicht weniger das Verharren und die Ruhe ist, als der Übergang von einer Beschäftigung zur anderen oder von Ruhe zur Bewegung. Aber was will dieser Wille? Wie wählt er aus den möglichen Objekten aus? Wenn man unter diesem Willen nicht heimlich wieder das ganze fühlende und denkende Ich versteht, so kann dieser Wille aus sich allein absolut nichts auswählen. Denn wenn ich die Begriffe des Denkens, Fühlens und Wollens überhaupt voneinander unterschieden habe, so kann ich unmöglich nach dieser Unterscheidung den Willen wieder als denkenden und fühlenden denken, und so ist er nicht einmal imstande seine möglichen Objekte wahrzunehmen, und so fehlt ihm auch jeglicher Maßstab zur Beurteilung des Guten und Geeigneten. Wer nicht eine absolut ursachlose Entscheidung behauptet, wird nicht umhin können, das Prinzip aller Entscheidungen eben dort zu suchen, woher sie kommen, d. h. im Innern. Die absolut ursachlose Entscheidung kommt nicht aus dem Innern, sie kommt aus dem Nichts und steht außerhalb allen Zusammenhangs mit dem Seelenleben, hebt die Einheit desselben auf. Die aus dem Inneren kommende Entscheidung kommt aus dem Gefühl, welches das Innere erfüllt und allein Wert zu schätzen imstande ist. Wenn jemand meint, daß doch auch die Erkenntnis den Willen gegen das Gefühl zu leiten vermag, so ist es in Wahrheit nur ein anderes Gefühl, welches die Entscheidung hergibt und die Erkenntnis ist Erkenntnis von voraussichtlich nachfolgender Lust und Unlust. Die Erkenntnis vom Sittlich-Guten und der Pflicht ist es allein, um deren willen solche Einwände gemacht werden; aber sie ist ja das Ziel unserer Untersuchung und wir sehen vorläufig von diesem fraglichen Punkt ab. Dann fällt also Lust an etwas haben und es wollen zusammen; und Wollen ist es ipso [schlechthin - wp] seine eigene Lust wollen. Die gewollte Handlung kann Unlust bringen, aber doch nur infolge eines Irrtums über ihre Wirkungen. Seine eigene Unlust wollen ist so unmöglich, wie an seiner eigenen Unlust Lust zu haben, wie im Theoretischen seine eigene Existenz leugnen. Man entgegne mir nicht wieder vom Standpunkt einer ethischen Theorie, welche noch des Beweises bedarf. Alle anderen denkbaren Einwände sind grobe Mißverständnisse. Es handelt sich immer um die Unterscheidung des wirklichen lebendigen Gefühls von der Sache, welche es hervorbringen soll, und ferner um die unzähligen Konfliktsfälle, in welchen die Erwartung der größeren Lust oder geringeren Unlust den Ausschlag gibt. Wer an einem Leiden Lust zu haben behauptet, hat dieses in Wahrheit in der Erwartung der an das Leiden geknüpften Lust, welche den gegenwärtigen Schmerz vergessen läßt. Wenn der Verzweifelnde sich die Haare rauft, so sind diese und ähnliche Handlungen in der Tat Linderungsmittel, ganz ebenso wie die Gewalttat, zu welcher der Zorn treibt. Man muß den Begriff der Lust, welche in jeder Handlung erstrebt wird, nur in seiner Relativität fassen; es ist, um meine Behauptung zu rechtfertigen, nicht nötig, daß das Motiv jeder Handlung nur als die Hoffnung gedacht wird, durch diese Handlung in einen definitiven absoluten Glückszustand versetzt zu werden. Was sich überhaupt tun läßt, was Lust bringen oder Unlust mindern wird, ist Sache der Erfahrung und Überlegung, welche häufig fehlen. Das Gute also kann nur gefühlt werden; es ist Lust; äußere Dinge oder Handlungen können nur gut sein als Lustquelle; Lust bzw. Lustquelle sein und gewollt werden, fällt, wenn nicht eben Wertschätzungen miteinander streiten, vollständig zusammen. Das Urteil: "etwas ist gut", kennen wir also bisher nur als den Ausdruck eigener Wertschätzung = "es gewährt mir Lust", und dieses ist = "ich will es".
LITERATUR: Wilhelm Schuppe, Grundzüge der Ethik und Rechtsphilosophie, Breslau 1881
    Anmerkungen
    1) Wenn jemand mit gespannter Aufmerksamkeit die Symptome seiner Krankheit verfolgt, so ist das direkt gewiß keine Lust, aber das Interesse basiert auf der ersehnten Lust, Besserung zu denken oder wenigstens Klarheit zu haben, welche im ungünstigen Fall zwar nicht selbst Lust ist, dem Patienten aber "lieber" ist als die Ungewißheit. Andere haben so viel Furcht vor der klaren Erkenntnis ihrer Krankheit, daß sie "lieber" nicht darauf achten, um sich in der Ungewißheit noch der Hoffnung hingeben oder sich die Befürchtungen aus dem Kopf schlagen zu können.