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GERARD HEYMANS
(1857-1930)
Zurechnung und Vergeltung
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"Wenn aber wirklich das Recht zur Strafe ausschließlich darin begründet ist, daß nur sittliche Interessen dafür und nur egoistische dagegen sprechen, so ist damit zugleich das Prinzip gegeben, welches Quantum und Quale der staatlich verhängten Strafe vorherrschen soll. Nur sittliche, niemals aber rein hedonistische Interessen dürfen durch Strafandrohung geschützt werden; nur die letzteren, niemals die ersteren, darf die Strafe verletzen."

"Es galt, die beiden wichtigsten Stützen für die Lehre der Willensfreiheit, Zurechnung und Vergeltung, ihrem tiefsten Wesen nach kennen zu lernen und ihr wahres Verhältns zu jener Lehre zu bestimmen."


Fünfter Artikel

Die angeführten Tatsachen und einige andere, auf welche ich später zurückkommen werde, haben mich zur Frage geführt, ob nicht vielleicht  Liebe und Hass, das Bestreben, den Guten zu beglücken, den Bösen aber unglücklich zu machen, nichts anderes seien, als der Trieb, sittliche, berechtigte Wünsche befriedigt, unsittliche, unberechtigte aber unerfüllt zu sehen. 

Diese Meinung ist eine Hypothese, wie jede andere. Ansich wird zwar niemand, der einen Unterschied zwischen gut und böse annimmt, etwas dagegen einzuwenden haben, daß allen Bestrebungen in der einen Richtung das Recht auf Befriedigung zuerkannt, allen Bestrebungen in der anderen Richtung dasselbe aber versagt werden muß; ob aber die Tatsachen des Vergeltungstriebes sich auf dieser Grundlage ohne Rest erklären lassen, das ist eine andere Frage, worüber nur Beobachtung und Experiment entscheiden können. Versuchen wir also beide.

Ich setze bei dieser Untersuchung den Unterschied zwischen Gutem und Bösem, also das Daseinsrecht der sittlichen Wertschätzung und der Ethik, welche sich auf dieselbe stützt, ohne weiteres voraus. Zwar wurde im Vorhergehenden im Allgemeinen nachzuweisen versucht, daß dieser Unterschied sich nicht auf Nützlichkeitserwägungen zurückführen läßt; es müßte aber, wenn es nicht nur das Wesen des Vergeltungstriebes zu erklären, sondern auch den gültigen Beweis seiner Berechtigung zu liefern und seine Betätigung in allen Einzelfällen darzulegen galt, eine genaue Untersuchung nach dem Prinzip aller ethischen Wertschätzung vorangehen. Zu diesem Zweck müßte aber die ganze Ethik herangezogen werden, was sich erstens in einer Arbeit wie der vorliegenden schwerlich machen läßt, zweitens aber schon deshalb unmöglich ist, weil eine allgemein anerkannte, auf empirischer Grundlage erwiesene Ethik noch immer á faire ist [ansteht - wp]. Dasjenige also, was über diesen Gegenstand zu sagen wäre, verschiebe ich auf eine folgende Gelegenheit und beschränke mich jetzt darauf, nachzuweisen, wie aus der allgemein verbreiteten Überzeugung, daß einige (die sittlichen) Bestrebungen wohl, andere (die unsittlichen) aber nicht befriedigt werden sollen, die vorliegenden Tatsachen erklärt werden können. Umso eher dürfte diese Einschränkung berechtigt erscheinen, da ich zur Bestätigung meiner Hypothese kein besonderes ethisches System, sondern nur ganz allgemein das Dasein ethischer Kategorien und gewisse allgemein anerkannte Tatsachen voraussetze.

Zunächst erscheint nun diese Hypothese mit der landläufigen Vergeltungstheorie in grellem Widerspruch. Der gesunde Menschenverstand meint, nicht der Charakter, sondern die einzelne Handlung bedinge die Strafwürdigkeit; nicht dasjenige, was man jetzt ist, sondern was man ehemals getan hat oder höchstens was man ehemals gewesen ist. Dazu sei es nicht die Befriedigung sittlicher Wünsche, sondern das Glück überhaupt, was man dem Guten, - nicht das Fehlschlagen unsittlicher Bestrebungen, sondern das Unglück überhaupt, was man dem Bösen gesichert zu sehen wünsche. Wie ich aber schon in einer früheren Arbeit (1) darzutun versucht habe: es kommt in ethischen Fragen nicht darauf an, was die Menschen  meinen,  sondern was sie  fühlen;  das ist der zu untersuchende Kern, jenes oft nur ein Wirrwarr wertloser Hypothesen ohne inneren Zusammenhang und auf gleicher Stufe stehend mit den zahllosen Regeln über Wind und Wetter, welche noch jetzt für das unwissenschaftliche Publikum die Stelle der Meteorologie vertreten müssen.

Fragt man nun aber, abgesehen von allen strafrechtlichen Theorien, in welchen einzelnen Fällen sich der Vergeltungstrieb manifestiert, so wurde schon oben ausführlich nachgewiesen, daß es jedenfalls niemals die Handlung ansich ist, welche diesen Trieb erregt. Dieselbe äußere Tat erweckt Liebe oder Hass, das Bedürfnis zu lohnen oder das Bedürfnis zu strafen, je nachdem sie aus diesen oder aus jenen Motiven entspringt; in einem dritten Fall aber läßt sie den unparteiischen Beobachter durchaus gleichgültig. Es zeigte sich damals auch, daß der wahre Gegenstand der Beurteilung der Charakter ist, ja daß die Handlung dieselbe nur insoweit herausfordert, als sich daraus bewußt oder unbewußt auf den Charakter schließen läßt. Daß dem aber wirklich so ist, läßt sich noch durch ein weiteres, entscheidendes Experiment erhärten. Wenn es die einzelne Tat ist, welche den Vergeltungstrieb herausfordert, so muß dieser auch notwendig der Anzahl der moralisch bedeutsamen Taten proportional sein; eine Reihe von gleichen Verbrechen muß einen viel größeren Hass erwecken, als ein einziges, eine Reihe von edlen Taten viel mehr Liebe, als eine einzige; liegt aber im Charakter das entscheidende Moment, so muß eine einzige Handlung, woraus sich unzweifelbar dieser Charakter erkennen läßt, schon ansich endgültig die Gesinnung des unparteiischen Beobachters bestimmen. Es kann nun jeder leicht bei sich selbst wahrnehmen, daß letzteres wirklich der Fall ist; wobei man sich aber vor gewissen Beobachtungsfehlern zu hüten hat. Denn erstens macht die Unmöglichkeit erschöpfender Kenntnis der Motive es fast immer unmöglich, mit absoluter Gewißheit aus einer einzigen Handlung den Charakter zu konstruieren, wie auch der Naturforscher idealiter aus einem einzigen vollkommen bekannten Fall das Naturgesetz ableiten  könnte,  es aber faktisch niemals  kann.  Es können also später Handlungen immer zur Bestätigung oder Berichtigung der vorläufig gebildeten Ansicht wertvoll sein, etwaige Zweifel aufheben und dadurch dem Vergeltungstrieb größere Kraft verleihen. Dann aber ist jeder Mensch nun einmal mehr oder weniger Sklave des Augenblicks; frühere Erfahrungen werden durch spätere verwischt; in der Erinnerung verlieren die alten Vorstellungen ihre Klarheit und tägliche Erneuerung ist notwendig, um ihre volle Bedeutung dem Geist gegenwärtig zu halten. So wird dann eine fortgesetzte Reihe edler Taten das Gefühl der Bewunderung in uns lebendig erhalten, welches sonst mit der Klarheit der erregenden Vorstellung nach und nach herabsinken müßte. Drittens aber muß auch das Mitwirken persönlicher Motive berücksichtigt werden, welche oft, indem sie die ganze Aufmerksamkeit der Ursache des Gefühles zuwenden, wiederholten Wohltaten oder Beleidigungen gegenüber eine überschwengliche Dankbarkeit oder einen unbezähmbaren Rachedurst hervorrufen. Um aber alle diese störenden Einflüsse zu eliminieren, setze man den Fall, man stehe zwei Verbrechern gegenüber, von denen man aus vollkommen zuverlässiger Quelle vernimmt, der eine habe viermal, der andere achtmal ein gleiches abscheuliches, auf tiefe Verdorbenheit hinweisendes Verbrechen begangen. Wird sich der Vergeltungstrieb dem einen gegenüber zweimal so energisch oder selbst überhaupt energische offenbaren, als dem anderen? Ich glaube, keiner, der sich in den Fall hineinzudenken vermag, wird es behaupten; vielmehr wird bei den Personen auf die gleiche Unsittlichkeit geschlossen und über  beide  das gleiche Verdammungsurteil ausgesprochen werden. Nicht anders aber verhält es sich mit den sittlichen Bestrebungen: von wem man einmal eine Tat großartiger Selbstaufopferung gesehen hat, dem wird man ohne weiteres seine volle Hochachtung zuteil werden lassen und stets von ganzem Herzen ihm zu helfen bestrebt sein. So ist es dann immer und ausschließlich der Charakter, niemals aber die Tat, welche Lob und Tadel, Liebe und Hass bedingt. -

Bei der Kritik der utilitaristischen Hypothese stießen wir aber noch auf die Tatsache, daß eine vermeintliche Charakterverbesserung dem Vergeltungstrieb seinen Stachel raubt; - woraus sich dann schon im Voraus vermuten läßt, daß die gegenwärtige Willensrichtung doch wohl etwas mit der Sache zu schaffen haben wird. Denken wir uns aber für einen Augenblick diese gegenwärtige Willensrichtung als die  einzige  Grundlage, so läßt sich daraus unschwer die Notwendigkeit alles anderen, auch der assoziativen Verbindung zwischen der vergangenen Handlung und der jetzigen Vergeltungsforderung, deduzieren. Nur aus den Handlungen wird ja der Charakter gekannt und zwar solcherart, daß wenn einmal eine bestimmte Tat unter bestimmten Umständen verübt worden ist, man noch lange Zeit nachher seine Meinung über den Charakter der betreffenden Person darauf gründen kann; denn wenn man auch im gewöhnlichen Leben den Charakter keineswegs für schlechthin unveränderlich hält, so wird doch allgemein zugegeben, die Charakterbesserung vollziehe sich, wenn sie überhaupt stattfindet, nur sehr langsam; ja, wo entscheidende Gegengründe fehlen, wird die Nicht-Veränderung immer als die wahrscheinlichste Vermutung vorausgesetzt, wie denn z. B. keiner geneigt sein wird, die Bekanntschaft mit einem Menschen wieder anzuknüpfen, den er vor Jahren als einen Schurken kennen gelernt hat. Unter solchen Umständen erscheint es nun,  wenn  zwischen der Vorstellung eines bestimmten Charakters und der Forderung eines Lohnes oder einer Strafe ein psychischer Kausalnexus nachgewiesen werden kann, sehr begreiflich, daß der "gesunde Menschenverstand", nur auf die greifbare Handlung achtend und den kaum bewußten Schluß auf den Charakter vernachlässigend, die Ursache des sich offenbarenden Vergeltungstriebes in der Handlung suchen zu müssen glaubt. Bei genauerer Selbstbeobachtung wird man aber immer finden, daß die Affekte der Liebe und des Hasses, die Bestrebungen, zu lohnen und zu strafen, unzertrennlich verbunden sind, nicht mit der Vorstellung bestimmter Handlungen, wohl aber, selbst wenn solche tatsächlich dem Bewußtsein gegenwärtig sind, mit der mehr oder weniger klaren Vorstellung des Gemütszustandes, aus dem man sie entsprossen denkt; - daß man dann aber zweitens alle Zeitunterschiede übersieht, die damalige Person unbedingt mit der jetzigen identifiziert und bei derselben stillschweigend den Charakter voraussetzt, auf den man damals bei ihr geschlossen hat. sobald man aber bemerkt, der Mensch sei doch jetzt ein anderer, als damals aus seinem Tun hervorzugehen schien, wird man an der Berechtigung des beabsichtigten Vergeltungsaktes irre; man fragt sich, ob man jetzt oder früher richtig geschlossen hat; sobald sich aber unzweifelbar herausstellt, daß man jetzt wenigstens einem anderen Charakter gegenübersteht, als man meinte, entsinkt dem Vergeltungstrieb Grund und Boden. Natürlich muß man auch hier wieder nicht zuviel beweisen wollen; es gibt Fälle, wo die erste Auffassung sich so vollständig des Geistes bemächtigt hat, daß allen anderen Erwägungen der Zugang verschlossen bleibt; wie man dann auch auf theoretischem Gebiet auf unheilbare, jeder Argumentation unzugängliche Vorurteile stoßen kann. Beim normalen Menschen aber, der die Herrschaft über seinen Vorstellungsverlauf nicht verloren hat, wird unfehlbar die bezeichnete Meinungsänderung eine entsprechende Verwandlung der Gesinnung herbeiführen.

Fassen wir nun die Tatsachen so kurz wie möglich zusammen, so zeigt sich folgendes. Die jetzige egoistische, unsittliche Willensrichtung ruft mit Notwendigkeit die Forderung der Strafe, die jetzige sittliche Willensrichtung die Forderung der Belohnung hervor. Daß man diese Forderungen nicht mit dem Charakter, sondern mit der Tat, nicht mit der Jetztzeit, sondern mit der Vergangenheit in Beziehung setzt, ist ein Irrtum, dessen Entstehen sich aber unschwer begreifen läßt. Damit wäre dann ein empirisches Gesetz aufgefunden, welches zwar den Tatbestand im allgemeinen umschreibt, über den tieferen Grund desselben aber nichts aussagt und namentlich auch das Quantum und Quale der erforderten Vergeltung völlig im Dunkeln läßt. Jedenfalls liefert es aber eine feste Grundlage, die als Ausgangspunkt weiterer Operationen benutzt werden kann.

Versuchen wir nun also zuerst, soweit es immerhin möglich ist, jenes Quantum und Quale zu bestimmen. Ich habe schon früher nachzuweisen versucht, daß die Intensität des Vergeltungstriebes keineswegs von der Beschaffenheit und der Anzahl der veranlassenden Handlungen, vielmehr bloß von der Auffassung des daraus erschlossenen Charakters abhängig ist. Da uns nun aber zur Zeit ebensowenig für die Messung sittlicher oder unsittlicher Willenskräfte, als für die quantitative Bestimmung der geforderten Belohnung oder Strafe ein genügendes Maß zu Gebote steht, scheint es unmöglich, das Gesetz dieser Abhängigkeit zu bestimmen, es sei denn, daß es uns gelingen sollte, die quantitative in eine qualitative Verschiedenheit aufzulösen. Da erinnern wir uns dann zur rechten Zeit, daß jede intensive Lust das Gefühl des  Glückes,  jene Unlust dasjenige des  Unglücks  zum Begleiter hat, daß aber dieses Glück nichts anderes ist, als der Genuß der Wunschlosigkeit und daß diese Wunschlosigkeit praktisch mit allseitiger Befriedigung der Wünsche zusammenfällt. (2) Es sind aber, wie wir vorausgesetzt haben, diese Wünsche teilweise sittlicher, teilweise unsittlicher Natur; so ist denn auch das Glück, je nachdem es aus der Befriedigung dieser oder jener hervorgegangen ist, entweder ein sittliches oder ein unsittliches. Da könnte es dann wohl sein, daß das ganze Bestreben, die Guten zu "lohnen" und die Bösen zu "bestrafen", nur ein ungenauer Ausdruck dafür wäre, daß man den Ersten das (sittliche) Glück, also die Befriedigung ihrer (sittlichen) Wünsche gesichert, den Zweiten aber das (unsittliche) Glück, also die Befriedigung ihrer (unsittlichen) Wünsche gehindert zu sehen fordere. Ein solcher Kausalnexus, wenn auch auf kein tieferes Gesetz zurückzuführen, wäre doch ungleich selbstverständlicher, als die gewöhnliche Auffassung, welche nur ganz allgemein zwischen Böses tun und Bestraftwerden, Gutes tun und Belohntwerden einen ethischen Zusammenhang statuiert, über das genaue Verhältnis zwischen beiden aber nichts aussagt, sich bei der weiteren Ausführung und Anwendung in zahlreiche Widersprüche verwirrt und auch ohnedem schon für jeden denkenden Geist ein unerklärtes Residuum zurückläßt, namentlich die Frage nach dem Warum dieser sonderbaren Beziehung zwischen völlig heterogenen Elementen immer wieder von Neuem hervorruft. (3) Dagegen würde die entgegengesetzte Annahme, wenn es gelingen sollte, die vorliegenden Tatsachen aus derselben zu erklären, sich subjektiv als ein ethisches Axiom, objektiv aber als ein psychisches Naturgesetz im vollen Sinn des Wortes herausstellen, da sie nicht nur über das "daß", sondern auch über das "wie" des untersuchten Hergangs ein klares Licht verbreiten würde. Ob nun aber diese Ansicht der gewöhnlichen Meinung gegenüber Recht behalten darf, darüber kann nur das Experiment entscheiden.

Folgenderart läßt sich dieses Experiment machen. Man denke sich den Fall, ein ganz schlechter Mensch, den man von Herzen haßt und innigst zu "strafen" bestrebt ist, zeige doch noch auf einem bestimmten Gebiet Spuren einer besseren Gesinnung; es findet sich auch eine schöne Gelegenheit, dem Mann eben auf diesem Gebiet, in seinen sittlichen Bestrebungen, entgegenzuarbeiten und ihm dadurch ein empfindliches Leid zu bereiten; es läßt sich dies auch machen, ohne daß man sonst damit irgendwelchen Schaden anrichtet. Da haben wir dann ein "cross-experiment" in optima forma: wenn die landläufige Meinung die richtige ist, wird man mit beiden Händen die lange ersehnte Gelegenheit ergreifen; wenn aber die meinige zählt, so wird einer dabei wenigstens empfindlich die Stimme des Gewissens spüren. Nun stelle man sich den Fall klar vor Augen: der Mann zeige sich im täglichen Leben als ein abgefeimter Bösewicht, trage aber alle seine besseren Gefühle auf eine Tochter zusammen, die er von Herzen liebt und glücklich zu machen bestrebt ist; nun finde sich aber ein gesetzlicher Grund, ihm die Aufsicht über diese Tochter zu nehmen und sie anderen Verwandten zu übergeben, wo das Kind es in jeder Hinsicht nicht schlechter haben wird, als bei ihm; wird man ohne Zaudern die erforderlichen Schritte machen? Ich denke, kein edler Mann, der doch sonst gar keine Gewissensbisse spüren würde, wenn er dem Schurken irgendwelchen Schaden zufügen könnte, wird gleich bereit sein, sich dazu zu entschließen, - und wenn er es tut, wird ihm sein sittliches Bewußtsein und die öffentliche Meinung deutlich genug sagen, daß er ungerecht gehandelt hat. (4) Nicht anders aber verhält sich die Sache im entgegengesetzten Fall. Ein in mancher Hinsicht sittlich ausgezeichneter Mensch, den man liebt und gern mit Aufopferung des eigenen Vorteils glücklich sehen möchte, habe auf bestimmtem Gebiet irgendwelche Schwächen nicht zu überwinden vermocht, er sei z. B. ein leidenschaftlicher Jäger und liebe es, höhere Jagdgeschichten mitzuteilen, welche nicht vollständig der Wahrheit konform sind (ich nehme absichtlich einen Fehler von ganz untergeordneter Bedeutung); man wisse auch, daß man den Mann nicht besser glücklich machen kann, als wenn man zur Befriedigung dieser Neigung mitwirkt oder wenigstens derselben nicht entgegenzuarbeiten unternimmt. Nun wird aber jeder ehrliche Mensch eine tiefe Repugnanz [Widerstreit - wp] zu solchem, wenn auch unschädlichem Betrug nicht von sich zu weisen vermögen; er wird zwar so rücksichtsvoll wie möglich, aber doch bei jeder Gelegenheit der Befriedigung jener unsittlichen Neigung vorzubeugen bestrebt sein, wenn er auch überzeugt ist, daß er damit dem anderen einen wertvollen Genuß raubt. - Nicht im Allgemeinen also, sondern nur durch die Nichtbefriedigung seiner unsittlichen Wünsche will man den Bösewicht unglücklich, - nicht unbedingt, sondern nur durch die Befriedigung seiner sittlichen Bestrebungen den braven Mann glücklich sehen. Womit denn vorläufig die Sache entschieden wäre.

Es werden aber noch einige scheinbare negative Instanzen zu berücksichtigen sein.

Da darf dann zuerst der schwerwiegenden Tatsache nicht aus dem Weg gegangen werden, daß der Vergeltungstrieb scheinbar dem Guten gern Genüsse zuteil werden läßt, welche er dem Bösen unerbittlich versagt, diesem aber Schmerzen auferlegt, wogegen er mit allen Kräften jenen zu schützen bestrebt ist. Es scheint also, als ob ganz derselbe Wunsch bei dem einen als berechtigt, beim andern aber als unberechtigt betrachtet wird. Untersuchen wir aber die Sache näher, so werden wir finden, daß erstens diese Identität doch keineswegs eine vollständige ist, daß es aber zweitens leicht möglich ist, Assoziationen nachzuweisen, woraus sich etwaige anormale Manifestationen des Vergeltungstriebes erklären lassen. Denn derselbe äußere Gegenstand kann in ganz verschiedener Weise, durch die Befriedigung völlig heterogener Wünsche, beglücken; der eine denkt bei einem Geschenk nur an den Wert, den es repräsentiert, der andere nur an die Gesinnung, aus welcher es entsproß; diesen macht es durch die Befriedigung sittlicher, jenen durch die Erfüllung egoistischer Wünsche glücklich und nur auf die erste Art der Beglückung geht der Vergeltungstrieb aus. Dem Schurken wird man gern seine schlechte Meinung kennbar machen, weil dieser dadurch nur in seinem unrechtigten Stolz, in seinem egoistischen Wunsch nach Ehre unter den Menschen getroffen wird; dem besseren Menschen wird man von Herzen seine Verehrung bezeugen und ihm nur mit Widerwillen von seinen Fehlern sprechen, weil sein Selbstgefühl im Allgemeinen ein durchaus berechtigtes ist und die scheinbare Verkennung ihm einen sittlichen Schmerz über die Ungerechtigkeit der Menschen bereiten würde. Faktisch wird sich auch diese Scheu umso stärker manifestieren, je mehr Grund man zu haben glaubt, ein solches Mißverständnis zu befürchten, dagegen gänzlich verschwinden, wenn man überzeugt ist, daß die betreffende Person die Gesinnung zu würdigen vermag, woraus der Tadel entsprang. Jeder, der sich selbst zu beobachten und sein Gefühl auch nur einigermaßen zu analysieren gewohnt ist, wird sich leicht von der Richtigkeit dieser Behauptungen überzeugen können; im Allgemeinen wird man dem Guten niemals einen Genuß ausschließlich um des Genusses willen, dem Bösen niemals ein Leid bloß als solches zuzufügen bestrebt sein. Sollten sich aber, wie immerhin möglich, doch Fälle vorfinden, welche diese Regel Lügen zu strafen scheinen, so läßt sich dieses leicht durch die Macht assoziativer Gedankenverbindungen erklären. Wenn man jemanden stets in sittlichen oder unsittlichen Bestrebungen beschäftigt gefunden hat, bildet sich nach und nach mit stets größerer Wahrscheinlichkeit ein Schluß auf seinen Charakter aus; man kann sich seine Wünsche gar nicht mehr anders als aus diesem vorgestellten Charakter hervorgehend denken und man ist immer mehr der Gefahr ausgesetzt, die Leute nicht, wie sie sind, für und gut und böse in bestimmten Verhältnissen zugleich, sondern entweder für vollständig fehlerfrei oder für ganz verdorben zu halten, - einer Gefahr, der fast jder im täglichen Leben tausendmal unterliegt. So beeifert man sich dann, auch die besseren Bestrebungen des Verhaßten auf unsittliche Motive zurückzuführen, auch die verkehrten Neigungen des Geliebten mit einem tadellosen Charakter in Einklang zu bringen, diesem unter allen Umständen zu helfen, jenem ohne weitere Untersuchung immer entgegenzuarbeiten. Wir haben es aber in diesen Fällen nicht mehr mit dem reinen Vergeltungstrieb, sondern mit der komplizierten Wirkung dieser und anderer psychischen Kräfte zu tun; faktisch erscheinen auch solche "blinde" Bestrebungen, aus einem objektiveren Standpunkt heraus betrachtet, als durchaus ungerechtfertigt. Auf ethischem Gebiet muß man, um die primären Kräfte in voller Reinheit abzusondern, sich nicht nach demjenigen richten, was die Menschen tun, sondern nach demjenigen, was sie billigen und mißbilligen; die Ausschreitungen des Vergeltungstriebes aber, die unbedingte Hingebung und die unbedingte Rache, werden, wenn auch psychologisch vollkommen begreiflich und in ihrem tiefsten Grund ethisch wertvoll, vom unparteiischen Beobachter ganz entschieden gemißbilligt. - Natürlich muß bei alledem den störenden Einwirkungen des Egoismus, des Mitleids usw. Rechnung getragen werden.

So schwebt denn über dem "Vergeltungstrieb" als höheres, primäres Gesetz das Bedürfnis, guten, sittlichen Wünschen ihre Befriedigung gesichert, schlechte, unsittliche aber unerfüllt zu sehen. Man wird leicht finden, daß damit alles Unedle, Kleinliche, welches z. B. dem Rachetrieb in seiner gewöhnlichen Fassung anklebt, spurlos verschwunden ist und die ethische Grundkraft, von allen Schlacken gereinigt, in voller Reinheit und Hoheit uns vor Augen steht. Erscheint im Allgemeinen die Strafe als ethisch durchaus berechtigt - das Bestreben, einem Naturgenossen ohne nachweisbaren Zweck stets von neuem Leid zuzufügen, erregt doch sittliche Bedenken; so lange, bis man eingesehen hat, daß dieses vom moralischen Bewußtsein geforderte Leid  nur die Nichterfüllung unsittlicher Wünsche  ist; vor dieser Einsicht aber verschwinden sie vollständig. Denn nicht mehr der Schmerz bestimmter Personen, sondern die Befriedigung  aller  sittlichen, die Nichtbefriedigung  aller  unsittlichen Bestrebungen erscheint jetzt als der wirkliche Zweck und zugleich als die klare und einfache Forderung des moralischen Gefühls. Dadurch aber erhält auch jener paradoxe biblische Spruch, man solle die Sünde, nicht aber den Sünder hassen, seine tiefe ethische Bedeutung. Zwar haßt und bekämpft man den Sünder, nicht aber in seiner Totalität als Mensch, sondern nur soweit er Sünder ist, nur soweit man auch den besseren, den nahezu guten Menschen haßt und bekämpft; was vom höchsten vollständig objektiven Standpunkt die Liebe, soweit er ein sittlicher Mensch ist, keineswegs ausschließt, vielmehr erfordert. So verschwinden dann auch für diesen Gesichtspunkt alle ethischen Widersprüche und es ergibt sich eine empirisch gefundene und experimentell bestätigte Vorschrift, wonach man jederzeit den moralischen Wert seiner tatsächlichen Bestrebungen bestimmen kann.

Noch über mehrere andere dunkle Punkte, namentlich auch über die den Vergeltungstrieb aufhebenden oder beschränkenden Momente wirft die hier vorgetragene Theorie ein helles Licht. Den wenig beachteten, aber immerhin sehr auffallenden Umstand, daß nur die sittlichen, nicht aber die intellektuellen Eigenschaften Hass und Liebe erregen, während doch beide in gleichem Sinne frei und ihre Manifestationen necessitiert [notwendig - wp] erscheinen, erklärt sich vollständig: denn nur auf dem Gebiet des Strebens und Wollens kann von einem Mit- oder Entgegenarbeiten die Rede sein; auf demjenigen des Denkens aber bleibt die Beurteilung notwendig steril, ohne praktische Bedeutung. Für die gewöhnliche Auffassung mußte aber dieser Sachverhalt notwendig unbegreiflich bleiben und gleichfalls, wie oben nachgewiesen wurde, für die utilitaristische. - Aber auch wo es um Bestrebungen geht, denen man keinen sittlichen Wert oder Unwert zuzuschreiben sich veranlaßt findet, kann Liebe und Hass nicht entstehen. So vor allem den physischen Naturkräften gegenüber, so aber auch bei den Tieren, wo man zwar unbedenklich die Empfänglichkeit für Lust und Leid annimmt, einen menschenähnlichen Willen vorauszusetzen sich aber nur schwer entschließen kann und jedenfalls die ethischen Kategorien vollständig unanwendbar glaubt. Da muß dann jede ausschließlich auf Sympathie oder Mitleid begründete Ethik an der einfachen Tatsache scheitern, daß Lust und Leid der Tiere den sittlichsten Menschen ziemlich gleichgültig lassen, es sei denn, daß er Grund findet, im Tier etwas Menschenähnliches anzunehmen. So lange aber das Tier ihm  nur  ein genießendes und leidendes Wesen ist, namentlich also, wo es um niedere Tiere geht, wird er zwar die Tierqälerei um der schlechten Gesinnung willen, welche sie bezeugt, verdammen, auch dem leidenden Tier gegenüber wohl Mitleid im eigentlichen Sinne empfinden, aber dennoch ruhigen Herzens fortfahren, das tierische Leben dem menschlichen Bedürfnis zu opfern und gewiß nicht meinen, damit etwas Böses zu tun, - während das geringste, einem Menschen gegenüber begangene Unrecht es nicht an den heftigsten Gewissensbissen würde fehlen lassen. Da muß denn wohl außer dem Mitgefühl, das sich, wenn auch weniger intensiv, dem Tier gegenüber in gleicher Weise betätigt wie dem Menschen, noch ein anderer Faktor zu Hilfe gezogen werden, ein Faktor, der nicht nur die Liebe im Allgemeinen, sondern auch ihre graduelle Verschiedenheiten, auch den Hass und die Gleichgültigkeit zu erklären imstande ist. Daß die hier vorgetragene Hypothese in den angeführten Fällen so etwas wirklich zu leisten vermag, haben wir gesehen; aber auch an anderen ethischen Problemen läßt sich ohne Beschwerde ihre Richtigkeit erhärten. So wird ihr zufolge der geistig beschränkte, in Rassen- oder Stammesvorurteilen befangene Mensch selbst bei der höchsten Sittlichkeit nie dazu gelangen können, die Grundsätze, welche er im Verkehr mit seinen Stammesgenossen betätigt, auch anderen gegenüber in Anwendung zu bringen; eben weil er die prinzipielle Wesensgleichheit aller Menschen nicht einzusehen vermag, die Sittlichkeit nur in den herkömmlichen Formen wiedererkennt und die Angehörigen anderer Stämme daher sehr leicht als Barbaren betrachtet, ja selbst praktisch den Tieren gleichsetzt.

Aber auch die versöhnende Macht des Todes macht diese Hypothese klar: der Sterbende hat ja von der Welt nichts mehr zu erwarten; nur für seine sittliche, objektive, nicht aber für seine unsittliche, auf eigenen Vorteil gehende Wünsche kann er noch Erfüllung hoffen; so erscheint dann ein ruhiges ergebenes Sterben als der beste Beweis moralischer Gesinnung und erzwingt sich die Achtung selbst des erbittertsten Feindes.

Auch jener allgemein anerkannte, oft aufgestellte, aber wohl niemals genügend begründete "oberste Grundsatz" der Gerechtigkeit, die formelle Forderung des unparteiischen Betragens allen Menschen gegenüber, ergibt sich, als ein einfaches Korollarium [die Zugabe - wp] aus dieser Theorie, ja erhält erst durch sie einen verständlichen Inhalt. Denn die utilitaristische Färbung dieses Grundsatzes läßt sich den oben angeführten Tatsachen gegenüber doch wohl nicht aufrecht erhalten; die arithmetisch-ästhetische aber vergißt, daß ein unparteiisches Verhalten allen Menschen gegenüber keineswegs mit absoluter Gleichheit identisch ist. Daß man sich zwei vollständig ähnlichen Personen gegenüber in gleicher Weise verhalten soll, macht sie zwar erklärlich; dazu aber bedürften wir keiner ethischen Vorschrift, da schon das Kausalgesetz bei gleichen Ursachen gleiche Wirkungen unbedingt notwendig macht. Die Voraussetzung schließt ja jeden Grund zu einem ungleichen Verhalten aus und so ließe sich schon a priori die Gleichhit voraussagen. Was wir aber suchen, ist das Gesetz, welches die  Ungleichheiten  beherrscht, die Art und Weise, wie mit Verschiedenheiten in den betreffenden Personen die Forderung eines verschiedenen Betragens ihnen gegenüber zusammenhängt. Wir wollen keine "unbegründete" Ungleichheit; was aber dieses "unbegründet" bedeuten soll, sagt weder die Mathematik noch die Ästhetik, sondern nur die Moralwissenschaft. Aus ethischen Tatsachen wurde aber im Vorhergehenden darzutun versucht, daß nur die Verschiedenheit der moralischen Willensrichtung ein verschiedenes Verhalten rechtfertigt, daß aber alle anderen Ungleichheiten nur in Folge erklärlicher Mißverständnisse und Assoziationen die Gesinnung der betreffenden Person gegenüber beeinflussen können; damit ist dann aber auch die ethische Vorschrift der "Gleichheit" in ihrer vollen Bedeutung gewürdigt.

Neben der moralischen läßt sich aber auch die  juridische Gerechtigkeit  aus den aufgestellten Grundsätzen deduzieren. Denn wenn die Aufrechterhaltung der staatlichen Ordnung als notwendige Bedingung aller Kultur als ein Zweck vom höchsten sittlichen Wert erscheint, so muß derjenige, der sich, wenn auch aus den edelsten Motiven, dagegen verstoßen hat, selbst, soweit er ein sittlicher Mensch ist, mit Rücksicht auf diesen Zweck seine Bestrafung wünschen; nur so weit er Egoist ist, kann er etwas dagegen einzuwenden haben. Es können aber nur die sittlichen, nicht die egoistischen Wünsche eine Erfüllung beanspruchen; so ist dann der Staat vollständig berechtigt, ja verpflichtet, im Interesse der Gesellschaft dem Verbrecher ein Leid zuzufügen. Ja, es ließe sich unschwer der Fall denken, daß ein vollkommen sittlicher Mensch bei kühlem Blut einen Schurken tötete und sich dann der Juistiz auslieferte, um durch seine Bestrafung den Übeln vorzubeugen, welche sonst aus seiner rechtswidrigen Handlung der Gesellschaft erwachsen könnten. Natürlich muß von diesem Standpunkt aus die staatlich verhängte Strafe als eine reine Präventivmaßregel betrachtet werden, welche nur dem Zweck, welchem sie dient, ihre sittliche Berechtigung verdankt und sie ist als solche von der ethischen Vergeltung streng und prinzipiell zu unterscheiden. Wenn aber wirklich das Recht zur Strafe ausschließlich darin begründet ist, daß nur sittliche Interessen dafür, nur egoistische dagegen sprechen, so ist damit zugleich das Prinzip gegeben, welches Quantum und Quale der staatlich verhängten Strafe vorherrschen soll. Nur sittliche, niemals aber rein hedonistische Interessen dürfen durch Strafandrohung geschützt werden; nur die letzteren, niemals die ersteren, darf die Strafe verletzen. Diese Betrachtungen weiter auszuführen ist hier nicht der geeignete Ort; vielleicht komme ich in einem späteren Artikel auf dieselben zurück.

Wohl aber muß, bevor ich schließen darf, noch eine mögliche Einwendung kurz erwähnt und beantwortet werden. Es wird nämlich Leute geben, welche meinen, schon aus allbekannten Tatsachen lasse sich ohne weiteres die Unrichtigkeit meiner Ansicht demonstrieren. Dieser Ansicht zufolge sei ja die Strafe das Ursprüngliche, Primäre, die Rache etwas daraus unter Mitwirkung anderer Faktoren Entstandenes; nun zeige aber überall die Erfahrung das Umgekehrte: in der Entwicklung des Individuums wie der Menschheit gehe immer die Strafe aus der Rache hervor. Man kann aber diese Tatsache anerkennen, ohne den daraus abgeleitetn Folgerungen beizustimmen; vielmehr muß gegen die Verwechslung des historisch Früheren mit dem logisch zugrunde Liegenden ernstlich gewarnt werden. Es offenbart sich in der Rache und in der Strafe dieselbe unveränderliche psychische Kraft, nur unter ganz verschiedenen Umständen: beim Kind wie beim Wilden richtet sich noch die ganze Aufmerksamkeit auf dasjenige, was mit sinnlichen Leiden und Freuden in unmittelbarer Beziehung steht; während also auf der tiefsten Entwicklungsstufe nur das äußere Ereignis, nicht aber die Gesinnung, welche es hervorbrachte, vorgestellt wird und also von einer Vergeltung noch gar nicht, höchstens nur von Abwehrbewegungen die Rede sein kann, kann jene sich erst nach und nach mit der Klarheit dieser Vorstellung entwickeln. So erscheint denn bei anfänglicher Ermangelung und langsamer Anbildung des Materials, an dem sie sich offenbaren kann, die Kraft selbst leicht als etwas, welches zuerst nicht da war und nur nachgerade sich gebildet hat. Es ist aber auch deutlich, daß sich in dieser Bildungsperiode die Vergeltung vorläufig bloß in der Form der persönlichen Rache offenbaren könnte; der Naturmensch wie das Kind braucht ja konkrete sinnliche Eindrücke als Stimulantia zur Anregung der Aufmerksamkeit und so müssen denn die ersten Vorstellungen, an denen sich der Vergeltungstrieb manifestieren kann, durchwegs von persönlichen Erfahrungen bedingt sein; auch jedes erfahrene Leid ohne weiteres als ein Ausfluß des Egoismus, jede Wohltat als eine Betätigung reiner Liebe gedeutet werden. Erst allmählich bildet sich das Denken zu dem Grad aus, daß man die Motive, abgesehen von persönlichen Gründen, objektiv zu begreifen und zu beurteilen vermag; und so kann sich erst bei hoher Entwicklung der vom Ursprung an zugrunde liegende Vergeltungstrieb in voller Reinheit äußern.



Die gestellte Aufgabe aber wäre hiermit nach meinen besten Kräften erledigt. Es galt, die beiden wichtigsten Stützen für die Lehre der Willensfreiheit, Zurechnung und Vergeltung, ihrem tiefsten Wesen nach kennen zu lernen und ihr wahres Verhältns zu jener Lehre zu bestimmen. Und es hat sich herausgestellt, daß, wenn das Wollen wirklich frei wäre, von irgendwelcher Zurechnung nicht die Rede sein könnte, daß ber die richtige Erkenntnis des Charakters als ein Komplex konstanter psychischer Kräfte vollständig genügt, derselben Grund und Boden zu sichern. In gleicher Weise fand sich, daß sich der Vergeltungstrieb, der ja die Zurechnung voraussetzt, nur bei motivierten Handlungen manifestiert. Der schärferen Untersuchung enthüllte er sich als das ethische Bedürfnis, nur die sittlichen Bestrebungen, diese aber immer, befriedigt zu sehen; dieses Bedürfnis aber hat, wenn auch vieles mit der Freiheit des Charakters, mit einer solchen des Wollens nichts zu schaffen, schließt dieselbe vielmehr aus. So stürzten denn die beiden letzten Grundpfeiler der Willensfreiheit rettungslos zusammen; aus den Trümmern aber erhob' sich auf fester empirischer Grundlage ein neues Gebäude, welches all dasjenige wirklich zu leisten imstande scheint, was jene Lehre bloß zu leisten versprach.
LITERATUR Gerard Heymans, Zurechnung und Vergeltung - eine psychologisch-ethische Untersuchung, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 8, Leipzig 1884
    Anmerkungen
    1) HEYMANS, Die Methode der Ethik, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie VI, Seite 446-451
    2) Vgl. meinen Artikel über die Methode der Ethik, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. VI, Seite 171-184
    3) Mit Recht bemerkt der holländische Kriminalist MODDERMAN, daß (für die landläufige Vergeltungstheorie) die Frage, wieviel  sinnliches  Leiden dazu erforderlich ist, eine  sittliche  Schuld zu tilgen, sich ebensowenig beantworten läßt, als die andere, wie viel Zoll Eisen man braucht, um daraus einen tuchenen Rock zu verfertigen (Straf - geen kwad, Amsterdam 1864, Seite 39).
    4) Daß Lord ELDON dem Dichter SHELLEY seine Kinder entreißen ließ, erweckt den tiefsten Widerwillen, nicht weil  wir  vom Charakter des Letzteren anders denken, als der englische Lordkanzler (intellektuelle Irrtümer berühren das sittliche Urteil nicht), sondern weil dieser, selbst wenn SHELLEY ein ganz verdorbener Mensch gewesen wäre, ihn niemals in seinen sittlichen Bestrebungen hätte angreifen dürfen.