ra-2ra-2cr-4W. MohrmannAristotelesG. Heymans    
 
RICHARD LOENING
Die Zurechnungslehre des Aristoteles

"Ethik und Recht sind bei Aristoteles nicht scharf gesondert, sondern eng miteinander und ineinander verflochten; das Recht schließt die Ethik, diese das Recht ein, und die ethische Wissenschaft ist ihm nur ein Teil der Staatswissenschaft. Einerseits soll auch das staatliche Gesetz ein tugendhaftes Leben anbefehlen und jegliche Schlechtigkeit verbieten, so daß die Gerechtigkeit im Sinne von Gesetzmäßigkeit die ganze Tugend in sich begreift. Andererseits soll gerrade das ungeschriebene, natürliche Recht - als dessen Vater in Wahrheit Aristoteles anzusehen ist - selbst in der Bestimmung des sittlich Guten und Schlechten bestehen, während die besondere ethische Tugend der Gerechtigkeit dahin geht, daß man im menschlichen Verkehr jedem zuteil werden läßt, was ihm von Rechts wegen gebührt."

"Die dem Menschen allein eignende und darum wertvollste Seelenkraft ist vielmehr die Vernunft in ihrer Betätigung, in Handlungen, die von der Vernunft ausgehen, muß daher die Eudaimonie gesucht werden, und zwar in solchen, die nur ihrer selbst wegen vorgenommen werden. Da ferner die zur Eudaimonie führenden Handlungen ein Gutes und Wertvolles darstellen soll, so ist damit zugleich gesagt, daß sie ansich tüchtig sind und von tüchtigen Menschen herrühren müssen. Diese Tüchtigkeit aber ist die Tugend."

"Die Vorstellung des mittels der Einsicht erkannten Guten und Richtigen wirkt, eben weil es als gut, erstrebenswert vorgestellt ist, als Antrieb auf das Begehren, um dieses zur Ergreifung und Realisierung des Erkenntnisinhalts zu bestimmen. Daß zunächst nur allgemein und hypothetisch vorgestellte Soll wird in ein kategorisches und damit praktisch wirkendes "ich soll" umgesetzt; es wird damit zum Ausführungsbefehl, den die Vernunft hinsichtlich des Ziels wie hinsichtlich der Mittel dem Begehren erteilt und dessen Quelle somit keine äußere Autorität, sondern das menschliche Bewußtsein selbst, modern gesprochen: das Pflichtbewußtsein bildet."


V o r w o r t

Mehr als andere Zweige der Rechtswissenschaft hat sich von jeher die Strafrechtswissenschaft mit den tieferen Grundlagen und allgemeinen Prinzipien ihres Gebietes beschäftigt. Wendet man aber den Blick auf die letzten hundert Jahre ihrer Geschichte, so erhält man den Eindruck, als ob hier kaum ein Fortschritt zu verzeichnen sei. Nicht nur sind es immer noch dieselben Grundfragen, welche damals wie heute die Streitpunkte bilden und über welche eine Einigung oder gegenseitige Annäherung der Ansichten noch immer nicht hat gelingen wollen; sondern vor allem die Argumente, die Beweisgründe, die von der einen und anderen Seite zum Beleg ihrer Anschauungen vorgeführt werden, haben seit langem nichts aufzuweisen, was nicht schon so und so oft wenn auch in wechselnden Formulierungen, wiederholt worden wäre, ohne dadurch an Beweiskraft verloren zu haben. Immer wieder werden "Überzeugungen" vorgetragen, die nur leider für den Gegner nichts Überzeugendes haben.

So scheint die Diskussion über die obersten Grundsätze des Strafrechts zur Zeit auf einem toten Punkt angelangt zu sein. Wenn man sich aber über das Unbefriedigende dieser Lage dadurch hinwegzutäuschen sucht, daß man sagt, eine tiefere Begründung des Strafrechts sei gar nicht erforderlich, genug, daß die Strafe für das menschliche Zusammenleben nun einmal nicht zu entbehren sei, so ist ein solcher schaler Ausweg erst recht unbefriedigend. Denn er besagt nichts anderes als den Verzicht auf wissenschaftliche Erkenntnis, die überall eine Erkenntnis der  Gründe  der Erscheinungen ist.

Dieser Zustand der heutigen Strafrechtswissenschaft macht sich in gleicher Weise auch bei denjenigen Einzelfragen geltend, die mit jenen obersten Grundsätzen, mit dem Rechtsgrund und dem Zweck der Strafe selbst, in einem näheren Zusammenhang stehen und bezüglich deren, bei der lückenhaften Art unserer Gesetzgebung, Auffassungen und Entscheidungen in verschiedener Richtung und in einem verschiedenen Sinn möglich sind.

Ganz besonders trifft dies zu für die Behandlung, welche die  psychische  Seite des Verbrechens, die  seelischen  Voraussetzungen der Strafbarkeit in der neueren Wissenschaft gefunden haben. Es sind das Fragen und Lehren, die man seit den Zeiten des Naturrechts, bald in einem weiterem, bald in einem engeren Rahmen, unter dem Namen der  Imputations- oder  Zurechnungslehre  zusammenzufassen pflegt. Gerade hiervon ist in der strafrechtlichen Literatur unserer Zeit sehr viel die Rede. Willensfreiheit oder Willensunfreiheit, Zurechnungsfähigkeit und -Unfähigkeit, normale und verminderte Zurechnungsfähigkeit, dann Wille und Vorstellung, Eventualvorsatz, Schuld und Verantwortlichkeit sind heute vielbehandelte Themata und stehen im Vordergrund der Erörterung. Aber soviel über diese Dinge in Büchern und Aufsätzen auch geschrieben wird, soviel in Vorträgen darüber gesprochen ist, so wenig scheint hierdurch eine allgemeine Verständigung über die Begriffe herbeigeführt, so wenig deren Bedeutung für die Strafbarkeit geklärt und zu einer sicheren Erkenntnis gebracht zu sein. Auch hier bewegt man sich meist in ausgetretenen Geleisen, in einem Kreis hergebrachter Gesichtspunkte, die eben, wie die Erfahrung zeigt, zur Lösung der hier auftauchenden Fragen nicht ausreichen. Gar oft habe ich nach der Lektüre solcher Schriften das Gefühl gehabt, nun geradeso klug zu sein, wie zuvor.

Aber nicht nur der Streit der Meinungen waltet auf diesem Gebiet, der mit den bisherigen Mitteln nicht geschlichtet werden zu können scheint. Was noch schlimmer ist: gar manche, die hier als Wortführer auftreten, haben von den Dingen, um die es sich handelt, von den Zusammenhängen und Konsequenzen, auf die es hier ankommt, selbst keine klaren Vorstellungen. So ist das Wesen der Freiheit oder Unfreiheit des Willens vielen, die davon reden, ebenso unklar, wie der Zusammenhang, der zwischen der einen oder anderen und dem Eintritt oder Ausschluß von Strafe bestehen soll. So herrscht über das psychische Wesen des Willens selbst, über die Seelenfunktion des  Wollens  und ihren Zusammenhang mit anderen Seelenvorgängen häufig genug völlige Unklarheit. Insbesondere aber sind es die Begriffe der Schuld und der Verantwortlichkeit, die sich vielfach in einer geradezu trostlosen Verwirrung befinden. Man beachtet nicht, daß beide Worte in ganz verschiedener Richtung gebraucht werden; diese verschiedenen Bedeutungen schieben sich dann unkontrolliert durcheinander und ergeben so ein Produkt, bei dem man sich - verschwommen und ohne klares Bewußtsein - teils dies, teils das und nichts recht denkt. Aus einem solchen  Mixtum compositum [buntes Durcheinander - wp] werden dann aber mit apodiktischer Gewißheit die wichtigsten Folgerungen für Strafe und Strafrecht abgeleitet. Die "Schuld" verlangt dies, und die "Verantwortlichkeit" jenes; was wir uns aber unter  Schuld  und  Verantwortlichkeit  eigentlich vorstellen sollen, darüber erhalten wir keine Belehrung, weil ein solcher Autor oft selbst nicht im Klaren darüber ist.

Als ich vor mehreren Jahren damit beschäftigt war, meinem "Grundriß zu Vorlesungen über deutsches Strafrecht" eine erweiterte Gestalt zu geben, ihn zu einem Lehrbuch umzuarbeiten, trat mir diese Unsicherheit und Unklarheit aller Begriffe und Fragen, die die psychische Seite des Verbrechens betreffen, besonders deutlich entgegen, und ich glaubte, jene Arbeit nicht durchführen zu können, ehe ich nicht selbst hierüber zu klareren und festeren Anschauungen gekommen war. So beschloß ich, diesen Fragen, der "Zurechnungslehre", zunächst eine besondere wissenschaftliche Untersuchung zu widmen, - eine Aufgabe, die mich dann allerdings viel weiter geführt und meine Tätigkeit in viel höherem Maße in Anspruch genommen hat (und noch weiterhin in Anspruch nehmen wird), als ich anfangs nur irgend gedacht hatte.

Wie es von je meine Überzeugung war, daß wirkliche Erkenntnis der dem Recht zugrunde liegenden Ideen und richtige Erfassung des wahren Gehalts seiner Begriffe nur auf historischem, genetischem Weg möglich sei, so war ich auch hier nicht im Zweifel, daß ich nur durch historische Forschung meinem Ziel näher kommen kann. Gerade hier kam es wesentlich darauf an, zu untersuchen und festzustellen, wie alle diese Begriffe und Schlagworte, mit denen die heutige Strafrechtsdoktrin in so unsicherer und verschwommener Weise operiert, zuerst aufgekommen sind und welche Bedeutung ihnen von Haus aus beigelegt wurde. Um aber diese ersten Ursprünge zu erkennen, begann ich, durch ein richtiges Gefühl geleitet, nicht kurzweg mit dem Studium der ältesten Rechtsaufzeichnungen, der deutschen Volksrechte oder der 12 Tafeln: ein Verfahren, durch welches schon so manche rechtsgeschichtliche Forschung eben nur "geschichtlich" geblieben und ihre Ersprießlichkeit für die Erkenntnis des heutigen Rechts eingebüßt hat. Vielmehr ging mein "Vorbereitungs- oder Ermittlungsverfahren" dahin, von heute rückwärts gehend zunächst einmal die unmittelbaren Vorgänger der heutigen Theorien, die diesen als Quellen gedient haben, kennen zu lernen. Diese Quellen konnten nicht in positiven Gesetzesbestimmungen zu suchen sein; denn diese haben sich gerade den mit der Psychologie zusammenhängenden Rechtsfragen gegenüber von jeher vielzu zurückhaltend, dürftig und unentschieden gezeigt, als daß lediglich aus ihnen so weit gespannte und so ins Einzelne gehende Theorien hätten entwickelt werden können. Eine nähere Prüfung ergab dann auch alsbald, daß die neuere Zurechnungslehre ihren Ursprung nicht sowohl im  Gesetz,  als vielmehr in der  Doktrin  hat, daß sie, entsprechend dem philosophischen Charakter der neueren Strafrechtswissenschaft, mit allem Zubehör, ihren Namen selbst mit eingeschlossen,  der Naturrechtslehre entstammt,  worauf ich übrigens selbst bereits vor Jahren hingewiesen hatte (1). Damit war zugleich gegeben, daß die ganze Untersuchung sich nicht so sehr der Entwicklung des positiven Rechts, als derjenigen der Rechtslehre zuzuwenden hatte, daß sie  dogmengeschichtlicher  Natur sein mußte.

SAMUEL PUFENDORF ist der erste gewesen, der, wie er den (bei CARPZOV z. B. noch nicht vorkommenden) Ausdruck "imputatio" als einen technischen in die Rechtswissenschaft eingeführt, so auch unter diesem Titel die subjektiven Voraussetzungen für die Bestrafung der Verbrechen zu einer einheitlichen Lehre, zu einem System zusammengefaßt hat. Dieser neuen Imputationslehre hat er zugleich eine so ausgearbeitete Gestalt gegeben, daß seine Darstellung zum Vorbild für die ganze naturrechtliche Schule bis auf FEUERBACH, und darüber hinaus zur Grundlage für die weiter daran anknüpfende Entwicklung geworden ist. Auf seinen Schultern ruht auch heute noch alles, was als Zurechnungs- oder Schuldlehre im Strafrecht gang und gäbe ist, bis zu den gebräuchlichsten Schulbeispielen herab. Die hervorragende Stellung, welche dieser bedeutende Mann anerkanntermaßen in der Geschichte der Staatswissenschaft einnimmt, muß ihm zweifellos, und mehr als bisher geschehen, auch in der Geschichte der Strafrechtslehre eingeräumt werden.

In PUFENDORF war so der Ausgangspunkt für die moderne Behandlung unserer Lehre gefunden. Worauf aber basierte PUFENDORF selbst? Es war nicht anzunehmen, daß er, der die Grundzüge seines neuen Systems bereits mit 28 Jahren in seinen "Elementa jurisprudentiae universalis" (zuerst erschienen 1660) aufgestellt hatte, ohne alle Vorgänger gewesen, daß er die Materialien dazu allein aus sich selbst geschöpft habe. Auch das positive Recht, das römische wie die  Carolina,  konnte ihm nicht als Anhaltspunkt gedient haben, ebensowenig die Rechtswissenschaft seiner Zeit. Den Weg zeigte hier vielmehr die Moralphilosophie des 17. Jahrhunderts, mit deren Jenaer Vertretern PUFENDORF im Jahre 1658 in nähere Berührung gekommen war, und diese wies, abgesehen von gewissen Einflüssen der mittelalterlichen Scholastik, direkt auf ARISTOTELES zurück. Bereits eine oberflächliche Einsicht in die Schriften des Stagiriten belehrte mich, daß hier in der Tat die letzte Quelle der PUFENDORFschen Imputationslehre (wenn auch nicht ihres Namens) zu suchen sei. Auch wendet sich PUFENDORF in der Vorrede zu seinen "Elementa" ja selbst gegen gewisse Mißverständnisse des ARISTOTELES, unter Berufung auf seinen Freund, den Jenaer Mathematiker und Philosophen ERHARD WEIGEL, der ihm zu diesen Studien Anregung und Anleitung gegeben hatte.

So faßte ich denn den Plan, die naturrechtliche Zurechnungslehre einer wissenschaftlichen Bearbeitung zu unterziehen und dieser eine kurze Darstellung der aristotelischen Grundsätze als Einleitung voranzuschicken. Allein je mehr ich mich in das Studium des alten Philosophen vertiefte, desto mehr kam mir, ich möchte sagen, die Leichtfertigkeit meines Beginnens zu Bewußtsein, desto mehr erkannte ich, wie wenig sich eine solche Größe gewissermaßen im Handumdrehen erledigen, sich als bloße "Einleitung" behandeln läßt. Einerseits traten mir ungeahnte Schwierigkeiten des Verständnisses entgegen, die nur zu bewältigen waren, wenn ich mir ein Verständnis der ganzen aristotelischen Philosophie, ihrer Methode, ihrer Terminologie verschaffte. Andererseits aber bot sich meinem überraschten Blick allmählich ein so reichhaltiges Material, eine solche Fülle von Einzelerörterungen, die doch wieder untereinander wie auch mit der Psychologie, Physik und Metaphysik in einem engen Zusammenhang standen und so zu einem einheitlichen, tiefgründigen Ganzen zusammengeschlossen waren, - daß dieses Ganze einer eingehenden, selbständigen Darstellung nicht nur  wert  erschien, sondern eine solche mit Notwendigkeit  forderte.  Hier lagen in der Tat die Wurzeln all dessen, was in der Folgezeit nur irgendwie über Zurechnung und subjektive Schuld gedacht und gesagt worden ist, und zwar die  letzten  erkennbaren Wurzeln von durchaus  originärem  Charakter. Denn die voraristotelische, insbesondere die platonische Philosophie hat nichts Ähnliches aufzuweisen; über einzelne Bruchstücke und zusammenhanglose Bemerkungen war man bisher nicht hinausgekommen. Das Lehrgebäude, welches der Stagirite auf diesem Gebiet errichtet hatte, muß als dessen eigenstes, seinem umfassenden, systematischen Geist entflossenes Werk erachtet werden.

Dazu kam nun noch, daß dieses Lehrgebäude in der neueren Literatur eine zusammenhängende, vollständige Darstellung noch nicht gefunden hat, daß es im einzelnen dagegen, wie insbesondere bezüglich der grundlegenden Frage der  Willensfreiheit,  seit Jahrhunderten, ja seit beinahe zwei Jahrtausenden schweren Mißverständnissen ausgesetzt gewesen, in seiner tiefgreifenden historischen Bedeutung aber überhaupt noch nicht erkannt und gewürdigt ist. Ja, unseren heutigen Juristen (abgesehen von A. LÖFFLER, vgl. unten Anmerkung 3) dürfte die Existenz einer Zurechnungslehre des ARISTOTELES höchstens aus den in keiner Weise ausreichenden und zum Teil unzutreffenden Notizen in HILDENBRANDs "Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie" bekannt sein. Das ist umso begreiflicher, als es sich dabei ja nicht um eine strafrechtliche oder überhaupt juristische, sondern um eine  ethische  Zurechnung handelt. Allein diese zunächst vom ethischen Standpunkt aufgestellte Lehre war eben doch derart, daß sie späterhin auf die Rechtslehre den maßgeblichsten Einfluß geübt hat. So schien es mir angezeigt, meinen Fachgenossen und weiterhin auch der philosophischen Wissenschaft die nähere Bekanntschaft dieser aristotelischen Zurechnungslehre in ihrem ganzen Umfang und mit allen ihren Zusammenhängen zu vermitteln und weiterhin zu zeigen, wie von dem - sei es nun richtig, sei es falsch verstandenen - ARISTOTELES aus die weitere Entwicklung vor sich gegangen ist.

Mein Plan erweiterte sich hiernach zu einer Geschichte der strafrechtlichen Zurechnungslehre überhaupt, als deren Grundlage und Ausgangspunkt die Darstellung der aristotelischen Lehre, welche ich in diesem ersten Band nun der Öffentlichkeit übergebe, dienen soll.

Zu diesem Band habe ich noch folgende Bemerkungen vorauszuschicken.

Die Zurechnungslehre unseres Philosophen ist, wie gesagt, eine ethische; sie steht aber ferner mit seiner ganzen Philosophie, insbesondere seiner Psychologie in einem engen Zusammenhang und ist ohne Kenntnis dieser nicht richtig zu verstehen. Daher mußte ich, wenn ich dem Leser ein richtiges Verständnis eröffnen und meinen eigenen Ausführungen die nötige Begründung geben wollte, zunächst die Grundzüge seiner Psychologie und Ethik hier vorführen. Ich hatte anfänglich geglaubt, mich dabei auf eine kurze Darlegung anhand der Resultate der philosophischen Forschung beschränken zu können. Allein auch hierin sollte ich mich getäuscht haben. Manche Punkte, wie den Begriff des Guten bei ARISTOTELES, fand ich in der bisherigen Wissenschaft überhaupt kaum erörtert; bezüglich anderer, wie der praktischen Vernunft und ihrer Tugend, der  phronesis,  dann bezüglich des Verhältnisses der letzteren zur ethischen Tugend, schienen mir die in der neueren Literatur herrschenden Anschauungen mit der Lehre des Philosophen vielfach nicht in Einklang zu stehen, diese Lehre selbst nicht richtig erkannt zu sein. Ich sah mich daher genötigt, meine Ansichten hierüber in einer ausführlicheren Weise quellenmäßig und polemisch zu begründen, als es sonst durch den Zweck dieses Buches gefordert worden wäre. Insbesondere bedurfte es einer eingehenderen Widerlegung der in neuerer Zeit von JULIUS WALTER über die Bedeutung der praktischen Vernunft und der  phronesis [Einsicht - wp] bei ARISTOTELES aufgestellten Behauptungen, die zwar vielfach Anklang gefunden haben, meines Erachtens aber trotzdem gänzlich verfehlt sind; durch sie würde die ganze Grundlage der aristotelischen Ethik erschüttert werden. Um die Darstellung selbst nicht zu sehr zu belasten, habe ich diese Widerlegung in die Anhänge zum 2. und 3. Abschnitt verwiesen. Wie sehr die späteren Darlegungen durch den Inhalt dieser ersten Abschnitte bedingt sind, ergibt sich aus den häufigen Verweisungen auf letztere, die sich späterhin notwendig machten.


Einleitung

ARISTOTELES, einer der umfassendsten und scharfsinnigsten Geister, die je gelebt haben, dessen Denken und Lehren die Anschauungen der Menschen so lange beherrscht hat und mannigfach noch bis auf den heutigen Tag beherrscht, ist auch der erste gewesen, der eine zusammenhängende und wissenschaftlich begründete Lehre von den psychischen Bedingungen des sittlichen Wertes und der sittlichen Beurteilung menschlicher Handlungen aufgestellt hat. Er ist, wenn auch nicht dem Namen, so doch der Sache nach der Begründer und Schöpfer dessen, was wir heute  Zurechnungslehre  nennen, und die ganze weitere Entwicklung dieser Lehre auf sittlichem, wie auf rechtlichem Gebiet hat, wenngleich nicht ohne Mißverständnisse, bis auf unsere Zeit im Wesentlichen an den Grundlagen festgehalten, die der große griechische Denker im grauen Altertum gelegt hatte. So muß denn eine geschichtliche Betrachtung dieser Entwicklung, auch soweit sie das Strafrecht betrifft, naturgemäß von ihm ihren Ausgang nehmen.

Allerdings hat ARISTOTELES seine Grundsätze über die Bewertung menschlicher Handlungen nicht von einem strafrechtlichen oder überhaupt juristischen, sondern von einem ethischen Standpunkt aus, als Bestandteil seines Systems der Ethik dargestellt. Allein Ethik und Recht sind bei ihm nicht scharf gesondert, sondern eng miteinander und ineinander verflochten; das Recht schließt die Ethik, diese das Recht ein, und die ethische Wissenschaft ist ihm nur ein Teil der Staatswissenschaft. Einerseits soll auch das staatliche Gesetz ein tugendhaftes Leben anbefehlen und jegliche Schlechtigkeit verbieten, so daß die Gerechtigkeit im Sinne von Gesetzmäßigkeit die ganze Tugend in sich begreift. (2) Andererseits soll gerade das ungeschriebene, natürliche Recht (als dessen "Vater" in Wahrheit ARISTOTELES anzusehen ist) selbst in der Bestimmung des sittlich Guten und Schlechten bestehen, während die  besondere  ethische Tugend der Gerechtigkeit dahin geht, daß man im menschlichen Verkehr jedem zuteil werden läßt, was ihm von Rechts wegen gebührt. Auch bei den anderen ethischen Tugenden hat er stets das staatliche Zusammenleben und die Zwecke des Staates im Auge, und oft genug betont er, daß seine ethischen Sätze auch für den staatlichen Gesetzgeber und Richter von Bedeutung sind, oder er verweist, sei es zum Vergleich, sei es zum Beweis, auf analoge Erscheinungen in der staatlichen Rechtsordnung und Rechtspflege. Auch darf als sicher angenommen werden, und unsere Darstellung wird Belege dafür bringen, daß manche seiner Lehrmeinungen, und zwar gerade auf dem uns berührenden Gebiet, dem positiven Recht seines Volkes entstammen.

So kann es nicht wundernehmen, wenn die Ethik des ARISTOTELES späterhin auch auf das Recht und die Rechtslehre Einfluß übte, und wenn, wie mutmaßlich schon die römische Jurisprudenz (3), so auch in neueren Zeiten das Naturrecht und durch dessen Vermittlung die moderne Strafrechtswissenschaft neben manchen anderen auch die Grundsätze über die Zurechnung strafbarer Handlungen in letzter Linie der aristotelischen Lehre entlehnte.

Aus dem Gesagten ergibt sich aber auch, daß ein richtiges Verständnis dessen, was der Philosoph über die psychischen Voraussetzungen des sittlich Guten und Schlechten gelehrt hat, nur dann gewonnen werden kann, wenn man sich das ethische System, in welchem diese Lehren ihre Rolle spielen, im Zusammenhang vergegenwärtigt. Ebenso aber ist dazu erforderlich eine Kenntnis der psychologischen Basis, auf welcher dieses System selbst wieder aufgebaut ist. Denn die Ethik des ARISTOTELES, mag sie sonst auch Mängel und Lücken aufzuweisen haben, ist dadurch vor vielen ihrer Nachfolgerinnen ausgezeichnet, daß sie fest auf dem realen Boden der Psychologie ruht, und daß in ihr niemals ethische Postulate auf Kosten psychologischer Erkenntnis die Herrschaft führen.

Ehe wir uns daher unserem eigentlichen Thema zuwenden, soll zunächst in den folgenden Abschnitten - so gedrängt, als es der Stoff erlaubt und wie es andererseits unser Zweck erfordert - ein Überblick über die ethischen und psychologischen Anschauungen unseres Philosophen gegeben werden, in deren Zusammenhang er seine Untersuchungen über die psychischen Voraussetzungen der Bewertung menschlicher Handlungen gestellt hat.


1. Abschnitt
Glückseligkeit, Vernunft, Tugend

Sowohl in der Nikomachischen wie auch in der Eudemischen Ethik bildet den Ausgangspunkt der Erörterungen die Frage nach dem höchsten Gut des Menschen. Dabei wird sofort die Identität des höchsten Gutes für den Einzelnen und desjenigen für den Staat hervorgehoben, ja demselben in Bezug auf den Staat ein höherer Wert, eine erhabenere Bedeutung zuerkannt. Die ganze Untersuchung ist damit von vornherei unter praktisch-politische Gesichtspunkte gestellt, wie dann auch die darauf bezügliche Wissenschaft gleich zu Anfang als zur Politik gehörig bezeichnet wird.

Der Begriff des höchsten Gutes wird zunächst in formal-dialektischer Weise vom teleologischen Standpunkt aus bestimmt. Alles Tun und Treiben der Menschen geschieht um eines Zweckes, d. h. um eines Gutes willen, welches dadurch erreicht werden soll; denn das Gute ist eben dasjenige, was allerseits erstrebt wird. Es gibt bei unseren Handlungen nun Zwecke, die selbst nur um weiterer Zwecke, also um höherer Güter willen erstrebt werden; dasjenige Gute dagegen, was lediglich seiner selbst und eines anderen wegen erstrebt wird, dem aber alles andere als Mittel dient, ist das höchste, durch Handeln erreichbare Gut, das letzte Ziel des menschlichen Lebens, welches von allen übereinstimmend als  Eudaimonie, Glückseligkeit  bezeichnet wird. Worin diese Glückseligkeit aber inhaltlich besteht, darüber herrscht Streit.

Als Grundlage für die Bestimmung dieses Inhalts benutzt nun ARISTOTELES in platonischer Weise den Satz, daß für alle Wesen, von denen eine Betätigung oder ein Wirken (energeia, ergon) ausgeht, das Gute in dieser Betätigung liegt, oder mit anderen Worten: daß ihre Betätigung jeweils etwas Besseres darstellt als das, die bloße Möglichkeit dazu bietende zuständliche Dasein, da sie eben in ihrer Betätigung ihren Zweck, ihre Aufgabe haben. Daher muß auch für den Menschen das Gute in seiner, und zwar in der ihm eigentümlichen Betätigung liegen, durch welche er sich von den übrigen Lebewesen unterscheidet; denn der Zweck jedes Wesens liegt in dem ihm Eigentümlichen.

Alle Betätigung der Lebewesen, alles Leben, besteht nun in einer Energie der Seele; die Seele, als die Entelechie (d. h. zielstrebende Wirksamkeit) des Körpers, ist die lebenwirkende Kraft, welche allen Lebensvorgängen als einheitliches Prinzip zugrunde liegt. Trotz dieser Einheitlichkeit enthält die Seele jedoch eine Mehrheit von Teilen oder Kräften, von welchen verschiedenartige Energien oder Funktionen ausgehen. Von diesen kommt die vegetatige Tätigkeit, als sämtlichen Lebewesen, auch den Pflanzen, gemeinsam, hier nicht in Betracht; ebensowenig die empfindende und wahrnehmende, welche auch den Tieren zukommt. Die dem Menschen allein eignende und darum wertvollste Seelenkraft ist vielmehr die  Vernunft;  in  ihrer  Betätigung, in  Handlungen,  die von der Vernunft ausgehen, muß daher die Eudaimonie gesucht werden, und zwar in solchen, die nur ihrer selbst wegen vorgenommen werden. Da ferner die zur Eudaimonie führenden Handlungen ein Gutes und Wertvolles darstellen soll, so ist damit zugleich gesagt, daß sie ansich tüchtig sind und von tüchtigen Menschen herrühren müssen. Diese Tüchtigkeit aber ist die  Tugend. 

Das höchste Gut des Menschen besteht sonach in der Betätigung der Tugend, und sofern es deren mehrere gibt, in der Betätigung der besten und vollkommensten unter ihnen, und zwar während eines vollen, unverkürzten Lebens. Eudaimonie ist nichts anderes als eine gute, tugendhafte Lebensführung. Gerade die tugendhaften Handlungen sind es dann auch, welche gleich der Eudaimonie nur um ihrer selbst, um des in ihnen liegenden Guten willen vorgenommen werden. Und wie für den einzelnen, so liegt auch für die Gesamtheit, den Staat, im tugenhaften Leben, in der  eupraxia  aller Bürger das letzte Ziel und höchste Gut begründet: Einzel-Eudaimonie und staatliche Eudaimonie sind ihrem Wesen nach identisch.

Einer näheren Betrachtung bedarf nun aber der Begriff der Tugend selbst. Wie in der griechischen Sprache überhaupt, so hat auch bei ARISTOTELES das Wort  arete  zunächst keine speziell moralische Bedeutung. Es wird nicht nur von Menschen, sondern von allen beliebigen Dingen gebraucht, die entweder wirken oder nutzbar sind, und es bezeichnet ganz allgemein den Zustand der Vollkommenheit, d. h. diejenige Beschaffenheit, kraft welcher ein Ding oder Wesen seinem Begriff und Zweck, wir können sagen: seinem Ideal am vollständigsten entspricht und seine Funktionen, sein Werk, am besten verrichtet. Jedes Ding, jede Art von Wesen hat daher seine besonderen, ihm eigentümlichen Tugenden. Und so bedeutet die Tugend auch beim Menschen eines solche Vollkommenheit, kraft deren er selbst und sein Wirken gut und tüchtig ist.

Aber auch beim Menschen gibt es nicht nur  eine  Tugend, sondern mit Rücksicht auf die verschiedenen Seiten seines Seins und Wirkens mehrere Arten, Tugenden des Körpers (wie Gesundheit, Schönheit, Stärke), wie auch Tugenden der Seele und ihrer Teile. Da es sich aber bei der Glückseligkeit nur um die Betätigung der Vernunft handelt, so spielen die rein körperlichen Tugenden und ebenso diejenigen der von der Vernunft unabhängigen Seelenkräfte hierbei keine Rolle. Vielmehr kommt es hier allein auf die Tugenden des vernünftigen (bzw. der Vernunft unterworfenen) Seelenteils an; sie sind die spezifisch menschlichen, die Tugenden im engeren und eigentlichen Sinn der Politik und Sittenlehre. Zugleich sind gerade sie auch die höchsten Tugenden, da die Vernunft selbst der vorzüglichste Teil des Menschen ist. Die Eudaimonie aber, als das höchste Gut, besteht, wie gesagt, in der Betätigung der besten und vollkommensten Tugend.

Was ist nun aber diese Vernunft, in deren vollkommener Wirksamkeit das höchste menschliche Glück liegen soll? Im allgemeinen versteht ARISTOTELES unter  nous  oder  logos  das Denk- und Erkenntnisvermögen des Menschen. Ihre Tätigkeit ist gerichtet auf die Erkenntnis der Wahrheit, die Unterscheidung von Wahrem und Falschem; sie besteht einerseits im unmittelbaren Bewußtwerden der obersten, nicht weiter ableitbaren und nicht beweisbaren Prinzipien allen Seins, andererseits in Schlußfolgerungen, die aus jenen oder aus Wahrnehmungen (aistheseis) und Vorstellungen (phantasmata) durch Verbindung und Trennung der Begriffe gezogen werden (syllogismos, epagoge). Ihre Ergebnisse sprechen sich in bejahenden oder verneinenden Urteilen aus (kataphasis, apophasis), welche entweder wahr oder falsch sein müssen. Diejenigen geistigen Zustände nun, in welchen und kraft welcher diese Vernunftfunktionen am vollkommensten verrichtet, die Wahrheit am besten erkannt wird, bilden die Tugenden der Vernunft; im Gegensatz zu den später zu erwähnenden ethischen werden sie als  dianoetische  oder  logische Tugenden  bezeichnet.

Nach der Verschiedenheit der Erkenntnisgegenstände ist die Erkenntnistätigkeit selbst verschieden, und die Vernunft wird daher wieder in zwei Bestandteile geschieden, die  theoretische  und die  praktische Vernunft:  erstere auf die Erkenntnis der ewigen, unveränderlichen, schlechthin notwendigen Dinge gerichtet, letztere auf die Erkenntnis der veränderlichen Dinge, die sein oder nicht sein können, insbesondere die menschlichen Handlungen. Dementsprechend werden auch bei den dianoetischen Tugenden wieder mehrere Arten unterschieden.

Die theoretische Vernunft beschäftigt sich lediglich mit der Erkenntnis des Seienden, im Erkennen der Wahrheit liegt ihr einzige und letzter Zweck. (4) Ihre Funktion ist aber eine doppelte. Zunächst besteht sie in der Betrachtung der höchsten, ewig gleichen Grundbegriffe und Grundsätze, die aus nichts anderem abgeleitet werden können, die aber selbst allem anderen als eine notwendige Voraussetzung und Ursache zugrunde liegen und deren unmittelbar intuitives Erfassen als  nous [Geist - wp] im engsten Sinne bezeichnet wird. Aus diesen obersten Prinzipien gewinnt sie sodann durch zwingende Schlüsse weitere Wahrheiten, die als notwendige Folge jener ebenfalls ewig, unveränderlich und schlechthin notwendig sind. Nur die auf einem solchen Weg erlangte Erkenntnis bildet ein sicheres, auf strengen Beweisen beruhendes  Wissen, episteme  im eigentlichen Sinn, im Gegensatz zur  doxa [Behauptung - wp], zur bloßen Meinung, die eine Gewähr der Wahrheit nicht in sich trägt. Nach den verschiedenen Gebieten eines solchen Wissens werden drei theoretische Wissenschaften oder Philosophien unterschieden: die Mathematik, die Physik und die Theologie oder erste Philosophie, die Wissenschaft von den ewigen, unbewegten und körperlosen, d. h. göttlichen Dingen (Metaphysik). Die Tugend dieser theoretischen Vernunft aber, welche  nous  (im letztgenannten Sinn) und  episteme  gleichmäßig umfaßt, ist die Weisheit,  sophia,  und der in dieser Weise Tugendhafte ist der eigentliche Philosoph.

Wie nun die Gegenstände der theoretischen Vernunft die höchsten und erhabensten sind, so stellt dieser Teil der Vernunft selbst die erhabenste aller menschlichen Fähigkeiten, das Göttliche im Menschen dar; ihre Tugend ist somit auch die vollkommenste, und ARISTOTELES sieht daher in deren Betätigung in einem Leben, welches lediglich der Weisheit und dem Erkennen der ewigen Wahrheiten gewidmet ist, die höchste Glückseligkeit, die wahre und vollendete Eudaimonie. Nur einer solchen Tätigkeit will er all die Eigenschaften beilegen, welche der wahren Eudaimonie zukommen: sie gewährt die höchste Befriedigung, sie genügt sich selbst, sie kommt derjenigen der Götter am nächsten und ist diesen am wohlgefälligsten. Insbesondere aber: sie allein verfolgt keinen anderen, außer ihr liegenden Zweck; nur das reine Erkennen geschieht lediglich um seiner selbst willen und ist eben damit das höchste Gut.

ARISTOTELES verkennt jedoch nicht, daß ein solches, im geistigen Erkennen aufgehendes Leben die Bedingungen der menschlichen Natur übersteigt und daß daher diese höchste Glückseligkeit für den Menschen, sofern er eben Mensch und nicht bloß göttlicher  nous  ist, nicht erreichbar erscheint. Er begnügt sich daher mit der Ermahnung, dieses Göttliche im Menschen zu pflegen und soweit möglich das Leben jener Glückseligkeit anzunähern. Für die menschlichen Verhältnisse aber, wie sie einmal sind, stellt er noch eine andere  Eudaimonie  minderen Grades auf, auf welche bereits der Anfang seiner Erörterungen hingezielt hatte und diese zweite, rein menschliche Glückseligkeit erst ist es, welche im tugendhaften  Handeln,  in Handlungen nach Maßgabe der "anderen Tugend", d. h. derjenigen der  praktischen Vernunft  besteht. Dabei ergibt sich allerdings der eigentümliche Widerspruch, daß bei der Schilderung der theoretischen Eudaimonie dem tugendhaften Handeln das eigentliche Merkmal aller Eudaimonie, nämlich Selbstzweck zu sein, gerade abgesprochen worden war. (5)


2. Abschnitt
Die praktische Vernunft. Entstehung der
vernünftigen Handlung

Die praktische Vernunft ist, wie alle Vernunft, ebenfalls auf die Erkenntnis der Wahrheit gerichtet. Allein ihren Gegenstand bildet nicht das Ewige und Notwendige, andererseits ist sie nicht auf bloßes Erkennen beschränkt. Das Erkennen ist bei ihr nicht Selbstzweck, sondern nur Mittel zum Zweck.

Gegenstand der praktischen Vernunft ist das Mögliche, was sein oder nicht sein, so oder anders sein kann und dessen Verwirklichung von uns selbst abhängt; mit anderen Worten: also die  menschlichen Handlungen,  und zwar nicht, sofern sie wirklich geschehen, sondern sofern sie geschehen können oder geschehen sollen.

Wie die theoretische Vernunft zunächst in unvermittelter Weise die höchsten Prinzipien des Seins zu erkennen trachtet, so ist es in ähnlicher Weise das erste Geschäft der praktischen Vernunft, die Zwecke des Handelns, welche als dessen oberste, syllogistisch nicht zu erschließende, daher auch nicht zu beweisende Prinzipien (archai) erscheinen, durch unmittelbares Denken, wenn auch unter Mitwirkung der Erfahrung, zum Bewußtsein und zur Vorstellung zu bringen. Mit dieser Denktätigkeit ist jedoch der Zweck für die einzelne Handlung noch keineswegs gesetzt; vielmehr ist damit nur etwas  erkannt,  was zum Zweck des Handelns gesetzt werden  kann,  was sich dem Subjekt als  begehrbar  oder  erstrebenswert,  d. h. als ein durch Handeln erreichbares  Gutes  und eben damit als ein dem Handeln  zu setzendes  Ziel darstellt. Denn begehrt und bezweckt werden kann nur, was dem Subjekt als gut erscheint. Und gerade diese Vorstellung eines durch uns selbst und für uns selbst zu gewinnenden  Guten  ist es, kraft deren und mittels deren die praktische Vernunft in einem weiteren Gegensatz zur theoretischen, über das Erkennen hinaus auf ein  Wirken,  auf eine Realisierung des Erkenntnisinhaltes, d. h. auf die Herbeiführung einer  Handlung  gerichtet ist und um derentwillen sie als  praktische  Vernunft bezeichnet wird.

Unmittelbar von sich aus kann die Vernunft allerdings keine Handlungen hervorbringen. Wohl aber macht sich die Vorstellung des als gut und erstrebenswert Erkannten, eben vermöge dieses ihres Inhalts, einer anderen Seelenkraft, dem Begehrungsvermögen gegenüber als  Gebot  geltend, d. h. sie wirkt als  bewegendes Motiv  auf dieses ein, um es zur Ergreifung und äußeren Realisierung ihres eigenen Inhaltes zu bestimmen. (6) Ist diese Einwirkung erfolgreich, - was nicht immer der Fall ist, da Gegenkräfte wirksam sein können, von denen später zu handeln sein wird - so erzeugt sie das aktuelle Begehren und Hinstreben nach dem als gut Erkannten, bzw. nach einer der Vermeidung eines als schlecht Erkannten, wobei sich diese Vermeidung jedoch selbst wieder als ein Gutes darstellt. (7) Innerhalb der  orexis [Begehren - wp] werden daher, entsprechend den bejahenden und verneinenden Aussprüchen der Vernunft, die beiden Unterarten  diokein [Durchführung - wp] und  pheugein [Vermeidung - wp] unterschieden.

Erst mit diesem aktuellen Begehren wird das von der Vernunft als begehr bar  oder erstrebens wert  Vorgestellte zum wirklich  Begehrten,  damit erst wird es zum Zweck des Handelns gesetzt und bestimmt: es entsteht die  Absicht,  das zunächst nur  gesehene  Ziel zu erreichen, den als gut vorgestellten Zweck durch eigene Tätigkeit, durch eine Handlung zu verwirklichen.

Ist in solcher Weise, durch Einwirkung und nach Maßgabe der Vernunft, von diesem Begehren ein oberster Zweck bestimmt, so führt auch dies noch nicht unmittelbar zur Handlung. Vielmehr übt nun die Zwecksetzung zunächst wieder eine Rückwirkung auf die Vernunft aus, wodurch diese zu einer weiteren Erkenntnistätigkeit angeregt wird. Durch Überlegung und Beratung sucht sie nunmehr die Mittel aufzufinden, d. h. die Handlung selbst näher zu bestimmen, welche zur Erreichung des gesetzten Zwecks im Einzelfall erforderlich und am besten geeignet ist. Dies geschieht mittels eines Schlußverfahrens, wobei der als ein Allgemeines (katholou) gegebene Zweck den Ausgangspunkt und Obersatz bildet, unter welchen die jeweils vorliegenden, in letzter Linie durch Wahrnehmung zu erkennenden Umstände und Verhältnisse als Untersätze subsumiert werden, bis sich daraus ein Schluß ergibt, welcher die unter solchen Verhältnissen zur Erreichung des Zweck geeignetste Handlung und die zu deren Ausführung erforderliche körperliche Tätigkeit bezeichnet. Solche Schlüsse können ebenso wie ihre Vordersätze wahr oder falsch sein; bei der Natur der beurteilten Dinge und mangels strenger Beweise begründen beide aber niemals ein zuverlässiges Wissen, sondern stets nur ein unsicheres Meinen, weshalb das Vermögen der praktischen Vernunft auch selbst als  doxastikon [liturgischer Hymnus - wp] bezeichnet wird.

Die Prüfung der zur Erreichung des Zwecks verfügbaren Mittel und die Erkenntnis des geeignetsten unter ihnen wirkt dann endlich, diese Wechselwirkung abschließend, wieder auf das Begehren ein: sie führt zur  Auswahl,  zur Bestimmung dieses Mittels zwecks praktischer Anwendung, sie löst den  Entschluß  oder  Vorsatz  aus, den Zweck gerade durch diese Handlung und in dieser Weise zu realisieren. Diese Funktion nennt ARISTOTELES  proairesis.  Auch sie ist ein Akt des Begehrens: sie ist das unter kausaler Einwirkung der praktischen Vernunft,  aufgrund  der vernünftigen Überlegung entstandene Begehren, in dessen Begriff nun aber diese seine Grundlage, die Überlegung und der praktische Schluß vielfach wieder mit hinein gezogen wird, so daß die  proairesis  als eine Verbindung beider ansich getrennter Funktionen, der Denkoperation und des dadurch erzeugten Begehrens bezeichnet wird. In diesem Sinne ist also die  proairesis  das  vernünftige  Begehren, und zwar näher bezeichnet dasjenige, welches - im Gegensatz zur  boilesis,  zur vernünftigen Absicht - nicht unmittelbar oder nicht allein auf den Endzweck, sondern zunächst auf das als zweckmäßig erkannte Mittel, auf ein bestimmtes Handeln gerichtet ist. (8)

Aus dieser  proairesis  als unmittelbarer Ursache (arche) entspringt dann, auf dem Weg psychophysischer Einwirkung auf die körperlichen Gliedmaßen, die äußere Handlung, welche sich sonach, falls auf diesem Weg entstanden, als eine durch das Begehren vermittelte Betätigung der praktischen Vernunft darstellt.

Die Funktionen und Aussprüche der praktischen Vernunft über das, was gut, wie über das, was dienlich und zweckmäßig ist, können, wie schon gesagt, richtig oder unrichtig, wahr oder falsch sein. Sie können zur Erkenntnis und weiter zum Begehren des wirklich oder des nur scheinbar Guten und Richtigen führen; sie können sich ferner dem Begehren gegenüber als wirksam erweisen oder dieser Wirksamkeit entbehren, und sie bilden daher ansich eine Grundlage ebensowohl für gute wie für schlechte Handlungen, wie auch von dieser Grundlage aus ebenso schlechte wie gute Handlungen unterlassen werden können. Andererseits gibt es aber auch hier einen Zustand der Vollkommenheit, in welchem solche Mängel ausgeschlossen sind, eine  Tugend  der praktischen Vernunft; das ist die  Einsicht, phronesis,  mit welcher wir uns im nächsten Abschnitt zu beschäftigen haben.


3. Abschnitt
Die Einsicht (phronesis) als Tugend der praktischen
Vernunft. Der Begriff des Guten.

Innerhalb der dianoetischen oder Vernunfttugenden unterscheidet ARISTOTELES solche, welche sich auf das Veränderliche, und solche, die sich auf das Unveränderliche beziehen, sonach Tugenden der praktischen und Tugenden der theoretischen Vernunft. Zu jenen rechnet er die Kunst (techne) und die Einsicht (phronesis), beide daduch unterschieden, daß die erstere das  Schaffen  (poiesis) zum Gegenstand hat, dessen Zweck in der Herstellung einer Sache, eines Werkes besteht, während die letztere es mit dem  Handeln als solchem,  dem  prattein  zu tun hat, welches seinen Zweck, die  eupraxia,  in sich selbst trägt. Uns interessiert hier nur die letztere Tugend der praktischen Vernunft, die Einsicht, die auch wohl als deren Tugend schlechthin hingestellt wird. (9)

Unter der  phronesis  versteht unser Philosoph diejenige dauernde, zuständliche Geistesverfassung, kraft deren der Mensch die Fertigkeit besitzt, das wahrhaft Gute bezüglich des menschlichen Handelns im allgemeinen, wie das zu seiner Realisierung im Einzelfall Dienliche richtig zu erkennen und mittels dieser Erkenntnis in guten Handlungen auch tatsächlich zur Ausführung zu bringen. Wie die praktische Vernunft überhaupt, so hat daher auch ihre Tugend zwei Seiten aufzuweisen: eine erkennende und eine wirkende, und bei der ersteren sind wieder zwei Funktionen zu unterscheiden: Erkenntnis des zu setzenden Zwecks und Erkenntnis der anzuwendenden Mittel.

In erster Linie betätigt sich diese Tugend also darin, daß der mit ihr Begabte, der  phronimos,  das für den Menschen wahrhaft Gute auch subjektiv als solches erkennt, d. h. daß es seinem Denken als dasjenige erscheint, was  wert  ist, den Gegenstand des menschlichen Strebens zu bilden, was zum Ziel und Prinzip des menschlichen Handelns gemacht werden  soll und zwar nicht vermittelt durch Schlußfolgerungen, sondern wie alle Prinzipien unmittelbar. Die  phronesis  gewährt, modern gesprochen (denn "ethisch" hat bei ARISTOTELES noch nicht diese Bedeutung), die Erkenntnis der  sittlichen Prinzipien und Normen des Handelns,  sie ist kurz gesagt die sittliche Denkweise.

Gerade wegen des im Begriff des wahrhaft Guten liegenden "Soll" wird dieses Gute von ARISTOTELES sehr häufig als  to deon [das Nötige, Angemessene - wp] bezeichnet: die einzigen Ausdrücke und Spuren in seiner ganzen Psychologie und Sittenlehre, die auf den Gesichtspunkt der  Pflicht  hinweisen, in denen, wenn auch nur schwach und ohne volles Bewußtsein, sich der Gedanke geltend macht, daß auch außerhalb des staatlichen Gesetzes und seines Zwanges für den Menschen eine Gebundenheit besteht, ein Sittengesetz, dessen Gebote zu erfüllen er verpflichtet ist. Eine weitere Ausbildung hat er diesem Gesichtspunkt nicht gegeben, von Pflichten selbst ist bei ihm nirgends die Rede, seine Tugend- und Sittenlehre ist keine Pflichtenlehre. Vielmehr handelt es bei ihm durchaus nur um gewisse Vernunfterkenntnisse, die kraft ihres Inhalts, weil sie ein durch Handeln realisierbares Gutes und Wertvolles vorstellen, einen gebietenden, d. h. zum Handeln antreibenden Charakter haben. Das bindende Element beruth lediglich auf der Wahrheit dieses Inhalts und hat einen rein psychologischen Charakter; um aber ein guter Mensch zu sein, genügt nicht ein diesem Inhalt entsprechendes Handeln, sondern dazu muß man auch die Erkenntnis selbst besitzen.

Was ist nun aber dieses Gute selbst, das  wahrhaft Gute,  welches mittels der  phronesis  erkannt wird und in dessen Verwirklichung die menschliche Glückseligkeit bestehen soll? Mit dieser Frage berühren wir den schwächsten Punkt der ganzen Tugendlehre des Philosophen.

Zunächst: was ist das Gute überhaupt? ARISTOTELES lehnt es ab, einen einheitlichen, allgemeinen Begriff des Guten aufzustellen, wie er auch die platonische  Idee  des Guten im Interesse einer wissenschaftlichen Wahrheit nachdrücklich bekämpft. Das Gute ist überhaupt kein für sich stehender Begriff; es setzt immer ein Objekt voraus, in Bezug auf welches es gut ist, und sein Inhalt kann daher so verschieden sein, wie die Dinge selbst und ihre mannigfaltigen Beziehungen. Die Tugendlehre hat es mit dem Guten überhaupt nur in Bezug auf den Menschen zu tun, und sofern es durch menschliches Handeln erreichbar ist. Für dieses menschliche und praktische Gute wird nun allerdings ein allgemeiner Satz aufgestellt: es sei dasjenige, was durch das Handeln  erstrebt  wird, der  Zweck  des Handelns; denn alles, was erstrebt wird, wird deshalb erstrebt, weil es sich als ein Gutes darstellt. Dieser Begriff ist aber ein rein formeller; über den Inhalt des Guten ist damit nichts gesagt. So verschieden die Zwecke des Handelns sein können, so verschieden ist hernach auch das Gute, welches den Inhalt dieser Zwecke bildet.

Abgesehen von dieser Unbestimmtheit und Mannigfaltigkeit des Inhalts schließt auch jener formelle Begriff selbst gewisse Unterschiede in sich. Zunächst kann das Gute, welches den Gegenstand allen Strebens bildet, entweder an und für sich, um seiner selbst willen erstrebt werden, oder um eines anderen willen, zu dessen Erreichung es als Mittel dienen soll. Es tritt uns hier der Doppelbegriff entgegen, den auch die deutsche Sprache mit dem Wort "gut" verbindet, indem sie sowohl das ansich oder insich Wertvolle gut nennt, als auch das Nützliche, das zu anderen Zwecken dienlich und tauglich ist; wir unterscheiden "gut ansich" und "gut zu etwas". Dieselbe Doppelbedeutung hat das griechische Wort  agathos.  Das ansich Gute wird auch, und so insbesondere von ARISTOTELES, als das Schöne,  to kalon,  dasjenige, was "zu etwas" gut ist, bezeichnet. Dabei tritt innerhalb der ersteren Bedeutung insofern noch ein weiterer Unterschied hervor, als gewisse Dinge zwar um ihrer selbst, außerdem aber auch um weiterer Zwecke willen erstrebt werden, während andere lediglich Selbstzweck sind und nie als Mittel für anderes in Betracht kommen. Wir haben bereits im Eingang dieser Erörterungen gesehen, daß mit letzterem der Formalbegriff des höchsten menschlichen Gutes oder der Eudaimonie gegeben ist.

Gegenstand praktischer Erkenntnis ist das Gute in jeder dieser Bedeutungen, und die  phronesis  hat es daher, wie schon oben gesagt wurde, sowohl mit dem Guten ansich, als auch mit dem Nützlichen zu tun. Hier aber handelt es sich zunächst nur um die Erkenntnis desjenigen Guten, welches den letzten Zweck und das oberste Prinzip des Handelns bildet.

Ist dieses Gute nun wirklich mittels der Vernunft erkennbar und wird es erstrebt, weil und sofern es als gut erkannt wird, so muß der obige Satz: "gut ist, was bezweckt wird", offenbar dahin umgedreht werden: "bezweckt wird dasjenige, was gut ist". Das Gute ist nicht durch den Zweck, sondern der Zweck ist durch das Gute zu bestimmen. Um dann aber Gegenstand des Zwecks werden zu können, muß das gute als solches zuvor vorgestellt und erkannt sein. das hat auch ARISTOTELES oft genug anerkannt und ausgesprochen, wobei dahingestellt bleiben kann, ob er sich des Gegensatzes gegen die erstangeführte Formulierung immer bewußt geworden ist.

Damit wird aber noch ein anderer Gegensatz im Begriff des Guten von Bedeutung, auf den es hier gerade besonders ankommt. Als gut ist demnach nämlich einmal das zu bezeichnen, ws einem jeden  subjektiv als gut erscheint.  Andererseits aber muß es dann - entgegen der Lehre der Sophisten, die nur ein subjektiv Gutes annahmen - auch etwas geben, was unabhängig von der subjektiven Meinung oder Vorstellung der Einzelnen  an und für sich gut oder schön ist.  Im Gegensatz zu jenem, wird letzteres als das in Wahrheit oder wirklich Gute, meistens aber als das schlechthin Gute bezeichnet.

Das der bloßen Vorstellung nach Gute kann individuell überaus verschieden sein. Den Einzelnen wird je nach ihrer subjektiven Beschaffenheit bald dieses, bald jenes als gut erscheinen, dem einen das Nützliche, dem andern das, was sinnliche Lust gewährt; es kann mit dem wahrhaft Guten zusammenfallen, oder auch ein falsches Gutes sein. Daraus aber folgt, daß das  phainomenon agathon  als solches eigentlich überhaupt kein Gutes ist, wie das ja auch in der Bezeichnung des objektiv Guten als des  wirklich  oder  wahrhaft  Guten bereits zum Ausdruck kommt; wohl aber steht es dem Guten insofern gleich, als es den Zweck des Handelns bildet oder zu bilden geeignet ist. Nur unter diesem Gesichtspunkt, aus der Beziehung zum Zweck erklärt sich überhaupt die ganze Einteilung des Guten in das wirklich Gute und das, was nur als gut erscheint.

Andererseits kann aber auch das wahrhaft Gute in der Wirklichkeit doch nur dann Gegenstand des Strebens und Zweck des Handelns sein, wenn es von einem Subjekt als solchem vorgestellt und erkannt, wenn es also selbst zu einem  phainomenon agathon  geworden ist. Wenigstens ist das die Ansicht des ARISTOTELES. Es bestand in dieser Beziehung eine Meinungsverschiedenheit unter den Philosophen seiner Zeit, indem die einen mit PLATO das objektiv Gute, die andern das subjektiv Gute als den Gegenstand des Begehrens, als Zweck bezeichneten. ARISTOTELES sucht auch diese Frage durch einen Kompromiß zu lösen, indem er einerseits der platonischen Ideenlehre das Zugeständnis macht, daß der Zweck ansich, seinem Begriff und seiner Natur nach im Guten selbst besteht, andererseits aber daran festhält, daß für jeden Einzelnen nur das Zweck ist, was ihm als gut erscheint, so daß also in der realen Wirklichkeit das Streben nach dem wahrhaft Guten dessen Erkenntnis und richtige Würdigung voraussetzt, der erstere Satz aber zum bloßen Postulat wird. Deshalb, meint er, sei jedem zu wünschen, daß das wahrhaft Gute auch  ihm  das Gute ist, d. h. als Gutes von ihm erkannt wird, und daß er in  diesem  Sinn nach dem ihm gut Scheinenden strebt. Denn das wahrhaft Gute ist eben das, was der  orthos logos [richtige Verstand - wp] aussagt, der Erkenntnisgegenstand der  phronesis. 

Wenn wir aber nunmehr die obige Frage nach dem begrifflichen Inhalt dieses wahrhaft Guten wiederholen, so müssen wir bekennen, daß uns hier unser Philosoph gänzlich im Stich läßt. Jedenfalls ist er weit davon entfernt, im wahrhaft Guten irgendein Absolutes, Unwandelbares zu erblicken, das für alle Menschen und alle Fälle gleichmäßig das Ziel zu bilden hätte. Hieran mußte ihn schon seine im Innersten gehegte Ansicht hindern, daß alles  praktisch  Gute in letzter Linie doch nur einem höheren Zweck zu dienen bestimmt und insofern relativer Natur ist. Wohl kennt er auch ein absolutes Gutes, welches von Anbeginn in ewig gleicher Schönheit waltet; aber dies gehört allein der göttlichen Sphäre an und ist viel zu erhaben, als daß es zum menschlichen Tun und Treiben irgendwie in Beziehung stände. Das wahre menschliche Gute dagegen gehört ebenso wie das Handeln selbst dem Gebiet des Wandelbaren an und kann je nach den Verhältnissen bald so, bald anders beschaffen sein. Deshalb ist seine Erkenntnis auch nicht Sache der theoretischen, sondern der praktischen Vernunft. Deshalb kann ferner das praktisch Gute auch von der praktischen Wissenschaft nicht scharf und genau begrenzt, sondern nur in allgemeinen Umrissen beschrieben werden; nur im Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände ist überhaupt eine genauere Bestimmung möglich. (10)

Von diesem Standpunkt aus hätte also, um ein Prinzip des praktisch Guten zu gewinnen, auf induktivem Weg vorgegangen werden müssen. Allein eine derartige Untersuchung hat ARISTOTELES nirgends unternommen und er ist daher auch nirgends dazu gelangt, dieses Gute irgendwie begrifflich festzustellen. Insbesondere ist er bei den Erörterungen über die ethische Tugend und ihre Arten durchaus bei Einzelheiten stehen geblieben; daß der hier so oft wiederholte Satz, das Gute sei ein Mittleres, eine  mesotes [Mitte - wp] zwischen zwei Extremen, zu einem Prinzip nicht ausreicht, daß vielmehr der diese  mesotes  bestimmende  orthos logos  selbst erst einer inhaltlichen Bestimmung bedarf, hat er selbst ausdrücklich anerkannt. Allein trotzdem lautet die einzige Antwort, die wir, und auch nur gelegentlich, auf die gestellte Frage von ihm erhalten, dahin: wahrhaft gut ist nur dasjenige, was eben mittels der  phronesis  als gut erkannt, was vom einsichtigen Menschen, dem  phronimos  oder - wie er eben deshalb auch genannt wird - vom  guten  Menschen für gut gehalten wird. Damit aber werden wir vollständig im Kreis herumgeführt:  phronimos  ist derjenige, der das wahrhaft Gute erkennt; wahrhaft gut ist, was dem  phronimos  als gut erscheint. Die Tugend der  phronesis  wird durch das Gute, das Gute durch die  phronesis  erklärt. Hierin und nicht (wie meist angenommen, weiterhin aber als unzutreffend dargetan werden wird) in der Bestimmung des Verhältnisses zwischen Einsicht und ethischer Tugend liegt in Wahrheit der Zirkel und damit die klaffende Lücke, an welchen die ganze Tugend- und Sittenlehre des ARISTOTELES unheilbar krankt.

Häufig ist nun allerdings unter einem guten Menschen, von dem bei der Bestimmung des wahrhaft Guten die Rede ist, nicht sowohl der Einsichtige, als der  sittlich  Gute, derjenige, der gut  handelt,  und unter seiner Tugend nicht sowohl die  phronesis,  als vielmehr die ethische Tugend verstanden. Ja, es wird mehrfach die ethische Tugend oder der ethisch Tugendhafte geradezu als Richtschnur und Maßstab für das wahrhaft Gute hingestellt. Hiernach könnte es scheinen, als ob das Prinzip des letzteren vielleicht doch in der ethischen Tugend zu finden ist. Allein dem ist doch nicht so. Wie wir später sehen werden, besteht die ethische Tugend darin, daß dasjenige begehrt und getan wird, was vom  orthos logos,  der  phronesis  als gut erkannt und bestimmt ist; die ethische Tugend selbst bestimmt über das Gute gar nichts. In den berührten Aussprüchen des Philosophen aber laufen mehrere Bedeutungen durcheinander. Sofern sie lediglich besagen: der Tugendhafte  wählt  oder  tut  das Gute, und aus seinen Handlungen läßt sich daher  entnehmen,  was wahrhaft gut ist, enthalten sie überhaupt keine Begriffsbestimmung und stehen der  Erkenntnis  des Guten durch die  phronesis  nicht im Weg. Sofern sie dagegen das Gute durch die ethische Tugend definieren wollen, führen sie zu einem neuen Zirkel zwischen diesen beiden Begriffen. Sofern sie schließlich die Auffindung des Guten selbst der ethischen Tugend zuzuschreiben scheinen, beruhen sie auf einer Ungenauigkeit des Ausdrucks. Die ethische Tugend steht, wie wir im folgenden Abschnitt sehen werden, mit der dianoetischen Tugend der  phronesis  in einem unlösbaren Zusammenhang, beide stellen in Wahrheit nur verschiedene Seiten ein und desselben Seelenzustandes dar. In nicht ganz genauer, aber echt aristotelischer Weise werden nun manchmal Funktionen, die diesem Zustand entspringen, nicht auf diejenige Seite desselben bezogen, in welcher sie eigentlich ihre Wurzel haben, sondern auf die andere, welche aber ohne jene erstere nicht sein kann und sie daher gewissermaßen mitrepräsentiert. So erklärt es sich, wenn die Erkenntnis des Guten, statt mit der  phronesis,  mit der ethischen Tugend in Verbindung gebracht wird; denn wo die letztere, da ist auch die erstere. Oder wenn das Subjekt, von welchem diese Erkenntnis ausgeht, nicht nach seiner hierfür wesentlichen Eigenschaft, d. h. als  phronimos,  sondern nach einer anderen, von jener aber nicht trennbaren Eigenschaft, d. h. als  spoudaios [tugendhaft - wp] bezeichnet wird. Der  spoudaios  erkennt das Gute, sofern er und  nur  er zugleich  phronimos  ist. Daß dem in der Tat so ist, zeigt sich deutlich darin, daß in allen diesen Stellen die zur Bezeichnung der Funktion selbst gebrauchten Ausdrücke durchweg dem Gebiet des Denkens und Erkennens, also der  phronesis,  nicht aber dem des Begehrens, der ethischen Tugend angehören. Gewissermaßen das Gegenstück hierzu bilden solche Stellen, welche die Bestimmung des Guten ganz richtig vom  phronimos  ausgehen lassen, dafür aber Ausdrücke wie  aireisthai [überlegte Wahl - wp] oder  diokein [nach etwas trachten - wp] gebrauchen, die eine ethische Funktion bezeichnen und mit der  phronesis  als solcher nichts zu tun haben. Der  phronimos  und der  spoudaios  sind eben ein und dieselbe Person wie die zur Bezeichnung ihrer Funktionen dienenden Ausdrücke gelegentlich stellvertretend gebraucht werden.

Aus der ethischen Tugend kann somit für den Begriff des Guten nichts gewonnen werden. Wohl aber bildet sie, und insonderheit die  sophrosyne,  das Maßhalten im Verfolgen sinnlicher Lust, eine  Bedingung  für die Erkenntnis des Guten durch die  phronesis.  Damit ist insofern allerdings nichts Besonderes gesagt, als eben, wie vorhin bemerkt,  phronesis  und ethische Tugend überhaupt zusammen gehören, keine ohne die andere sein kann. Allein für die Erkenntnisfunktion der  phronesis  hat dies doch noch eine spezielle Bedeutung, die ARISTOTELES mehrfach ausdrücklich hervorhebt. Hiermit hat es folgende Bewandtnis.

Die  phronesis  ist eine Tugend und als solche eine dauernde, zuständliche Beschaffenheit oder Disposition der Vernunft, kraft welcher diese befähigt ist, stets und überall das Richtige und Gute zu finden. Ein weiterer Bestandteil der  phronimos  aber ist, wie schon oben bemerkt, die Fähigkeit, dieser Erkenntnis auch eine praktische Folge zu geben, sie bestimmend auf das Handeln einwirken zu lassen. Nun kann freilich auch derjenige, der sich aus Leidenschaft seinen Lüsten hingibt, trotzdem mittels der Vernunft das Bewußtsein des Rechten haben. Er weiß, was gut ist, und daß das, was er tut, schlecht ist; er erkennt auch im allgemeinen das Gute als Prinzip für sein Handeln an; allein da ihn die Leidenschaft beherrscht, gibt er der Stimme der Vernunft kein Gehör und handelt seiner besseren Erkenntnis und Überzeugung zuwider. ARISTOTELES bezeichnet einen solchen Menschen als Schwächling,  akrates,  als einen, der sich nicht beherrschen kann. Er ist nicht völlig schlecht, da er nur aus Schwäche, nicht aus grundsätzlicher Überzeugung schlecht handelt; aber auch die Tugend der  phronesis  besitzt er nicht, und zwar nicht nur, weil seinem Erkennen das praktisch wirksame Moment fehlt, sondern auch deshalb, weil dieses Erkennen selbst bei ihm nicht zu einer zuständlichen Fertigkeit, nicht zu einem festen, sicheren Besitz entwickelt ist.

Der Mensch bedarf nämlich, um die Fähigkeit zur Erkenntnis des praktisch Guten zur ständigen Eigenschaft in sich auszubilden und dauernd zu erhalten, wie der Lehre und äußeren Erfahrung, so auch der inneren Erfahrung. Er muß die praktische Wirksamkeit dieser Erkenntnis, den Sieg des Guten in sich und an sich selbst erleben, die Anforderungen der Vernunft müssen bei seinem Handeln den Antrieben der Sinnlichkeit gegenüber auch wirklich die Oberhand behalten, wenn eine sittliche Denkweise in ihm feste und dauernde Wurzeln schlagen soll. Beides, praktische Erkenntnis und die Betätigung dieser Erkenntnis fördern sich gegenseitig. Umgekehrt wird durch eine Lebensweise, die den Postulaten der Vernunft trotz ihrer Erkenntnis keine Rechnung trägt, sondern den sinnlichen Genüssen und Leidenschaften fröhnt, wie wir sie beim  akrates  finden, die Entwicklung der Prinzipienerkenntnis zur festen und sicheren Tugend, hintan gehalten; ja die Fähigkeit zu dieser Erkenntnis selbst, der  Sinn  für das wahrhaft Gute und die Überzeugung, daß dieses das Prinzip des Handelns abzugeben hat, wird dabei verdorben und geht allmählich verloren. ARISTOTELES bezeichnet den Leidenschaftszustand der  akrasia,  der Schwachheit, als  halbe  Schlechtigkeit; wir können in diesem Sinne sagen: sie bildet eine Vorstufe, ein Übergangsstadium zur  vollen  Schlechtigkeit.

In  diesem  Sinn also ist die Erkenntnisfunktion der  phronesis  dadurch bedingt, daß auch die andere, die praktisch wirkende Seite derselben richtig funktioniert. Gerade das letztere ist aber, wie der Fortgang unserer Darstellung zeigen wird, wieder nur dann möglich, wenn der  phronesis  auf Seiten des Begehrens die ethische Tugend, insbesondere die Tugend des Maßhaltens in sinnlicher Lust, die  sophrosyne  entgegenkommt. Und hierin ist es nun begründet, wenn ARISTOTELES, auch hier wieder die praktische Funktion der Vernunft durch die notwendig mit ihr verbundene ethische Tugend ersetzt, die  letzere  statt der  ersteren  zur Voraussetzung für die Ausbildung und Erhaltung der  phronesis  als des  zuständlich gefestigten  Vermögens der Prinzipienerkenntnis macht, wenn er erklärt, daß durch die  sittliche  Schlechtigkeit der Blick für die Erkenntnis des Guten, als des Zieles menschlichen Handelns, getrübt und verfälscht wird.

Obwohl nun die praktische Funktion der  phronesis  und ebenso die ethische Tugend selbst wieder die Erkenntnisfunktion der  phronesis  voraussetzen und durch deren Inhalt bestimmt werden, so liegt hier doch keineswegs ein Zirkel vor. Vielmehr war es, aller dagegen erhobenen Einwürfe ungeachtet, ganz richtig, wenn TRENDELENBURG hier von einer Wechselwirkung sprach (nur daß diese genau genommen nicht so sehr das Verhältnis zwischen  phronesis  und ethischer Tugend, als vielmehr dasjenige zwiscchen den beiden Funktionen der  phronesis  selbst betrifft). Es handelt sich hier gar nicht, wie HARTENSTEIN und ZELLER eingewendet haben, um das  begriffliche  Verhältnis dieser Funktionen oder Tugenden zueinander oder um eine Bestimmung ihres beiderseitigen  Inhalts,  sondern, wie oben gezeigt, in der Tat lediglich um  Entwicklungsvorgänge,  um das  kausale  Verhältnis, in welchem sich die in das Gebiet der praktischen Vernunft fallenden Funktionen bei den einzelnen Individuen zur zuständlichen geistigen Disposition, zur  Tugend  entwickeln und befestigen. In diesem Prozeß fördern sich Erkennen und praktisches Verwerten des Erkannten gegenseitig. Den Ausgangspunkt aber bildet durchaus das vernünftige Erkennen des Guten welches in seinen  einzelnen Akten,  wie gerade die der ethischen Tugend bare und doch im Besitz der richtigen Erkenntnis befindliche  akrasia  zeigt, keineswegs durch eine anderweitige Tugend bedingt ist und daher auch seinen Inhalt nicht aus einer solchen entnehmen kann. Davon, daß die ethische Tugen, die  sophrosyne,  selbst bereits, wie HARTENSTEIN meint, das sittliche Wissen  einschließt  und  deshalb  eine Bedingung der  phronesis  sei, ist nirgends die Rede; sie gilt als eine Bedingung lediglich dafür, daß das sittliche Wissen dem Auge der Seele zu einer dauernden, zuständlichen Beschaffenheit oder Disposition der Vernunft wird und daß die vorhandene Erkenntnisfähigkeit  nicht wieder verloren geht.  Der Inhalt der  sophrosyne  selbst aber ist ausdrücklich dahin bestimmt, daß das Begehren dem  logos  nicht widerstreitet, sondern das Gute  anstrebt,  welches durch jenen, d. h. als durch die  phronesis  erkannt und bestimmt ist.
(11)

Soviel über die Einsicht als Fertigkeit zur Erkenntnis des wahrhaft Guten, soweit es als Zweck und Prinzip des Handelns in Betracht kommt.

Die Einsicht enthält aber weiter auch die Fähigkeit zur sicheren Erkenntnis der richtigen  Mittel,  d. h. derjenigen Handlungen, durch welche der erkannte und vom Begehren sodann ergriffene Zweck im Einzelfall am besten und ziemlichsten zu verwirklichen ist: also zur Erkenntnis des Zweckmäßigen und Nützlichen, sofern es einem guten Zweck dienen soll. Sie ist insofern die Tugend des richtigen Beratens und Überlegens, der richtigen Wahrnehmung und Beurteilung der jeweils vorliegenden Umstände und Verhältnisse, ihrer richtigen Subsumtion unter die allgemeinen Sätze und der richtigen praktischen Schlußfolgerung daraus. In dieser Anwendung wird sie als  euboulia,  als Wohlberatenheit, bezeichnet.

Mit diesen erkennenden Elementen der  phronesis  ist nun, wie schon hervorgehoben wurde, noch ein  wirkendes  Element verbunden, welches der auf das Gute gerichteten Handlung, wie sie zunächst im Geist vorgestellt ist, zur  tatsächlichen Ausführung  verhilft. Diesem höchst wichtigen Element ist meist die gehörige Beachtung nicht zuteil geworden (12), und hierin vor allem scheint mir der Grund zu liegen, weshalb man ein richtiges Verständnis der  phronesis  zur ethischen Tugen bisher nicht hat gewinnen können. Die psychische Grundlage dieser praktischen Wirksamkeit der  phronesis  ist bereits oben bei der Besprechung der praktischen Vernunft selbst dargelegt worden. Die Vorstellung des mittels der  phronesis  erkannten Guten und Richtigen wirkt, eben weil es als gut, erstrebenswert vorgestellt ist, als Antrieb auf das Begehren, um dieses zur Ergreifung und Realisierung des Erkenntnisinhalts zu bestimmen. Dass zunächst nur allgemein und hypothetisch vorgestellte "Soll" wird in ein kategorisches und damit praktisch wirkendes  "ich  soll" umgesetzt; es wird damit zum Ausführungsbefehl, den die Vernunft hinsichtlich des Ziels wie hinsichtlich der Mittel dem Begehren erteilt und dessen Quelle somit keine äußere Autorität, sondern das menschliche Bewußtsein selbst, modern gesprochen: das Pflichtbewußtsein bildet. Das ist die  epitaktische,  die  gebietende,  mit anderen Worten: die  motivierende  Seite der  phronesis. 

Diese psychische Einwirkung auf das Begehrungsvermögen ansich hat die Einsicht mit der praktischen Vernunft gemein; ihre Besonderheit als Tugend aber besteht hier darin, daß sie ihre Befehle jederzeit auch  durchsetzt,  ihnen eine tatsächliche Geltung verschafft, daß ihre Gebote unweigerlich und durchweg zum  wirksamen  Motiv für das Begehren und Handeln werden und sie so in dauernder, festbegründeter Weise dessen herrschendes Prinzip bildet. Nur der ist wirklich  phronimos,  der sich das erkannte Gute auch tatsächlich zum Ziel seines Strebens setzt und es durch die als richtig und zweckmäßig erkannte Handlung mittels des darauf gerichteten Vorsatzes stetig verwirklicht. Darin liegt die  Stärke,  die wirkende  Kraft  der  phronesis,  durch welche gute Handlungen hervorgebracht werden. In der Vornahme solcher Handlungen bekundet und betätigt sich die  Energie  der praktischen Vernunft in ihrer tugendhaften Vollkommenheit, und nur wo die Erkenntnis des Guten sich als eine solche Macht im Menschen erweist, da ist sie eine wirkliche (dianoetische) Tugend. Wo diese Erkenntnis dagegen nur toter Besitz ist, wo ihr die Herrschaft, die Kraft fehlt, das Begehren zu bestimmen und durch dessen Vermittlung sich in gute Handlungen umzusetzen, wie beim Schwächling, dem  akrates  (der eben hiervon seinen Namen hat), da ist keine Einsicht im aristotelischen Sinn vorhanden.

Daher wird die  phronesis  auch dem Architekten, dem Baumeister verglichen, der einerseits den Plan und die leitenden Grundsätze für den Bau aufstellt und der andererseits nach seinen Anweisungen den Bau, das Werk durch die Werkleute zur Ausführung bringen läßt. Daher heißt es weiter, daß es für die  phronesis,  eben wegen ihrer fortgesetzten praktischen Betätigung, kein Vergessen gibt, wie es bei einem Zustand bloßer Vernunfterkenntnis möglich ist. Und eben deshalb, weil beim  phronimos  das Begehren und der Vorsatz in ständige Weise durch die Vernunft bestimmt wird, weil  phronesis  und Streben nach dem wahrhaft Guten sonach stets miteinander verbunden sind, deshalb wird häufig, wenn auch psychologisch nicht ganz genau, dem  phronimos  und der  phronesis  selbst das Begehren und Erstreben des Guten, der Vorsatz zum Guten und dessen Ausführung zugeschrieben, oder es wird dasjenige für gut erklärt, was der  phronimos  zum Gegenstand des Strebens macht.

Wenn in der Nikomachischen Ethik als Element des guten Vorsatzes die Wahrheit der praktischen Vernunft genannt und diese Wahrheit selbst dahin bestimmt wird, daß sie mit dem richtigen Streben übereinstimmt, so ist damit nicht, wie WALTER (Praktische Vernunft, Seite 496, 560) meint, eine unbegreifliche Harmonie, eine Einstimmigkeit, wofür jede Erklärung fehlt, ausgesprochen, sondern es beruth diese Übereinstimmung eben auf dem, zum Begriff der  phronesis  selbst gehörigen, kausalen Verhältnis zwischen praktischer Vernunft und Begehren. Durch die Kraft der Vernunft bestimmt, macht sich das Begehren den Inhalt ihrer Aussprüche zu eigen und setzt ihn zum Ziel des  (hiernach  richtigen) Strebens.

So ist es die Tugend der praktischen Vernunft, welche durch eine Vermittlung des Begehrens und des Vorsatzes dazu führt, das von ihr erkannte Gute in guten, tugendhaften Handlungen zur Realisierung zu bringen. Da diese Tugend ferner als ständige, feste Disposition zu jenen Funktionen erscheint, so hat sie nicht nur vereinzelte gute Handlungen, sondern eine gute, tugendhafte Lebensführung, die Eupraxie selbst im Gefolge, und es ergibt sich somit, daß in der Betätigung  dieser  Vernunfttugend, in einem nach den Anforderungen der  phronesis  geführten Leben die Eudaimonie, wie sie für den Menschen erreichbar ist, begründet liegt.
LITERATUR - Richard Loening, Die Zurechnungslehre des Aristoteles, Jena 1903
    Anmerkungen
    1) vgl. "Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, Bd. III, Seite 263f.
    2) Daher wird das Gerechte in diesem gesetzlichen Sinn als Ursache der Eudämonismus [gelungene Lebensführung - wp] des Gemeinwesens bezeichnet.
    3) Darauf weist mit Recht Alexander Löffler hin (Die Schuldformen des Strafrechts, Bd. 1, Seite 69f und 98f).
    4) Das Gleiche gilt von der theoretischen Wissenschaft gegenüber der praktischen.
    5) Diese Widersprüche finden ihre Erklärung darin, daß es sich hier in Wahrheit nicht sowohl um zwei Arten von Eudaimonie, als vielmehr um zwei verschiedene Ansichten darüber handelt, zwischen denen vermittelt werden soll. Im Eingang hatte sich Aristoteles auf den Boden derjenigen Anschauung gestellt, welche die Eudaimonie ins praktische Leben verlegt; hierauf beruhen seine ethischen Untersuchungen. In der nikomachischen Ethik (X 7-9) dagegen spricht er seine, bereits in I 3 angedeutete, persönliche Überzeugung aus, die über die Ethik hinausführt und deren konsequente Durchführung ihn allerdings zur Preisgabe seines Ausgangspunktes und zur Verwerfung jeder praktischen Eudaimonie hätte führen müssen. In der Politik VII 2,3 weist er selbst darauf hin, daß sich hier zwei subjektive Ansichten gegenüberstehen, und er will dort prüfen, welche von beiden im Recht ist. - - - Den Anhängern eines praktischen Lebens wird zugegeben, daß die Eudaimonie nicht in Tatlosigkeit bestehen kann, denn sie ist Eupraxie, erfordert also Handlungen. Allein diese Handlungen müssen nicht notwendig solche sein, die, gegenüber der Außenwelt und eines erhofften Erfolges wegen vorgenommen werden; viel eher können es innere, ihren Zweck in sich selbst tragende Denkvorgänge sein, wie ja auch bei den äußeren Handlungen selbst die anordnende Denkarbeit die Hauptsache ist. Den äußeren Handlungen wird also auch hier der Selbstzweck schlechthin abgesprochen, ohne daß ihnen doch die Eudaimonie ganz versagt würde. Auch vergißt Aristoteles hierbei, daß er das theoretische Denken, wie schon die Einteilung der Vernunft zeigt, sonst keineswegs als ein Handeln ansieht, sondern es überall scharf davon scheidet. Auch die bei einer solchen Auffassung ins Wanken kommende Identität von staatlicher und Einzel-Eudaimonie sucht er durch eine Art Taschenspielerei zu retten, indem er anstelle der sonst betonten begrifflichen Identität eine rein äußerliche Analogie treten läßt. Entsprechend nämlich der im psychischen Innenleben begründeten Glückseligkeit des Einzelnen will er hier denjenigen Staat für den glücklichsten halten, welcher, abgesondert von anderen gelegen, sich nur seinen inneren Angelegenheiten widmen und von allen äußeren Unternehmungen fern halten würde.
    6) Die hier aufgestellten Sätze über Prinzipienerkenntnis und Wirksamkeit der praktischen Vernunft bei Aristoteles werden, verschiedenen abweichenden Anschauungen gegenüber, im Anhang zu diesem Abschnitt näher begründet werden.
    7) Wenn Eucken ("Über die Methode und Grundlage der aristotelischen Ethik", 1870, Seite 23f) das Zusammenwirken von Vernunft und Begehren für dunkel hält und die Frage aufwirft, wie denn letzteres zum Gehorsam veranlaßt, wie die Erkenntnis zum Motiv des Handelns wird, so ergibt sich die Lösung eben aus dem Inhalt der Erkenntnis, aus dem Begriff des Guten, welches als ein Begehrens wertes das Begehren selbst anregt. Daß das Begehren aber mit der Vernunft auch in Konflikt geraten kann, liegt nicht sowohl in ihm selbst, als in den anderen darauf einwirkenden Kräften begründet.
    8) Daß es sich bei der proairesis lediglich um eine kausale Verbindung zweier Funktionen und deren Zusammenfassung in einem Ausdruck, nicht aber um eine rätselhafte Mischung beider, um eine aus Vernunft und Begehren zusammengesetzte einheitliche Funktion handelt, ist häufig nicht oder nicht klar genug erkannt worden, wie bei Zeller und vielen anderen. Der enge Zusammenhang dieser beiden Funktionen hat andererseits aber auch dazu geführt, daß der praktische Schluß häufig allein, ohne Nennung des in jenem mitenthaltenen gedachten Begehrens, als Ursache der Handlung angeführt wird.
    9) Man kann nicht mit  Zeller  in Abrede stellen, daß  Aristoteles  die  phronesis  ausdrücklich als Tugend der praktischen Vernunft bezeichnet hat, und ebensowenig, daß sie die Tugend des  doxastikon  sei. Letzteres ist mit dem  logistikon  identisch und bedeutet wie dieses eben die praktische Vernunft. Die  phronesis  mit "Einsicht" wiederzugeben, erscheint gerechtfertigt, sofern sie  Aristoteles  selbst mehrfach als geistiges Auge, ihre Funktionen als ein Sehen bezeichnet. Allseitiger kommt indessen ihr Wesen zum Ausdruck, wenn man sie mit  Teichmüller,  "Neuere Studien zur Geschichte der Begriffe III, Seite 37 als praktische oder Lebensweisheit bezeichnet und ihr dann die  sophia  als theoretische Weisheit gegenüberstellt.
    10) Die Erkenntnis des Guten ist daher auch nicht episteme [Wissen - wp], sondern doxa [Behauptung - wp].
    11) Aus dem Satz, daß Maßhalten in sinnlichen Genüssen eine Bedingung der phronesis sei, hatte man schon im Altertum irrigerweise ableiten wollen, daß der Inhalt der phronesis selbst durch die ethische Tugend bestimmt wird. Eudemos erwähnt diese Ansicht, verwirft sie aber, da nur soviel richtig sei, daß durch Selbstbeherrschung (die Eudemos an die Stelle der von Aristoteles hier genannten sophrosyne setzt) die richtige Funktion der praktischen Vernunft nicht verdorben wird.
    12) Hartenstein und Zeller erwähnen diese Seite der phronesis überhaupt nicht; letzterer sagt: "Nur die praktische Überlegung ist es, worin sich die Einsicht betätigt." L. Schmidt, "Die Ethik der Griechen", Bd. 1, Seite 163 meint, Aristoteles habe die Trennung der Einsichtstugenden von den Tugenden des Handelns durchgeführt. Wenig klar sind die Erörterungen Julius Walters ("Praktische Vernunft", Seite 479f) über das epitaktische Element der phronesis, ebenso unbefriedigung aber auch diejenigen Teichmüllers in seiner Polemik gegen Walter (Neue Studien zur Geschichte der Begriffe, Heft 3, Seite 47-68), sofern er die Epitaxis [Anordnung - wp] dem vernünftigen Willen zuschreibt, während es sich doch um eine Wirkung der Vernunft auf den Willen handelt. Wenn schließlich Windelband, "Geschichte der alten Philosophie", zweite Auflage, Seite 169/70, meint, daß auch die praktische Vernunft ansich nur eine theoretische Tätigkeit sei, daß aber die vernünftige Einsicht allein zum rechten Handeln nicht genügt, vielmehr die Stärke des Willens (egkrateia) hinzutreten muß, um sie den Affekten und Begierden gegenüber zur Geltung zu bringen, so verkennt er, daß diese Stärke nach aristotelischer Anschauung gerade in der phronesis selbst enthalten, auch die egkrateia nicht eine Stärke des Willens, sondern eine solche der Vernunft ist.