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Nominalismus und Realismus [2/3]
Man hat HEGELs Philosophie in letzter Zeit wiederholt mit den biologischen Entwicklungslehren in Zusammenhang gebracht, so daß HEGEL gewissermaßen auch als ein Vertreter der Deszendenztheorie [Abstammungslehre - wp] figuriert. Es verlohnt nun wohl der Mühe, etwas näher auf diesen Punkt einzugehen, weil die Stellung dieses Philosophen zur Deszendenzlehre für eine Weltauffassung bezeichnend ist und die Unvereinbarkeit seiner realistischen Grundansicht mit der Anerkennung der Wirklichkeit von Naturtatsachen sich darin offenbart. Während nämlich HEGEL eine Evolution der Begriffe, welche in der organischen Natur zur Darstellung kommen, der Konsequenz des Systems ausdrücklich lehrt, verwahrt er sich doch auf das Bestimmteste gegen die Anschauung, als ob diese Evolution, dieses Hervorgehen eines Begriffs oder Typus aus dem andern, Gegenstand der sinnlichen Wahrnehmung werden könnte. Denn
"Es ist", so erläutert Hegel weiter, "eine ungeschickte Vorstellung älterer, auch neuerer Naturphilosophie gewesen, die Fortbildung und den Übergang einer Naturform und Sphäre in eine höhere für eine äußerlich-wirkliche Produktion anzusehen, die man jedoch, um sie deutlicher zu machen, in das Dunkel der Vergangenheit zurückgelegt hat. Der Natur ist gerade die Äußerlichkeit eigentümlich, die Unterschiede auseinanderfallen und sie als gleichgültige Existenzen auftreten zu lassen: der dialektische Begriff, der die Stufen fortleitet, ist das Innere derselben. Solcher nebulöser, im Grunde sinnlicher Vorstellungen, wie insbesondere das sogenannte Hervorgehen z. B. der Pflanzen und Tiere aus dem Wasser und dann das Hervorgehen der entwickelteren Tierorganisationen aus den niedrigeren usw. ist, muß sich die denkende Betrachtung einschlagen." Der Gegensatz, in welchem die realistische Betrachtungsweise HEGELs zur heutigen Naturwissenschaft steht, tritt nirgends schroffer hervor, als da er
Eine Philosophie, welche das einzelne Naturobjekt für wirklich erklärt und den Begriffen nur insofern Realität zuerkennt, als sie Attribute oder Prädikate von einzelnen Naturobjekten sind, darf sicherlich nicht als Konsequenz, sondern muß als völlige Negation des Prinzips von HEGELs Philosophie angesehen werden. Dieses nun ist bezüglich jener naturalistischen und sensualistischen Existenzialphilosophie der Fall, welche FEUERBACH unter dem Namen der Anthropologie der bisherigen Metaphysik gegenüberstellte und welche zunächst als Reaktion gegen den absoluten Idealismus zu begreifen ist. FEUERBACH war ursprünglich Anhänger HEGELs und verteidigte die allgemeine Vernunft, an welcher der Mensch, das Individuum "Anteil hat", welche sich aber nicht in die Schranken des einzelnen Gehirnes bannen läßt, daher "zwischen dem Menschen als Individuum und dem Geist ein himmelweiter Unterschied ist". Bald jedoch fand er diesen Unterschied illusorisch, machte den Menschen, in specie [im Einzelnen - wp] das Gehirn zum Denkenden selbst und trat nun in einen entschiedenen Gegensatz zu HEGELs Philosophie, deren Unvermögen, aus dem Denken oder abstrakten Sein die Fülle des konkreten Seins, die Natur, zu erzeugen, ihm schon früher klar geworden war. Nur in der Form, zumal im Gebrauch gewisser Termini blieb FEUERBACH Hegelianer, und wenn er daher gelegentlich seine Philosophie als die "Wahrheit" der HEGEL'schen bezeichnet, so hat man sich bloß an die "Wahrheit" der Natur bei HEGEL zu erinnern, welche darin besteht, daß die Natur ansich keine Wahrheit ist. Die Anthropologie ist ebenso wesentlich nominalistisch, wie HEGELs Philosophie realistisch: indem sie die Sinnlichkeit zum Kriterium der Wahrheit erhebt, der Unterschied des Sinnlichen vom Gedanken jedoch - um noch in HEGELs Worten zu sprechen - gerade darin liegt, "daß die Bestimmung von jenem die Einzelheit ist", kann ihr nur das einzelne, individuelle, "unsagbare" Sein als real gelten; das auf die Anschauung, und zwar auf die sensuelle, nicht auf eine vorgeblich intellektuelle Anschauung sich stützende Denken setzt die Individualität geradezu als "das Wesen der Wirklichkeit". Der Begriff, welcher den Charakter der Allgemeinheit ansich trägt, wird dadurch, im Unterschied von den Einzeldingen gefaßt, zu einer bloßen Abstraktion, die nur in einem denkenden Subjekt Bestand hat. Um die Anthropologie richtig zu verstehen, ist es notwendig, stets ihren tatsächlichen Ursprung aus der Philosophie HEGELs im Auge zu behalten und sie als Opposition gegen den eigentümlichen Idealismus der letzteren aufzufassen. Diese Sinnlichkeitsphilosophie hatte den Begriffsabsolutismus HEGELs zu ihrer notwendigen Voraussetzung; sie wäre unmöglich gewesen, wenn HEGELs Philosophie die Stelle der kantischen Philosophie eingenommen hätte. Daher, wie dies von WEIGELT sehr gut auseinandergesetzt wurde, ihr Sensualismus wohl der absoluten Idee und den sich selbst bewegenden Begriffen gegenüber siegreich ist, aber nicht Stich hält, wenn ihm die Erörterungen der "Kritik der reinen Vernunft" entgegengesetzt werden. Im Vergleich mit HEGELs Konfusion [Verwirrung - wp] von Denken und Sein, Begriff und Wirklichkeit muß die Anthropologie zweifelsohne als eine kritische Reform gelten, obschon sie im Hinblick auf die viel weitergehende Trennung der subjektiven Erkenntnisfaktoren von dem ansich existierenden Gegenstand, welche KANT vorgenommen hatte, selber objektivistisch erscheint. Ihre Thesen können zumeist erst dadurch ins richtige Licht gestellt und nach Verdienst gewürdigt werden, daß man sie mit den entsprechenden Grundsätzen von HEGELs Philosophie zusammenhält. So hat z. B. FEUERBACHs Lehre, daß Raum und Zeit "keine bloßen Erscheinungsformen", sondern "Wesensbestimmungen, Vernunftformen, Gesetze des Seins wie des Denkens sind", vorzugsweise nur Bedeutung als ein Protest gegen die Auffassung HEGELs, welchem diese Formen der Sinnlichkeit gar nichts galten und welcher den Physikern geradewegs zumutete, Raum und Zeit zu ein paar "imponderablen [unwägbaren - wp] Stoffen" (?) neben Wärme, Licht usw. herabzusetzen. So erklärt sich auch historisch, aus den Voraussetzungen der Anthropologie, warum sie gerade das nominalistische Moment so sehr in den Vordergrund treten ließ. In der hat kaum ein Philosoph neuerer Zeit auf die Entscheidung der Frage nach dem Verhältnis des Allgemeinen oder den Begriffs zum Einzelnen, der Gattung zu den Individuen größeres Gewicht gelegt als FEUERBACH, welcher kein Bedenken trug, zu erklären,
Daß unter so verschiedenen dianoiologischen [denkvermögenshaften - wp] Voraussetzungen die Auffassung des Systems der Dinge sich für die Anthropologie ganz anders als für HEGEL gestalten mußte, liegt auf der Hand. Die Natur, welche in HEGELs Philosophie eine traurige Scheinexistenz gestiftet hatte, kam jetzt wieder zu Ehren; sie war nicht mehr ein von der Idee getragenes, sondern autonomes, selbständiges Wesen; sie bewegte sich aus eigenen Kräften und nicht aufgrund einer Gnade des Begriffs, dessen dialektische Selbstbewegung sie etwa mitmachte. Der Fortgang von der Natur zum Geist war nicht mehr als das Insichzurücktreten der Idee aus ihrer Entäußerung, sondern als das Hervorgehen des Geistes aus der Natur zu betrachten. Und innerhalb der Natur selbst mußte sich jede Entwicklung, falls eine solche vorhanden war, als eine Wirkung der den Naturwesen inhärierenden Kräfte ergeben. Es unterliegt daher keinem Zweifel, daß die Lösung, welche das Problem von der Entstehung der Lebensformen durch DARWIN erhalten hat, dem Geist der Anthropologie völlig gemäß ist, wenngleich diese selbst nicht näher auf jenes Problem eingegangen war. Ja, es ließe sich vielleicht aufgrund einzelner Äußerungen FEUERBACHs sogar darlegen, daß er schein eine Ahnung jener Wahrheiten besaß, welche nun, durch DARWINs eingehende Entwicklung und Begründung, zum unverlierbaren Besitz der Wissenschaft geworden sind. So sagt er mit Bezugnahme auf die äußere Zweckmäßigkeit, die Waffen und Schutzmittel der Organismen:
Mit der Anthropologie pflegt man meist die Richtung der sogenannten Junghegelianer zu identifizieren, welche die Jenseitigkeit der Idee aufhob und die Kategorien der Logik esoterisch faßte, so daß der Entwicklung des Naturdaseins die Evolutionen des Begriffs nicht wirklich vorhergehen, wodurch die von HEGEL so geringschätzig behandelte Welt, dieses "Aggregat von Endlichkeit", offenbar eine Aseität [aus sich sein - wp] erhalten mußte; und wird nicht auch FEUERBACH nicht selten als der Junghegelianer par excellence [beispielhaft - wp] betrachtet. Daß er sich in den vor das Jahr 1842 fallenden Publikationen diesem Standpunkt genähert, wenn nicht denselben von Anbeginn vertreten hat, ist keinem Zweifel unterworfen; aber es hieße den Unterschied der späteren sensualistischen von der noch unter HEGELs Einfluß stehenden Periode in FEUERBACHs Denken verkennen, wenn man auch die Anthropologie noch als eine Repräsentation jener Richtung ansehen wollte. Es wurde ja bereits auseinandergesetzt, daß FEUERBACHs spätere Lehre vielmehr als der durch die Unzulänglichkeiten der Begriffsdialektik selbst hervorgerufene Gegensatz derselben, als die totale Negation und Umkehrung von HEGELs Philosophie zu begreifen ist und mit dieser nur insofern zusammenhäng als sie unmittelbar daran anknüpfte und ihre positiven Resultate durch die Kritik von HEGELs Prinzipien gewann; daher sie freilich Probleme, welche jener unkritischen Metaphysik völlig abseits lagen, ebenfalls unerörter ließ; ein ganz Anderes aber muß in Bezug auf die Richtung der Junghegelianer, welche mit Recht diesen Namen führt, gesagt werden. Wenn die Anthropologie die Wirklichkeit der Begriffe oder Ideen nur innerhalb des subjektiven Geistes gelten läßt, so räumt ihnen dagegen der Junghegelianismus allerdings eine objektive Realität ein, bestimmt sie jedoch als Kategorien der Natur, selbstverständlich auch des der Natur sich entringenden oder mit ihr gleich ewigen Bewußtseins, verweltlicht sie also und nimmt ihnen das Recht einer gesonderten Existenz, das ihnen bei HEGEL, wenn man überhaupt dem Wortlaut seiner Lehre vertrauen darf, unzweifelhaft zukommt. Hiernach hat der dialektische Prozeß innerhalb der Logik, wie billig, nur eine logische, formale Bedeutung und gewinnt der Begriff erst als Prinzip des Naturdaseins Realität oder objektive Wesentlichkeit. Der Entschluß der Idee,
Da zahlreiche Philosophen, in deren Ansichten sich mannigfache Nuancen unterscheiden lassen, als Vertreter der junghegelschen Richtung erscheinen, konnte dieselbe hier begreiflicherweise nur nach ihrer allgemeinen Tendenz, nach dem inneren, bewegenden Prinzip, welches bald vollkommener, bald weniger vollkommen zur Darstellung gelangt, charakterisiert werden. Ihr Unterschied einerseits von der Anthropologie, andererseits von der eigentlichen Lehre HEGELs, sowie ihre Mittelstellung zwischen beiden erhellt sich aus dem Gesagten wohl zur Genüge: indem sie die Realität der Ideen behauptet, steht sie im Gegensatz zum konzeptuellen Sensualismus FEUERBACHs und prinzipiell auf dem Standpunkt HEGELs; indem sie jedoch diese Realität auf die der Natur (und dem Menschen) immanenten Ideen einschränkt, die Transzendenz der Begriffe also aufhebt (d. h. in ihrem Sinne), geht sie von der strikten Observanz [Einhaltung - wp] des Systems ab und triff in der Beantwortung aller kosmologischen Fragen, soweit nur die Außenseite des Geschehens in Betracht kommt, mit der anthropologischen Ansicht zusammen. Wie HEGELs Philosophie dem extremen Realismus und die Anthropologie dem strengen Nominalismus, so entspricht die Richtung der Junghegelianer der konzeptualistischen Auffassungsweise. Übrigens darf es bei der großen Geschmeidigkeit, um nicht zu sagen Zweideutigkeit von HEGELs Lehre nicht verwundern, daß sich die Junghegelianer als deren einzig wahre und echte Vertreter gerierten [gaben - wp]. Hängt doch selbst der Materialismus der 50er Jahre teilweise noch mit HEGEL zusammen, wie das Kapitel des Physiologen und ehemaligen Hegelianers MOLESCHOTT deutlich beweist. Nicht nur die Beseitigung des Dings-ansich, die Ausfüllung der Kluft, welche KANT zwischen Sein und Denken gerissen hatte, rechnete dieser berühmte Stimmführer der "stofflichen Weltanschauung" HEGEL als Verdienst an; auch die Spuren von HEGELs Begriffsrealismus treten in MOLESCHOTTs "Kreislauf des Lebens", dem Hauptwerk des Materialismus dieser Zeit, in den häufig gebrauchten und keineswegs hylozoistisch zu deutenden Redensarten vom "Geist" oder "Gedanken", "der überall im Stoff lebt", unverkennbar zutage, und jedenfalls ist die Schuld, welche die das Heterogenste [Ungleichartigste - wp] "vermittelnde" und alle scharfen Verstandesunterschiede "aufhebende" Dialektik an der materialistischen Verwirrung der Begriffe: Kraft, Geist, Idee trägt, keine geringe. Gelegentlich sei hier noch bemerkt, daß der chemische Materialismus gar nicht zu einer streng und absolut mechanischen Weltauffassung gelangen läßt, weil ihm die den einzelnen Grundstoffen inhärierenden Kräfte ebenso viele qualitates occultae [geheime Kräfte - wp] oder Elementarformen des Naturgeschehens sind. Noch heftiger als die Anthropologie machte ein von KANT ausgehender, durch seine charaktervolle Haltung und anti-theologische Tendenz FEUERBACH ähnelnder Denker Opposition gegen HEGEL und bekämpfte den Grundgedanken desselben als "absurd", -
In seinen "Fragmenten zur Geschichte der Philosophie" hat sich SCHOPENHAUER des Näheren über sein Verhältnis zu Realismus und Nominalismus ausgesprochen und die Berechtigung des Realismus verteidigt, jedoch mit dem Zusatz, daß dieselbe eigentlich nicht ihm, sondern platonischen Ideenlehre zukommt, deren Erweiterung er ist.
Eine tiefer gehende Betrachtung entdeckt jedoch bald noch eine weitere Differenz zwischen dem Realismus SCHOPENHAUERs und dem von HEGEL. Bei HEGEL ist der Begriff als solcher real, daher das absolute Wissen den Begriff im Element des Denkens oder als Begriff erfaßt, wodurch es sich eben über die Religion erhebt, welche, auch als "offenbare Religion", die Form der Vorstellung nicht überwindet. Hingegen entspricht es der ganzen Eigenart des durchaus anschaulichen Denkens SCHOPENHAUERs, daß die Ideen nicht als "Allgemeines", "Gedanken" oder Begriffe für wirkliche Existenzen genommen werden, vielmehr in dieser Gestalt als bloße Auffassungsformen eines der Vorstellung jenseitigen Dings-ansich gelten. In der Tat ist es die Meinung SCHOPENHAUERs, daß der platonischen Idee oder dem Artbegriff in der Welt des Dings-ansich eine anschaulich zu denkende Einheit entspricht, welche keineswegs als Begriff konzipiert werden darf, wenngleich sie vom Intellekt, welcher sie vorher durch seine räumliche Anschauungsweise in viele neben- und auseinander befindliche Einzeldinge zersplittert hat, nur auf dem Weg der Abstraktion, mithin als Allgemeinbegriff wieder erzeugt werden kann. Daß sich SCHOPENHAUER die Einheit der Art völlig unter dem Bild einer anschaulichen, sinnlich-individuellen Einheit und ganz und gar nicht als eine abstrakte, begriffliche vorgestellt hat, geht auch aus seiner bekannten metaphysischen Begründung der Moral und Erklärung der sympathischen Affekte hervor, welche das eigentümliche Wesen seiner Ideenlehre in überaus faßlicher Weise offenbart. Es muß noch eine originelle Auffassung SCHOPENHAUERs erwähnt werden.
Wie sehr auch SCHOPENHAUERs Lehre für realistisch zu gelten hat, so ist doch ihre spezifische Verschiedenheit von dem übrigen, in der Geschichte der neuesten Philosophie auftretenden und insbesondere von HEGELs Realismus niemals außer Acht zu lassen. Sie mit diesem letzteren ohne weiteres in einen Topf zu werfen, wäre ebenso verkehrt, wie etwa mit gewissen Schriftstellern anzunehmen, daß die Idee von SCHOPENHAUERs Panthelematismus [Allwillenslehre - wp] schon von SCHELLING antizipiert worden ist, wobei man nicht bedenken würde, daß SCHOPENHAUER in der Begründung seines Prinzips von einer Identitätsphilosophie gerade entgegengesetzten Voraussetzung, von der "totalen Diversität [Verschiedenheit - wp] des Idealen und Realen", ausgeht. Mit der Ansicht, daß die reinste, am wenigsten subjektiv gefärbte, durch den Intellekt entstellte Apparition [Erscheinung - wp] des Dings-ansich in dem aus dem eigenen Innern uns bekannten Willen gegeben ist; hat SCHELLINGs "Wille ist Ursein" in Wahrheit so viel wie nichts zu tun, und eine Ideenlehre, welche sich auf die Kluft zwischen dem wirklichen Wesen der Welt und deren Vorstellungsgebilde gründet, ist etwas ganz Anderes als die unkritische Erhebung der Begriffe zu Realitäten, welche namentlich das Philosophieren der hegelschen Schule auszeichnet. Während SCHOPENHAUER das Prinzip der Individuation ganz auf die empirische Welt der Erscheinung beschränkte, wurde dieses Prinzip von HERBART zu metaphysischer Bedeutung erhoben. Die Philosophie HERBARTs ist in einem eminenten Maß pluralistisch und individualistisch: ihre Realen sind recht eigentlich Individuen, Atome - einzelne, nicht bloß physisch, sondern auch in der Vorstellung unteilbare Wesen. Eben deshalb aber können sie nicht als materiell gedacht werden, indem der Begriff der Materie die quantitative Bestimmbarkeit in sich schließt, mit der Quantität jedoch auch die Divisibilität [Teilbarkeit - wp] im logischen oder vielmehr psychologischen Sinn notwendig gesetzt wird. Die Materie, deren Grundeigenschaft die Ausdehnung im Raum ist und deren Kräfte sich insgesamt als Bewegung im Raum äußern, gehört auch nach HERBART bloß der Erscheinung an; die Dinge-ansich müssen als unräumliche Existenzen konzipiert werden, weil das Wirkliche nicht ein in sich Zusammengesetztes sein kann. HERBARTs Metaphysik trifft hierin, daß sie der Materie nur eine Erscheinungswirklichkeit zugesteht, mit der Philosophie SCHOPENHAUERs zusammen; sie unterscheidet sich jedoch von dieser sehr wesentlich dadurch, daß sie das den materiellen Phänomen zugrunde liegende Reale als ein vielfach Individuelles bestimmt, so zwar, daß demselben in der empirischen Welt nicht etwa die Art oder sonst irgendein Allgemeines, sondern das einzelne Merkmal des einzelnen Dings entspricht. Und da mit der Vielheit der Realen zugleich ein Nebeneinander derselben gegeben ist, welches den intelligiblen Raum darstellt, so dürfen reale Beziehungen auch als Grund des Erfahrungsraumes angenommen werden, welcher sonach kein bloßes Hirngespinst, bloß eine subjektive Zutat des Intellekts ist, wie bei SCHOPENHAUER, sondern aus realen Verhältnissen der Dinge zueinander resultiert. Die Stellung HERBARTs zur Frage nach der Wirklichkeit der Allgemeinbegriffe ist schon durch seine Metaphysik bezeichnet; es steht mit derselben im innigsten Zusammenhang, wenn er in der platonischen Ideenlehre eine Täuschung erblickt und es als eine psychologisch aus der Anstrengung, teils in sich selbst, teils weit mehr noch in Anderen Begriffe als Objekte des Denkens festzuhalten, erklärbare "Übertreibung" der Philosophen bezeichnet, "daß sie die Begriffe in die Zahl der realen Gegenstände versetzen." Den Schellingianern ruft HERBART die klassischen, für die Epigonen der Naturphilosophie noch heute beherzigenswerten Worte zu:
Es wird ziemlich allgemein anerkannt, daß HERBARTs verhältnismäßig exakte und von phantastischen Spekulationen sich fernhaltende Denkweise auf keinem Gebiet schönere Früchte gezeitigt hat, als auf demjenigen der Psychologie, und hier gerade war es das nominalistische Verfahren, auf welchem sein hauptsächlichstes und unbestrittenstens Verdienst, die Zerstörung der psychologischen Vermögenstheorie, beruth. Die Seelenvermögen waren die realen Universalien der alten Psychologie. Die allgemeinen Begriffe: Vorstellen, Gefühl, Wille wurden als wirkliche einheitliche Mächte hypostasiert [einem Wort gegenständliche Realität zubilligen - wp], in welchen die einzelnen Vorstellungen, Gefühle und Willensakte ihren Grund haben, sowie das einzelne Naturereignis durch die in der Natur sich ausprägende Idee bestimmt und begründet ist. Der von HERBART unternommenen Austreibung der Seelenvermögen aus der Psychologie gebührt daher dieselbe Bedeutung wie der Austreibung der platonischen Ideen aus der Naturphilosophie, an welcher HERBART gleichfalls seinen Anteil hat. Seine Reform der Psychologie hätte aber noch viel gründlicher und den Forderungen der Wissenschaft gemäßer ausfallen können, wenn ihn nicht dogmatische Rücksichten gehindert hätten, den superstitiösen [zweifelhaften - wp] Seelenbegriff, den Quell mannigfacher Irrtümer und Verkehrtheiten, aufzugeben. HERBARTs Seelenreales, welches dem christlichen Glauben zuliebe sein Vorstellungsspiel nach dem Tod, wo alle Hemmungen beseitigt, sogar ungestört ins Unendliche fortsetzt, ist eine für die Wissenschaft äußerst verderbliche Fiktion, die selbst den Wert jener ansich hochwichtigen Reform zu einem nicht geringen Teil illusorisch macht. Diese erdichtete und erfundene Einheit steht im grellsten Widerspruch mit der Vielheit der Ganglienzellen des Großhirns, deren Komplex als bloßen Ernährungsapparat zu betrachten heute wohl niemandem mehr einfallen kann, von welchen eine große Anzahl unzweifelhaft wahre "Seelenzellen" darstellt, wie sie HAECKEL genannt hat. Deshalb ist eine gesunde, physiologische Psychologie auf herbartinischer Grundlage undenkbar, und es leuchtet ein, daß die Konzeption des "Realen" auf psychologischem Gebiet, zumindest in der von HERBART vorgenommenen Weise, der wissenschaftlichen Erkenntnis des Seelenlebens gerade zuwider läuft. Aus der vorzüglichen Bearbeitung gewisser psychologischer Stellen, worin es ihm möglich war, von der falschen Grundvorstellung eines einfachen Seelenwesens abzusehen, läßt sich ermessen, wie ungemein nachteilig jene Voraussetzung, willkürlich der Theologie zu Gefallen gemacht, auf HERBARTs Denken wirkte. Neben HERBART muß auch BENEKE genannt werden, der, obschon einer völlig spiritualistischen Anschauung huldigend, doch nicht durch den Trugbegriff der Seelenmonade, in HERBARTs Fassung, gehemmt wurde. BENEKE ist der Ruhm desjenigen Philosophen zu zollen, welcher im Bereich der psychischen Phänomene die nominalistische Betrachtungsart am klarsten und konsequentesten zur Geltung brachte. Die herkömmliche Vermögenshypothese bekämpft er nicht weniger radikal als HERBART, und er legt in ganz unzweideutiger Weise dar, daß die Bekämpfung von einem individualistischen oder nominalistischen Standpunkt aus geschieht.
"Alle Kräfte des Verstehens, des Wollens etc. werden einzeln begründet und wirken einzeln; dabei sehen wir denselben Menschen das Eine gut und das Andere schlecht verstehen; das Eine kräftig und das Andere unkräftig wollen etc. - Wie läßt sich dies mit dem einen Verstand, Gefühl, Willen etc. zusammenreimen? - Der (ausgebildete Mensch also hat nicht einen Verstand, eine Urteilskraft, einen Willen etc., sondern Tausende von Verstandeskräften, Urteilskräften, Wollensvermögen etc." In der nachkantischen deutschen Philosophie fehlen also trotz Überwiegen der realistischen Auffassungsweise doch auch nicht entschiedene Repräsentationen des nominalistischen Prinzips: HEGELs Begriffsabsolutismus tritt in HERBART, BENEKE und FEUERBACH eine energische Position des Individuellen als des allein Wirklichen gegenüber. Gegenwärtig läßt sich bei dem stets im Wachsen begriffenen Einfluß der exakten Naturwissenschaft auch ein Zunehmen und Erstarken des nominalistischen Elements nicht verkennen, und muß vor allem jene auf der kantischen Kritik fußende Richtung, welche die Ergebnisse dieser Kritik nicht im Sinne eines phantastischen Idealismus verwertet, sonderm dem Geist wie den positiven Ergebnissen der Naturwissenschaft Rechnung zu tragen bemüht ist und anstelle des absterbenden dogmatischen einen lebenskräftigen kritischen Materialismus setzt, als eine kräftige Stütze der nominalistischen Anschauungsweise bezeichnet werden. Andererseits ist es keinem Zweifel unterworfen, daß der Einfluß von HEGELs Philosophie mehr und mehr abnimmt, sich also die Bedeutung gerade desjenigen Systems verliert, in welchem die realistische Vorstellungsart am allermeisten zur Geltung gekommen war. Hingegen findet eine andere Form des Realismus unter den Philosophen der Gegenwart noch zahlreichere Vertreter, welche verschiedenen, aber stets theistischen Richtungen angehören. Der Unterschied dieses Realismus von dem HEGELs, zu dem er sich ähnlich verhält, wie die neuplatonische zur platonischen Ideenlehre, beruth wesentlich auf seiner personalistischen Basis, und verschwindet daher vollkommen, wenn der absolute Geist, wie von ROSENKRANZ geschieht, dem dialektischen Prozeß vorausgesetzt wird. Der hier gemeinten realistischen Ansicht zufolge existieren die Begriffe ebenfalls außer und vor den Dingen, wie bei HEGEL, jedoch nicht als für sich bestehende und sich selber bewegende Entitäten, sondern als Gedanken im Bewußtsein des göttlichen Geistes. Diesen Standpunkt charakterisiert KAULICH scharf in Folgendem:
Die absolute Unveränderlichkeit der Spezies innerhalb ihres Begriffs, welche natürlich die Möglichkeit der Varietätenbildung so wenig wie die eines gänzlichen Verschwindens der Art und ihres Ersetztwerdens durch eine neue Form ausschließt, möchte die nächste Konsequenz dieser Auffassungsweise zu sein scheinen. In der Tat sind zahlreiche Philosophen der bezeichneten Richtung als Gegner der Transmutationstheorien [Umwandlungstheorien - wp] aufgetreten und haben das immer stärkeren und haben das immer stärkeren Angriffen von Seiten der empirischen Naturwissenschaft ausgeprägte Speziesdogma in seinem ganzen Umfang zu verteidigen gesucht. Ihrer Ansicht zufolge soll die Transition [Übergang - wp] von niedereren zu höheren Lebensformen einzig in dem diese Typen als "Vorbilder" setzenden göttlichen Geist stattfinden; in der natürlichen Welt hingegen soll jede dieser Ideen durch einen besonderen Akt der schöpferischen Kausalität verwirklicht weren und nun als in sich geschlossener, unveränderlicher Formenkreis bestehen, der mit keinem anderen, die Realisation einer eigenen Idee darstellenden Formenkreise physisch zusammenhängt. Demnach weist der übereinstimmende Bauplan in größeren Gruppen des Tier- und Pflanzenreiches wohl auf den einheitlichen Ursprung aus einer höheren d. h. universelleren Idee im Bewußtsein des Schöpfers, aber nicht auf einen physischen Konnex [Zusammenhang - wp], auf eine gemeinsame Abstammung vom selben Organismus hin. Die Stellung dieser Philosophen zur Abstammungstheorie hat mit der schon bezeichneten HEGELs viel Ähnlichkeit und es erinnert ganz an HEGELs Ansicht einer nur im Reich des Begriffs geltenden Kontinuität der Naturbildungen, wenn FICHTE behauptet
Aus dieser Harmonie der auf eine realistische Fassung des Artbegriffs gegründeten Entwicklungslehre mit dem alten Spezies-Dogma, welche unter anderen von WEISSE ausdrücklich bemerkt wurde, geht aber auch auf das Klarste ihre Diskrepanz mit der Vorstellungsweise der heutigen Naturwissenschaft hervor. Denn nicht bloß die Ansicht einer Entwicklung überhaupt ist dieser eigentümlich, sondern insbesondere der Ausschluß jedes übernatürlichen Moments aus dem Transmutations- und Entwicklungsprozeß, die Annahme einer in den Organismen selbst liegenden Modifizierungsmöglichkeit, welche ausreicht, alle innerhalb der organischen Reiche (oder wenigstens PHYLEN) zutage tretenden Unterschiede erklärbar zu machen. Die Naturwissenschaft wird keineswegs prinzipiell der Annahme eines inneren Entwicklungsprinzips, einer "intrinsischen [in ihr selbst liegenden - wp] Tendenz der Organismen, vom elterlichen Typus zu degenerieren", sich entgegenstellen, wenn eine solche Tendenz als Wirkung mechanisch-materieller Ursachen genommen wird, aber sie wird jede teleologische Deutung dieses Prinzips auf das Entschiedenste ablehnen und gerade diese Deutung ist der in Rede stehenden metaphysischen Ansicht das Wesentliche. Was die Naturwissenschaft als Resultat, Wirkung, mithin als das Letzte seiner Entstehung nach betrachtet, das macht jene zum Ersten, zum Prinzip, zur Ursache, und so erscheint ihr das Endprodukt des Umbildungsprozesses der Lebewelt als das den ganzen Prozeß in all seinen Momenten bestimmende Ziel, welches freilich in den Anfängen des organischen Werdens noch nicht erkannt werden kann.
Dem transzendenten Realismus der theistischen Philosophen nahe verwandt ist der Standpunkt, welchen die Philosophie des Unbewußten, "die Lehre vom allgemeinen Instinkt oder vom absoluten Hellsehen", wie sie FICHTE ungemein treffend genannt hat, in dieser Frage einnimmt. Diese Philosophie, die nicht bloß in kürzester Zeit eine außerordentliche Popularität erlangt, sondern auch in fachmäßigen Kreisen wenngleich nicht Zustimmung, so doch immerhin Beachtung gefunden hat, bietet so mannigfache Bezugspunkte zu den verschiedensten neueren Systemen und philosophischen Richtungen dar, daß sie einem durchaus eklektischen [Ideen anderer werden übernommen und zu einem System zusammengefügt - wp] Charakter zur Schau tragen würde, wenn ihr nicht die Konzeption des Unbewußten selbst das Gepräge einer originellen und einheitlichen Gedankenschöpfung verleihen würde. Auch der Unterschied ihrer Ideenlehre von der eben besprochenen Auffassung beruth im Wesentlichen darauf, daß, was dort bewußter Gedanke, in ihr des Bewußtseins entkleidet und zur "unbewußten Vorstellung" geworden ist; nebenbei allerdings auch noch in der monistischen Fassung des Absoluten, welches die reale Welt nicht nur aus sich, sondern auch in sich, durch den Konflikt seiner beiden Momente: Wille und Vorstellung, erzeugt. Vermöge dieser "Alleinheit" des Unbewußten, welche jede selbständige Subsistenz [Bestehen durch sich selbst - wp] der Kreatur unmöglich macht, wird nämlich das Verhältnis des schöpferischen Gedankens zur kreatürlichen Welt, der Idee zu ihrer Realisation oder ihrem physischen Abbild ein anderes: die Idee wird, indem der Wille sie als Inhalt erfaßt, wohl aus sich, aber nicht aus dem Absoluten herausgesetzt, ihre Verwirklichung, ihr Übergang in die Sphäre des materiellen Seins ist ein innerhalb des absoluten Geistes, d. h. des "Unbewußten" sich vollziehender Prozeß. Die Dualität von Geist und Natur, von Schöpfer und Geschöpf, welche die Grundvoraussetzung des eigentlichen Theismus bildet, erscheint in der Philosophie des Unbewußten gänzlich aufgehoben, daher sie von konsequenten Theisten mit Recht als pantheistisch [alles ist Gott - wp] bezeichneit und, einesteils als das göttliche Bewußtsein leugnend, andernteils als die Selbständigkeit der endlichen Individualität und damit den Gegensatz derselben zum absoluten Geist vernichtend, von denselben bekämpft wird. Hingegen stimmt die "Philosophie des Unbewußten" darin mit dem Theismus überein und bildet mit diesem einen gemeinsamen Gegensatz zu HEGELs Lehre, daß sie erstens außer der begrifflichen Welt noch eine andere, außer dem logischen noch ein alogisches Sein als volle Wirklichkeit annimmt, und fürs zweite jenes Logische oder die Idee nicht auf sich selbst beruhen, sondern mit dem Unlogischen, welches sie positiv als Wille bestimmt, in einer identischen Substanz wurzeln läßt. Auch wird ausdrücklich die Verschiedenheit der unbewußten Vorstellung vom Begriff hervorgehoben, indem Begriffe nur als "Brücken des diskursiven Denkens" anzusehen sind, "während alles unbewußte Denken sich in konkreten Intuitionen bewegt." - Da von HARTMANN sich gegen den transzendentalen Idealismus durchaus ablehnend verhält, begreift es sich von selbst, daß die unbewußten Vorstellungen von SCHOPENHAUERs "Ideen" radikal verschieden sind, wie auch die Übereinstimmung mit SCHOPENHAUER überhaupt, zumindest im theoretischen oder eigentlich metaphysischen Teil, sie nur auf sehr oberflächliche Punkte erstreckt. Zumal das principium individuationis in der "Philosophie des Unbewußten" eine ganz andere Bedeutung hat, als im System SCHOPENHAUERs, wo es in der subjektiven Auffassung des Intellekts begründet ist, und diesem Denker eine jenseits des Bewußtseins stattfindende Individuation ebenso fremd geblieben ist wie der Begriff der "objektiven Erscheinung". Die unbewußte Vorstellung, die sich mittels des Willens in räumlichen Atomen realisiert, ehe noch ein Subjekt vorhanden ist, welches sie anschaut, kann jedenfalls nicht mit der Idee verwechselt werden, die erst der täuschende Spiegel des Verstandes in die Vielheit natürlicher Individuen zerlegt. Wenn sich Ideen in der Natur ausprägen, so müssen sie sich offenbar als Zwecke und muß die Materie, in der sie realisiert werden soll, sich als Mittel verhalten und umgekehrt kann ein Naturzweck wohl nicht anders als in der Form einer Idee existierend gedacht werden: daher der Zusammenhang zwischen Realismus und Teleologie, daher die allzeit wahrzunehmende Erscheinung, daß sich der Realismus vorzugsweise auf dem Gebiet der biologischen Wissenschaften heimisch fühlt. In dieser Hinsicht ist die "Philosophie des Unbewußten" besonders lehrreich, indem der Zusammenhang der realistischen Auffassungsweise mit den gerade in der Sphäre des Organischen noch immer nicht ganz d. h. für Jedermann beseitigten Zweckbegriffen in ihr auf das Klarste zutage tritt.
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