ra-3Th. AchelisM. DrobischTh. LippsF. MauthnerCh. SigwartK. Lasswitz     
 
JULIUS BAUMANN
Historische und kritische
Bemerkungen zum Zweckbegriff


"Kant  mußte mehr als bloßen Verstand annehmen, um die Organismen zu erklären, er mußte durch denselben ganz neue Kräfte der Materie einfügen lassen; oder aber seinen Begriff der Materie zumindest teilweise ändern, was aber, da derselbe ein Produkt seiner transzendentalen Ästhetik und Analytik ist, so viel hieß, als seine ganze Philosophie ändern."

"Sofern unserer Intelligenz gemäß Mannigfaltiges in Einheit verknüpft wurde, ist es zugleich ein Gut für uns, mochte es auch in sich selbst nicht von seiner Güte = Intelligibilität verspüren; Mannigfaltigkeit zur Einheit stimmend ergab daher einen logischen Wert, wo die Beziehung deutlich war, einen ästhetischen, wo sie verworren war."

"Für  Kant  ist Intelligenz und Intelligibililität an und für sich noch kein Gut. Daran ist unzweifelhaft das Richtige, daß man sich Intelligenz und Intelligibilität denken kann, welche dabei durch und durch schlecht ist und im Dienst des Schlechten arbeitet; den Teufel hat sich der Volksglaube oft genug so gedacht."

Wenn man ein Buch aus dem vorigen Jahrhundert in die Hand nimmt, welches Teleologie in der Welt behauptet, so kann man sicher sein, daß dieses Buch auch die Welt für gut erklären wird: der Zweckbegriff schließt nach der Ansicht der Zeit eben das Merkmal des Guten mit ein. So definiert BAUMGARTEN (1):
    "Wenn jemand etwas braucht oder verbraucht oder mißbraucht, um etwas, welches ihm gut zu sein scheint, wirklich zu machen, so wird dasjenige, was demjenigen, der deswegen handelt, gut zu sein scheint, sein Zweck (finis) genannt."
Ebenso MEIER (2):
    "Zweck ist etwas, welches sich ein denkendes Wesen als gut vorstellt und um dessentwillen es eine andere Sache braucht oder mißbraucht."
In unserem Jahrhundert ist die Sache anders; es gibt philosophische Systeme (Schopenhauer, von Hartmann), welche die Welt teleologisch fassen und doch nicht für gut halten. Es muß also aus dem Zweckbegriff das Merkmal des Guten ausgefallen sein und zwar ziemlich still und unbemerkt, da, soviel ich sehe, niemand scheint sonderlich betroffen zu werden, daß man etwas als zweckmäßig und doch nicht als gut denkt. Diese Umänderung des Zweckbegriffs ist durch KANT vollzogen, der aber jahrhundertelange Vorbereitungen dazu vorfand. Die ganze Sache wird am klarsten werden, wenn wir sie uns in die Fragen zerlegen:
    1) Woher stammt letztlich der Zweckbegriff und die Zweckbehauptung, wie sie in der  Leibniz-Wolffischen  Schule noch da ist?

    2) Wie hat  Kant  Zweckbegriff und Zweckbehauptung gestaltet, und welche Vorbereitungen lagen ihm vor?

    3) Hat  Kant  mit seiner Abänderung des Zweckbegriffs wohlgetan?
Der Zweckbegriff des vorigen Jahrhunderts geht letztlich zurück auf ARISTOTELES. Nach ARISTOTELES (3) konstituiere den Begriff des Zwecks zwei Merkmale:
    1) daß er das Ende oder das Letzte in einer zusammenhängenden Reihe von Bewegung oder Tätigkeit ist,

    2) daß dieses Letzte ein Gut ist  (beltiston  [das Treffliche - wp] oder  agathon  [das Gute - wp]).
Diese beiden Merkmale sind für den Zweckbegriff untrennbar; darum findet er es lächerlich, etwa den Tod, weil er das  Ende  des Lebens ist, dessen Zweck zu nennen, denn daß der Tod nicht besser ist als das Leben, erscheint ihm ganz unverständlich. Den Zweck selbst findet ARISTOTELES bekanntlich ganz allgemein darin, daß ein jedes Ding seine begriffliche Form verwirklicht, das  ti en einai  [Wesenswas - wp] als Energie,  actus  ist zugleich das  beltion  [Zweckmäßigere - wp] (4). Daß also das Feuer brennt, die Pflanze blüht und Frucht treibt, das Tier seine volle Lebensbetätigung zeigt, das ist ihm der Zweck dieser Natursubstanzen; damit, daß so jedes in sich selbst Zweck ist, verschlingt sich dann noch die  aufsteigende  Reihe von Zwecken von der unorganischen Natur durch die organische bis zum Menschen, der mit seinem  nous  [Geist - wp] an das Göttliche grenzt.

Die Hauptbeweise, daß solche Zwecke in der Natur anzunehmen sind, soweit ihnen noch heute eine Bedeutung zukommt, sind:
     1)  die Kunst verfährt offenbar nach Zweckbegriffen; nun ist die Aufgabe der Kunst teils das zu vollenden, was die Natur nicht fertig machen kann, teils die Natur nachzuahmen (5). Als Beispiele der vollendenden Tätigkeit der Kunst gibt  Pacius  in seinem Kommentar zur Stelle die Medizin und den Ackerbau, als solche der Nachahmung Malerei und Skulptur. Die Beweiskraft des Arguments liegt wohl in dem Gedanken, daß die Kunst nicht in so wirkungsvoller Weise der Natur nacheifern oder selbst nachhelfen könnte, wenn nicht beide auf den gleichen Prinzipien ruhen würden; wie also in der Kunst der Zweck das Oberste ist, so muß er es auch in der Natur sein. Es ist derselbe Gedanke, der, allgemein gewendet, der absoluten Philosophie zugrunde lag: Natur und Geist haben so viele Übereinstimmungen, daß sie nur relative Unterschiede sein können. Man darf auch an KANT erinnern, dem ja die teleologische Urteilskraft die Kluft zwischen theoretischer und praktischer Vernunft, d. h. nach ihm zwischen Natur und Freiheit, dadurch überbrücken soll, daß sie den Gedanken suppeditiert [unterlegt - wp] wie Zwecke die Freiheit bestimmen, so wird auch die Natur nicht unempfänglich für den Zweckbegriff sein.

    Der  zweite  Hauptbeweis für die Objektivität des Zwecks in der Natur sind nach  Aristoteles  die Tiere und auch die Pflanzen (6).
Dem Einwand, daß die Zwecke in der Natur nicht immer erreicht werden, stellt ARISTOTELES entgegen, daß auch in der Kunst Verfehlungen vorkommen; manchmal macht auch der sachverständige Schreiber Schreibfehler und der Arzt gibt eine Arznei falsch. Was in der Kunst vorkommt, kann auch in der Natur vorkommen; in beiden Fällen ist das Streben nach dem Zweck da, wird aber ab und zu nicht erreicht; die  monstra  [naturwidrige Erscheinungen - wp] sind solche Verfehlungen des Naturzwecks (7). Auch den Einwand läßt ARISTOTELES nicht gelten, daß man von einem Zweck nur reden kann, wenn man die bewegende Ursache vorher überlegt haben muß. Er schlägt ihn mit dem Wort nieder: auch die Kunst beratschlagt nicht (8), d. h. wohl, sie verfährt nach einem genialen Instinkt, das und das scheint ihr schön und gut, und so sucht sie es zu realisieren.

Bei dieser ganzen Zwecklehre muß man schließlich vor Augen haben, daß nach ARISTOTELES die erste Ursache so wirkt, wie das Geliebte wirkt,  kinei os epomenon  [bewegt sich zum nächsten - wp] und daß nach ihm alles in der Welt danach strebt, die ihm mögliche Vollkommenheit wirklich zu machen. Die Vollkommenheit jedes Dings, d. h. die Betätigung der ihm möglichen Formen, wohnt jedem inne wie ein dunkler seelischer Trieb, der durch Gottes Dasein unter Vermittlung des Fixsternhimmels und der Planetensphären mit ihren gleichfalls geistigen Bewegern realisiert wird, weshalb ARISTOTELES dann auch den Begriff der  Seele  aus dem des Zwecks bloß als eine Steigerung desselben abzuleiten imstande war.

Diesem aristotelischen Zweckbegriff und der aristotelischen Zweckbehauptung haben sich im Mittelalter AVERROES und THOMAS von AQUIN, die beiden nachwirkendsten Geister der Zeit für das Abendland, in allem Wesentlichen angeschlossen. Nach AVERROES ist jedes Letzte, welches edler (nobilius) ist als das Frühere, ein Zweck (9), der Zweck ist ein erstrebtes Gut (bonum) (10). Und zwar besteht dieser Zweck in der  Form,  wie bei ARISTOTELES (11). Auch die Beweise für die Objektivität des Zwecks in der Natur akzeptiert AVERROES. Den Schluß von der Kunst auf die Natur erläutert er so: wäre z. B. das Nasenbluten in gewissen Fällen kein Zweck der Natur zur Hervorbringung der Heilung, so würde man auch nicht sicher sein können, daß der Aderlaß eine Hilfe für die Natur bei Krankheiten ist (12). Sonst hat er nichts Eigentümliches, außer daß er die Wichtigkeit des Zweckbegriffes in  scientia divina  nachdrücklich betont; - - wenn der  divinus  (d. h. der, welcher über die letzte Ursache forscht) die Zwecklehre nicht zugesteht, so kann er nicht beweisen, daß Gott sich um die Dinge auf Erden kümmert (13), ein Satz, der offenbar von der mohammedanischen Gottesidee aus beeinflußt ist.

Das Bemerkenswerteste aus THOMAS' Kommentar zur Physik (14) ist: Merkmale des Zwecks sind  1)  Letztes,  2)  Bestes (ultimum et optimum), und zwar ist die Form, das vollendete wirksame Sein jedes Dings ansich der Zweck (15). Den Gedanken, daß die Kunst die Natur nachahmt, führt THOMAS so aus:
    "Darum sind die Naturdinge nachahmbar durch die Kunst, weil die ganze Natur von einem intellektiven Prinzip zu ihrem Zweck geordnet wird, daß also das Werk der Natur ein Werk der Intelligenz zu sein scheint, indem sie durch bestimmte Mittel zu bestimmten Zwecken fortgeht; was auch in ihrem Wirken die Kunst nachahmt." (16)
Sinnreich läßt sich THOMAS über die Verfehlungen des Zwecks in der Kunst und Natur aus. Er meint, wenn die Kunst nicht nach einem Zweck wirken würde, so wäre es, wie sie auch wirken mag, kein Fehler, weil das Wirken der Kunst sich in diesem Fall ja zu allem gleich verhielte. Gerade der Umstand also, daß in der Kunst Fehler vorkommen, ist ein Zeichen (signum) davon, daß die Kunst nach Zweckbegriffen verfährt. Ebenso sind aber auch die  monstra  gewissermaßen Naturfehler und ein Zeichen davon, daß die Natur nach Zweckbegriffen wirkt (17). Der Satz: "auch die Kunst beratschlagt nicht", erfährt folgende Ausführung:
    "Offenbar überlegt die Kunst nicht und der Künstler nicht, sofern er die Kunst hat, sondern soweit er von der Sicherheit der Kunst fern ist; daher überlegen die ganz sicheren Künste nicht, wie der Schreiber nicht überlegt, auf welche Weise er die Buchstaben gestalten soll; auch die Künstler, die überlegen, überlegen, sobald sie das sichere Prinzip der Kunst gefunden haben, bei der Ausführung nicht mehr. Wollte ein Zitterspieler bei der Berührung jeder Saite erst überlegen, so würde er für ganz unerfahren gelten. Hieraus erhellt sich, daß es einem Agens zukommen kann, nicht zu überlegen, nicht weil es nicht nach einem Zweck handelt, sondern weil es bestimmte Mittel hat, mit denen es handelt, die Natur überlegt eben deshalb nicht, weil sie bestimmte Mittel hat, mit denen sie handelt. Denn die Natur scheint von der Kunst nur darin verschieden, daß die Natur ein inneres, die Kunst aber ein äußeres Prinzip ist. - - Hieraus wird klar, daß die Natur nichts anderes ist als die Art und Weise (ratio) einer gewissen Kunst, nämlich der göttlichen, welche den Dingen eingepflanzt ist, wodurch die Dinge von selber (ipsae) sich zu dem bestimmten Zweck hin bewegen (moventur): etwa wie wenn der Künstler, der ein Schiff macht, den Hölzern mitteilen könnte, daß sie aus sich selbst heraus bewegen die Gestalt des Schiffes herbeizuführen." (18)
Auch bei THOMAS ist also am Begriff und der Behauptung des Zwecks nichts geändert, nur ist der Gottesbegriff ein anderer geworden, aber die hat bloß den Einfluß, daß die Gesamtansicht vom Zweck präziser wird, zum Begriff und zur Behauptung des Zwecks ist dadurch nichts hinzugekommen.

Auch im Beginn der neueren Philosophie wurde am Begriff des Zwecks nichts geändert, namentlich wurde der Gedanke, daß der Zweck ein Gut ist, festgehalten. Dies sieht man gerade daran, daß man zwar im Allgemeinen behauptet, es seien Zwecke in der Welt, aber sich nicht mehr getraut im Einzelnen zu sagen: das und das sind Zwecke; denn damit sagte man zugleich, es ist ein Gut, und zwar dasjenige, um dessentwillen das Ding überhaupt ist. Eben damit schien man aber, wie CARTESIUS es ausdrückt, sich zum Genossen der Ratschläge Gottes zu machen. CARTESIUS verbietet daher, jemals irgendwelche Beweisgründe betreffs der Naturdinge von einem Zweck herzunehmen, welchen sich Gott oder die Natur bei ihrer Hervorbringung gesetzt hat. Wir sollen vielmehr bloß Gott als wirkende Ursache von allem ansehen und aus seinen Attributen, die wir einigermaßen kennen, mit Hilfe des natürlichen Lichts betreffs der Sinnesdinge schließen (19).

Ähnlich hatte sich BACON zur Zwecklehre gestellt. Er bestreitet weder den Begriff noch dessen Objektivität, aber man sol in der Naturerklärung keinen Gebrauch von ihm machen.
    "Mit Recht stellt man den Satz auf, wahres Wissen ist kausales Wissen. Nicht übel ist auch die Aufstellung der vier Ursachen, der Materie, der Form, der wirkenden Ursache und des Zwecks. Aber von diesen vieren nützt die Zweckursache nicht nur nichts, sondern verdirbt vielmehr die Wissenschaften, außer was das menschliche Handeln betrifft." (20)
Den damit angedeuteten Grund ihrer Nichtbenutzung hat BACON weitläufiger dargelegt ins seiner anderen Hauptschrift.
    "Der zweite Teil der Metaphysik ist die Forschung nach Zweckursachen; diese ist (in der bisherigen Art des Wissenschaftsbetriebes) nicht vergessen, wohl aber falsch gestellt gewesen, denn man pflegt diese Forschung in der  Physik  zu treiben, nicht in der  Metaphysik ... Diese Verkehrung der Ordnung hat einen bemerkenswerten Mangel zur Folge gehabt und großes Unglück über die Philosophie gebracht, denn die Behandlung der Zweckursachen in der Physik hat die Forschung nach den physischen Ursachen vertrieben und weggebracht und gemacht, daß die Menschen sich mit solchen scheinbaren und nichtigen Ursachen beruhigten und die Forschung nach den wirklichen und wahrhaft pyshischen Ursachen nicht eifrigt trieben, zum ungeheuren Schaden der Wissenschaften."
Genannt werden als Beispiele nicht nur PLATO, sondern auch ARISTOTELES und GALEN. (21)

Der Begriff des Zweckes wurde so nicht geändert, auch die Objektivität der Zwecke in der Welt nicht geleugnet, es sollte für uns Menschen nur sicherer sein, sich an die wirkenden Ursachen zu halten. LEIBNIZ teilte diese Scheu im Gebrauch des Zweckbegriffes nicht. Er schreibt in einem Aufsatz von 1697 (22):
    "Aber, sagt man, in der Physik frägt man nicht, wozu die Dinge sind, sondern wie sie sind? Ich antworte: man frägt beides. Oft kann man nach dem Zweck besser über die Mittel urteilen. Außerdem kann man, um eine Maschine zu erklären, nicht besser tun, als ihren Zweck aufstellen und zeigen, wie alle ihre Stücke ihm dienen. Dies kann sogar dazu nützlich sein, den Ursprung der Absicht zu finden. Ich wünschte, daß man sich dieser Methode auch in der Medizin bedienen würde. Der Leib des Tieres ist eine zu gleicher Zeit hydraulische, pneumatische und pyrobolische Maschine, deren Zweck ist eine gewisse Bewegung zu unterhalten; indem man nun zeigt, was diesem Zweck dient und was ihm schadet, würde man sowohl Physiologie als auch Therapeutik kennen lehren. Man sieht so, daß die Zweckursachen in der Physik nicht bloß dazu dienen, die Weisheit Gottes zu bewundern, was die Hauptsache ist, sondern auch dazu, die Dinge zu erkennen und mit ihnen zu hantieren."
Der Stand der Frage. welchen KANT vorfand, war somit dieser. Im Zweckbegriff waren (siehe oben die Stellen aus  Baumgarten  und  Meier)  die konstituierenden Merkmale:
    1) daß er ein Letztes in einer zusammenhängenden Reihe ist,

    2) daß dieses Letzte ein Gut ist.
Daß es Zwecke in der Welt gibt, wurde meist behauptet, aber das einstige Vorwiegen des Zweckbegriffs in der Naturwissenschaft war längst zurückgetreten vor der kausalen Betrachtung, meist ohne daß darum die teleologische Auffassung geleugnet wurde; LEIBNIZ und seine Schule hatten die Vereinbarkeit beider Auffassungen ausdrücklich vertreten.

Was ist nun das Neue und Eigenümliche in der kantischen Behandlung des Zweckes? In der Kritik der Urteilskraft definiert KANT den Zweck als "den Begriff von einem Objekt, sofern er zugleich den Grund der Wirklichkeit dieses Objekts enthält" (23), oder als "die vorgestellte Wirkung, deren Vorstellung zugleich den Bestimmungsgrund der verständigen wirkenden Ursache zu ihrer Hervorbringung ist" (24). Das Merkmal des Guten ist hier weggelassen, tatsächlich geblieben ist, daß der Zweck ein Letztes ist, allerdings mit dem bestimmten Sinn: ein Letztes in der Wirklichkeit, das aber im Denken ein erstes war. Dieses Moment, daß der Zweck ursprünglich ein Gedachtes ist, hebt KANT sehr nachdrücklich hervor; in der aristotelischen Definition war dies infolge der ganz eigentümlichen Auffassung von Gott und der Welt weniger geschehen, aber vom Mittelalter an war bei einem veränderten Gottesbegriff dieses Moment immer mitverstanden worden, wie es dann bei BAUMGARTEN und MEIER deutlich vorhanden ist. Der Verstand gehört so sehr zum Zweckbegriff nach KANT, daß nach ihm eine ontologische Einheit der Dinge in der Welt á la SPINOZA noch keineswegs sofort eine Zweckeinheit ist und diese keineswegs begreiflich macht:
    "Die letztere ist nämlich eine ganz besondere Art derselben, die aus der Verknüpfung der Dinge (Weltwesen) in einem Subjekt (dem Urwesen) gar nicht folgt, sondern durchaus die Beziehung auf eine  Ursache,  die Verstand hat, bei sich führt, und selbst, wenn man alle diese Dinge in einem einfachen Subjekt vereinigen würde, doch niemals eine Zweckbeziehung darstellt, sofern man unter ihnen nicht  1)  innere  Wirkungen  der Substanz als einer  Ursache 2)  ebenderselben Ursache durch ihren  Verstand  denkt." (25)
In diesem Sinne von Zweck leitet die Erfahrung unsere Urteilskraft auf den Begriff einer objektiven und materialen Zweckmäßigkeit, d. h. auf den Begriff eines Zwecks der Natur nur alsdann, wenn ein Verhältnis der Ursache zur Wirkung zu beurteilen ist, welches wir als gesetzlich einzusehen uns nur dadurch vermögend finden, daß wir die Idee der Wirkung der Kausalität der Ursache als die dieser selbst zugrunde liegende Bedingung der Möglichkeit der ersteren unterlegen (26). Zu einem Ding als Naturzweck ist erforderlich
    1) daß die Teile (ihrem Dasein und der Form nach) nur durch ihre Beziehung auf das Ganze möglich sind;

    2) daß die Teile desselben sich dadurch zur Einheit eines Ganzen verbinden, daß sie voneinander wechselseitig Ursache und Wirkung ihrer Form nach sind (27).
Organisierte Wesen sind also die einzigen in der Natur, welche, wenn man sie auch für sich und ohne ein Verhältnis auf andere Dinge betrachtet, doch nur als Zwecke derselben möglich gedacht werden müssen (28). Indessen mehr als ein subjektives, selbst erdachtes Prinzip der Urteilskraft ist diese teleologische Annahme nie. Denn
    "wir können die Unmöglichkeit der Erzeugung der organisierten Naturprodukte durch den bloßen Mechanismus der Natur keineswegs beweisen, weil wir die unendliche Mannigfaltigkeit der besonderen Naturgesetze, die für uns zufällig sind, da sie nur empirisch erkannt werden, ihrem ersten inneren Grund nach nicht einsehen, und so das innere durchgängig zureichende Prinzip der Möglichkeit einer Natur (welches im Übersinnlichen liegt) schlechterdings nicht erreichen können." (29)

    "Daß aber, weil wir diese Dinge nur unter der Idee der Zwecke in ihrer Kausalverbindung verfolgen und diese nach ihrer Gesetzmäßigkeit erkennen können, wir auch berechtigt wären, eben dies auch für jedes denkende und erkennende Wesen als notwendige, mithin dem Objekt und nicht bloß unserem Subjekt anhängende Bedingung vorauszusetzen, das müßten wir hierbei (bei einer dogmatischen Aufstellung der Teleologie) unvermeidlich behaupten wollen. Aber mit einer solchen Behauptung kommen wir nicht durch. Denn da wir die Zwecke in der Natur als absichtliche eigentlich nicht  beobachten,  sondern nur in der Reflexion über ihre Produkte diesen Begriff als einen Leitfaden der Urteilskraft hinzu denken,  so sind sie uns nicht durch das Objekt gegeben. A priori aber ist es sogar für uns unmöglich, einen solchen Begriff, seiner objektiven Realität nach, als annehmungsfähig zu rechtfertigen." (30)
Wahrscheinlichkeiten aber fallen hier ganz weg, wo es auf Urteile der reinen Vernunft ankommt (31).

Da in den obigen Worten, daß "wir die Zwecke in der Natur als absichtliche eigentlich nicht  beobachten",  eine Kritik eines aristotelischen (als solchen freilich KANT gewiß unbekannten) Gedankens hervortritt, so mag auch erwähnt sein, daß die Mißgeburten gleichfalls KANT kein Zeichen für Teleologie sind, er sagt schlechthin, daß man dieselben unmöglich für Zwecke der Natur halten kann, und hat für versuchte andere Ausdeutungen bloß Spott übrig (32).

Außer daß diese Teleologie immer ein selbstgemachtes Prinzip der Urteilskraft bleibt, führt sie nach KANT aber auch zu keinem bestimmten Begriff eines Wesens, dessen Verstand dabei als Grund der Zweckmäßigkeit angenommen wird. Man kommt mit ihr nur zu einem  Kunstverstand  für zerstreute Zwecke (33); es bleibt unausgemacht, ob jene oberste Ursache ... nicht durch einen von der bloßen Notwendigkeit seiner Natur zur Hervorbringung gewisser Formen bestimmten Verstand (nach Analogie mit dem, was wir bei den Tieren Kunstinstinkt nennen) Urgrund derselben ist; (34) die physische Teleologie, wenn sie - konsequent verfahren sollte, könnte für sich allein nichts als eine  Dämonologie  begründen, welche keines bestimmten Begriffs fähig ist (35).

Von einem Zweck in diesem Sinne mit dem bloßen Merkmal: Letztes in der Sache, Erstes im Denken, unterscheidet KANT aber noch den Endzweck. Er sagt:
    "Die vorgestellte Wirkung, deren Vorstellung zugleich der Bestimmungsgrund der verständigen wirkenden Ursache zu ihrer Hervorbringung ist, heißt Zweck. In diesem Fall also kann man entweder sagen: der Zweck der Existenz eines solchen Naturwesens ist in ihm selber; d. h. es ist nicht bloß ein Zweck, sondern auch ein  Endzweck;  oder dieser ist außer ihm in anderen Naturwesen, d. h. es existiert zweckmäßig nicht als Endzweck, sondern notwendig zugleich als Mittel." (36)
Bei der folgenden Betrachtung der Pflanzen und Tiere in Bezug auf ihr Verhältnis als Zweck und Mittel kommt dann in dem Satz (37): "Endlich ist die Frage, wozu sind diese samt den vorigen Naturreichen gut?" das Merkmal  gut  vor, aber als ein Merkmal des  Endzwecks  oder des letzten Zwecks. Für den Endzweck wird nicht bloß Kunstverstand gefordert, als zu welchem die physische Teleologie hinführt, sondern  Weisheit.  (38) Der Endzweck steht so über dem Zweck.
    "Da einmal ein Verstand gedacht wird, der als die Ursache der Möglichkeit solcher Formen angesehen werden muß, wie sie wirklich an Dingen gefunden werden, so muß auch in eben demselben nach dem objektiven Grund gefragt werden, der diesen produktiven Verstand zu einer Wirkung dieser Art bestimmt haben könnte, welcher dann der Endzweck ist, wozu dergleichen Dinge da sind." (39)
Ganz bestimmt wird der Unterschied von Zweck und Endzweck auseinandergesetzt.
    "Ein Ding seiner inneren Form halber als Naturzweck beurteilen ist ganz etwas anderes, als die Existenz dieses Dings für einen Zweck der Natur zu halten. Zur letzteren Behauptung bedürfen wir nicht bloß den Begriff von einem möglichen Zweck, sondern die Erkenntnis des Endzwecks (scopus) der Natur, welches eine Beziehung derselben auf etwas Übersinnliches bedarf, die alle unsere teleologische Naturerkenntnis weit übersteigt; denn der Zweck der Natur selbst muß über die Natur hinaus gesucht werden." (40)
Eine  solche  Unterscheidung zwischen Zweck und Endzweck war früher nicht gemacht worden. Noch BAUMGARTEN (41) erklärt in der alten aristotelischen Weise:
    "Der Zweck, dem alle übrigen untergeordnet sind, ist der  Endzweck  (finis primus, ultimus, scopus), und er ist entweder schlechterdings der erste oder nur der erste in einer gewissen Reihe der Zwecke."
Als jenen Endzweck oder letzten Zweck der Schöpfung hier auf Erden ist KANT zufolge die Vernunft geneigt, den Menschen zu denken, weil er das einzige Wesen auf derselben ist, welches sich einen Begriff von Zwecken machen und aus einem Aggregat von zweckmäßig gebildeten Dingen durch seine Vernunft ein System der Zwecke machen kann (42). Allein hier scheint, wiederum nach KANT, die Erfahrung der Vernunftmaxime laut zu widersprechen, ... da in Anbetracht des Menschen als einer der vielen Tiergattungen die Natur so wenig von den zerstörenden wie auch erzeugenden Kräften die mindeste Ausnahme gemacht hat, alles einem Mechanismus derselben ohne einen Zweck zu unterwerfen (43). Die physischen Zwecke sind daher nach KANT unzureichend. Den wozu sind (fragt die Vernunft) alle jene künstlichen Naturdinge; wozu der Mensch selbst, bei dem wir als beim letzten für uns denkbaren Zweck der Natur stehen bleiben müssen; wozu ist diese gesamte Natur da, und was ist der Endzweck so großer und mannigfaltiger Kunst? Zum Genießen, oder zum Anschauen, Betrachten und Bewundern (welches, wenn es dabei bleibt, auch nichts weiter als ein Genuß von besonderer Art ist) als dem letzten Endzweck, warum die Welt und der Mensch selbst da ist, geschaffen zu sein, kann die Vernunft nicht befriedigen; diese setzt einen persönlichen Wert, den allein der Mensch sich geben kann, als Bedingung, unter welcher allein er und sein Dasein Endzweck sein kann, voraus (44). Der Endzweck der Welt ist daher ein moralischer, denn bei diesem ist Weisheit. (45)

In dieser Lehre ist der eigentümlichste Punkt der, daß KANT zwischen Endzweck und Zweck so unterscheidet, daß er im Begriff des Zwecks das bisher übliche Merkmal des Guten wegläßt.  Zweck  ist ihm wesentlich soviel wie ein Ganzes, das man sich nicht anders verständlich machen kann, als daß man annimmt, es ist zuerst gedacht worden, ehe es realisiert wurde. Hatte KANT zu dieser Fassung des Zweckbegriffs Vorbereitungen? Solche Vorbereitungen finden sich im Begriff der Vollkommenheit, wie er in der neueren Philosophie lang bestimmt worden war und wie er ihm durch die WOLFFsche Schule dargereicht wurde. BAUMGARTEN erklärt: Wenn viele Sachen zusammengenommen den hinreichenden Grund von  Einem  enthalten, so stimmen sie zu diesem Einen zusammen (consentiunt). Die Zusammenstimmung selbst ist die Vollkommenheit (46). Die Zusammenstimmung der innerlichen Bestimmungen eines Dings ist die  innerliche Vollkommenheit  (47). Aus dieser Vollkommenheit resultiert die Schönheit:
    "Die Vollkommenheit, insofern sie eine Erscheinung ist oder sofern sie durch den Geschmack in der weiteren Bedeutung bemerkt werden kann, ist die Schönheit (pulchritudo)." (48)
Ebenso besteht nach MEIER die Vollkommenheit eines Dings in der Zusammenstimmung seiner Bestimmungen zu einer Realität (49). Diese Vollkommenheit unterscheidet MEIER nur noch so vom Zweck, daß er meint, ein Zweck beziehe sich bloß auf die Zusammenstimmung des Mannigfaltigen bei wirklichen Dingen, dagegen "haben auch Dinge eine Vollkommenheit, die bloß möglich sind", aber er gibt vorher ausdrücklich an: "manche erklären die Vollkommenheit durch die Zusammenstimmung des Mannigfaltigen in einer Sache zu ihrem Zweck." (50) Dieser Begriff von Vollkommenheit geht auf LEIBNIZ zurück, für welchen bekanntlich die  ratio optimi  bei der Welt ist: größte Mannigfaltigkeit bei der höchsten Ordnung. Auch für CARTESIUS war Vollkommenheit faktisch so viel wie Zusammenstimmung von Vielem zu Einem (51). Da man jedoch bei KANT zur Erklärung seiner Gedankenbildung nicht bloß auf die LEIBNIZ-WOLFFsche Schule stets zurückgehen muß, sondern auch auf NEWTON, so sei erwähnt, daß nach NEWTON die Übereinstimmung der Bewegungen der Planeten eine verständige Ursache voraussetzt (52), ein Gedanke, der durch KANTs "Naturgeschichte des Himmels" nicht aufgehoben, sondern auf die elementare Konstitution der Materie übertragen ist. In eben demselben Sinn hatte NEWTON auf die Übereinstimmung in den Tierkörpern hingewiesen. (53)

Da nach KANT die Organismen uns den Begriff der Naturzwecke aufdrängen und in diesen das Hervorstechendste ist eine keineswegs selbstverständliche Zusammenstimmung der Teile zu einem Ganzen, so liegt es zutage, daß sein Begriff des Zweckes im Unterschied vom Endzweck vorbereitet war durch die Fassung der Vollkommeheit = Zusammenstimmung von Vielem zu Einem. Ein Unterschied ist aber der, daß den Vorgängern eine Zusammenstimmung von Vielem zu Einem nicht bloß eine Vollkommenheit war, sondern auch ein Gut. Nach BAUMGARTEN sind alle Dinge wesentlich vollkommen, weil die wesentlichen Stücke eines jeden Dings zusammenstimmen zu seinem Wesen und zu den Eigenschaften (54); eben damit sind auch alle Dinge wesentlich gut; denn Dasjenige was so beschaffen ist, daß, wenn es gesetzt wird, zugleich eine Vollkommenheit gesetzt wird, ist  gut  (55). KANT hat sich diese Wendung nicht angeeignet; denn sonst müßte er in seinem Begriff vom  Zweck  das Merkmal des Guten mit aufgenommen haben.

Im Grund ist also Zweck bei KANT soviel wie Einheit eines Mannigfaltigen, sofern sie nicht selbstverständlich ist. In der Tat hat KANT das Zusammentreffen der Wahrnehmungen mit den Kategorien nicht unter den Begriff der Zweckmäßigkeit gestellt, weil der Verstand damit unabsichtlich nach seiner Natur notwendig verfährt (56). Dagegen die empirischen (d. h. die nicht schon durch den reinen Verstand gegebenen) Gesetze der Natur so vorstellen, als ob ein Verstand den Grund der Einheit des Mannigfaltigen derselben enthält, ist nach ihm genau der Begriff der Zweckmäßigkeit der Natur (57). Daß die Bewährung dieser Maxime der Urteilskraft im einzelnen Fall mit Lust, ja mit Bewunderung in uns verbunden ist, hat er hervorgehoben (58), auch die Beziehung dieser Zweckmäßigkeit auf unsere Erkenntnisvermögen, "um (ihnen) ein System der Erfahrung nach besonderen Naturgesetzen möglich zu machen", ausdrücklich in den allgemeinen Ansatz aufgenommen (59), aber das Merkmal des Guten, das doch wohl hierin angedeutet liegt, immer wieder fallen lassen.

Daß KANT das Organische zum Ausgangspunkt seiner Lehre vom Naturzweck machte, ist leicht abzuleiten. In den Organismen ist die Zusammenstimmung des Mannigfaltigen evident, nun beruth nach KANT die ganze Schwierigkeit, welche die Frage wegen der ersten Erzeugung eines in sich selbst Zwecke enthaltenden und durch sie allein begreiflichen Dings umgibt, auf der Nachfrage nach einer Einheit des Grundes der Verbindung des in sich  getrennten  Mannigfaltigen in diesem Produkt. (60) Die Materie ist ein Aggregat vieler getrennter Substanzen, in ihr kann also die Ursache der zweckmäßigen Form nicht liegen (61); die Möglichkeit einer lebenden Materie (deren Begriff einen Widerspruch enthält, weil Leblosigkeit,  inertia  [Reglosigkeit - wp], den wesentlichen Teil derselben ausmacht) läßt sich nicht einmal denken (62). KANT fußt somit auf seinem Begriff der Materie, wie er ihn in den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaften bestimmt hatte, wonach die Materie eine äußere Erscheinung im Raum ist und näher das Beweglich im Raum, das, was einen Raum erfüllt und durch seine Bewegung eine bewegende Kraft auf etwas anderes Bewegliches äußert. Aus dem Begriff der Materie läßt sich also der Grund der Einheit des Organismus nicht einsehen. Aber noch mehr. Ein organisiertes Wesen ist nach KANT nicht bloß Maschine; denn die hat lediglich eine  bewegende  Kraft, sondern es besitzt in sich  bildende  Kraft, und zwar eine solche, die es den Materien mitteilt, welche sie nicht haben (sie organisiert); also ein sich fortpflanzende bildende Kraft, welche durch das Bewegungsvermögen allein (den Mechanismus) nicht erklärt werden kann (63).
    "Nur soviel sieht man aber vollständig ein, als man nach Begriffe selbst machen und zustande bringen kann. Organisation aber als innerer Zweck der Natur übersteigt unendlich alles Vermögen einer ähnlichen Darstellung durch Kunst." (64)

    "Ich kann daher ... über die Möglichkeit jener Dinge und ihrer Erzeugung nicht anders urteilen, als wenn ich mir zu dieser eine Ursache, die nach Absichten wirkt, mithin ein Wesen denke, welches nach der Analogie mit der Kausalität eines Verstandes produktiv ist." (65)
Daß aber diese Auffassung immer nur eine subjektive Annahme bleibt, nie eine dogmatische Bestimmung werden kann, folgt für KANT daraus, daß der Begriff eines solchen Urgrundes der Natur zwar ohne Widerspruch gedacht, aber ihm eine objektive Realität durchaus nicht gesichert werden kann, da er nicht aus der Erfahrung gezogen werden kann, auch zur Möglichkeit derselben nicht erforderlich ist (66). Wozu noch kommt, daß nach KANTs Auffassung unsere Erkenntnis der Natur bloß eine von Erscheinungen ist, also nicht ausgeschlossen werden darf, daß im Ding-ansich ein Zusammenfallen von Mechanismus und Teleologie möglich ist, welche uns in den Erscheinungen nicht möglich scheint. Freilich ist nicht abzusehen, wie auch nur für die Erscheinungen des Organischen die Annahme eines Verstandes genügt; denn die bildende Kraft, welche KANT dem Organischen beilegt, geht weit über die bloße Zusammenfügung von an sich getrennt befindlichen beweglichen Teilen zu einem Ganzen nach einer leitenden Idee hinaus. KANT mußte mehr als bloßen Verstand annehmen, um die Organismen zu erklären, er mußte durch denselben ganz neue Kräfte der Materie einfügen lassen (67); oder aber seinen Begriff der Materie zumindest teilweise ändern, was aber, da derselbe ein Produkt seiner transzendentalen Ästhetik und Analytik ist, so viel hieß, als seine ganze Philosophie ändern.

Unsere letzte Frage ist: Hat KANT mit der Änderung wohlgetan, daß er aus dem Zweckbegriff das Merkmal des Guten strich und dasselbe bloß für den Endzweck im Unterschied vom Zweck reservierte? Das Eigentümliche seines Zweckbegriffs ist dessen bloße Intellektualität: Zweck ist, was als Ganzes aus Teilen so besteht, daß man der Vorstellung nicht entraten kann, das Ganze mußte zuerst gedacht sein und die Teile dann in Beziehung auf dieses Ganze zusammengebracht. Er selbst denkt von dieser Intellektualität nicht groß, er vergleicht sie mit dem Kunstverstand oder den Kunstinstinkten der Tiere. Es ist das frelich eine Erläuterung  per obscuris  [durch Unklarheit - wp], da wir von diesen Kunsttrieben kaum eine klare Vorstellung haben. Suchen wir daher eine  menschliche  Analogie zum kantischen Gedanken. Da Wertbestimmungen ausgeschlossen sein sollen und doch das Denken der Realisierung voraufgehen soll, so würde die beste Analogie das sogenannte Handeln nach fixen Ideen, daß also der Gedanke von etwas auftaucht und (angeblich zumindest) ohne alle Einmischung von Wertgefühlen durch eine Zusammenordnung von Bewegungen seine Realisierung vollzogen wird. Hier ist, so viel sich das konstruieren läßt, bloße Intellektualität vorhergehend und eine Mannigfaltigkeit, die zur Einheit tendiert, daraus folgend. Aber wird für diesen ganzen Vorgang noch jemand das Wort  Zweck  anwenden? Über Wortgebrauch läßt sich schwer streiten, ich glaube aber, es wird dem Bewußtsein der Menschheit widerstreben, von einem Zweck zu reden, wo nicht Wertbestimmungen als Grund gedacht sind, derentwegen Gedanken realisiert werden. Es wäre also wohl deutlicher gewesen, wenn KANT gesagt hätte: es gibt Tatsachen in der Natur, welche uns den Gedanken aufdrängen, daß sie nicht anders zustande gekommen sind, als so, daß eine Intelligenz das Ganze zuerst dachte und dann die Teile, welche das Ganze realisieren, in Beziehung auf dasselbe zusammenordnet, aber - und das ist die Hauptsache, auf die er ja eigentlich hinauswollte - eine solche Intelligenz würde an und für sich noch durchaus nicht als Weisheit zu denken sein. Was also KANT erstrebt hat, war die Unterscheidung, daß Intelligenz der Natur zugrunde legen und ihr Weisheit zugrunde legen gar nicht identisch ist, denn Weisheit schließt den Begriff von schlechthin zuz billigenden Endzwecken ein (68).

Warum hat aber gerade KANT eine solche Unterscheidung gemacht? Solange Intelligenz überhaupt als ein Gut erschien, solange war alles, was auf einen intelligenten Urheber deutet, nicht bloß ein Gut, weil es Erkennungsmerkmal eines Gutes war, sondern sofern seine Auffassung auch den Gesetzen unserer Intelligenz gemäß war, indem bei ihr Mannigfaltiges in Einheit verknüpft wurde, war es zugleich ein Gut für uns, mochte es auch in sich selbst nicht von seiner Güte = Intelligibilität verspüren; Mannigfaltigkeit zur Einheit stimmend ergab daher einen logischen Wert, wo die Beziehung deutlich war, einen ästhetischen, wo sie verworren war. Für KANT ist aber Intelligenz und Intelligibililität an und für sich noch kein Gut. Daran ist unzweifelhaft das Richtige, daß man sich Intelligenz und Intelligibilität denken kann, welche dabei durch und durch schlecht ist und im Dienst des Schlechten arbeitet; den Teufel hat sich der Volksglaube oft genug so gedacht. Dieses Gedankens hat sich bekanntlich der Pessimismus bemächtigt, um, indem er eine durchgängige Teleologie behauptet, doch diese Welt als die schlechteste unter den denkbaren hinzustellen, ein Unternehmen freilich, das KANT ebensowenig für ausführbar und ausgeführt halten würde, wie er diese Versuche für den Optimismus gelten ließ. Den aristotelischen und lange nachwirkenden Gedanken aber, daß das aktuelle Sein der Dinge als solches ein Gut ist, hat KANT in seinen Erwägungen über den Endzweck (Werke V, Seite 491/92) gar nicht einmal angeführt, offenbar weil ihm der Begriff  Gut  nur anfängt, wo Werte gefühlt werden können (Ibid. Seite 440).

Das Resultat unserer geschichtlichen und kritischen Betrachtungen würde also sein: Es gibt eine doppelte Finalität, eine, welche bloß soviel ist wie: es ist etwas gedacht worden, ehe es so, wie es ist, wirklich wurde, und eine andere, welche bedeutet: es ist etwas nicht bloß gedacht worden vor seiner Wirklichmachung, sondern dieser Gedanke ist auch allein um seines Wertes willen verwirklicht worden. Man könnte den Satz dahin erweitern, daß man sagte: es gibt eine doppelte Vorstellung von einer Rationalität der Welt, eine, welche bloß so viel ist, wie, daß die Dinge vergleichbar sind und überhaupt der Subsumtion fähig, was immerhin den Gedanken hervortreiben mag, sie seien durch eine Intelligenz ursprünglich gedacht worden (z. B. THOMAS von AQUIN), oder sie gingen von einer Intelligenz aus und strebten zur ihr zurück (HEGEL). Daneben würde man aber Rationalität noch in einem anderen Sinne verstehen müssen, in dem der Weisheit als = Intellektualität + Finalität im obigen zweiten Sinn. Es ist freilich damit die Aufgabe, die Welt als vernünftig zu begreifen, sehr viel schwerer geworden; es wird daher gut sein, dieser Schwierigkeit bei solchen Versuchen immer eingedenk zu sein, man wird dann zumindest das  punctum quaestionis  [worum es geht - wp] eher festhalten.
LITERATUR - Julius Baumann, Historische und kritische Bemerkungen zum Zweckbegriff, Philosophische Monatshefte, Bd. 16, Leipzig 1880
    Anmerkungen
    1) ALEXANDER BAUMGARTEN, Metaphysik (deutsch), Halle 1783, § 242
    2) GEORG FRIEDRICH MEIER, Metaphysik, 1765, § 266
    3) ARISTOTELES, Physik II c. 2 und c. 3
    4) ARISTOTELES, a. a. O., c. 7
    5) ARISTOTELES, a. a. O., c. 8
    6) Ibid.
    7) Ibid.
    8) Ibid.
    9) ARISTOTELES - de physica auditu cum Averrois - commentariis, Venetiis apud Juntas MDL, Seite 28 und 23.
    10) Ibid. Seite 29, 31
    11) Ibid. Seite 36, 74
    12) Ibid. Seite 37, 79
    13) Ibid. Seite 36, 75
    14) Thomae Aquinatis opera omnia, Parmae MDCCCLXV, Tom. 18
    15) Ibid. Seite 268
    16) Ibid. Seite 268
    17) Ibid. Seite 289
    18) Ibid. Seite 289
    19) CARTESIUS, Princc. Philos. I art. 28
    20) FRANCIS BACON, Novum organon L. II Aphor. II.
    21) FRANCIS BACON, De augm. scient. L. III c. IV.
    22) Bei ERDMANN, Leibnitii opera philosophica, Seite 143f
    23) KANT, Kritik der Urteilskraft, Werke, Bd. V (Ausgabe Hartenstein) Seite 187
    24) KANT, Werke V, Seite 439
    25) Ibid. Seite 406
    26) Ibid. Seite 378-79
    27) Ibid. Seite 385
    28) Ibid. Seite 388
    29) Ibid. Seite 400
    30) Ibid. Seite 412
    31) Ibid. Seite 413
    32) Ibid. Seite 437
    33) Ibid. Seite 454
    34) Ibid. Seite 455
    35) Ibid. Seite 458
    36) Ibid. Seite 439
    37) Ibid. Seite 440
    38) Ibid. Seite 454
    39) Ibid. Seite 448
    40) Ibid. Seite 390/91
    41) BAUMGARTEN, a. a. O., § 244
    42) KANT, Werke V, Seite 440
    43) Ibid. Seite 440
    44) Ibid. Seite 491/92
    45) Ibid. Seite 492
    46) BAUMGARTEN, a. a. O., § 73
    47) Ibid. § 77
    48) Ibid. § 488
    49) Ibid. § 98
    50) Ibid. § 94
    51) LEIBNIZ, De meth. c. II init.
    52) NEWTON, Philos. nat. Prr. math. ed. 2 Cantabrigiae 1713, Seite 482 schol. gen.
    53) NEWTON, Lausannae et Genevae 1714, Seite 237
    54) BAUMGARTEN, a. a. O., § 78
    55) Ibid. § 79
    56) KANT, Kritik der Urteilskraft, Werke V (Hartenstein Ausgabe) Seite 193-94
    57) Ibid. Seite 187
    58) Ibid. Seite 194
    59) Ibid. Seite 186
    60) Ibid. Seite 434
    61) Ibid. Seite 434
    62) Ibid. Seite 407
    63) Ibid. Seite 386/87
    64) Ibid. Seite 396
    65) Ibid. Seite 410
    66) Ibid. Seite 409
    67) siehe die eben angeführte Stelle Seite 386/87
    68) Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der  Theodizee  (Werke VI, Hartenstein, Seite 78, Anm.): "Der eigentümliche Begriff einer Weisheit stellt nur die Eigenschaft des Willens vor zum höchsten Gut als Endzweck aller Dinge zusammenzustimmen, dagegen  Kunst  nur das Vermögen im Gebrauch der tauglichsten Mittel zu  beliebigen Zwecken."  In derselben Anmerkung -  ein  Jahr nach der "Urteilskraft" - hat KANT nichts dagegen, den Kunst verstand,  welchen allein er dort aus den organischen Wesen ableiten wollte, in eine Kunst weisheit  zu verwandeln, aber einen Schluß auf moralische  Weisheit  will er damit auch jetzt nicht zulassen.