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MAX SCHNEIDER
Die erkenntnistheoretischen Grundlagen
in Rickerts Lehre von der Transzendenz

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"Wer freilich sagt, dieser Sachverhalt des Wertes oder des Sollens oder des Geltens sei ein Gegenstand, der muß bedenken, daß ein Gegenstand immer schon etwas Seiendes ist. Wer nun jenen Phänomenen Transzendenz verleiht, und zwar eine Transzendenz, die nichts mit dem Sein zu tun haben soll, der widerspricht sich selbst; denn er treibt damit das Phänomen aus dem Reich des Phänomenologischen, innerhalb dessen es noch einen Sinn hatte, von etwas zu sprechen, was es nicht gibt. Transzendenz heißt aber doch gerade: es gibt etwas. Und was es gibt, das muß sein."

"Das Bewußtsein unserer Ohnmacht gegenüber dem, was sein soll, fordert also ... eine objektiv gute oder heilige Realität ... Unserem wissenschaftlichen Begreifen ist eine solche Realität absolut unzugänglich. Nur durch unser Gewissen, das uns zu handeln befiehlt, und durch das Bewußtsein, daß wir gut allein wollen, nicht auch handeln können, ist hier etwas gefordert, das wir nie zu erkennen vermögen ... So wird auch der Sinn alles Erkennens von der Überzeugung abhängig, die nicht nur über alles Logische, sondern auch über alles Ethische hinausgeht. Die Welt ist so eingerichtet, daß in ihr das Ziel des Erkennens, die Wissenschaft, verwirklicht werden kann."


Die metaphysische Tendenz

Nur dieses durfte RICKERT sagen: daß der Begriff der Tranzendenz, je nach dem Standpunkt, von dem aus sein Inhalt betrachtet wird, verschiedenen Umfang haben kann. Ebenso wie RICKERT glaube auch ich von Transzendentem sprechen zu dürfen, verstehen aber doch etwas ganz anderes darunter. Um mich von Begriffsverwechslungen frei zu halten, um besonders nicht RICKERTs Begriff der Transzendenz mit demjenigen KANTs zu vermischen, will ich künftig in Zweifelsfällen das bisher transzendent genannte als "transsubjektiv" bezeichnen (vgl. VolkED 42). Transsubjektiv ist also das vom Bewußtsein Unabhängige; das Nicht-Immanente. Das Transzendente RICKERTs wird dann zu einem transsubjektiven Sollen, das Transzendente in unserem Sinn zu einem transsubjektiven Sein.

An jener transsubjektiven Norm, dem Wert des Sollens, haben wir jetzt formal-logische, psychologische, konszientialistische und ethische Züge gesehen. Nur ein habe ich bis jetzt unberücksichtigt gelassen: welche Bestimmtheiten das Sollen hat, um transsubjektiv sein zu können. Machen wir uns also noch einmal klar, wir RICKERT auf die Transsubjektivität seines Sollens kam. Der Begriff der Transzendenz ist der Begriff des Seins, von dem die Bestimmung, Bewußtseinsinhalt zu sein, verneint wird (Gs 35). Wenn es also etwas Transzendentes gibt, verdankt es seine Existenz der Ungleichgung: Sein ≠ Bewußtsein, wobei im Wort "Sein" der Ton nicht auf "Gegebenheitsweise des Seins" ruhen soll, sondern wo es soviel bedeuten soll wie: alles Mögliche, oder alles Denkbare. Das Transzendente ist der Rest, welcher bleibt, sobald vom Sein (allem Möglichen) die Immanenz abgezogen wird. Es ist nicht Objekt; dem psychologischen Subjekt steht nur ein immantes Sein, und zwar jeder Körper mit Einschluß des eigenen und jedes fremde, geistige Individuum gegenüber (Gs 26). Erscheint die gesuchte Differenz, nämlich der Transzendenzbegriff als Gedanke der Verneinung (Gs 34), vorläufig als nicht mehr als eine negative Größe, so bedeutet dieser Umstand nur, daß ihre positien Bestimmungen nicht der gegebenen Welt entnommen sein können (Gs 32). Raum und Zeit gelten in ihrem Reich nicht (Gs 33). Geschehen und Veränderung sind ihr fremd (Gs 32). Vorstellbar ist sie also nicht (Gs 35). Demnach könnte sie im Fall, daß sie existiert, nur erschlossen sein (Gs 36). Für die Transsubjektivität einer Wirklichkeit, das ist einer bestimmten Anordnung von Tatsachen (Gs 194), läßt sich ein gültiger Beweis nicht erbringen (Gs 36, 47). Vor allem kann es die Naturwissenschaft nicht unternehmen, für die Existenz eines Transsubjektiven einzutreten, ist sie doch selbst erst von einer realistishen Voraussetzung ausgeganen (Gs 47, 49). (vgl. auch HUSSERL Jahrbuch 47). Nicht einmal das Kausalitätsprinzip kann die Annahme einer transsubjektiven Welt erfassen; setzt es doch die Seinsgleichartigkeit von Ursache und Wirkung voraus (Gs 47). Dennoch kann nicht geleugnet werden, daß alle Bewußtseinsinhalte, alle "Tatsachen" (nicht die methodologischen Formen Gs 226) über sich hinaus "ins Transzendente weisen" (Gs 131; Zw 188). "Es gibt überhaupt keine Möglichkeit, das Transzendente in jeder Hinsicht zu leugnen" (Gs 157). Zweierlei kann von seinem Wesen vorausgesagt werden: einmal muß es als Transsubjektives unabhängig vom Bewußtsein überhaupt, vom Subjekt, sein (Gs 200), gleichviel, ob irgendein erkennendes Subjekt etwas davon fühlt oder es anerkennt (Gs 125); Log I 12); zum andern muß es eine Form sein; denn nur mit der Bestimmung von solche Gegenständen, die weder als immanente noch als transzendente Realitäten gedacht werden (vgl. auch Gs 202) können, hat es die Erkenntnistheorie zu tun. (NB. Vgl. im Gegensatz dazu SCHLUNKE 44, 58. Er übersieht, daß ein Transzendentes gar kein Bewußtsein zu sein braucht. Nach RICKERT soll es überhaupt ohne die Bestimmung irgendeines Seins existiereen: es soll eben nur gelten. Das Transzendente liegt in keinem "aufzuzeigenden Bewußtsein".) - Da sich das Transsubjektive nun im Gefühl der Notwendigkeit ankündigt, so muß es eigentlich die Form dieses Gefühls sein. Es ist nichts anderes, als das transzendente Sollen, das als Norm für alle Erkenntnisurteile gilt (Gs 137f, 211; Gr 213) und dessen absoluter Wert in allen Erkenntnisurteilen allgemein anerkannt wird.


2. Gründe für diese Bestimmtheiten

Drei Wesensbestimmungen trägt also das Transsubjektive: es ist ein Sollen, ein Wert, und es besitzt zeitlose (Gesch 132; Zw 197) Geltung. (Gs 165, 88, 235; Log VI 304, 314) Nur nebenbei weise ich nochmals darauf hin, daß in den beiden ersten Bestimmungen RICKERTs ganz erkenntnistheoretischer Zirkel enthalten ist: das Sollen, welches einmal eine logische Bedingung für die Notwendigkeit der Urteile war, ist dasselbe, das als ein Wert von denselben Urteilen anerkannt wird; ein Kreislauf der Selbstanerkennung, der an SPINOZAs amor intellectualis dei [geistige Liebe zu Gott - wp] erinnert.

Ebenso habe ich schon die Frage beantwortet, ob es von einem logisch-transzendentalen Standpunkt aus möglich ist, den Gegenstand der Erkenntnis zu finden. Ich mußte es verneinen - und werde es für die Auffindung des Transsubjektiven noch besonders hervorzuheben haben, - da ich nicht einsehen kann, wie aus bloßen Formen synthetische Urteile gebildet werden können. Die Erkenntnis eines Transsubjektiven ist aber eine Synthese.

Da RICKERT aber von der Transzendenz des Sollens überzeugt ist, so erhalten wir nunmehr auch eine Antwort auf meine Frage: an welcher Stelle von RICKERTs System der Zwang, die unbedingte Notwendigkeit der Erkenntnis des Wahren, untergebracht worden sind. Eben im "Sollen": denn es ist ein unbedingtes Sollen, ein absoluter Wert. Wer paradoxe Ausdrücke liebt, könnte sagen: es ist ein gemußtes Sollen. Tatsächlich enthält RICKERTs Sollen in seiner Unbedingtheit und Absolutheit ein Müssen.

Drei Gründe haben RICKERT bestimmt, den Wert des Sollens zur Absoltuheit zu erheben; die Gründe scheinen den drei zuerst genannten Tendenzen zu entsprechen. Zunächst folgt der Begriff der Transzendenz aus demjenigen der Erkenntnis: daß es nämlich einen vom Bewußtsein unabhängigen Gegenstand der Erkenntnis gibt. Neben diesem formalen Grund war es das Gefühl der Notwendigkeit, welches ihn zur Setzung einer transzendenten Norm trieb. Einen dritten, mehr versteckten Grund zur Transzendentierung des Sollens, sehe ich in seinem Glauben an den "Sinn". (Gs 78, 88, 96f, 114f, 132, 137, 170, 173f, 156, 176f, 235; Gesch 78; Gr 54, 523, 584, 611; Log I 19f; Log III 237; Log IV; Zw 190: "Mit diesem Sinn haben wir ein Mittelreich zwischen dem psychischen Sein und dem transzendenten Gegenstand geschaffen" (- das Analogon zur Erscheinung im phänomenalistischen Kritizismus). "Dieser Sinn ist in der Tat eine "andere" Welt als die empirische Wirklichkeit" (Zw 202). Vgl. auch Log I, 19f: "Das dritte Reich als das des Sinnes". Gr 519: "...Mittelstellung zwischen dem Wirklichen überhaupt und den bloß formalen oder reinen Werten".
    "Das Reich des Sinnes steht insofern geradezu in einem Gegensatz zum psychischen Sein, als es niemals wie der seelische Vorgang nur einzelnen Individuen angehört, sondern von vielen gemeinsam erlebt und insofern auch allgemein genannt werden kann."
- (NB. Die "Allgemeinheit" ist aber doch nur eine Forderung! und diese Forderung ist keine andere, als wenn ich die Allgemeinheit von Sinneswahrnehmungen postuliere, weil ich etwa außer mir eine Menge anderer Leute im Konzertsaal sitzen sehen.)

Im Urteil steckt mehr, als dem Urteilenden zu Bewußtsein kommt. Das Urteil enthält nicht nur die bloßen Beziehungen auf die mit Worten bezeichneten Dinge: es enthält noch etwas Gemeintes. Nur wer darauf achte, was die Sätze "bedeuten", der erfaßt ihren innersten Gehalt, ihren Sinn. Nachdrücklich weist RICKERT darauf hin, daß von einem Zusammenfallen des Sinns mit dem idealen Sein nicht die Rede sein kann (Zw. 201). "Nur die Wortbedeutungen, die der Sinn enthält", "liegen" "in der Sphäre des idealen Seins". (Zw 202) Der Sinn der Urteilens aber ist das Bejahen und Verneinen (Gs 101) d. h. ein Anerkennen. Anerkennen kann man nur Werte. (Vgl. auch Gs 144). So muß das Wollen eine Wert sein.

Beinahe scheint es, als ob im Bestreben, den letzten Sinn der Dinge, "den noematishen Gegenstand im wie" (HUSSERL, Jahrbuch 272) zu erfassen, eine geistige Zeitströmung zum Ausdruck käme. Ich denke an die symbolistischen Kunstrichtungen in Dichtung und Malerei.


3. Mögliche Konsequenzen gegenstandstheoretischer
Betrachtungen für das Transzendenzproblem.

Diese Art der Sinnesunterlegung, die eine logisch-transzendental Methode ist, ist es z. B. gewesen, welche so vielen logischen Gebilden den Charakter der Gegenständlichkeit verliehen hat. Für die Phänomenologie und Logik scheint also das Bedeutungssehen sehr nutzbringend zu sein. Ich bezweifle aber, daß die Erkenntnistheorie für die Lösung ihres Hauptproblems einen Vorteil davon hat. Der Gegenstandstheoretik mag in der Negation einen Gegenstand sehen und das dritte Reich der Geltung mit idealen (KuNa 33) oder mit unwirklichen (Gr 38, 137, 515, 584, 117; Zw 198, 200; Log II 76-78, Log III 230) bevölkern. Die Vergegenständlichung vieles Idealen und Geltenden mag - wie gesagt - zu einer ganz richtigen Beschreibung von Bewußtseinsphänomen führen, aber auch nicht weiter. Es werden sich nicht viele Leute finden, die das Wertphänomen schlechhin leugnen wollen. Ich bin ferner von der Notwendigkeit einer Unterscheidung zwischen psychischem Denkakt und diesem Gedanken selbst völlig überzeugt. Der Druck, den die Psyche z. B. im ethischen Verhalten empfindet und der wohl ein Sollen genannt werden kann - der Drang, der ihre Flügel hebt und sie als Ahnung eines Göttlichen beseligt, was sehr wohl als Wert bezeichnet werden kann - die Tatsache, daß es ein und derselbe Satz war, der von den Griechen als richtig bewiesen, von anderen als Übereinstimmung mit der Wirklichkeit stehend erfunden und von den späteren nicht überwunden werden konnte, wobei diese Tatsache dem Satz das Prädikat der Geltung einträgt: das alles sind Phänomene, die von der Seele selbst losgelöst und idealisiert betrachtet werden können. In diesem Sinn von einem Wert unter Absehung von seiner Gebundenheit an das Psychische zu sprechen, ist also möglich.

Wer freilich sagt, dieser Sachverhalt des Wertes oder des Sollens oder des Geltens sei ein Gegenstand, der muß bedenken, daß ein Gegenstand immer schon etwas Seiendes ist. Wer nun jenen Phänomenen Transzendenz verleiht, und zwar eine Transzendenz, die nichts mit dem Sein zu tun haben soll, der widerspricht sich selbst; denn er treibt damit das Phänomen aus dem Reich des Phänomenologischen, innerhalb dessen es noch einen Sinn hatte, von etwas zu sprechen, was es nicht gibt. Transzendenz heißt aber doch gerade: es gibt etwas. Und was es gibt, das muß sein. Ob man sagt: das Sein gehört zum Begriff des "Etwas-gebens", oder: das Sein ist die allgemeinste Kategorie, oder: es ist eine Begrenzheit des menschlichen Geistes, nur Seiendes als vom Bewußtsein unabhängig zu begreifen zu können, das ist vorläufig einerlei. Ich komme darauf noch zurück.

Und daß man übrigens mit einer Sinneslehre auf dem richtigen Weg ist, bestätigt uns z. B. die schöne Parallele zwischen dem psychologischen Prinzip der psychischen Resultanten (schöpferische Synthese) (WUNDT, Grundriß der Psychologie, 9. Auflage, 1909, Seite 398) und die folgenden Sätze RICKERTs:
    "Das Ganze ist ... nicht allein mehr als die Teile ... sondern ... etwas prinzipiell anderes. Der Sinn als Wahrheit läßt sich daher eigentlich gar nicht in seine Teile zerlegen, denn sobald man ihn zerlegt, hört er auf, wahr, also Sinn zu sein." (Zw 200)
Aber Gegenstandstheorie und eine Wissenschaft, die alle Gegebenheiten restlos in Phänomene aufzulösen sucht, sind eben nicht schlechthin erkenntnistheoretische Betrachtungsweisen, sie helfen nicht hinweg über das eine Problem, das den Erkenntnistheoretiker immer und immer wieder belästigen muß: dasjenige realer Transzendenz. Die vorgenannten Wissenschaften können nichts Neues darüber sagen, da für sie allerdings dieses Problem gar nicht existiert. Die Erkenntnistheorie aber kann an dieser Frage, deren Lösung einen so großen Beitrag zu einer auch den Naturwissenschaftler beruhigenden Weltanschauung bedeuten würde, nicht vorübergehen (Gs 124). Sie darf dieses Problem nicht einfach der Metaphysik überweisen (Gs 162) und sich in die reine Defensive zurückziehen - und etwas anderes bedeutet es nicht, wenn man immer nur zeigt, warum ein Sein nicht unbedingt zu existieren braucht. Ich habe vielmehr auf zwei Erkenntnisgründe hingewiesen, die den Glauben an das Sein festigen und zur Gewißheit erheben sollen und die meines Erachtens vom Zahn bezweifelnder Kritik nicht weiter benagt werden können.

Nun läßt sich freilich RICKERTs Beschränkung auf das Formale als bewußte Abwendung von allem, was nicht Form des Immanenten ist, erklären. Damit wird aber auch zugegeben, daß die Norm des Sollens nicht das ganze Transzendente, auch nicht das ganze transsubjektive Minimums zu sein braucht (vgl. Gs 157). Das Gelten und Wertsein des Sollens ist nur ein Teil davon. Darauf scheint auch der Umstand zu deuten, daß RICKERT zum Unbezweifelbaren den Inhalt der Tatsachenurteile rechnet (Gs 130). Auch das Sollen dürfte nur die Abstraktion eines eigentlich Transsubjektiven bedeuten. Es muß ein besonderes gegenstandstheoretisches Moment gewesen sein, das RICKERT veranlaßt hat, sein Transzendentes als einen Wert und nicht bloß als einen Begriff zu bestimmen. Aus Formen kann man doch wieder nur Formen ableiten. Ich habe überdies bereits gezeigt, wie RICKERT die Formen (wie das Sollen und den Begriff des Subjekts) verselbständigt und ihnen durch psychologische Zutaten Funktionelles und damit erzeugende Kraft beilegt. Was bei KANT noch auf einer Linie stand: Stoff und Form oder zumindest: Anschauung und Denken, das zieht RICKERT ja auseinander. In mathematischen Ausdrücken könnte man sagen: der Logiker abstrahiert aus allem die Form und setzt sie als Koeffizient vor eine Klammer, worin die Welt als Vorstellung steht. RICKERT möchte die Form aber nicht als Faktor der Wirklichkeit, sondern als deren Wurzel erweisen. Die Kategorie hat RICKERT nochmals logisch unterbaut und das Gegebene als Urteilsprodukt an ihr Ende gestellt. Dann aber hat er die Wirklichkeit wie ein Abfallsprodukt, das für den Einzelwissenschaftler, nicht aber für den Erkenntnistheoretiker einen Wert hat, beiseite liegen lassen und nach dem eigenen letzten Prinzip der Formen gesucht, das unabhängig ist von diesen seinen erzeugten Geschöpfen - also wohl Form, aber nicht Kategorie ist.

Ich habe nun in der Betrachtung über das Denken und über die Wahrnehmung zu zeigen versucht, daß die Erkenntnis eine Synthese ist von Kategorialem und irrational Gegebenem: daß sie dort entsteht, wo sich das Außen und Innen staut. Es heißt daher, eine höhere menschliche Erkenntnis verlangen, wenn man ein kategorienfreies, d. h. nicht gegebenes Transzendentes erfassen will, das gleichwohl nicht Erfahrung, d. h. Bewußtseinsinhalt sein darf (vgl. auch VolkED 72). Und das ist der Grund, weshalb ich alles, was mir noch zu RICKERTs Lehre von der Transzendenz zu sagen blieb, unter der Überschrift einer metaphysischen Tendenz zusammenfasse.

Wie fern RICKERT alle Metaphysik von sich zu halten sucht, weiß ich wohl. (Gs 145, 244; Gr 576, 639; Gs 152; Zw 171, 202, 213, 216; Log I 20, 32 und RICKERTs gereizte Haltung in Zw 222) Ich hätte vielleicht den oben gekennzeichneten Zug auch phänomenologisch nennen können, d. h.: ich hätte feststellen können, daß RICKERT über das Intrasubjektive nicht hinauskommt; (vgl. Volkäst III 493) wenn RICKERT nicht vom objektiven Sinn (Gr 570), von überindividuellen, absoluten Werten, deren Unbedingtheit und Bewußtseinsunabhängigkeit spräche (Gs 173). (Gs 231: "Dem empirischen Subjekt tritt das Sollen als überindividueller, unbedingter, kategorischer Imperativ gegenüber". An anderer Stelle: "Das Wesen des Transzendenten geht, ganz auf in seiner unbedingten Geltung (Gs 234). Gr 567, 586, 597f, 603; Gesch 129; Zw 187; Log II 77; KuNa 149. Vgl. auch VOLKELTs Kritik in der Literaturzeitung 1893, Nr. 11, Seite 323: Über das erkenntnistheoretische Subjekt als metaphysisches Wesen. Ferner ÖSTERREICH: Die deutsche Philosophie etc. 1910, Seite 9: "Bemerkenswert ist je mehr das Jahrhundert sich seinem Ende zuneigt, desto mehr nimmt der Neukantianismus eine Wendung ins Metaphysische. Ich erinnere besonders an Rickert: dessen Denken Bahnen eingeschlagen hat, die mit der Philosophie Fichtes Verwandtschaft zeigen.")

Ich sehe eine Umstülpunt des Erkenntnisprozesses, erkenntnistheoretisch gesprochen: einen offenen Zirkel - darin, über das von der allgemeinen "Kategorie des Seins" Bedingte noch Objektivationen anderer, tatsächlich in uns vorfindbarer Phänomene zu setzen. Ich halte also einen Wert für ein psychologisches Aposteriori und höchstens für ein rein logisches Apriori der Wissenschaft (Gr 597). Da die Erkenntnistheorie, um sich den Charakter der Wissenschaft zu wahren, der Psychologie nicht widersprechen soll, ist es für mich keine Frage mehr, welche Rolle die Werte in der Erkenntnistheorie spielen müssen.

Auch VOLKELT läßt die denknotwendige Naturgesetzlichkeit in ein transsubjektives Minimum eingehen, freilich ohne sie vorher in einem Imperativ zu objektivieren.


4. Sollen und Wert sind nur praktische Forderungen;
sie objektivieren heißt: Metaphysik treiben.

Geltung, Sollen und Wert: gewiß, das sind Forderungen, die wir an das Transsubjekte stellen können. Sie werden erfaßt "in der Modifikation des gleichsam". Wir müssen tun, wie VOLKELT sagt, als ob sie existieren. Zunächst einmal sind aber auch sie nur ein Gefordertes (Zw 184), also nicht von einem größeren Transzendenzgehalt als die Realisierung der "Kategorie des Seins"; - sie sind es samt der Zeitlosigkeit, welche den Wert von jedem individuellen Bewußtseinsinhalt unabhängig machen soll (Gs 112) - Zum andern sind geltendes Sollen und "absolut geltender Wert" praktische Forderungen, die für die transzendentale Erkenntnistheorie erst in zweiter Linie in Betracht kommen können. Sie verhalten sich zum Problem des Seins wie KANTs Vernunftideen (vgl. Gs 165. Ferner HUSSERL, Jahrbuch 244:
    "Alle Akte überhaupt - auch die Gemüts- und Willensakte - sind objektivierend, Gegenstände ursprünglich konstituierend, notwendige Quellen verschiedener Seinsregionen und damit auch zugehöriger Ontologien. Zum Beispiel: das wertende Bewußtsein konstituiert die gegenüber der bloßen Sachenwelt neuartige axiologische Gegenständlichkeit, ein Seiendes neuer Region, sofern eben durch das Wesen des wertenden Bewußtseins überhaupt, aktuelle doxische Thesen als ideale Möglichkeiten vorgezeichnet sind, welch Gegenständlichkeiten eines neuartigen Gehalts - Werte - als im wertenden Bewußtsein vermeinte zur Heraushebung bringen. Im Gemütsakt sind sie gemütsmäßig vermeint, sie kommen durch Aktualisierung des doxischen Gehalts dieser Akte zu doxischen und weiter zu logisch-ausdrücklichem Gemeintsein. Hier liegt die tiefste der Quellen, aus denen die Universalität des Logischen, zuletzt die des prädikativen Urteils aufzuklären ist.")

5. Die Transzendentierung des Sollens
ist metaphysisch.

Auch die Methode, wodurch das Sollen in die begrifflich geforderte Transzendenz eingesetzt wird, ist keine Setzungsart, die vor der Realisierung des Seins einen Vorzug hätte. Im Gefühl kündigt sich etwas an, was vorher nicht im Subjekt lag, was, müßte RICKERT sagen, in seiner Eigenart kategorial nicht voraussetzbar, aus dem Begriff der Erkenntnis regressiv nicht ableitbar ist - also ist es unabhängig vom Subjekt, d. h. vom Bewußtsein überhaupt (Gs 12, 27, 125, 144). Dieses Ergebnis wird nun als zweite Prämisse in folgendem Schluß eingesetzt, in dem die Möglichkeit, ja die Tatsache der Transzendenz schon vorausgesetzt, weil logisch postuliert, ist: Der Begriff der Erkenntnis fordert einen Gegenstand, zu dessen Wesen Bewußtseinsunabhängigkeit gehört. Das Sollen allein bewußtseinsabhängig. Folglich ist das Sollen Gegenstand der Erkenntnis, d. h. transzendent.
    ("Das Sollen muß in jeder Hinsicht vom Subjekt unabhängig sein, gleichviel, ob irgendein erkennendes Subjekt etwas davon fühlt oder es anerkennt. Es muß sich um ein transzendentes Sollen als Gegenstand der Erkenntnis handeln.")
Ob das Sollen allein bewußtseinsabhängig ist und ob es überhaupt ein Bewußtseinsunabhängiges geben kann, d. h. ob RICKERTs Begriff der Transzendenz nicht überspannt ist, lasse ich dahingestellt. Ich weise nur auf den bedenklichen metaphysischen Zug hin, den die formale Logik der Erkenntnistheorie aufprägen kann. Tritt nicht im obigen Schluß ein Satz zutage, der das ganze Mittelalter hindurch etwas erzeugt hat, was KANT endgültig zermalmen wollte: der Zug metaphysischer Ontologie? Ist es nicht der Satz: Essentia involvit existentiam [Wesen beinhaltet Existenz - wp] - nur in anderer Gestalt?

Nicht mit Unrecht weist SCHLUNKE (105f) darauf hin, daß RICKERT den Begriff eines Gegenstandes nicht immer scharf vom Gegenstand selbst scheidet. RICKERT darf sich nicht darauf berufen, daß der Begriff des Gravitationsgesetzes gleich ist dem Gravitationsgesetz selbst (Def 58 und SIGWARTs Besprechung von RICKERTs Dissertation: "Göttinger Gelehrte Anzeigen 1890, Seite 55: Der Begriff der Gravitation ist nur darum dasselbe wie das Gravitationsgesetz, weil er ein Relationsbegriff ist. - Vgl. dazu Theorie 316), denn ein Gesetz ist, wie ein Begriff, ein idealer Gegenstand. Das Subjekt ist aber etwas, dessen Existenz sich auch psychologisch anzeigt (vgl. z. B. Gs 178; Gr 137). (Vgl. auch FRISCHEISEN-KÖHLER, Wi 124).

RICKERT entzieht sich der Verdächtigung, den mittelalterlichen Satz der Objektivation anzuerkennen, durch die Behauptungen:
    Wir müssen überhaupt darauf verzichten, ihn (den Begriff des Sinnes) in der Sphäre des Seins unterzubringen ... Der Sinn liegt über oder vor allem Sein. Das geht schon daraus hervor, daß die Erkenntnis, daß etwas ist, immer den Sinn voraussetzt, der am Satz, daß es ist, haftet ..." (Zw 203) -
Dann muß ich aber antworten, daß ich im Sinn nichts anderes als eine logische Rückspiegelung zu sehen vermag. RICKERT sagt ja auch selbst: der Sinn muß dem Sein "logisch" vorangehen (Zw 203). Ich behaupte nun immer wieder, daß solche Erörterungen erkenntnistheoretisch fruchtlos sind, solange Logik und Erkenntnistheorie nicht dasselbe sind. Je mehr aber RICKERTs Erkenntnislehre zu einer Sinnes- und Wertlehre wird, umso unmittelbarer wird der Begriff des Wertes herbeigezogen und neben die Wirklichkeit gestellt (Zw und Log I).


6. Die metaphysische, über das
Sein hinaustranszendierende Methode, ist
eine Folge der formal-logischen Tendenz.

Übersprungen wird also das Bewußtsein an einer Stelle, bei RICKERT dort, wo die Urteilsnotwendigkeit eingeführt wird. Damit will ich sagen, daß die Setzung des transzendenten Sollens eben nur eine denknotwendige Setzung ist und RICKERT keine stärkeren Beweismittel zur Annahme eines Transsubjektiven besitzt, als es diejenigen sind, welche die Anerkennung eines transsubjektiven Seins begründen. Mit bloßen Formen nähert sich RICKERT der Grenze, um jenseits davon die Urform zu finden. Daß die wertvolle Norm mehr als bloße Form ist, kümmert mich hier nicht. - Wie aber, wenn jemand die Notwendigkeit als Kategorie interpretiert und im Gelten nur das Sein, die Anerkennung dieser Kategorie sähe, wobei der logisch postulierte Anerkennungsakt zum Wesen des Kategorialen gar nichts beiträgt? Womit könnte dann noch das Sollen seine Priorität vor dem Sein rechtfertigen? (Gs 165) Dann muß sich zeigen, daß das Sein, auch wenn es nur eine Kategorie ist, die allgemeinere, die höhere, die bedingende Form ist. Dann kann das Transsubjektive auch wieder als seiend angesehen werden. Dann braucht die Frage: "Was gilt denn?" nicht mehr ausweichend beantwortet zu werden. Mit anderen Worten: auch der Wert hat eine Seinsbestimmtheit; und wenn es auch nur die Selbstbestimmtheit des Bewußt-Seins wäre (vgl. auch FRISCHEISEN-KÖHLER, Wi 124:
    "Das Gegebene läßt sich auf keine Weise hinwegeskamotieren und das Sein, das von uns im direkten Erlebnis erfahren wird, ist und bleibt primär gegenüber allem Urteilen."
Ich komme nämlich jetzt von einer ganz anderen Seite auf die Beziehungen, welche bei RICKERT zwischen Sein, Wert und Geltung bestehen. Es hat den Anschein, als wollte RICKERT den Dualismus von Sein und Geschehen überwinden.

Die Probleme der Erfahrung in einem kantischen Sinn lassen sich doch als eine des Objekt-Seins und eins des Verknüpft-Seins auffassen. Die Apriorität der Objekte läuft nach KANT auf Verstandesbegriff hinaus - also auf Begriffe. Wenn nun die Logik zur Grundlage der Erkenntnistheorie gemacht werden sollte und das Urteil als Element der Logik anerkannt wird, so mußte es RICKERT z. B. daran gelegen sein, diese Begriffe zu Urteilen zu verflüssigen. So kommt es, daß er das Sein von einer Aktkategorie mitkonstituiert sein läßt. Nun muß aber die Bejahung doch irgendetwas bejahen; da ergibt sich: das Sollen. Was ist nun das Sollen? - Sicherlich kein Begriff; ein Begriff ist ja schon die Summe von Urteilen. Ein Gegenstand darf es auch nicht sein, da ein Urteil wohl als Gegenstand betrachtet werden kann, ein Gegenstand aber nicht als Urteil. Zudem ist ein Gegenstand etwas Seiendes (übrigens ein merkwürdiges Paradoxon zu der Feststellung, daß das Sollen Gegenstand der Erkenntnis ist). Hier nimmt nun RICKERT das trübe Medium des Geltens zu Hilfe, das sich zwischen Aktivität und Passivität schiebt. Verboten werden müßte nun eigentlich die Frage: "Was gilt?" Zumindest dürfte es keine Antwort darauf geben. Daß die Frage beantwortbar ist, daß Werte gelten, das führt zu der erneuten Frage: "Was ist ein Wert: Begriff oder Gegenstand?" - Ich arbeite ja nur mit RICKERTs Mitteln, wenn ich behaupte, daß zum Wesen des Geltens etwas gehört, das gilt.

Diesen Regressus schneidet RICKERT durch den Zirkel ab: wonach zum Wesen des Wertes das Anerkennen gehört, wodurch tatsächlich zur Bedingung des Wertes ein Urteil wird. So vereinheitlicht RICKERT die doppelte Apriorität. Wenn man sich nicht an diesem Zirkel stößt, kann man auch zugeben, daß das Sein auf diese Weise zu einer Form des Geltens wird. Wenn man vor allem das Wort "Sein" im Sinne einer Gegebenheitsform, nicht auch in demjenigen jeder Bewußtseinsweise, gebraucht, dann wird das Sein aus dem Erkenntniskreislauf hinausgedrängt und der Wert, welcher durch die Beziehung auf ein Sein an Sinn verlieren muß (wenn etwa das Sein zu einem theoretischen Wert erhoben wird), regiert allein das Erkennen. - Warum soll man aber diese Voraussetzungen machen und sich der berechtigten Fragen nach dem Sinn des Wertgeltens als eines Bewußtseins-Seins, also doch immer wieder als eines Seins, nicht erwehren, indem man das Gelten als Kategorie der allgemeinsten Seinskategorie unterordnet, wie ich es oben angedeutet habe.


7. Die metaphysische, über das Sein
hinaustranszendierende Methode, ist eine Folge der
Verwechslung von Sein und realem Sein.

Das Geltende hört nicht auf, eine besondere Seinsweise zu haben; denn die Werte sind mitbestimmt (vgl. dagegen Log II 77); es rückt aber ein in eine bestimmte Seinssphäre. In metaphysischen Ausdrücken könnte man vielleicht auch sagen: Sollen und Sein können beide als transzendent anerkannt werden; das Sollen etwa als etwas Intelligibles, das reale Sein als Ding-ansich. Dennoch käme dem Sein die logische Priorität zu; dies erst recht, als jenes Intelligible auch erst ein Bewußseins-Sein haben müßte.

Es kann nicht nur etwas gelten, sondern irgendetwas muß gelten (Theorie 318: "Daß auch die letzten Begriffe immer ein Etwas brauchen, von dem sie gelten, ist richtigt".) RICKERT spricht das nicht immer aus. Daher kann er auch in Bezug auf das Verhältnis von Geltendem und dem, wofür das Gelten gilt, sagen:
    "Wie man auch über die Transzendenz der Dinge denken mag, jedenfalls die Ursache und das Bewirkte haben dieselbe Art des Seins." (Gs 47)
Das ist aber doch nur eine willkürliche Übertragung eines naturwissenschaftlichen Satzes auf Erkenntnistheoretisches. Das Geltende gilt von Immanentem; d. h.: von Seiendem, da der pythagoräische Lehrsatz nur für das Erkennen (Log IV 301), d. h.: für das Bewußtsein existiert. Er gilt aber auch nur für Nicht-Transzendentes; da man wohl sagen kann, daß der pythagoräische Lehrsatz galt, bevor er erkannt wurde, nicht aber: daß der pythagoräische Lehrsatz gilt ohne Bewußtseine; denn das Wort "gelten" hat nur einen Sinn, sofern etwas für ein anderes gilt; (vgl. FRISCHEISEN-KÖHLER, Wi 108: "Von Werten, die nur ansich, aber für niemanden gelten, kann keine Rede sein usw.") und dieses andere kann wieder nur das Erkennen sein; also: bewußtes Sein. Vielleicht könnte man sagen: das Gelten ist ein Vermittlungsbegriff zwischen dem überindividuellen Unbewußtsein und dem überindividuellen Bewußtsein. Das Geltende gilt jedenfalls für das Nicht-Transzendente. Eine Art Kausalität muß also doch zwischen Transzendentem und Immanentem bestehen, wenn es noch einen Erkenntnisakt geben soll. Wenn aber die Geltung eine Seinssphäre bildet - und ich kann sie nach dem Bisherigen nicht anders nennen - so läge hier eine Beziehung zweier Seinsarten aufeinander vor. Dieses bedingende Verhältnis von Heterogenem ist auch dann noch vorhanden, wenn die Urteilsnotwendigkeit nur der logische Grund des Urteils ist (Gs 114, 150, 170).

Was ich befürchte, ist: daß RICKERT "Sein" und "substantielles Sein" (reale Existenz) verwechselt. Wenn aber die Geltung eines Seinssphäre bildet - und ich kann sie nach dem Bisherigen nicht anders nennen - so läge hier eine Beziehung zweier Seinsarten aufeinander vor. Dieses bedingende Verhältnis von Heterogenem ist auch dann noch vorhanden, wenn die Urteilsnotwendigkeit nur ein logischer Grund des Urteils ist (Gs 114, 150, 170).

Was ich befürchte, ist: daß RICKERT Sein und substantielles Sein (reale Existenz) verwechselt. Der obige Widerspruch wird sofort aufgehoben, wenn behauptet wird, daß Verursachendes und Bewirktes ein und derselben Substanz oder nur der Substanz angehören muß (heute noch ein Teil vom Satz der Erhaltung der Kraft). - RICKERT selbst sagt (Zw 180):
    "Niemand kann leugnen, daß ein Inhalt, wenn er für die Erkenntnis in Betracht kommen soll, zumindest die Form der Gegebenheit oder der Tatsächlichkeit haben muß."
Die Gegebenheit ist aber doch gleich dem Sein; und Werte sind Inhalte. Das Sein aber muß nicht gerade ein substantielles Sein, nicht gerade eine reale Wirklichkeit sein. Diesen Unterschied macht doch schon die Sprache in Bewußt-Sein. Welche weiteren Folgen diese Scheidung für RICKERTs System hätte, lasse ich dahingestellt. - Ich behaupte nur: auch ideale, unwirkliche Objekte müssen "sein". (KuNa 20) Indem man ihnen eine drittes Reich anweist, das der zeitlosen Geltung, befreit man sie nicht von dem ihnen anhaftenden Merkmal des Seins. Man entreißt sie damit höchsten der Alternative: physisch oder psychisch; niemals aber dem All-seins-reich des Bewußtseins (vgl. SCHELER, Meth. 145f).


8. Seinsfreies hat nur in der
Metaphysik eine Stelle.

Natürlich wird RICKERT hier einwenden, das Sein sei nur ein Urteilsprädikat (Log III 240); es komme nicht auf das Sein an (Gs 151, 157; /w 185). Und von seinem formalen Standpunkt aus wäre RICKERT ja nur konsequent, wenn er sich, was ihm vorgeworfen wird, der inhaltlichen Bestimmungen seiner Werte enthalten würde (Log IV 303). Daraufhin könnten wir aber RICKERT den Vorwurf einer metaphysischen Transzendierung aus einem weiteren Grund nicht ersparen. Der absolute Wert rückt nämlich dadurch bei RICKERT in eine im kantischen Sinn transzendente, unerreichbare Ferne. (vgl. Log I 12:
    "Die Werte sind weder im Gebiet der Objekte noch in denen der Subjekte zu finden, sondern sie bilden ein Reich für sich, das jenseits von Subjekt und Objekt liegt." Ferner Volkäst 498)
Wenn, wie RICKERT annimmt, das Sein eine kategoriale Bestimmtheit ist, dann liegt das Seinslose eben jenseits einer Erkenntnismöglichkeit. Die Kategorie des Seins muß doch auf alle Erkenntnisgegenstände angewandt werden. Ich fordere jedenfalls von allem, von dem in einem gegenständlichen Sinn geredet werden kann, daß es dieses "gibt"; daß es "ist". Das spricht sich auch in philosophischen Systemen aus, die als Letztes bei einem Sein stehen blieben, freilich in objektiviert-metaphysischer Form. (vgl. Zw 202; Log I, 201) Das im Wahrnehmungsakt intuitiv erfaßte Sein, also die reale Existenz, ist eine Bestimmtheit der realen Gegenstände. Daß alle Gegenstände zumindest die Seinsbestimmtheit des bewußten Seins haben müssen, wird von niemandem bezweifelt. Es steht daher einer transzendental logischen Umdeutung nichts im Weg, alle Gegenstände als von einer Seinskategorie aus bestimmt werden zu lassen.

RICKERT wird aber, da für ihn das "Sein" gleichbedeutend mit "Gegebensein" und "Dasein" ist, von der Logik in die Metaphysik hineingedrängt; denn das Sollen darf nicht existieren, es darf nicht "sein". Das "Sein" setzt nach RICKERT schon eine Erkenntnis voraus. So verfiele er ja in den bereits bezeichneten Regreß; d. h.: das seiende Sollen bedürfte einer logischen Voraussetzung und das erkennende Subjekt wieder eines Gegenstandes der Erkenntnis. Andererseits entzieht RICKERT das Sollen der Erkennbarkeit, wenn das Sollen nicht von der Kategorie des Seins getroffen werden darf; d. h.: das Sollen kann nicht der Gegenstand der Erkenntnis sein.

Ich ziehe damit lediglich eine Konsequenz der früher gemachten Behauptung, daß die Logik niemals den Gegenstand der Erkenntnis selbst bestimmen kann.


9. Das Metaphysische in Rickerts
Transzendenzlehre ist eine Folge seines
Erkenntnis- und Transzendenzbegriffs.

Und wenn ich diesem Gedanken noch weiter nach gehe, so finde ich, daß ich es hier nur mit weiteren Konsequenzen von RICKERTs Erkenntnis- und Transzendenzbegriff zu tun habe. Ich habe schon darauf hingewiesen, daß Erkennen nicht gleich "Anerkennen" sein kann (Gs 122; vgl. Zw 186f). Anerkannt werden kann ja auch ein metaphysisches Unerkennbares. RICKERTs Begriff der Transzendenz kann also nicht scharf genug gefaßt sein. - Meiner Meinung nach ist nicht dasjenige transzendent, was nicht bewußtseinsartig ist, - das wäre doch widersinnig, da von einem solchen Transsubjektiven seiner Unerkennbarkeit, d. h. seiner Undenkbarkeit wegen gar nicht gesprochen werden könnte - sondern dasjenige, was nicht selbst als Ganzes Bewußtsein, was nicht "immanentes" Subjekt werden kann. In diesem Transsubjektiven sehe ich schon die Grenze und den höchsten Gegenstand wissenschaftlicher intellektueller Erkenntnis.

RICKERT aber nimmt ein Bewußtseinsphänomen, betrachtet es so, daß die daran haftenden Bewußtseinsbestimmtheiten unwesentlich werden und schreibt nun diesem Abstraktionsprodukt Transzendenz zu. Diese Transzendenz soll ein Reich des Geltens sein. Nun aber habe ich gezeigt, daß das Gelten ein Sein, allermindestens ein Bewußtsein, voraussetzt, und daß die transzendente Vergegenständlichung eines Phänomens gleichfalls nur unter der Voraussetzung eines Seinsbegriffs einen Sinn hat. Daher bedeutet die Annahme eines transzendenten Reiches des Geltens die Setzung eines dem erkennenden Subjekt unbekannten und unerreichbaren Metaphysischen, das immanente Züge an sich trägt, aber nicht immanent werden kann. Unterließe RICKERT aber diesen Schritt ins Ungewisse, dann wäre er nicht ins Transsubjektive gekommen, sondern im Subjektiven steckengeblieben. Er muß ein Immanentes erst der Immanenz entkleiden, um daraus ein Transzendentes zu machen. RICKERTs scheinbar so einfacher Begriff des Transzendenten als Folge des ebenso einfachen Erkenntnisbegriffs hat ein seltsames Schicksal. Er ist gleich dem Gegenstand der Erkenntnis. Positivistischer und anti-psychologischer Gründe halber kann das Reale nicht transzendent sein. Aus formal-logischen Motiven wird das immanent Seiende auf Urteile reduziert. Scheinbar ist damit die Welt des möglichen Transzendenten vergeben. Doch zeigen unter anderem ethische Phänomene eine Transzendenz an. Somit hieß es für RICKERT: den Festungsgürtel der Bewußtseinsimmanenz sprengen, doch dabei nicht auf den ringsum liegenden Boden des Seins geraten. RICKERT rettete sich durch einen kühnen Ikarusflug - der aber keinen Sieg bedeutet, weil auch der beste Flieger einmal landen muß.

Übrigens ist der Begriff der Transzendenz bei RICKERT doppelsinnig: Zw 171 heißt es: "Nennt man den Gegenstand, insofern er vom Denken unabhängig ist, transzendent, ..." "Unter dem Denken aber verstehen wir jeden psychischen Vorgang, der wahr oder falsch sein kann"; (nur das Erkennen ist wahres Denken) (Zw 169). - Somit ist jeder Gegenstand transzendent, also auch das allgemeine Sollen.

Das transzendente Sollen von Zw 187 ist aber das "reine" Sollen, das nur vom Erkennen, d. h. vom wahren Denken unabhängig ist. Über: transzendent = übersinnlich vgl. Log IV 303; "persönlich Transzendentes" (Gott) vgl. Log IV, 320.

Welch weitere, widerspruchsvolle Verwicklung diese Begriffe in RICKERTs Transzendenzlehre bringen, deute ich nur kurz an: Das erkenntnistheoretische Subjekt ist die logische Voraussetzung allen Seins (Gs 144), die Form alles Immanenten (Gs 29, 58, 84, 148); dem Subjekt steht ja auch "nur das immanente Objekt, der Bewußtseinsinhalt" (Gs 13) gegenüber. Das Transzendente trägt also nicht die Form des "Bewußtseins überhaupt". Es ist, wie RICKERT oft versichert, als eigentlicher Gegenstand der Erkenntnis gänzlich vom Subjekt unabhängig. Es bleibt die folgende Wahl: entweder besteht die Dreiheit Subjekt - Immanenz - Transzendenz; d. h. ein erkenntnistheoretischer Realismus. Oder das Transzendente gehört nicht zum Objekt, da es zum Subjekt keine Beziehung hat.

RICKERT entscheidet sich für das Letztere und sucht den Widerspruch durch die psychologische Tatsache zu vermeiden, daß das Transzendente sich im Gefühl dem Subjekt anzeigt. Damit erklärt es auch RICKERT, daß das Transzendente wieder immanent werden könnte (Zw 188). Das Transzendente durch ein Evidenzgefühl erkennbar zu machen, habe ich aber schon als unerlaubt nachgewiesen (vgl. auch Log I 27 über immanenten Sinn).

Letzte Konsequenzen davon enthalten die Sätze:
    "Das Bewußtsein unserer Ohnmacht gegenüber dem, was sein soll, fordert also ... eine objektiv gute oder heilige Realität ... Unserem wissenschaftlichen Begreifen ist eine solche Realität absolut unzugänglich. Nur durch unser Gewissen, das uns zu handeln befiehlt, und durch das Bewußtsein, daß wir gut allein wollen, nicht auch handeln können, ist hier etwas gefordert, das wir nie zu erkennen vermögen ... So wird auch der Sinn alles Erkennens von der Überzeugung abhängig, die nicht nur über alles Logische, sondern auch über alles Ethische hinausgeht. Die Welt ist so eingerichtet, daß in ihr das Ziel des Erkennens, die Wissenschaft, verwirklicht werden kann." (Gr 638f)
- Im Grunde dieselben Argumente, die KANT für den eudämonistischen Gottesbeweis verwandte, die RICKERT aber in VOLKELTs Begründung einer realen Transzendenz als Ergänzung nicht gelten läßt (Gs 50).

10. Konsequenzen für die
erkenntnistheoretische Methode.

Ich habe bisher gesehen, wie aussichtslos es ist, vom Sein los kommen zu wollen. Für ebenso widerspruchsvoll und unberechtigt, weil metaphysisch, habe ich es gefunden, den Erkenntnisgegenstand dem Seienden zu entrücken und ins Unerkennbare zu versetzen. Jede Objektivation, wie KANTs und PLATONs Ideen, wie SCHOPENHAUERs Wille, muß als solche gekennzeichnet und nicht als von der Verstandeserkenntnis anzuerkennendes Transsubjektives ausgegeben werden. Das wäre sonst ein viel schlimmerer Phänomenalismus als der von RICKERT selbst gegeißelte erkenntnistheoretische Realismus. Und nun komme ich auf das Dritte zurück: RICKERTs Transzendentes (im wahren Sinn des Wortes) wird nur gefordert, nicht aber erlebt. Darauf kommt es mir aber an. Ich will ein so großes Erlebnis wie das der realen Existenz nicht gleichstellen lassen mit einem bloß geforderten idealen Dasein eines Wertes. Das ist das psychologistische an meiner Meinung, daß ich der Erlebtheit die Priorität vor der Konstruktion sichern will; zumindest in den Fällen, wo die Konstruktion willkürlich die Erlebtheit übergeht (Gs 41) - und die Erkenntnistheorie wird aufhören, besonders "grau" zu sein (Gr 10). Ich will die Selbstverständlichkeit verständlich machen, indem ich mir möglichst viele Erlebnisse zum Bewußtsein bringen will. Den Vorwurf, daß ich nicht streng transzendental verfahre, nehme ich gern auf mich; denn ich halte die rein transzendentale (d. h. die transzendental-logische) Methode nicht für "die" erkenntnistheoretische Methode.

Die streng transzendentale Methode geht aus von den Leistungen des Erkennens, von der Erkenntnis. Sie fragt: "Welche Voraussetzungen müssen notwendig erfüllt sein, damit eine solche Erkenntnis möglich ist?" Die Bedingungen der Erkenntnis nun faßt sie zusammen unter irgendeinem Allgemeinbegriff, wie dem einer Kategorie. Eine Kategorie z. B. ist, wie alle Ergebnisse der streng transzendentalen Methode, nur eine vorläufige Feststellung des Ortes im Bewußtseinszusammenhang, wo eine notwendige Bedingung der Erkenntnis liegt. Daraus wird verständlich, was die Logik zu einer so brauchbaren Gehilfin des Transzendental-Methodikers macht. Daher ist es aber auch eine unverständliche Frage, was eine Kategorie ist.

Wenn ich nun dennoch diese Frage stelle, so will ich versuchen, einen kleinen Schritt über die Ergebnisse der transzendentalen Methode hinauszukommen. Und das ist dann möglich, wenn Bewußtseinsphänomene aufgezeigt werden, aus welchen sich jene von der transzendentalen Methode postulierten oder konstruierten Erkenntnisbedingungen konstituieren. Diese Aufgabe kann nur gelöst werden von der Psychologie, oder, wenn man will, von der Phänomenologie, die aber von RICKERT an einer Stelle auch nur eine Psychologie genannt wird. Daß damit schon gesagt ist, wie es möglich ist, daß gerade diese Bedingungen die Erkenntnisleistung ermöglichen - oder daß damit ähnliche Probleme gelöst wären, behaupte ich gar nicht. Ich möchte nur den vorläufig logisch formulierten Voraussetzungen einen greifbaren Hintergrund geben. KANTs "Verstandesbegriff" ist so eine vorläufige logische Bestimmung. Es wird doch niemand im Ernst behaupten, daß der Verstandesbegriff der Kausalität ein Begriff ist wie irgendein Begriff einer Einzelwissenschaft. "Verstandesbegriff der Kausalität" sagt nur: Die Summe der Voraussetzungen, welche zu einer kausalen Erfassung der Wirklichkeit führen, müssen notwendig im Verstand liegen. Weiter vermag aber die transzendentale Methode auch gar nicht zu gehen. Hier läßt sie uns auf halbem Weg stehen. Sie überschreitet ihre Rechte und fordert den Widerspruch heraus, wenn sie nun anfängt, diesen Ort zu beschreiben, weil sie nun willkürlich konstruieren muß. In ihrem Wesen als einer logischen Methode liegt es, nur zu bestimmen, daß innerhalb gewisser Grenzen die gesuchte Bedingung liegt.

Der Erkenntnistheoretiker braucht sich aber nicht damit zufrieden zu geben. Er kann den Ort, den ihm der Transzendental-Methodiker angegeben hat, beschrieben haben wollen. Daß hier eine Erfahrungswissenschaft einspringen muß, ist klar. So ergibt sich: Die reine transzendentale Methode und die Psychologie ergänzen sich. Die transzendentale Methode hat die Funktion einer Wünschelrute: sie stellt fest, daß an irgendeiner Stelle eine Erkenntnisbedingung liegen muß. Der Psychologe beschreibt diesen Ort - dessen Beobachtbarkeit vorausgesetzt.

Und wenn ich wieder einmal die ganze Leistung der Erkenntnistheorie als einen einzigen Erkenntnisprozeß ansehe, nämlich als denjenigen der Erkenntnis der Erkenntnis, und dasjenige, was ich frü das Wesentliche jeder echten Erkenntnis gefunden habe, auf jene einzelne Erkenntnis anwenden will, so muß ich sagen: die transzendentale Methode ist das Denkmoment in diesem Erkenntnisprozeß; sie setzt das "daß". (Man beachte schon, daß das Aktivitätsmoment sowohl im Ausdruck "Denken", als auch in dem der "transzendentalen Methode steckt.) Die Psychologie aber liefert zum Denken die Erfahrung. Ja, das Ergebnis der transzendentalen Methode wird durch die bestätigenden Befunde der Psychologie erst zur vollwertigen Erkenntnis. Selbst für diese methodologischen Betrachtungen sehe ich in RICKERTs Transzendenzlehre eine Bestätigung. RICKERT hat als Transzendentes ein apriorisches Bewußtseinsphänomen aufgezeigt - Werte - und darauf das bezogen, was vor ihm als schlechthin apriorische Voraussetzung der Geltung wissenschaftlicher Erkenntnis bezeichnet wurde - z. B. die geltende Notwendigkeit (Unbedingtheit, Allgemeingültigkeit der Werte).

Weder die transzendentale Methode noch die Psychologie haben die Priorität; denn ein Problem kann gesucht werden (wie z. B. dasjenige der transzendentalen Fragestellung selbst); es kann aber auch entdeckt, d. h. plötzlich gesehen werden. Vom logischen Standpunkt aus wird das Bewußtseinsphänomen die Priorität besitzen, denn es muß immer erst etwas geben, was notwendig ist. - In diesem Zusammenwirken von Denken und Erfahrung sehe ich die Erkenntnistheorie ihre wissenschaftliche Aufgabe erfüllen. Von einer Erkenntnis selbst gehe ich aus und suche für sie als Bewußtseinsphänomen letzte Bewußtseinsgründe, in den notwendigen Bewußtseinsphänomenen; das bedeutet: eine Rationalisierung des irrationalen Erlebens.

Ich nehme zu den Erkenntniserlebnissen eine ähnliche Haltung ein wie die Scholastik gegenüber der Kirche: sie suchte die Grundlehren der Kirche nur zu rechtfertigen. Diese Art von transzendentalem Verfahren mag man dogmatisch nennen: Ich habe aber gesehen, daß ein rein transzendental-logisches Verfahren sogar zum metaphysischen Setzungen führt. Metaphysik ist aber immer dogmatisch.


11. Konsequenzen für das Verhältnis von
erkenntnistheoretischem Idealismus und
empirischem Realismus.

Nunmehr dreht sich das von RICKERT beschriebene Verhältnis von empirischem Realismus zum erkenntnistheoretischen Idealismus in Bezug auf die Transzendenzlehre um. Bisher war das Gegebene (das Bewußtseinsgegebene) die Stelle, wo der erkenntnistheoretische Idealismus aufhörte, der empirische Realismus anfing. In Bezug auf die Transsubjektivierung ist für den empirischen Realismus das Gegebene (das als real erlebte) die Grenze, - über die aber der erkenntnistheoretische Idealismus hinwegschreitet. Die Parallelität von formaler und empirischer Erkenntnistheorie hat RICKERT in ein Nacheinander zu verwandeln gesucht. [...]


Schluß.
1. Logik und Metaphysik

Ich habe gezeigt, daß ein seinloses Sollen nicht das transsubjektive Minimum sein kann. Es wird zurückgewiesen in seine Grenzen, die ihm als Form zukommen (über Sein und Sollen vgl. auch NATORP, Phil 32f). Es ist eben etwas Unselbständiges, abstrahierend Abgelöstes, das höchstens "als Gedanke der Verneinung" (Gs 34), als Inkarnation des Negativen (nicht etwa im Sinn eines mathematisch Negativen) gedacht werden kann (Gesch 128), - was ich erkenntnistheoretisch als "Nichts" zu bezeichnen pflege (vgl. dagegen Zw 203). Ich sehe hier wieder, wie nahe "Sein" und "Nicht-sein" beeinander wohnen. Ich bin an der Stelle angelant von der HEGEL ausging - und finde die letzten Konsequenzen einer formalen Wissenschaftslehre tatsächlich im Gegensatzpaar von Sein und Nichts (vgl. Gs 150).

Ich erkenne nochmals die Möglichkeit einer logischen Erkenntnistheorie an, nicht aber ihren Anspruch auf alleinige und vollständige Lösung des Erkenntnisproblems. Wenn aber das Nichts als Form des Seins in ein Sollen übersteigert wird, so sehe ich darin einen Abfall von der reinen Logik. Die Gefahr, von der Logik aus mit einer Übergehung des Tatsächlichen in die Metaphysik zu schreiten, ist zu groß (vgl. VOLKELT, Immanuel Kants Erkenntnistheorie 235).

Mir erscheint die reine Logik als ein schlechter Lehrmeister für einen, der wissen will, wie man sich in der Erkenntnistheorie vor der Metaphysik zu hüten hat (Zw 228). Seitdem es Logik gibt, hat sich die gefährliche Nachbarschaft von Logik und Metaphysik geltend gemacht (vgl. Def 1 über die Beziehungen von ARISTOTELES' Metaphysik zu seiner Lehre von der Definition; vgl. auch den metaphysischen Vorbehalt, unter dem LOTZE seine Logik ausgearbeitet hat). Keine Geringeren wie ANSELM, DESCARTES und SPINOZA haben stillschweigen diese engen Beziehungen anerkannt. Die tiefe Ehrfurcht, welche große Mathematiker, wie PASCAL, vor dem Transzendenten empfanden, mag in dieser Nähe von Nichtsein und Übersein, oder wie RICKERT sagt, "metaphysischem Sein" (Zw 202), ihre Erklärung finden. Erst KANT löste in seiner Widerlegung des ontologischen Gottesbeweises diese Verflechtung. Und wenige Jahrzehnte nach dieser Großtat lebte der alte Glaube an die Existenz der Essenz wieder auf: der Identität von Denken und Sein. HEGEL war es, der diese beiden zu einem sinnreichen Panlogismus verwob; derselbe HEGEL, welcher KANT so arge Vorhaltungen über die Aussichtslosigkeit einer Erkenntnistheorie machte (HEGELs Werke, Bd. 6 § 10). Heute aber, wo sich die Logik anschickt, sich der ganzen Erkenntnistheorie zu bemächtigen, d. h. also, den Bruch mit der Metaphysik endgültig zu vollziehen, muß nachdrücklich darauf hingewiesen werden, daß die Logik damit einen Bruderkrieg beginnt. Die Gefahr, in Widersprüche zu geraten, wird für diese Wissenschaft umso größer, je mehr sie die logischen Gebilde vergegenständlicht und so noch leichter übersieht, daß reale Objekte (KÜLPE) auch Gegenstände und zwar Gegenstände eigener Art sind.


2. Das Recht der Metaphysik

Wenn jemand hier nochmals einwenden sollte, die Frage nach der transsubjektiven Realität sei metaphysischer Art, so gebe ich dem Betreffenden auch nochmals Recht und stelle bloß fest, daß die transsubjektive Realität nur eine Gegenstandsbestimmtheit gewisser immanenter Erfahrungsobjekte ist und daß diese Objekte nur als in transsubjektiver Realität existierend gemeint werden.

Wer erkennen aber gleichzeitig das Recht einer Metaphysik an, die weitere Erkenntnisse über die transsubjektive Realität liefern kann, aber natürlich keine Erkenntnistheorie haben darf (vgl. wieder HEGELs Haltung zur Erkenntnistheorie). Das ist ja ein Kennzeichen der Metaphysik, kritiklos, d. h. erkenntnistheoretisch nicht faßbar zu sein. Es ist eben so leicht wie sinnlos, eine Metaphysik mit erkenntnistheoretischen Sätzen zu kritisieren. Nur muß dem Metaphysiker eins zugestanden werden: der Erkenntnistheoretiker setzt voraus, daß Erkenntnis nur eine Beziehung der Gegenstände auf den Menschen ist. Natürlich muß auch der Metaphysiker zugeben, daß seine Erkenntnis nur eine menschliche ist; aber sie ist keine solche, welche nur durch eine Beziehung auf den Menschen entsteht.

Ich vollende hier einen Gedanken, den ich in früheren Fragen berührte wie in dieser: ob das Kategoriale nur Kategorie ist. Für den Erkenntnistheoretiker, zumal für den Logiker, bricht sich die lichtvolle Welt der Gegebenheit erst in auffassenden Medien. Das Prinzip der kausalen Gesetzmäßigkeit ist für ihn nichts anderes, als der assertorische Ausdruck für das Postulat der Erklärung, nichts anderes, als das "Axiom der Begreiflichkeit der Natur" (WINDELBAND, Präludien III, 284). Und diese "Erscheinung" allein, die "Erfahrung" interessiert ihn. Der Zweifel ist für den Erkenntnistheoretiker zum Dogma geworden. Was ihm die Natur nicht offenbart, das glaubt er der Natur zu geben: Gesetze. Was der Erkenntnis unerreichbar ist, das macht er zur Voraussetzung der Erkenntnis. Mit welchem Recht? mit keinem größeren, als mit dem der Metaphysiker diese Schranken überspringt und bloß andere Dogmen zum Ausgangspunkt wählt (vgl. Gr 583:
    "Ein strenger Beweis dafür, daß es eine metaphysische Wirklichkeit nicht geben kann, die dem Inhalt der allgemeinsten körperwissenschaftlichen oder psychologischen Theorien entspricht, ist nicht zu führen.")
Wer sagt denn, daß, wenn die Faktoren, welche der Erkenntnis Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit verleihen, nicht im Objekt aufgefunden werden können, im Subjekt begründet sein müssen? - steht dahinter nicht die Voraussetzung, daß das zu Erkennende erkennbar ist? Tritt hier nicht der noch unbewiesene Satz in Erscheinung, daß die Welt darum rationalisierbar ist, weil sie erkannt werden soll? Erkannt werden soll, weil wir wollen, daß sie erkennbar ist. Können wir auch erkennen, weil wir es sollen?

Daraus erklärt es sich, daß der Metaphysiker immer ein erkenntnistheoretisches Kapitel überschlägt: das der Apriorität. Doch findet es sich bei ihm wieder: er hat es objektiviert. Er spricht von Substanz, von Naturnotwendigkeit, von einem einheitlichen Weltprinzip, vom Weltall. Jener Übervorsichtige glaubte, voraussetzungslos zu sein, wenn er das Unerfahrbare (ob unerfahrbar, ist noch nicht bewiesen) und doch Gewußtes aus dem Objekt in das Subjekt nahm; - der Metaphysiker glaubt, eine objektive Welt vor sich zu haben, wo er gleichzeitig ein Stück von sich mit vor sich hat. - Mit all dem will ich wiederholen, daß unsere bisherigen erkenntnistheoretischen Untersuchungen bewußt unter einer gewissen Voraussetzung betrieben worden sind.


3. Skeptischer Ausblick

Und schon die von diesen Betrachtungen unabhängigen Auseinandersetzungen, welche vorzugsweise die wissenschaftliche Erkenntnis, also nicht die metaphysische, zum Gegenstand hatten, haben uns vor Rätsel gestellt, die ohne weitere Voraussetzungen nicht widerspruchslos lösbar zu sein scheinen. Es sind die Stellen, wo das Felder der Erkenntnistheorie eingesetzt ist in das Mosaik der ganzen Philosophie; wo sich vor allem die streng wissenschaftliche Erkenntnis nur als Teil der Welterkenntnis begreift. Die an diesen Grenzen liegenden letzten Seins- und Erkenntnisgründe zu bestimmen, nehme auch ich mir nicht vor. Die innige Verkettung von Ethischem und Intellektuellem durch den Willen; - die Fragen, ob die Allgemeingültigkeit noch begründbar ist und ob die bloß geforderte Allgemeingültigkeit einen objektiven Erkenntniswert hat - ob es tatsächlich Unbezweifelbares gibt - welchen Sinn die Notwendigkeit hat - was außer der Existenz der Transzendenz angehört - welche logischen und psychologischen Bestimmungsgründe das Sein hat - und, falls gewisse Kategorien die Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit des Wissens verbürgen, wie weit sie wirklichkeitsgestaltend und gesetzgebend sind; - das reinlich zu scheiden, gebe ich nicht vor. Ich glaube auch nicht an die Möglichkeit, daß Sein und Schein jemals deutlich auseinandergezogen werden können; denn der erkenntnistheoretische Zirkel wird nicht durch die Erlebtheit des Transsubjektiven aufgehoben. Das Transsubjektive wird dadurch ledigiglich auf einen anderen Boden gestellt. Daher verrichten auch wir nur *Danaidenarbeit. Sie beginnt schon mit dem Ausdruck: "Erkenntnis der Erkenntnis." Ich komme niemals über mich selbst hinaus. Was meine Bemühungen, zu erkennen, krönt, ist schon das Bewußtsein, nicht alle Zusammenhänge entwirren zu können. Ich sehe eben schon in der Erkenntnis ihres eigenen Zirkels den größten Erfolg der Erkenntnistheorie. Insofern haben ihr AGRIPPA und HEGEL ["... die Logik, die zugleich Erkenntnistheorie, Ontologie und Metaphysik ist, da das Sein selbst Begriff ist ..." - wp], einen großen Dienst erwiesen.

Ich verzichte aber darauf, anstelle des Unfaßbaren, des in Notwendigkeitsformen nicht Einzufangenden, ein rationales Metaphysisches zu setzen und verweisen die Verehrung, die GOETHE für das Unerkennbare forderte, in die spekulierende Metaphysik selbst und in die Religion. Die Frage nach dem Anfang der Erkenntnis ist daher gleichbedeutend mit derjenigen nach dem Ende der Erkenntnis. (So kommt es auch, daß der Erkenntnistheoretiker, wo er zum Metaphysiker wird, zu einer ganz ähnlichen Metaphysik kommt wie der Naive. PLATO hypostasierte in seiner Ideenwelt das Seiende - dasselbe, was die Eleaten vor ihm, was SPINOZA nach ihm in der realen Gegebenheit zu sehen meinten. Der eine transzendierte die apriorischen Voraussetzungen und der andere den Gegenstand der Erkenntnis.) Habe ich den Weg der rein wissenschaftlichen Erkenntnis einmal mit einer Wellenlinie, einer Sinuskurve, vergleichen können, so verläuft die letzte philosophische Erkenntnis im Sinne einer Tangenskurve: im Unendlichen fängt sie an, schneidet die Wirklichkeit, und trifft nur in unendlicher Projektion wieder mit dem ihr zugeordneten Wirklichkeitspunkt zusammen.

Und ich gestehe, daß ich auf dem Weg bis dahin nicht mehr gelernt habe, als zu wissen, daß ich nichts weiß, vielleicht: nichts wissen kann - das Ende der Philosophie im Nichtwissen zu sehen - was nach meiner obigen Auseinandersetzung aber doch ein neues, höheres Subjekt-Objekti-Verhältnis bedeutet; die Einzelwissenschaften weiten es nach der Objektseite, die Philosophie nach der Subjektseite hin. Aus der Nacht des Unbewußten, - aus der Passivität, mitgerissen zu werden in den Weltwirbel, sind wir zu Beschauern geworden. Und was wir sehen, können wir nicht schöner beschreiben als der Dichterphilosoph:
    "Weltrad, das rollende, streift Ziel auf Ziel;
    Not nennts der Grollende - der Narr nennts Spiel;
    Weltspiel, das herrische, mischt Sein und Schein:
    Das ewig Närrische - mischt uns hinein."
    blindfish- Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft
LITERATUR - Max Schneider, Die erkenntnistheoretischen Grundlagen in Rickerts Lehre von der Transzendenz [Inaugural-Dissertation] Dresden 1918