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FANNY LOWTZKY
Studien zur Erkenntnistheorie
[Rickerts Lehre über die logische Struktur
der Naturwissenschaft und Geschichte.]

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"Unzweifelhaft ist, daß Kant, wenn er auch den Skeptizismus annahm, in seinen Kategorien, in dem Verstand, welcher der Welt Gesetze vorschreibt, jedenfalls eine feste Grundlage für die Wissenschaft gefunden hat. Bei Rickert ist es anders. Statt des Verstandes, der mit voller Souveränität der Welt ihre Gesetze vorschreibt, herrscht bei ihm die Teleologie, statt der Notwendigkeit - die Autonomie und Selbstbestimmung. Wenn die Wissenschaft existieren soll, so müssen wir das Kausalitätsgesetz anerkennen, - das ist das Leitmotiv der Rickertschen Theorie."

"Die langjährige Schulung im Geiste der mechanistischen Weltanschauung hat ihre Spuren in den Ansichten des modernen Menschen hinterlassen: wenn er auch Stoff und Kraft nicht als einzigen Ursprung allen Daseins anerkennt, so wagt er es doch nicht, die Voreingenommenheit in seinen Ansichten abzuwerfen, die jedem anhaftet, der in einem gewissen Milieu seine Erziehung bekommen hat."


Zweites Kapitel
Kritik der Rickertschen Lehre

§ 1. Bevor ich zur Kritik der RICKERTschen Theorie übergehe, will ich in kurzen Worten ihre Grundsätze zusammenfassen.

Den Ausgangspunkt in RICKERTs Lehre bildet der Begriff der Wahrheit. Wahrheit ist nicht nur nicht gleichbedeutend mit Wissen, sondern sie bedeutet gerade das Gegenteil davon (1). Um etwas Neues, Unbekanntes kennen zu lernen, muß man es erleben. Um zur Wahrheit zu gelangen, muß man nur etwas, was wir schon auf einem anderen Weg erkannt haben, auf einen allgemeingültigen Wert beziehen. Die Anerkennung dieser allgemeinen Werte ist eine Pflicht für jeden Menschen, der die Wahrheit will. Sie hat ihren Urspung in einem transzendenten Sollen. Wer diese Pflicht nicht erfüllt, kennt keine Wahrheit und kann auch niemals in ihren Besitz gelangen, darum ist Wahrheit ein relativer Begriff: an und für sich existiert sie nicht und entsteht nur dann, wenn die Menschen ihrer Pflicht eingedenk sind. Anderen lebenden Wesen, wie den Tieren - um ein Beispiel aus der uns bekannten Welt anzuführen -, fehlt der Wahrheitsbegriff, weil ihnen auch das Pflichtbewußtsein abgeht. Wenn wirklich Engel oder Dämonen existieren würden, so wären sie, wie die Tiere, frei vom transzendenten Sollen; sie hätten keinen Wahrheitsbegriff, denn die Wahrheit ist ja nur "zwischen denjenigen" (2) möglich, die ein bestimmtes überindividuelles Etwas anerkennen, das über ihren individuellen Neigungen, Eindrücken und Trieben steht.

Aus diesem allgemeinen philosophischen Satz ergibt sich naturgemäß der speziellere, daß die Naturwissenschaften, die nach Wahrheit streben - welche ihrerseits nichts Gemeinsames mit der Wirklichkeit hat -, umso vollkommener sind, je weiter sie sich von der Wirklichkeit entfernen. Die höchste und "letzte" Naturwissenschaft umfaßt reine Wahrheiten, sie ist vollständig autonom, und von der Wirklichkeit ist keine Spur mehr in ihr zu finden. Auch die historischen Wissenschaften, deren Aufgabe nach RICKERT darin besteht, die Lücken der Naturwissenschaften auszufüllen, geben uns kein Wissen von der Wirklichkeit. Zu einem solchen Wissen führt nur ein Weg, der der unmittelbaren Erlebnisse. Trotzdem ist nach RICKERTs Meinung die Geschichtswissenschaft nicht so weit von der Wirklichkeit entfernt, wie die Naturwissenschaften, da sie nicht wie diese das Allgemeine, nirgends Existierende, sondern das Individuelle, das existiert, darstellt. Aber die historischen Wissenschaften kommen auch nicht ohne Begriffsbildung aus, weshalb sie ebenfalls die Wirklichkeit umformen und verändern. Ihre Wahrheit besteht auch nicht darin, daß sie ein neues Wissen verleihen, sondern in einem eigentümlichen Beziehen auf einen Wert. Kurz: wir können nichts wissen! Und trotzdem will die RICKERTsche Lehre kein Skeptizismus sein!

Meine Meinung geht im Gegenteil dahin, daß RICKERTs Lehre den höchsten Ausdruck des Skeptizismus darstellt, eines Skeptizismus, der sich aber davor scheut, sich vor sich selbst zu bekennen. (3) Aber eben deshalb, weil RICKERT sich selbst nicht als Skeptiker fühlt, kann ich VOLKELT recht geben, wenn er sagte, daß der Verfasser der "Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung" gegen Skeptizismus und Relativismus ins Feld zieht. RICKERT tut das tatsächlich, aber er tut es so wie einer, der die Hoffnung aufgegeben hat, den Sieg davon zu tragen. Er gibt alle Positionen auf und behauptet hinterher, daß er nicht um diese Positionen gekämpft hat, sondern um etwas Anderes, viel Wichtigeres und Bedeutenderes, das er schließlich doch im Sieg errungen hat.

Unzweifelhaft ist RICKERT seiner Methode nach Kantianer (4). Auch KANT hatte HUMEs Lehre nicht widerlegt und suchte nur nachzuweisen, daß HUME das Problem falsch gestellt hatte. Aber ebenso unzweifelhaft ist, daß KANT, wenn er auch den Skeptizismus annahm, in seinen Kategorien, in dem Verstand, welcher der Welt Gesetze vorschreibt, jedenfalls eine feste Grundlage für die Wissenschaft gefunden hat. Bei RICKERT ist es anders. Statt des Verstandes, der mit voller Souveränität der Welt ihre Gesetze vorschreibt, herrscht bei ihm die Teleologie, statt der Notwendigkeit - die Autonomie und Selbstbestimmung. Wenn die Wissenschaft existieren soll, so müssen wir das Kausalitätsgesetz anerkennen, - das ist das Leitmotiv der RICKERTschen Theorie.

Aber warum soll die Wissenschaft bestehen? Vielleiht darf sie gar nicht bestehen? Vielleicht sind die höchsten Ziele der Menschheit, sogar das höchste Wissen gerade unter denjenigen Voraussetzungen zu erreichen, welche die Möglichkeit des Bestehens einer Wissenschaft ausschließen?! Für religiös veranlagte Menschen, wie etwa PASCAL, schienen eben die Dinge so zu liegen und das erklärt ihr Verlangen nach dem Wunderbaren. Derartige Menschen sehen im Skeptizismus die willkommene Möglichkeit, die mechanistische Weltanschauung zu überwinden. Und hätte RICKERT wirklich recht, wäre der Wille in der Frage nach Wahr und Falsch autonom, so würden wir kaum zugeben können, daß die Gesetze der Vernunft Geltung für die Wirklichkeit haben. Unser Wille ist nach KANT autonom in Bezug auf Gut und Böse: die Folge davon ist, daß das Gute weit davon entfernt ist, auf dieser Welt verwirklicht zu sein. Aber selbst wenn das sittliche Gesetz nie und nirgends in Kraft träte, sagt KANT weiter, verlöre es trotzdem nicht an seiner Bedeutung als Gesetz. Kann man nun dasselbe vom Kausalitätssatz sagen? Hier liegen die Dinge doch anders; wenn dieses Gesetz in der Wirklichkeit nicht erfüllt würde, wenn jemand unwiderleglich nachweisen könnte, daß es nur einen einzigen Fall gibt, in welchem sich das Kausalitätsgesetz nicht bewährt, so würde die Wissenschaft auf dasselbe verzichten und nach einem anderen Wissen streben müssen (5). ALOIS RIEHL meint, daß die Wissenschaft sich dann vielleicht vor die Notwendigkeit gestellt sähe, überhaupt auf jegliches Denken Verzicht zu leisten. (6)

Nach dem eben Gesagten tritt der Unterschied zwischen dem kantischen und RICKERTschen Gedanken klar zutage. KANT fand eine unerschütterliche Basis für die Wissenschaft eben darin, daß der theoretischen Vernunft keine Autonomie gegeben ist. Die theoretische Vernunft schreibt der Natur, der kategorische Imperativ dem individuellen, menschlichen Willen Gesetze vor. Der Wille fügt sich, wenn er will; will er nicht, dann ordnet er sich nicht unter. Die Natur aber fügt sich unbedingt (7). Daher die Unwandelbarkeit und Gleichförmigkeit der Naturgesetze einerseits und die Mannigfaltigkeit und Vielgestaltigkeit des sittlichen Lebensinhaltes andererseits. RICKERT hat bei KANT nur den einen negativen Teil seiner Argumentation entlehnt, den KANT seinerseits HUME entnommen hatte; er spricht dem Empirismus das Recht ab, über die Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit des Kausalitätsgesetzes etwas auszusagen. Aufgrund der Erfahrung läßt sich nicht behaupten, daß sich morgen, ebenso wie heute, dieselbe Gleichförmigkeit und Regelmäßigkeit in der Wechselfolge des Geschehens wiederholen wird. Diese Tatsache ist es eben, die KANT aus seinem "dogmatischen Schlummer" geweckt hat; aber wer sie anerkennt und dabei doch nicht zu den Skeptikern zählen will, lädt damit eine "Verpflichtung" auf sich. RICKERT scheint das wohl zu wissen, aber er will es nicht eingestehen und gibt sich alle erdenkliche Mühe, diese schwierige Pflicht zu umgehen. Seine Ausführungen gehen darauf aus, das onus probandi [Beweislast - wp] seinen Widersachern aufzubürden. Dies verleiht allen seinen Werken einen spezifischen Charakter: sie machen meist den Eindruck mehr oder weniger polemischer Traktate. Man kann vom Empirismus gar nicht verlangen, daß er die Beweise erbringt für die unbedingte Gültigkeit des Kausalitätsgesetzes (8). Das onus probandi sollte im Gegenteil Sache RICKERTs sein.

Die Vertreter der empirischen Wissenschafften können ohne Voraussetzung des Kausalgesetzes gar nicht auskommen; denn ihre ganze Wissenschaft ist auf dasselbe gegründet. Für den Philosophen aber kann und darf das Kausalgesetz, ja selbst die ganze Wissenschaft, sowie sie einmal existiert, nicht als absoluter Wert gelten. Die Philosophie muß sich möglichst von allen Voraussetzungen frei machen. Wenn man aber sagt, unser Wissen sei ein unvollkommenes Wissen, so enthält dieser Satz eine Voraussetzung, die nicht ungeprüft angenommen werden darf. Der Satz des DESCARTES "de omnibus dubitandum" [Man muß alles in Zweifel ziehen. - wp] sollte immer am Eingang jedes philosophischen Systems Wache stehen und auf das Schärfste alles prüfen, was zur Grundlage eines Systems werden soll. Kurz: die oberste Pflicht jedes Philosophen ist die, aus freien Stücken alles zusammentragen, was seiner Beweisführung dienlich sein kann. Jeder Versuch, das onus probandi dem Gegner aufzubürden, ist immer ein Belastungsmoment gegen den Philosophen. Das ganze System von RICKERTs Beweisführung ist aber darauf angelegt, dieser Verpflichtung zu entgehen.

Die RICKERTs Lehre am meisten entgegengesetzten philosophischen Strömungen sind der Relativismus und der Skeptizismus. Diesen Lehren tritt er gelegentlich mit folgenden Worten entgegen:
    "Gegen einen absoluten Relativismus", sagt er, "läßt sich freilich nichts machen, aber er ist auch nicht zu fürchten, da er sich jedes Urteils enthalten muß, wenn er sich nicht selbst widersprechen will." (9)
Diesen Worten, die auf den ersten Blick wie die Wiederholung eines bekannten Einwandes (der noch von PLATO stammt) gegen den extremsten Skeptizismus lauten, wollen wir zur Erläuterung noch eine Stelle aus einer anderen Schrift hinzufügen:
    "Dem gegenüber, der nicht urteilen will, stellen wir den Satz, daß ein Wahrheitswert transzendent gilt, einfach auf. Wir brauchen ihn als Gegner nicht zu fürchten, sobald er widerspricht, hat er zugegeben, was er bestreiten möchte." (10)
Es scheint, als ob RICKERT das Forschen nach Wahrheit sich nicht anders vorstellt, wie das Kämpfen zweier Dialektiker: wer seinen Gegner zum Schweigen bringt, der hat recht. Vielleicht findet diese Ansicht RICKERTs ihre Erklärung darin, daß die aristotelische Logik, also die "Urlogik", auf dem Boden der bei den Griechen so beliebten, beständigen, dialektischen Dispute entstanden ist. Wer PLATO viel liest, gewinnt unwillkürlich den Eindruck, daß nicht derjenige Recht hat, der die Wahrheit kennt, sondern vielmehr derjenige, der seine Behauptungen geschickt zu verteidigen versteht. PLATO selbst aber hat, ungeachtet seiner Vorliebe für die "göttliche Dialektik", diesen Standpunkt nicht verteidigt, so daß der Eindruck, den seine Dialogen auf uns machen, keineswegs verlocken wirken sollte. Wir sollten uns daran gewöhnen, im Skeptizismus nicht nur keine feindliche Richtung zu sehen, vor der wir uns von vornherein in Acht nehmen müssen, sondern im Gegenteil, gleich Kant in ihm einen Verbündeten zu erblicken. Es handelt sich nicht darum, den Skeptizismus eines Andern zu besiegen, sondern darum, denselben in sich selbst zu überwinden.
    "Nicht auf die Möglichkeit, den Subjektivisten persönlich zu überzeugen und zum Eingeständnis seines Irrtums zu bringen", sagt Husserl, sondern auf die, ihn objektiv gültig zu widerlegen kommt es an." (11)
§ 2. Wie wir gesehen haben, stellt RICKERT von vornherein die Möglichkeit in Abrede, die Wahrheit jemals zu finden. Anstelle der Wahrheit gibt es für ihn nur die autonomen, allgemeingültigen Urteile, mit denen wir uns zufrieden geben müssen. Äußerlich überwindet er damit den Skeptizismus, aber tatsächlich behält er ihn (ebenso wie SCHOPENHAUER des Solipsismus) zusagen im Rücken. RICKERTs ganzes System ist vom Skeptizismus durchdrungen. Wenn SCHOPENHAUER vom Solipsismus sagen konnte, er sei eine uneinnehmbare, aber gefahrlose Festung, weil ihre Besatzung zu schwach ist, so kann dasselbe vom Skeptizismus nicht behauptet werden. Dieser birgt, besonders wenn er versteckt ist, größere Gefahren.

Ich habe schon früher darauf hingewiesen, daß RICKERT, im Gegensatz zu KANT, seine Theorien nicht hätte aufrecht erhalten können, wenn er nicht zu metaphysischen Voraussetzungen gegriffen hätte. Es gibt zwar Leute, die behaupten, daß auch KANT, um seine ethischen und religiösen Anschauungen zu begründen, seine Zuflucht zur Metaphysik nehmen mußte. Ich bestreite dies keineswegs, aber ich muß betonen, daß nach KANT die Sicherheit jeder Wissenschaft die enge Verknüpfung derselben mit der Metaphysik nicht nur nicht voraussetzt, sondern im Gegenteil darauf beruth, daß die Bande, die die Wissenschaft mit der Metaphysik verknüpfen, auf immer gelöst sind.

KANT ist von dem Grundsatz ausgegangen, daß das Vorhandensein der Mathematik und der Naturwissenschaften keinem Zweifel unterliegt, so daß die Aufgabe der Erkenntnistheorie nicht darin besteht, die Möglichkeit dieser Wissenschaften zu beweisen, sondern dieselbe nur zu erklären. Am meisten interessiert er sich für die Frage, warum diese Wissenschaften denjenigen "sicheren Gang" gefunden haben, den er sogar mit dem feierlichen Wort "königlich" bezeichnet (12). Das ist KANTs Standpunkt, das ist die Hauptaufgabe, die er sich gestellt hat. Von der Sicherheit, Gewißheit, Festigkeit, welche ohne jegliche metaphysischen Voraussetzungen - die ja doch immer problematisch bleiben - erzielt werden können, von all dem fühlte sich KANT in der Wissenschaft hingezogen, das alles zählt er zu ihren größten Reichtümern, die ihr das Recht auf den Titel "königlich" geben. Zuerst fand er diese Eigenschaften in der Mathematik verkörpert. Deshalb hat er die Naturwissenschaften in die ehrwürdige Gesellschaft der Mathematik eingeführt. Er schätzte in ihnen eben das, was ihre Verwandtschaft mit der Mathematik bezeugte. RICKERT aber ignoriert eben diese Aufgabe, vielleicht deshalb, weil er, wie die Mehrzahl der Skeptiker, an keine Gewißheit und Festigkeit glaubt (13). KANTs Problem eine ewige feste Wissenschaft zu begründen, ist ihm fremd. Darum sind die Methoden des Lehrers und des Schülers im Grunde genommen so verschieden.

KANT geht in seiner Erkenntnistheorie von der Mathematik aus, zu der er die Naturwissenschaften emporhebt. RICKERT läßt die Mathematik beiseite und vergleicht die Naturwissenschaften mit den historischen Wissenschaften, obwohl die letzteren keineswegs solcher sicheren Ergebnisse wie die Mathematik sich rühmen können und sogar nicht von allen als Wissenschaft anerkannt werden: viele Gelehrte meinen, daß sich die Geschichte niemals zu einer Wissenschaft emporschwingen wird, von königlicher Würde ganz zu schweigen. Und so kommen wir zu erstaunlichen Resultaten: Kant erachtete es für möglich, die Naturwissenschaften in die ehrwürdige Gesellschaft der Mathematik einzuführen, RICKERT aber führt den Beweis dafür, daß die Naturwissenschaften an Gewißheit und Festigkeit den Geschichtswissenschaften gleichkommen. Was wir von einer solchen Gegenüberstellung gewinnen, ist schon jetzt ersichtlich: Es ist RICKERT mißlungen, den Geschichtswissenschaften die Gewißheit der Mathematik zu verleihen, aber die Naturwissenschaften zu diskreditieren, ist ihm vollständig geglückt. Der im Rücken gebliebene Skeptizismus wachte und seine Wirkung war im entscheidenden Moment vernichtend. Einige Stellen aus RICKERTs Werken werden die Richtigkeit dieser Behauptungen beweisen.

Wir erinnern daran, daß RICKERT bei der logischen Struktur der Natur- und Geschichtswissenschaften immer sorgfältig die Frage nach der objektiven Geltung dieser Wissenschaften ausschaltete, um sie einer besonderen Prüfung in einem der letzten Kapitel seines Werkes zu unterwerfen. In meiner Darstellung der Lehre RICKERTs habe ich denselben Weg eingeschlagen. Mit RICKERT habe ich in dieser Frage den Kernpunkt seiner Lehre gesehen. Von dieser oder jener Lösung dieser wichtigsten Frage hängt der Wert von RICKERTs Theorie ab. Und, ich wiederhole es, er löst sie so, daß er den Naturwissenschaften nicht mehr Exaktheit beilegt als den Geschichtswissenschaften. Er behauptet, daß ein Historiker, der von den Kulturwerten ausgeht, die für einen bestimmten Kreis von Menschen als normativ allgemeine gelten, "die höchste Objektivität erreicht, die von einem empirischen Standpunkt aus in der Wissenschaft überhaupt erreicht werden kann." (14) Das bedeutet aber durchaus nicht, daß wir keine größere Objektivität, als sie die Geschichte erlangt, erreichen können, sondern nur, daß die Naturwissenschaften, die stets zum Vergleich mit den Geschichtswissenschaften herangezogen werden, keine Superiorität aufweisen können:
    "Es ist in der Naturwissenschaft ebensowenig wie in der Geschichte die Sache selbst, die den Inhalt der Begriffe bestimmt ... und es bleibt nicht um das Geringste weniger willkürlich, daß für die Zusammenfassung des Gemeinsamen gerade dieser und nicht ein anderer Gesichtspunkt gewählt wird."
Vorläufig wollen wir noch nicht auf die Frage eingehen, wie die historischen und naturwissenschaftlichen Begriffe sich bilden und wo die unbezweifelbaren Grundlagen zu finden sind, auf denen unser Wissen beruth; wir wollen nur RICKERTs Verfahren klarlegen: nicht um die Förderung der Objektivität der Naturwissenschaften bemüht er sih, - diese Aufgabe lag KANT am Herzen, der sie durch eine Verknüpfung der naturwissenschaftlichen mit der mathematischen Methode erzielen konnte -, RICKERT bietet seine ganze Tätigkeit auf, um die Naturwissenschaften möglichst eng mit den historischen zu verknüpfen. Die Geschichtswissenschaften gewinnen nicht an Festigkeit, aber umso berechtigter sind die Zweifel an der Objektivität der Naturwissenschaften. Nach unserer Meinung konnte KANT am wenigsten erwarten, daß sein Kritizismus zu solchen Endresultaten führen würde.

An der Festigkeit der Naturwissenschaften zweifelte KANT nicht: er war fest überzeugt, daß die synthetischen Urteile a priori unserem Erkennen der Natur dieselbe Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit verleihen, welche der Mathematik von den Formen unserer Anschauung (Raum und Zeit) gegeben werden (15). Zwar blieben bei KANT, wie wir früher ausgeführt haben, die syntethischen Urteile a posteriori unerklärt. Aber KANT hat es vorgezogen, dieses Rätsel ungelöst zu lassen, um nur nicht den "königlichen Weg" opfern zu müssen, den die Wissenschaft einmal eingeschlagen hat, um nur dem Skeptizismus keine Konzessionen zu machen und nicht der Willkür der metaphysischen Behauptungen das Feld zu räumen.

KANTs Bestrebungen, der Wissenschaft feste Grundlagen zu verleihen, scheinen RICKERT gar nicht am Herzen zu liegen. Die königlichen Wege der Wissenschaften zählt er zu den Chimären:
    "Der endliche Intellekt, um dem vom idealen Intellekt durch absolut gewisse Wahrnehmungsurteile erreichbaren Ziel überhaupt zustreben zu können, eines Surrogates und der denkbar vollkommenste Ersatz, den es hierfür geben kann, ist ... die Naturwissenschaft." (16)
Für RICKERT sind die Naturwissenschaften nur ein Surrogat, weiter nichts als ein Ersatz, der, wenn auch der denkbar vollkommenste Ersatz für echtes Wissen, so doch nur ein Ersatz ist.

Aber das genügt RICKERT noch nicht. Um dieses Surrogat der Wahrheit zu bekommen, muß man sich zu einer "Voraussetzung" entschließen, deren Wahrheit in keiner Weise bewiesen werden kann, deren Zweckmäßigkeit aber durch folgende zweifelhafte Erwägungen gerechtfertigt wird.

Diese Voraussetzung besteht darin, daß das Kausalgesetz eine überempirische Bedeutung hat. Machen wir einmal diese Voraussetzung, so wird unser Surrogat der Wahrheit der Wahrheit selbst fast ähnlich werden. Und diese Voraussetzung, sagt er, muß von uns gemacht werden, denn, "wer den Zweck will, muß auch die Mittel wollen". (17) Diese Behauptung hält RICKERT für unanfechtbar. Sie spielt dabei dieselbe Rolle, wie im kantischen System der Satz, daß der Verstand der Natur Gesetze vorschreibt, d. h. mit diesem Satz steht und fällt die ganze Theorie. Desto wichtiger ist für uns, ihn genau zu betrachten und zu untersuchen.

RICKERT schlägt vor, die Voraussetzung zu machen, daß das Kausalgesetz eine überempirische Bedeutung hat. Machen wir sie, so erreichen wir die Wissenschaft, d. h. die Wahrheit. Machen wir sie nicht, so bleibt sie uns versagt. Würden wir seinen Standpunkt des Relativismus einnehmen, so würden wir selbstverständlich in diesem Vorschlag nichts Außergewöhnliches finden. Da aber vorläufig der Skeptizismus einen Sieg über alle anderen Systeme noch nicht errungen hat und der Begriff der Wahrheit, den uns RICKERT gibt, auch nicht als allgemeingültig betrachtet werden kann, so ist die Sache nicht ganz so einfach, wie man sich vorstellt. Unsere Aufgabe ist nicht, die logische Folgerichtigkeit aus den Prämissen des Relativismus bei RICKERT zu finden, sondern eben diese Prämissen der Kritik zu unterwerfen. Wir sind darum im Recht, wenn wir RICKERTs Behauptungen aus der ihm eigentümlichen Sprache in eine mehr allgemein gebräuchliche übersetzen. Die Worte "Wahrheit", "Wissen" haben noch keine spezielle Färbung, wie sie ihnen von dieser oder jener philosophischen Schule verliehen wird. Sie würden dadurch zwar an Bestimmtheit verlieren, dafür aber frei von allerhand Prämissen und idola specus [Idole der Höhle - wp] sein, welche alle Begriffe beeinflussen, die vom Standpunkt einer Partei oder Schule konstruiert worden sind. Was also bietet uns RICKERT von einem soclhen Standpunkt aus? "Wer den Zweck will, muß auch die Mittel wollen", so lauten RICKERTs Worte, d. h., wenn wir die Wahrheit wollen und sie auf keinem anderen Weg erzielen könne als durch Selbsttäuschung, so müssen wir auf diese Selbsttäuschung eingehen. Geben wir zu, daß das Kausalgesetz eine überempirische Bedeutung hat, so erhalten wir eine Wissenschaft; wollen wir aber dieses Zugeständnis nicht machen, so ist es mit der Wissenschaft aus. Das ist der genaue Sinn der RICKERTschen Lehre. Es ist unmöglich, in ihr den Skeptizismus zu verkennen. Denn der Skeptizismus besteht nicht darin, daß er sich prinzipiell jeglichen Urteils enthält. Einer solchen Deutung des Skeptizismus begegnen wir nur bei den Laien, für die fast jeder Gebildete schon allein deshalb ein Skeptiker ist, weil er jedes eigene und jedes fremde Urteil auf den Kern prüft und keinen Schritt vorwärts macht, ohne vorher den Boden zu sondieren, den er betreten will. In einem philosophischen Sinn ist der Skeptizismus ein Leugnen der absoluten Erkenntnis, aber wir finden in der Geschichte der Philosophie keinen Skeptiker, der das relative Wissen bezweifelt. Alle Streitfragen wie: der Honig ist süß - der Honig ist bitter, das Ruder ist krumm - das Ruder ist gerade usw., kurz, alles das, was im Altertum mit dem Wort "Isosthenie" [Enthaltung des Urteils - wp] (18) - dasm was die Möglichkeit gleichzeitiger, gegensätzlicher Urteile bedeutet - bezeichnet wurde, war keineswegs gegen das relative Wissen gerichtet, im Gegenteil, es sollte dem relativen Wissen als Verteidigungswaffe dienen. Der Skeptizismus ist eben von dem Satz ausgegangen, daß es eine absolute Wahrheit gibt, er behauptete nur zugleich, daß wir uns mit der relativen Wahrheit begnügen müsen, da die absolute dem menschlichen Verstand unzugänglich ist. Weder PYRRHON noch AENESIDEMUS im Altertum, weder MONTAIGNE noch NIETZSCHE von den neueren Philosophen machten den geringsten Versuch im praktischen Leben auf die Urteile zu verzichten. Selbstverständlich griffen auch die Skeptiker nicht mit bloßen Händen in heiße Kohlen, wärmten sich nicht bei Eis, aßen keine Steine oder Glas, innerhalb der Grenzen des Empirischen verhielten sie sich genau wie alle anderen Leute. Noch mehr, sie wären ganz und gar einverstanden mit RICKERTs Satz, daß in der Erkenntnistheorie das Ziel die Mittel rechtfertigt. Darauf muß ich besonders aufmerksam machen. Als Beweis können wir folgende Stelle aus einem von den letzten Werken NIETZSCHEs zitieren (Bd. 7, 1899, Seite 12):
    "Die Falschheit eines Urteils ist uns noch kein Einwand gegen ein Urteil; darin klingt unsere neue Sprache vielleicht am fremdesten. Die Frage ist, wieweit es lebensfördernd, lebenerhaltend, Art erhaltend, vielleicht gar Art züchtend ist; und wir sind grundsätzlich geneigt zu behaupten, daß die falschesten Urteile (zu denen die synthetischen Urteile a priori gehören) uns die unentbehrlichsten sind, daß ohne ein Geltenlassen der logischen Fiktionen ... ohne eine beständige Fälschung der Welt ... der Mensch nicht leben könnte, - das Verzichtleisten auf falsche Urteile ein Verzichtleisten auf Leben, eine Verneinung des Lebens wäre. Die Unwahrheit als Lebensbedingung zugestehen - das heißt freilich auf eine gefährliche Weise den gewohnten Wertgefühlen Widerstand leisten; und eine Philosophie, die das wagt, stellt sich damit allein schon jenseits von Gut und Böse."
Wie man aus diesem Zitat ersieht, rechtfertigt NIETZSCHE, trotz seines höchsten Skeptizismus, durch teleologische Erwägungen die synthetischen Urteile a priori. Der Unterschied RICKERT und NIETZSCHE besteht nur im Ton. Aber in der Philosophiekann man doch keineswegs behaupten: c'est le ton qui fait la musique. [Der Ton macht die Musik. - wp]. Wir wollen noch eine bemerkenswerte Stelle aus LUKRETIUS anführen, die wir MONTAIGNEs Essais entnehmen (Essais de MICHEL de MONTAINGE. Ed. Didot, T. I, Seite 641) [. . .]

Die philosophische Bedeutung dieser Worte von LUKRETIUS ist dieselbe wie bei NIETZSCHE und bei RICKERT: wir finden hier den teleologischen Standpunkt in Bezug auf die Wahrheit vollständig ausgeprägt. Es ist gleich, ob unser Urteil wahr oder falsch ist: wir wollen den Zweck, so müssen wir zu dessen Erlangung geeignete Mittel wählen, d. h. den Aussagen unserer Sinne glauben, wie das der KANT fremde LUKRETIUS verlangt, oder die notorisch falschen Urteile a priori zugeben, wie es NIETZSCHE und RICKERT (die KANTs Schule durchgemacht haben) fordern. Die oben angeführte Stelle aus LUKRETIUS findet eine interessante Würdigung bei MONTAIGNE: [ . . .] (19). Und tatsächlich kann man den Anführungen von RICKERT, NIETZSCHE und LUKRETIUS, sowie denen der ganzen teleologischen Richtung in der modernen philosophischen Literatur, die vom Wunsch getragen wird, KANT zu korrigieren (20), keinen anderen Namen geben, als den einer "verité si peu philosophique" [so wenig philosophische Wahrheit - wp], einer "raison desraisonnable" [unvernünftiger Grund - wp], wie sich MONTAIGNE über LUKRETIUS äußert.

§ 3. Jetzt ist verständlich, warum RICKERT gleich WINDELBAND und anderen Vertretern des teleologischen Standpunkts mit solcher Beharrlichkeit alle psychologischen Fragen aus der Erkenntnistheorie ausgeschieden hat. Nach seiner Meinung hat der psychologistische Standpunkt mit dem erkenntnistheoretischen nichts zu tun. Die Psychologie interessiert sich für die Frage, wie unser Wissen entsteht; die Erkenntnistheorie dagegen für seine Rechte; die Aufgabe der ersteren ist eine quaesio facti, der letzteren eine quaestio juris. Steht denn aber die quaestio juris nicht in einem sogar oft recht unmittelbaren Zusammenhang mit der quaestio facti? Besteht die Aufgabe der Philosophie darin, der Wissenschaft feste Grundlagen zu verleihen (diese Aufgabe hat sich, wir müssen es wiederholen, KANT gestellt), wollen die Kulturmenschen ihre Pflicht darin erblicken, die königlichen Wege der Wissenschaft gegen die Angriffe des Skeptizismus zu verteidigen, dann ist es nicht nur gefährlich, sondern geradezu unheilvoll zwischen der Erkenntnistheorie und der Psychologie eine Grenze zu ziehen. Wir müssen den Ursprung der Erkenntnis nachweisen, und zwar einen Ursprung, der ihre souveränen Ansprüche rechtfertigen kann. Die Psychologie kann und darf die natürliche Verbündete der Erkenntnistheorie sein. Kommt sie einmal zu anderen Ergebnissen als die Erkenntnistheorie, so ist in diesem Fall das Erkennen unmöglich vor einem Skeptizismus zu retten.

Dem wird entgegengehalten, daß die Psychologie der Erkenntnistheorie nicht vorausgehen kann, weil die Psychologie selbst eine Wissenschaft ist, und folglich alle Prämissen, über deren Ursprung sie Aufklärung geben muß, von ihr schon vorausgesetzt sind. Aber diese Erwiderung behält nicht mehr Recht, wie die Widerlegung der kantischen Erkenntnistheorie, die HEGEL unternommen hat. Wie bekannt, behauptete HEGEL, daß die Aufgabe, die sich eine Erkenntnistheorie stellt, im Grunde genommen unausführbar ist, da die Vernunft sich selbst und ihre eigenen Rechte untersuchen muß, was sie aber nur dann vollführen kann, wenn sie diejenigen Rechte, die der Prüfung obliegen, gebraucht (21). Das, was KANT von HEGEL vorgeworfen wird, verfehlt sein Ziel, wie KUNO FISCHER richtig bemerkt. Unsere körperlichen und geistigen Funktionen gehen vor sich, ohne daß wir uns ihres Mechanismus, dazu noch des wissenschaftlichen Mechanismus, bewußt werden. Wir verdauen ohne Physiologie usw.

Die Psychologie also, die nach dem Ursprung unserer Erkenntnis forscht, muß von der Erkenntnistheorie, die die Rechte der Erkenntnis begründet, ausgehört werden. Ist dies aber der Fall, so steht RICKERTs Theorie so wie die aller ihm Gleichgesinnten vor Hindernissen, die nie überwunden werden können. Für KANT wäre die Konfrontation der Psychologie mit der Erkenntnistheorie keineswegs gefährlich; der teleologische Standpunkt aber bringt bei der ersten Auseinandersetzung mit der Psychologie seinen Grundfehler - die Blutsverwandtschaft mit dem Skeptizismus nämlich - ans Licht.

Dieser Fehler tritt bei RICKERT umso klarer hervor, weil er sich in dieser Beziehung vollständig unverletztlich fühlt. Er glaubt, daß durch seine Ausführungen über die quaestio facti und die quaestio juris die Möglichkeit auf immer aus der Welt geschafft ist, das Erkennen durch Nachforschungen über seinen Ursprung zu kompromittieren, und darum gestattet er der Psychologie ihre Urteile frei auszusprechen. Was sie sagt, ist folgendes:
    "Beim Wert dagegen, den wir im Urteil anerkennen, liegt die Sache ganz anders. Wir konstatieren hier auch etwas, das wir nicht anders beschreiben können, als dadurch, daß wir es ein Gefühl nennen, ein Lustgefühl, in dem der Trieb nach Erkenntnis zur Ruhe kommt, und wir nennen dieses Gefühl Gewißheit." (22)
Somit stützt sich jedes Urteil, psychologisch betrachtet, auf das Gefühl, das Gefühl der Gewißheit. Die Lust, die uns das Gefühl verschafft, zwingt uns nach etwas zu streben, was sich Erkenntnis nennt; die Unlust dagegen, die durch die Ungewißheit in dieser Beziehung in uns hervorgerufen wird, läßt uns keine Ruhe bis wir in das unbekannte Land, das sich "Erkenntnis" nennt, gelangt sind. Und dieses Gefühl ist das höchste Kriterium der Wahrheit.

Wie ich früher darauf hingewiesen habe, urteilt SIGWART über den letzten Grund der Wahrheit in gleicher Weise wie RICKERT. Das hindert ihn nicht, sich gleichzeitig zu der Theorie zu bekennen, die in den ethischen Werten die Grundprinzipien der Wissenschaft erblickt. Wir haben also kein Recht, RICKERT allein für diese Anschauung verantwortlich zu machen. Dies zugegeben, gewinnt dieselbe dadurch doch nicht an Grundsätzlichkeit. Im Gegenteil: weil dieser Standpunkt in SIGWART einen so angesehenen Verfechter gefunden hat, müssen wir ihn umso genauer und aufmerksamer prüfen.

Mit vollem Recht behauptet WUNDT: "Man kann doch so einem trügerischen Gefühl unmöglich das Fundament aller Erkenntnis anvertrauen." (23) Und wirklich kann man sich ihm nur dann anvertrauen, wenn man vollständig die Hoffnung aufgegeben hat, jemals eine objektive Wahrheit zu erzielen. Mit anderen Worten: in RICKERTs Satz zeigt sich der Ausdruck des Skeptizismus, der nicht mehr imstande ist, sich selbst zu ertragen, und der zu jeder sich darbietenden, wenn auch scheinbaren Gewißheit Zuflucht nimmt, um nur seinen Schwankungen ein Ende zu machen. "Wer den Zweck will, muß auch die Mittel wollen" - diese "raison desraisonnable" ist der Grundsatz von RICKERTs Lehre. Nebenbei gesagt, weist der Skeptizismus des Altertums, der die Möglichkeit der Erkenntnis offenkundig leugnete, in seinem inneren Wesen, in seinen psychologischen Grundsätzen eine solche Ähnlichkeit mit dem Skeptizismus RICKERTs auf, wie nur Brüder, ja sogar Zwillingsbrüder, sie besitzen können. Bei den besten Vertretern der alten Philosophie erscheint der Skeptizismus am Ende auch in der Gestalt eines ethischen Idealismus. Die Skeptiker stellen sich gar nicht die Aufgabe, ihren Nächsten durch Betrachtungen über die Unmöglichkeit des Erkennens zu verblüffen (24). Im Gegenteil: auch sie strebten immer nach innerer Ruhe, nach Gewißheit und Festigkeit, die sie, wie bekannt, durch Ataraxie, d. h. durch den Zustand des gleichgültigen Verhaltens gegenüber allem Rätselhaften, zu erzielen glaubten. Es gibt keine Wahrheit, der Mensch ist das Maß aller Dinge. Deshalb sagten sie: dieses Bewußtsein muß alle innere Unruhe in uns ertöten, die von dem Wunsch beseelt ist, das große, für den endlichen Menschenverstand unlösbare Geheimnis des Lebens und des Todes um jeden Preis zu ergründen. Gewöhnlich schuf der Skeptizismus, nachdem er auch psychologischem Weg Beweise für die Unmöglichkeit des absoluten Wissen brachte, relative Urteile (25), die er gleich RICKERT nach teleologischen Prinzipien konstruierte, und deren Bestimmung ein Surrogat für das wahre Wissen sein sollte. Mit anderen Worten: die Skeptiker des Altertums unterschieden schon zwischen der Psychologie und der Erkenntnistheorie, und alles das, was die Psychologie erschüttert hat, wurde bei ihnen sowie bei RICKERT durch die Erkenntnistheorie, d. h. durch teleologische Erwägungen gesichert. Freilich war die Terminologie dort eine ganz andere, aber der Sinn war derselbe.

Wir sind bei der Verwandtschaft zwischen RICKERTs Lehre und dem Skeptizismus solange verweilt, weil dieser Umstand nicht nur für RICKERT, sondern auch für die Krisis, welche die moderne Philosophie durchmacht, wichtig und bezeichnend ist. Der Materialismus, der noch vor einem halben Jahrhundert die dominierende philosophische Richtung in Europa war, beunruhigt jetzt die Geister nicht mehr. Er wurde durch die Anstrengungen jener Denker bezwungen, welche die von OTTO LIEBMANN und F. A. LANGE aufgehißte Fahne mit der Devise "Zurück zu Kant!" ergriffen haben. Jetzt werden wir sogar zwischen den Naturforschern selten einen überzeugten Materialisten finden. Aber die langjährige Schulung im Geiste der mechanistischen Weltanschauung hat ihre Spuren in den Ansichten des modernen Menschen hinterlassen: wenn er auch Stoff und Kraft nicht als einzigen Ursprung allen Daseins anerkennt, so wagt er es doch nicht, die Voreingenommenheit in seinen Ansichten abzuwerfen, die jedem anhaftet, der in einem gewissen Milieu seine Erziehung bekommen hat. "Der zertrümmerte Tempel bleibt ein Tempel, das gestürzte Idol - ein Gott", wie der große russische Dichter sagt. Der Materialismus, an den man nicht mehr glaubt, hört nicht auf, seine hypnotisierende Wirkung auszuüben und führte am Ende zu dem Skeptizismus, für den die Lehre RICKERTs und die seiner Gleichgesinnten als Beispiele dienen können. So läßt sich vielleicht die Vorliebe der modernen Philosophie für die Erkenntnistheorie erklären, wie auch die spezifische Angst vor Systemen. RICKERT wie WINDELBAND stellen immer die Fragen: Was ist Wahrheit? welche Grenzen sind der menschlichen Vernunft gezogen? Wenn KANT, fast 150 Jahre früher, in seiner "Kritik der reinen Vernunft" diese Fragen aufwirft, so hat es eine tiefe Bedeutung. KANTs Aufgabe bestand darin, die möglichen Grenzen der menschlichen Erkenntnis festzustellen; dabei gab es für ihn - im Gegensatz zu den metaphysischen Fragen - selbstverständlich nur eine einzige allgemeingültige Lösung dieser Aufgabe. Anstatt der Metaphysik, in der jeder dachte und sprach so wie es ihm genehm war, wollte KANT eine Erkenntnistheorie konstruieren, die ein für allemal alle in ihr Gebiet fallenden Fragen lösen würde. Seine Erwartungen erfüllten sich nicht. Heutzutage befindet sich die Erkenntnistheorie in keinem besonderen Zustand, wie die Metaphysik zu KANTs Lebzeiten. Ich bezweifle, ob in der modernen Erkenntnistheorie ein einziger Satz zu finden ist, der nicht auf Widerspruch stößt. HUSSERL hat vollständig recht, wenn er behauptet, daß der passendste Ausdruck für die Bezeichnung des Zustandes, i dem sich die moderne Logik befindet, "bellum omnium contra omnes" [Krieg aller gegen alle - wp] (26) ist. So viele Meinungen, so viele Schulen; so viele Schulen, so viele Philosophen. Wenn also die Aufgabe der Erkenntnistheorie die war, den philosophischen Systemen feste Grundlagen zu verleihen, so muß man leider gestehen, daß dieses Ziel von ihr nicht erreicht worden ist. Anstatt einer willkürlichen Metaphysik haben wir eine ebenso willkürliche Erkenntnistheorie. Es gibt fast keine abgeschlossenen philosophischen Systeme, sie werden meistenteils durch Einleitungen in die Philosophie ersetzt. Die Ursachen dieser bedauerlichen Tatsache müssen wir nicht in einer Abnahme der geistigen Leistungsfähigkeit suchen, sondern in einem Mißtrauen zur Schöpferkraft des menschlichen Geistes, in jenem Skeptizismus, von dem der moderne Mensch vollständig durchdrungen ist und der in RICKERTs Theorie zum Vorschein kommt, so wie auch in vielen anderen Theorien, die hier zu besprechen nicht der Platz und nicht unsere Aufgabe ist.

Psychologisch betrachtet, bezweckt die Erkenntnis nach RICKERT uns auf jede annehmbare Weise von jenem unangenehmen Zustand zu befreien, der mit jeder Ungewißheit verbunden ist, und un in jenen angenehmen Zustand zu versetzen, den wir Gewißheit nennen. Vom erkenntnistheoretischen Standpunkt aus ist der Endzweck des Erkennens die Wahrheit, die Ausübung einer transzendenten Pflicht. Beiden Ansichten zufolge liegt die Wirklichkeit außerhalb der Erkenntnis, sie ist mit anderen Worten: vollständig irrational. Alle wissenschaftlichen Theorien, die allumfassendsten Systeme, ja sogar das bloße Aberkennen der Tatsachen nicht ausgenommen, sagen über den Inhalt der Wirklichkeit nichts aus.

Nun erhebt sich aber die Frage, ob es überhaupt eine Wirklichkeit gibt? Welche Antwort weiß RICKERT auf diese Frage zu geben? Wir finden bei ihm folgende sehr wichtige Behauptung:
    "Die Frage nach dem Wesen des Inhalts der Wirklichkeit ist keine Frage, denn die Wirklichkeit hat überhaupt nicht einen Inhalt. Wer ihren Inhalt kennenlernen will, wie er, abgesehen vom Inhalt der Begriffe der Einzelwissenschaften, also abgesehen von den methodologischen Formen, sich darstellt, der muß versuchen, möglichst viel davon zu erleben ... Eine Einheit des Seins wird man auf diesem Weg nie finden, sondern immer mehr über die Mannigfaltigkeit seines Inhaltes staunen." (27)
In diesem freiwilligen oder unfreiwilligen Bekenntnis rächt sich der im Rücken gebliebene Relativismus vollgültig für die ihm erwiesene Geringschätzung. Um uns eine vollständige Klarheit über den Sinn der oben zitierten Worte zu verschaffen, wollen wir die Grundsätze der Lehre RICKERTs und seine Ausführungen von der Bedeutung des Urteilens rekapitulieren. Urteilen heißt beurteilen, anerkennen, und das Objekt eines Urteils kann nicht das Sein, sondern nur das Sollen sein. (28)

Es ergibt sich die natürliche Frage nach der Bedeutung des oben angeführten RICKERTschen Urteils, wonach die Wirklichkeit irrational ist und man, um sie kennen zu lernen, möglichst viel von ihr und ihrer Mannigfaltigkeit erleben muß. Auf was bezieht sich dieses Urteil, auf das Sein oder auf das Sollen? Wenn es sich auf das Sollen bezieht, dann hat es keinen Sinn, denn wir haben dabei von der Wirklichkeit keinen Begriff bekommen und können infolgedessen wiederum die Frage von der Wirklichkeit aufwerfen usw. ad infinitum [ohne Ende - wp]. Bezieht es sich aber auf das Sein, dann wird die ganze Theorie RICKERTs vom Gegenstand der Erkenntnis, mit anderen Worten seine Erkenntnistheorie in ihrem ganzen Umfang hinfällig, denn wir müssen annehmen, daß nicht nur das Sollen, sondern auch das Sein Objekt unseres Erkennens sein kann.

Das ist noch nicht alles: wir müssen schließlich zugeben, daß ein Erkennen der Wirklichkeit möglich ist - es ist nur nötig, zu diesem Zweck die Wirklichkeit zu erleben -, daß infolgedessen die Wissenschaft (sowohl die Naturwissenschaft wie auch die Geschichtswissenschaft), die die Wirklichkeit mittels der Begriffe umformt, kein eigentliches Wissen verleiht. RICKERT diskreditiert also seine eigene Erkenntnistheorie und rüttelt gleichzeitig an den ewigen Pfeilern der Wissenschaft. Man kann nicht ungestraft den Relativismus im Rücken lassen. In dem Augenblick, wo man ihn am wenigsten erwarten kann, erscheint er in voller Rüstung und nicht mit Unrecht sagte NAPOLEON, daß ein Soldat im Rücken gefährlicher ist als ein ganzes Bataillon in der Front.

Aber wir müssen noch auf einen sehr wichtigen Punkt, den wir früher nur berührt haben, der aber im engsten Zusammenhang mit RICKERTs Lehre steht, des nähere eingehen. RICKERT sagt:
    "Wir stellen uns also im Folgenden mit vollem Bewußtsein auf einen anthropomorphistischen, erkenntnistheoretischen Standpunkt und halten ihn, da alle Erkenntnis, die für uns überhaupt in Betracht kommt, von Menschen imt menschlichen Mitteln zustande gebracht wird, für den einzig fruchtbaren." (29)
Nach RICKERTs Meinung ist dieser Standpunkt fruchtbar und kann außerdem die Probe glücklich bestehen, auf welche die entsprechende Behauptung des Skeptizismus gestellt wird, d. h. er enthält in sich keinen inneren Widerspruch. Aber man braucht nur ein wenig aufmerksam zu sein, um mit HUSSERL zu sehen, daß der spezifische Relativismus in dieser Beziehung keine Vorzüge vor dem absoluten aufweist. Der absolute Relativismus behauptet nach der bekannten Formulierung von PROTAGORAS, daß der Mensch das Maß aller Dinge ist; der Begriff Mensch wurde nicht im Sinn von genus, sondern im Sinn des Individuums genommen, es soll also jeder Mensch das Maß aller Dinge sein.

RICKERT hat dieselbe Aufgabe, aber er nimmt den Begriff Mensch im Sinne von genus. Darum nannte HUSSERL (30) diese Art Relativismus einen spezifischen Relativismus, zum Unterschied vom individuellen, dessen Repräsentant PROTAGORAS war. HUSSERLs Werk ist etwas früher als RICKERTs Hauptwerk erschienen, darum läßt er sich mit RICKERT in keine Kontroversen ein und zieht die logischen Untersuchungen von MILL, WUNDT, SIGWART, ERDMANN und LIPPS in Betracht. Behält er aber in seinen Erwiderungen gegen SIGWART nicht immer recht, so können dieselben doch in vollem Umfang auf RICKERT bezogen werden, weil RICKERT, wie sonderbar es auch klingen mag, seinen Relativismus konsequenter durchführt: er läßt sich in seiner Folgerichtigkeit sogar von offenkundig unannehmbaren Schlüssen nicht zurückschrecken. Darum konnte SIGWART in der dritten Auflage seiner "Logik" HUSSERLs Angriffe erfolgreich zurückweisen, RICKERT dagegen, der in der zweiten Auflage seines Werkes "Gegenstand der Erkenntnis" HUSSERL zitiert, erwähnt mit keinem Wort die Polemik HUSSERLs gegen den spezifischen Relativismus.

Der grundlegende Gedanke bei HUSSERL ist folgender:
    "Der schwerste Vorwurf, den man gegen eine Theorie, und zumal gegen eine Theorie der Logik, erheben kann, besteht darin, daß sie gegen die evidenten Bedingungen der Möglichkeit einer Theorie überhaupt verstößt." (31)
Es ist klar, daß dieser Satz nur eine Verallgemeinerung derjenigen Argumentaion ist, die Jahrhunderte hindurch seit SOKRATES und PLATON von den Gegnern des Skeptizismujs geführt wurde (32) und deren sich, wie bereits erwähnt, auch RICKERT immer dann bedient, wenn er gegen den individuellen Relativismus Stellung nimmt. Wir wollen jetzt sehen, ob RICKERTs spezifischer Relativismus dieser Argumentation standhalten. Ich behalte mir vor, später von dem, was ich seinerzeit als prästabilierte Harmonie bezeichnet habe, zu sprechen. Vorläufig ignoriere ich diese metaphysische Voraussetzung und glaube mich dazu vollständig berechtigt, da RICKERT selbst meint, seine Theorie lasse sich auch ohne diese Voraussetzung behaupten; außerdem sind wir der Meinung, daß es sich für einen Kantianer kaum geziemt, seine Erkenntnistheorie auf eine metaphysische Voraussetzung zu stützen. Wir wollen sehen, welche Vorzüge der spezifische Relativismus vor dem Individuellen aufweist, und welches Urteil die Logik über ihn fällen wird.

HUSSERL sagt:
    "Können wir beim Subjektivismus zweifeln, ob er jemals in vollem Ernst vertreten worden ist, so neigt im Gegenteil die neuere und neueste Philosophie dem spezifischen Relativismus und näher dem Anthropologismus, in einem Maße zu, daß wir nur ausnahmsweise einem Denker begegnen, der sich von den Irrtümern dieser Lehre ganz rein zu erhalten wußte." (33)
Hat HUSSERL recht (und das scheint mir unzweifelhaft; ich selbst halte RICKERT für einen der konsequentesten Vertreter des modernen spezifischen Relativismus), dann bekommt diese Frage eine sehr wichtige Bedeutung: sie kann nicht nur über die Irrwege eines einzelnen Philosophen, sondern auch über as Vorurteil eines Zeitalters Klarheit verschaffen. Vielleicht müssen wir im spezifischen Relativismus ein Überbleibsel des Materialismus erblicken, wie ich schon ausgeführt habe. Materialisten, die sich enttäuscht von ihrer Lehre abgewandt haben, übertragen diese Enttäuschung auf die Philosophie überhaupt: sie glauben schon nicht mehr an die Wahrheit und meinen, daß ein Surrogat der Wahrheit den schwachen und unzulänglichen Menschenverstand vollständig befriedigen kann. Die Aera der großen philosophischen Systeme hat der Zeit der Erkenntnistheorien Platz gemacht.

HUSSERL aber tritt dem spezifischen Relativismus mit vollem Recht entgegen. Die Annahme, daß uns nicht alles zu wissen gegeben ist, ist etwas ganz anderes als der Standpunkt der Anthropologisten, die behaupten, daß unser Wissen ein menschliches, d. h. kein eigentliches Wissen, oder, wie HUSSERL sich ausdrückt, "Wahrheit für die oder jene Spezies" ist. Im Gegensatz zu RICKERT erklärt er:
    "Was wahr ist, ist absolut, ist ansich wahr; die Wahrheit ist identisch Eine, ob sie Menschen oder Unmenschen, Engel oder Götter urteilend erfassen." (34)
Und weiter:
    "Die Wahrheit durch Beziehung auf die Gemeinsamkeit der Natur bestimmen, heißt ihren Begriff aufgeben. Hätte die Wahrheit eine wesentliche Beziehung zu denkenden Intelligenzen, ihren geistigen Funktionen und Bewegungsformen, so entstände und verginge sie mit ihnen, und wenn nicht mit den Einzelnen, so mit den Spezies. Wie die echte Objektivität der Wahrheit wäre auch die des Seins dahin, selbst die des subjektiven Seins, bzw. des Seins der Subjekte." (35)
Um HUSSERLs Gedankengang vollständig klar zu machen und zu zeigen, wie er den spezifischen Relativismus widerlegt, um uns endgültig zu überzeugen, daß der spezifische Relativismus keine Vorzüge vor dem individuellen aufweist und ebenso unhaltbar ist wie dieser, wollen wir noch ein Zitat aus HUSSERLs "Logischen Untersuchungen" anführen.

HUSSERL schlägt vor, uns vorzustellen, daß irgendwo andere Wesen existieren, die er "logische Übermenschen" nennt,
    "für welche unsere Grundsätze nicht gelten, vielmehr ganz andere Grundsätze, derart, daß jede Wahrheit für uns, zur Falschheit wird für sie. Ihnen gilt es recht, daß sie die psychischen Phänomene, die sie jeweils erleben - nicht erleben. Daß wir und daß sie existieren, mag für uns wahr sein, für sie ist es falsch usw. Freilich würden wir logischen Alltagsmenschen urteilen: solche Wesen sind von Sinnen, sie reden von der Wahrheit und heben ihre Gesetze auf, sie behaupten ihre eigenen Denkgesetze zu haben, und sie leugnen diejenigen, an welchen die Möglichkeit von Gesetzen überhaupt hängt. Sie behaupten und lassen zugleich die Leugnung des Behaupteten zu. Ja und Nein, Wahrheit und Irrtum, Existenz und Nichtexistenz verlieren in ihrem Denken jede Auszeichnung voneinander." (36)
Alle diese Ausführungen, ich wiederhole es, sind vorbildlich für die Einwände, die man gewöhnlich gegen den individuellen Relativismus macht. Ihr Kernpunkt liegt in dem Satz: "Eine widersinnige Möglichkeit ist Unmöglichkeit." Neu ist bei HUSSERL nur, daß sie bei ihm in vollem Umfang auch auf den spezifischen Relativismus angewandt werden. Und man muß zugeben, HUSSERLs Argumentation ist unwiderleglich: Der spezifische Relativismus weist keine Vorzüge vor dem individuellen Relativismus auf.
LITERATUR - Fanny Lowtzky, Studien zur Erkenntnistheorie [Inaugural-Dissertation] Borna-Leipzig 1910
    Anmerkungen
    1) "... der letzte und allgemeinste logische Begriff, der der Wahrheit, da er ein Geltung fordernder Wert ist, beruth auf einem Willen, der Werte überhaupt will, und deshalb können wir erst in dem das Sollen seiner selbst wegen anerkennenden Willen das letzte Fundament des Erkennens sehen, für das dann keine Begründung mehr möglich ist." ("Grenzen", Seite 698)
    2) Der Ausdruck "zwischen denjenigen" stammt von Windelband, läßt sich aber auch auf Rickert anwenden.
    3) Die Anschauungen Windelbands und Rickerts über die Grundsätze der wissenschaftlichen Erkenntnis finden in der russischen Literatur viele Verfechter. Der bedeutendste unter ihnen, Tschelpanow in Moskau, betont in seinem tiefdurchdachten Werk "Probleme der Raumwahrnehmung" (Kiew, 1904, Bd. 2, Seite 428) seine Übereinstimmung mit Sigwart, Windelband und Rickert. Es heißt da: "Erblickt jemand in einer solchen (d. h. teleologischen) Begründung der Wissenschaft einen Skeptizismus, so läßt sich demgegenüber kaum etwas einwenden. Wenn man diese Begründung auch als eine skeptische anerkennt, so ist doch klar, daß dieser Skeptizismus vom landläufigen abweicht". Daß wir es nicht mit einem landläufigen Skeptizismus zu tun haben, steht außer Zweifel. Aber er hört darum eben doch nicht auf, ein Skeptizismus zu sein. Was mir an den Äußerungen Tschelpanows besonders wichtig erscheint, ist, daß sie einen Beweis darstellen dafür, daß selbstgewissenhafte und zuverlässige Anhänger des teleologischen Grundprinzips in Rickerts Lehre keine Niederlage, sondern einen Triumph des Skeptizismus erblicken.
    4) Vgl. Raoul Richter, Der Skeptizismus in der Philosophie, 1904, Bd. 1, Seite 126f: "Die moderne Partei, die mit der antiken Skepsis auf einer Basis steht, kann sich auf keinen geringeren als Kant berufen. Kant und die große Schule der Kantianer lehren ausdrücklich eine skeptische Isosthenie [Gleichwertigkeit widerstreitender Meinungen - wp] für alle Urteile über die Dinge ansich ... Aber bei Kant bedeuten diese Dinge-ansich, von denen wir nichts wissen können, außerzeitlich-außerräumliche, übersinnliche, metaphysische Wesen, und sie haben mit den räumlich-zeitlichen Gegenständen, die wir sehr wohl zu erkennen vermögen, nichts gemein; für die antiken Skeptiker dagegen befinden sich die Dinge ansich im Raum und in der Zeit, und sind die sinnlichen physischen Ursachen unserer Gegenstandsvorstellungen". Wie ich noch zeigen werde, hält Rickert, der den immanenten Standpunkt vertritt und die kantische Teilung der Welt in Dinge-ansich und Erscheinungen nicht anerkennt, die Welt für unerkennbar, wie dies ja auch bei den antiken Skeptikern der Fall war.
    5) Ludwig Stein betont in seinem Werk "Philosophische Strömungen der Gegenwart" den Unterschied zwischen "Müssen" und "Sollen". Es heißt da: "Das Müssen entspricht der mechanischen Kausalität, die Motiven entspringt, die nach Inhalt und Stärkegrad individuell gefärbt bleiben. ... im Müssen handeln wir heteronom, im Sollen autonom." (Seite 436)
    6) Alois Riehl, Philosophie der Gegenwart, zweite Auflage 1904, Seite 135f: "Wenn es außer der zu unserer Erfahrung gelangenden Wirklichkeit noch eine chaotische und regellose geben würde, - Gegenstand des Denkens könnte sie niemals werden."
    7) Rickert ist nicht der Einzige, der die kantische Lehre auf diese Weise deutet. Sigwart z. B. sagt (Logik II, dritte Auflage, Seite 22/23): "Was Kant dargetan hat, ist also nicht, daß planlos verlaufende Veränderungen überhaupt nicht Gegenstand eines Bewußtseins werden könnten, sondern nur, daß jenes ideale Bewußtsein der vollendeten Wissenschaft nicht möglich wäre ohne Einsicht in die Notwendigkeit allen Geschehens; und sein Kausalitätsprinzip ist kein Grundsatz des reinen Verstandes im Sinne eines synthetischen Urteils a priori, sondern ein Postulat des Strebens nach vollkommener Erkenntnis. Somit sind jene allgemeinen Voraussetzungen, welche die Grundzüge unseres Ideals der Wissenschaft ausmachen, nicht sowohl Gesetze, welche der Verstand der Natur bzw. unseren sinnlichen Wahrnehmungen vorschreibt, als vielmehr Gesetze, welche er sich selbst in der Erforschung und denkenden Bearbeitung der Natur gibt".
    8) Vgl. John Stuart Mill, Logik (Buch III, Kapitel 21, § 1): "Ich bin überzeugt, daß jeder, der an Abstraktion und Analyse gewöhnt ist und sich die erforderliche Mühe geben will, keine Schwierigkeit finden wird, sich vorzustellen ( sobald nur einmal seine Einbildungskraft mit dem Gedanken vertraut geworden ist), daß z. B. in irgendeiner von den vielen Fixsternregionen, in welche die Astronommie gegenwärtig das Weltall einteilt, die Ereignisse einander nach ungefähr, ohne irgendein festes Gesetz folgen mögen; und nichts in unserer Erfahrung oder in der Natur unseres Geistes gibt uns genügenden oder in der Tat irgendeinen Grund zu glauben, daß dies nirgends der Fall ist."
    9) "Grenzen", Seite 741
    10) Gegenstand der Erkenntnis, Seite 140
    11) Husserl, Logische Untersuchungen I, 1900, Seite 116.
    12) Im Vorwort zur zweiten Ausgabe der "Kritik der reinen Vernunft" wird der Ausdruck "der sichere Weg der Wissenschaft" öfters gebraucht. In Bezug auf die Mathematik wird ein sogar viel prägnanterer Ausdruck angewandt. Kant spricht davon, wie diese Wissenschaft danach strebte, "jenen königlichen Weg zu treffen oder vielmehr sich selbst zu bahnen."
    13) Rickert macht Kant das exklusive Interesse, das er für die Mathematik und die Naturwissenschaften hat, sogar zum Vorwurf. Vgl. Rickerts "Geschichtsphilosophie" im Sammelwerk "Die Philosophie im Beginn des 20. Jahrhunderts", Bd. 2, 1905, Seite 58: "So völlig durch Kant der Naturalismus als Weltanschauung im Prinzip überwunden ist, so liegt in der Hauptsache diese Überwindung doch nicht in einer Richtung auf das historische Denken. Zu dessen Erfassung finden sich bei dem Jünger Newtons höchstens Ansätze, und Kants Methodologie wird gerade in seinem theoretischen Hauptwerk noch fast ganz durch sein Interesse an der Mathematik und der Naturwissenschaft beherrscht." (von mir gesperrt)
    14) Vgl. "Grenzen", Seite 364. "So ist jedenfalls die Naturwissenschaft in einer schwierigeren Lage, wenn sie vor dem Richterstuhl des Empirismus ihre Objektivität rechtfertigen soll, als die historische Darstellung"; und weiter Seite 662: "Wir ziehen zunächst einmal die Naturwissenschaft ganz auf das subjektivistische Niveau der Geschichte herab."
    15) Prolegomena, § 15: "Nun sind wir gleichwohl wirklich im Besitz einer reinen Naturwissenschaft, die a priori und mit aller derjenigen Notwendigkeit, welche zu apodiktischen Sätzen erforderlich ist, Gesetze vorträgt, unter denen die Natur steht" (von mir gesperrt).
    16) Grenzen, Seite 680.
    17) ebd., Seite 680
    18) Vgl. Raoul Richter, Der Skeptizismus in der Philosophie, 1904, Bd. 1, Seite 122: "Sätze wie: der Honig ist süß - der Honig ist bitter, das Ruder ist krumm - das Ruder ist gerade, ursächliches Wirken besteht - ursächliches Wirken besteht nicht, es gibt Götter - es gibt keine Götter, der Schnee ist schwarz - der Schnee ist weiß, waren Beispiele der Isosthenie."
    19) Essais de Michel de Montaigne, T. I, Seite 642.
    20) Mit Recht behauptet Ludwig Stein: "Ich muß dagegen Verwahrung einlegen, daß man in der Teleologie mehr sieht, als sie zu bieten vermag. Darin hat Kant das letzte Wort für mich gesprochen. Die Teleologie ist heuristisches und regulatives, aber niemals konstitutives Prinzip, wie die Kausalität." (Philosophische Strömungen der Gegenwart, 1908, Seite 66)
    21) Hegel, "Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften", § 10: "Die Untersuchung des Erkennens kann nicht anders als erkennend geschehen; bei diesem sogenannten Werkzeug heißt dasselbe untersuchen nichts anderes als es erkennen. Erkennen wollen aber, ehe man erkennt, ist ebenso ungereimt, als der weise Vorsatz jenes Scholastikus, schwimmen zu lernen, ehe er sich ins Wasser wagt."
    22) Rickert, Gegenstand der Erkenntnis, Seite 111
    23) Wundt, Logik, dritte Auflage 1906, Bd. 1, Seite 82.
    24) Vgl. Eduard Zeller, Griechen, Bd. III, dritte Auflage, Seite 478: "Sowohl der Stoizismus, wie auch der Epikureismus war für sein (Pyrrhons) Glückseligkeitsstreben von bestimmten dogmatischen Voraussetzungen ausgegangen; die skeptischen Schulen suchen dasselbe Ziel durch die Aufhebung jeder dogmatischen Voraussetzung zu erreichen. So verschieden aber die Wege auch sein mögen, das Endergebnis ist dasselbe: daß die Glückseligkeit nur in der Erhebung des Geistes über alles Äußere, in der Zurückziehung des Menschen auf sein denkendes Selbstbewußtsein liegen kann. Die nacharistotelische Skepsis bewegt sich nicht nur im Allgemeinen in derselben Richtung, wie die gleichzeitigen dogmatischen Systeme, sofern auch sie die Aufgabe der Philosophie wesentlich praktisch faßt, und den Wert der theoretischen Untersuchungen nach ihrem Einfluß auf das Verhalten und die Glückseligkeit des Menschen bemißt; sondern sie trifft mit ihnen auch in der ethischen Lebensansicht selbst zusammen, denn das Ziel, zu dem sie uns hinführen will, ist das gleiche wie es jene anstreben, die Ruhe des Gemüts, die Ataraxie. Der Unterschied ist nur, daß die Epikureer, wie die Stoiker, die Gemütsruhe durch die Kenntnis der Welt und ihrer Gesetze bedingt glauben, wogegen die Skeptiker der Meinung sind, nur durch den Verzicht auf alles Wissen lasse sie sich fest begründen ..."
    25) Sogar schon die ersten Sophisten kamen, obwohl sie von der Voraussetzung der Unmöglichkeit eines festen Wissens ausgingen, zu festen ethischen Ergebnissen. Vgl. Zeller, a. a. O., Bd. 1, fünfte Auflage, Seite 1119: "Die Sophisten wollten Tugendlehrer sein, und sie betrachteten dies gerade deshalb als ihre eigentliche Aufgabe, weil sie an die wissenschaftliche Erkenntnis der Dinge nicht glaubten und keinen Sinn dafür hatten." Oder in Bd. III der dritten Auflage, Seite 514 von Karneades: "Mögen wir noch so sehr auf das Wissen verzichten, so bedürfen wir doch einer Anregung und Unterlage für das Handeln, wir bedürfen gewisser Voraussetzungen, von denen unser Streben nach Glückseligkeit ausgeht. Wir müssen daher gewissen Vorstellungen so viel Gewicht beilegen, daß wir uns durch sie bestimmen lassen; nur werden wir uns wohl hüten, sie darum für wahr, für etwas Gewußtes und Begriffenes, zu halten". usw. Alle diese Ausführungen zeigen eine frappante Ähnlichkeit mit Rickerts Lehre von der irrationalen Wirklichkeit: wir können aufgrund der letzteren zwar die Wissenschaft konstruieren, aber diese Wirklichkeit zu erkennen, ist uns nicht gegeben; sie bildet kein Ingrediens des Wisssens usw.
    26) Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, Bd. 1, 1900, Seite 4: "Aber kaum wird man es als Übertreibung tadeln, wenn wir im Hinblick auf die vorgetragenen Lehren und zumal auch im Hinblick auf die gegensätzlichen Deutungen der altüberlieferten Formeln und Lehrstücke das Wort vom bellum omnium contra omnes anwenden."
    27) Gegenstand der Erkenntnis, Seite 221.
    28) vgl. a. a. O., Seite 151: "Das transzendente Sollen und seine Anerkennung ist begrifflich früher als das immanente Sein." (von mir gesperrt)
    29) vgl. "Grenzen", Seite 675
    30) Husserl, Logische Untersuchungen, Bd. 1, 1900, Seite 114/115.
    31) a. a. O., Bd. 1, Seite 110.
    32) vgl. Rudolf Eisler, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Bd. 2., 1904, Seite 856.
    33) Husserl, a. a. O., Seite 116
    34) Husserl, Logische Untersuchungen, Bd. 1, Seite 117.
    35) ebd. Seite 131
    36) ebd. Seite 151; vgl. ferner Ludwig Stein, Philosophische Strömungen der Gegenwart, Seite 304: "Die wissenschaftlichen Wahrheiten, die logisch mathematischen Gesetze, die Mathematik der Natur, wie sie bei den Romantikern hieß, haben eine transsubjektive Geltung, wenn sie auch, wie Kant annimmt, nur subjektive Bedingungen sind. Die Naturgesetze sind Beispiele wissenschaftlicher Wahrheiten, die Menschen nicht gefunden, sondern vorgefunden haben. Bevor es Menschen auf unserem Planeten gab, übten diese Gesetze bereits ihre unfehlbare Wirkung aus."