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FANNY LOWTZKY
Studien zur Erkenntnistheorie
[Rickerts Lehre über die logische Struktur
der Naturwissenschaft und Geschichte.]

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"Der Verzicht auf den platonischen Begriffsrealismus oder auf die Ansicht, wonach die Wissenschaft die Wirklichkeit nicht abbildet, bedeutet nach Rickert keinen Eingriff in die Objektivität der Wissenschaft. Damit will er nur sagen, daß die Objektivität der Wissenschaft gar nicht dort liegt, wo man sie vermutet. Wie er selbst zugibt, ist seine Auffassung von der Beziehung der Wissenschaft zur Wirklichkeit nicht neu. Schon Sokrates kannte den Gegensatz vom Allgemeinen und Individuellen. Rickert unterscheidet sich von den Philosophen des Altertums nur dadurch, daß er das Allgemeine nicht vergegenständlicht, daß es für ihn also keine Realität und keine Wirklichkeit ist, sondern daß alles Wirkliche für ihn im Anschaulichen und Individuellen steckt."

"Wie Rickert selbst hervorhebt, ist es schwer, einen scharfen Unterschied zwischen den Begriffen logisch und erkenntnistheoretisch zu machen. Die Aufgaben dieser zwei wissenschaftlichen Disziplinen fallen zusammen und ihr Unterschied liegt lediglich darin, daß die Erkenntnistheorie das Problem des Erkennens im Zusammenhang mit einer allgemeinen Weltauffassung behandelt."


Erstes Kapitel
Darstellung der Rickertschen Lehre

III. Die logische Struktur der
historischen Wissenschaften

§ 1. Wir haben uns bisher auf die Untersuchung der Körperwissenschaften beschränkt. Mit Rücksicht auf die größere Klarheit der Darstellung haben wir für die Probleme der Geisteswissenschaften ein besonderes Kapitel reserviert. Nach RICKERTs Meinung unterscheiden sich die Geisteswissenschaften ihrer logischen Struktur nach von den Wissenschaften der Körperwelt nicht. In dieser Beziehung steht unser Autor in einem vollständigen Gegensatz zur herrschenden Ansicht (1). Als Epigraph zum Kapitel "Natur und Geist" zitiert er SPINOZAs Worte: "Die Gesetze und Prinzipien der Natur sind immer und überall dieselben, deswegen muß auch die Art des Begreifens der Natur aller Art Dinge dieselbe sein". (2)

Wodurch unterscheidet sich das psychische Sein, das den Gegenstand der Geisteswissenschaften bildet, vom physische Sein, das den Gegenstand der Körperwissenschaften ausmacht? Wie bekannt, ist diese Frage bis heute noch nicht definitiv gelöst. RICKERT erhebt auch keine Ansprüche, diese vollständige Lösung herbeizuführen. Er geht nicht weiter auf diese Frage ein als ihm notwendig erscheint, um "die herrschende Ansicht von der Unmöglichkeit einer gemeinsamen Art der Begriffsbildung für Natur- und Geisteswissenschaften als unbegründet nachzuweisen. Die wesentlichsten Einwände der Gegner einer gemeinsamen Methode (zu ihnen zählen auch WUNDT und DILTHEY) stützen sich auf folgende Erwägungen: vond en Körpern haben wir eine mittelbare und abstrakt begriffliche Erkenntnisweise. Die Psychologie dagegen hat es mit einer unmittelbaren Wirklichkeit zu tun, und deswegen ist ihre Erkenntnisweise nicht abstrakt, sondern anschaulich.

Es liegt von vornherein auf der Hand, daß RICKERT, wenn er mit WUNDT und DILTHEY einverstanden wäre, von einer gemeinsamen Methode der wissenschaftlichen Behandlung gar nicht sprechen könnte. Wir wissen durch unsere früheren Ausführungen, daß alle Bemühungen RICKERTs darauf gerichtet sind, zu beweisen, daß die Erkenntnisweise in den Wissenschaften von Körpern ausschließlich eine abstrakte und ganz und gar unanschauliche ist. Deshalb scheint ihm auch WUNDTs Ansicht zweifelhaft und er fragt sich, ob uns wirklich das psychische Sein unmittelbarer als das physische gegeben ist. Wie RICKERT voraussetzt, sucht man diese Behauptung als richtig zu begründen, indem man sagt, das Material der Naturwissenschaften besteht nur aus Objekten, dasjenige der Psychologie nur aus unmittelbar bekannten Subjekten; wodurch man die ganze Frage auf das erkenntnistheoretische Gebiet überführt. Indem sich Rickert auf seinen bereits dargelegten Gegensatz von Subjekt und Objekt beruft, behauptet er, daß durch die Identifizierung des Subjekts mit der Innenwelt und des Objekts mit der Außenwelt nur Mißverständnisse entstehen können. Das innere Seelenleben nimmt keinen Raum ein, deshalb kann dieses Definition, die sich auf den Raumbegriff gründet, ihrem ganzen Wesen nach gar nicht auf das Seelenleben angewendet angewendet werden. So kehrt RICKERT wieder zu der Behauptung WUNDTs zurück, daß die Erkenntnisweise des physischen Lebens eine mittelbare, diejenige des Seelenlebens dagegen eine unmittelbare ist. Um die Berechtigung dieses Satzes zu prüfen, zieht RICKERT seine dritte Definition des Subjekts heran, wonach der Begriff des Subjekts mit dem des Bewußtseins zusammenfällt. Dadurch ändert sich die Problemstellung: es wird jetzt gefragt, ob für das Subjektbewußtsein das Psychische als Material unmittelbarer gegeben ist als das Physische. Die Antwort fällt ganz unerwartet aus. Es erweist sich nämlich, daß nicht nur das Psychische, sondern auch das Physische letztenendes nur ein Inhalt meines Bewußtseins ist, weil wir es immer nur mit unseren seelischen Vorgängen zu tun haben. Mit anderen Worten: wir geraten von Neuem in das Dilemma, daß wir entweder den Solipsismus oder eine vom Bewußtsein unabhängig existierende Welt der transzendenten Objekte anerkennen müssen, zu welchen man durch einen falschen Schluß von unserem Seelenzustand zur objektiven Wirklichkeit gelangt. Wir wissen schon, daß es aus dieser Lage nur einen einzigen Ausweg gibt, den er Anerkennung des erkenntnistheoretischen Subjekts oder des "Bewußtseins überhaupt".

RICKERT scheidet zunächst im Bewußtsein alle aktiven Elemente von den passiven. Zu der letzten Kategorie rechnet er alles Erkannte (also perceptum), ganz gleich ob es psychisches oder physisches Sein enthält; in der ersten Kategorie dagegen bleibt nur der Begriff des percipien übrig, d. h. des Subjekts, das selbst niemals Gegenstand einer empirischen Wissenschaft werden kann. Mit der Annahme des erkenntnistheoretischen Subjekts ist die Gefahr des Solipsismus hinfällig geworden ebenso wie alle die Gründe, die und zur Unterscheidung des Physischen und Psychischen geführt haben, in dem Sinn, daß wir das Erste als Realität, das zweite als Phänomen bezeichneten. Beides, das psychische wie das physische Leben bildet den Inhalt unseres Bewußtseins, daraus darf man aber nicht schließen, daß das Physische ein psychischer Vorgang ist, weil das Bewußtsein, das alle Wirklichkeit umfaßt, an sich nicht psychische ist. Eines aber ist unzweifelhaft: das Physische ist für RICKERT eine ebenso unmittelbar gegebene Realität wie das Psychische, und die von WUNDT und DILTHEY aufgestellten Gründe für die Scheidung der Welt in physische und psychische Vorgänge sind unberechtigt. RICKERT geht noch weiter und behauptet, daß uns das Physische im Vergleich zum Psychischen sogar unmittelbarer gegeben ist. Das seelische Leben ist uns nur soweit unmittelbar gegeben, als es unser eigenes Seelenleben bildet. Das übrige seelische Leben müssen wir erschließen, wir kennen es nur mittelbar, durch die Deutung von unmittelbar gegebenen äußeren Zeichen; die körperlichen Vorgänge dagegen bilden ein Material, das von allen Menschen gemeinsam und unmittelbar erfahren wird. Es versteht sich von selbst, daß sich das alles auf ein wissenschaftlich noch nicht umgeformtes Material bezieht. Nur in diesem Fall darf man es mit dem psychischen Material vergleichen, das man immer in jeweils vorgefundenen Gestalt nimmt. Diesen Gedanken hält RICKERT für so einleuchtend, daß er des Weiteren nicht erklärt zu werden braucht.

Die gesamte empirische Wirklichkeit kann also durch den Bewußtseinsinhalt umfaßt werden. Innerhalb der Grenzen desselben gibt es einen Unterschied zwischen seelischen und körplichen Vorgängen und es kommt RICKERT nicht darauf an, eine exakte Bestimmung des Physischen und Psychischen zu geben. Er begnügt sich mit einer negativen metaphysischen Definition, indem er sagt, daß alle diejenigen Objekte, die nicht Körper sind, als geistig bezeichnet werden müssen. Die Ansicht, wonach die Aufgabe der Psychologie in der Untersuchung der Subjekte, diejenige der Wissenschaften von Körpern in der Untersuchung der Objekte besteht, ist nach RICKERT vollständig haltlos. Wenn es also stimmt, daß sich der Gegenstand der Psychologie seinem Wesen nach nicht von dem der Naturwissenschaften unterscheidet, warum sollte er zum Zweck der wissenschaftlichen Erkenntnis nicht auch einer naturwissenschaftlichen Bearbeitung unterstellt werden? Es liegt absolut nichts vor, diese Frage zu verneinen. Man muß sich nur klar zu machen versuchen, inwiefern die Bearbeitung des psychischen Materials notwendig ist, und inwieweit sie für die wissenschaftliche Erkenntnis des Seelenlebens nützlich sein kann.

Bei der Beurteilung der Methoden der Wissenschaften von der Körperwelt und der Methode der Psychologie kommt es RICKERT keineswegs darauf an, sich in Einzelheiten zu ergehen, weil es, wie er sagt, von vornherein klar ist, daß die Methode jeder Wissenschaft mehr oder weniger durch die Eigentümlichkeiten ihrer Aufgabe bestimmt ist. RICKERT legt mehr Gewicht darauf, die prinzipielle Frage, den logischen Gegensatz der begrifflichen Bearbeitung der beiden Wissenschaften nämlich, klar zu machen.

Wie bekannt, ist die Vereinfachung der extensiven und intensiven Mannigfaltigkeit der Außenwelt nötig, weil es für den endlichen Menschengeist keine andere Möglichkeit gibt, die unendlich Welt zu begreifen. Nun fragt es sich, ob auch das Seelenleben des Menschen eine solche Mannigfaltigkeit darbietet und ob zu ihrer Erfassung eine ebensolche Vereinfachung notwendig ist. Ein Blick auf das eigene Seelenleben genügt, um auf diese Fragen eine positive Antwort zu geben. Vielleicht ist die psychische Mannigfaltigkeit nicht in dem Sinn unendlich, wie die physische, aber für die Praxis ist das belanglos. Jeder Versuch, das eigene vergangene Leben in allen seinen Einzelheiten anschaulich nachzubilden, scheitert, sowie es auch nicht gelingt, die ganze Welt zu übersehen. Und ebensowenig wie bei den Körperwissenschaften, würde auch hier die Beschränkung auf die Kenntnis eines begrenzten Teils des Seelenlebens etwas helfen: die intensive Mannigfaltigkeit des Seelenlebens ist ebenfalls unendlich. So verhält es sich, wenn wir nur ein menschliches Leben in Betracht ziehen. Aber es gibt deren unzählige. Außerdem können wir das fremde Seelenleben nur mittelbar erkennen, wir können es nur auf dem Weg der Analogie erschließen; der Ausdruck "in eine fremde Seele blicken" ist weiter nichts als eine Metapher, so daß die Psychologie mit demselben Recht wie die Wissenschaft von der Körperwelt sich der anschaulichen Darstellung bedienen darf. Will sie ihr Material umfassen, so muß sie es auch umformen.

Welche Art der Umformung ist nun aber die entsprechendste? Offenbar kann man zur Überwindung der extensiven und der intensiven Mannigfaltigkeit des Seelenlebens dieselbe Art der Begriffsbildung anwenden, wie sie - nach unseren früheren Ausführungen - von RICKERT schon zur Überwindung der Mannigfaltigkeit überhaupt dienen kann, und es liegt kein Grund vor, anzunehmen, daß die anschauliche Mannigfaltigkeit des psychischen Lebens Eigentümlichkeiten darbietet, die wir nicht in der schon bekannten Weise überwinden könnten. Auch die Psychologie bildet allgemeine Begriffe mit bestimmtem Inhalt, die eine allgemeingültige, mehr als empirische Geltung haben. Auch ihre Begriffe haben also die Form von Urteilen. Auch ihre Begriffe haben also die Form von Urteilen.

Wir führen hier nicht die ganze Argumentation RICKERTs an, weil sie mit seinen Ausführungen über die Begriffsbildung der Wissenschaften von der Körperwelt übereinstimmt. Wir beschränken uns also darauf, wiederzugeben, was RICKERT am Schluß dieses Abschnitts selbst sagt,
    "daß die psychischen Vorgänge nicht nur eine Art der begrifflichen Bearbeitung zulassen, die der bei den Körpervorgängen anzuwendenden prinzipiell gleich ist, sondern daß für sie die naturwissenschaftliche Begriffsbildung auch unentbehrlich wird, sobald eine Erkenntnis des Seelenlebens im Allgemeinen angestrebt werden soll." (3)
Daraus ergeben sich für die Theorie unseres Autors sehr wichtige Folgerungen. Wenn die naturwissenschaftliche Methode sowohl auf die Geisteswissenschaften als auch auf die Wissenschaften von den Körpern anwendbar ist, so ergibt sich daraus offenbar, daß sie zugleich die einzig mögliche wissenschaftliche Methode ist. Dies trifft aber nur dann zu, wenn die Erforschung der Natur unter einem bestimmten Gesichtspunkt betrieben wird, d. h. wenn man unter Natur die Wirklichkeit mit Rücksicht auf ihren gesetzmäßigen Zusammenhang oder die Wirklichkeit mit Rücksicht auf das Allgemeine versteht. Aus dieser Definition, die das Ergebnis früherer Ausführungen darstellt, geht klar hervor, daß die Methode nicht durch das Material bestimmt wird, das uns zur Erforschung gegeben ist. Die gesamte Wirklichkeit, die psychische wie die physische, wir durch eine einzige Methode umfaßt, die überall zur Anwendung kommt, wo das Streben auf eine Erfassung des Allgemeinen gerichtet ist. Die Begriffe von Geist und Körper haben keine logische Bedeutung und sind deshalb für die Gliederung der Wissenschaften unbrauchbar. Deshalb schlägt RICKERT, dem Beispiel WINDELBANDs folgend, vor, statt des üblichen Gegensatzes von Psychischen und Physischen, dem Begriff der Natur im weitesten Sinne dieses Wortes (also im Sinne der Umfassung von Körper und Geist) den Begriff des Historischen entgegenzustellen. Dementsprechend tritt der Wissenschaft von der Natur die historische Wissenschaft gegenüber. Wie wir schon hervorgehoben haben, unterscheiden sich die Naturwissenschaften von den historischen nicht durch das Material, das für sie zur Bearbeitung vorliegt. Die Unterscheidungsmerkmale der beiden sind anderswo zu suchen. Die Geschichtswissenschaften haben die Lücken der Naturwissenschaft auszufüllen, sie haben das zu geben, was jene nicht zu geben vermögen. Nun empfiehlt es sich, eine Frage, die bisher absichtlich beiseite gelassen wurde, ins Auge zu fassen. Bisher war nur von den Leistungen der Naturwissenschaften die Rede, was die Naturwissenschaften nicht zu leisten vermögen, wurde nicht weiter untersucht. Es erhebt sich darum die jetzt die Aufgabe, die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung zu bestimmen.

Wie bereits dargelegt, nehmen die Begriffe mittels deren die Naturwissenschaften zu einer Überwindung der extensiven und intensiven Mannigfaltigkeit gelangt sind, alles Anschauliche, d. h. alles Individuelle nicht in sich auf, sie beseitigen es, um an seine Stelle das Allgemeine zu setzen. Da aber alle Wirklichkeit anschaulich und individuell ist, so ergibt sich, daß sich die Wissenschaft ums mehr von der Wirklichkeit entfernt, je logisch vollkommener die wissenschaftlichen Begriffe sind und je mehr sich die Wissenschaft ihrem letzten und angelegentlichsten Ziel nähert. Wenn das letzte Ziel der Wissenschaft erreicht wäre, wenn es ihr gelungen wäre, alle physischen und psychischen Vorgänge auf zwei Prinzipien, die der Energie und der Materie zurückzuführen, dann wäre die lebendige Wirklichkeit vollständig aus der Wissenschaft ausgeschieden. Deswegen ist RICKERT gezwungen, die Ergebnisse seiner Untersucung in folgenden, auf den ersten Blick höchst paradox klingenden Worten zu formulieren:
    "Das, was der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung die Grenzen setzt, über die sie niemals hinwegzukommen vermag, ist nichts anderes als die empirische Wirklichkeit selbst." (4)
Diese Worte klingen für den modernen Menschen, der zu denken gewöhnt ist, daß das Ziel der Wissenschaft in der Erkenntnis der Wirklichkeit und dem genauen Abbild derselben besteht, sonderbar genug. RICKERT ist sich völlig bewußt, daß er dadurch eine philosophische Ketzerei begeht, aber ungeachtet dessen und vielleicht gerade deshalb, gibt er seinem Gedanken eine so scharfe und herausfordernde Formulierung. Man kann, sagt er, unter Naturwissenschaft verstehen, was man will, man kann mit seiner eigenen Definition der Aufgabe der Naturwissenschaften nicht einverstanden sein (5), Tatsache bleibt aber doch, daß die Naturwissenschaften Gesetze suchen und sich von der Wirklichkeit entfernen. Der Sinn der paradox klingenden Behauptung RICKERTs ist der, daß die Wirklichkeit nicht in ein naturwissenschaftliches Begriffssystem eingereiht werden kann. Wer sich nicht zwingen kann anzuerkennen, daß die Wirklichkeit in der Wissenschaft notwendig verlorengeht, dem bleibt nichts anderes übrig, als zu einer metaphysischen Voraussetzung Zuflucht zu nehmen, d. h. zuzugeben, daß die von uns wahrgenommene Wirklichkeit nicht die wahre Wirklichkeit ist, und - dem etwa dem Beispiel PLATONs folgend - sie nicht in einem Individuellen, sondern im Allgemeinen zu suchen. Solange man sich aber auf dem Boden der Empirie bewegt, darf man nicht die Behauptung aufstellen, daß die Wissenschaft die Wirklichkeit abbildet, man muß, man mag wollen oder nicht, vielmehr doch zugeben, daß die Wissenschaft sich von der Wirklichkeit entfernt. Vielleicht wird es Manchem scheinen, daß die Naturwissenschafte, wenn sie die Wirklichkeit selbst nicht darstellt, ihr Ziel verfehlt hat. Diese Annahme setzt den ganz bestimmten erkenntnistheoretischen Gesichtspunkt voraus, wonach das Erkennen die Aufgabe hat, die Wirklichkeit abzubilden. Die diesbezügliche Ansicht RICKERTs ist uns bekannt, da wir bereits des öfteren Gelegenheit hatten, sie darzulegen. Wir heben nur dies hervor, daß der Verzicht auf den platonischen Begriffsrealismus oder auf die Ansicht, wonach die Wissenschaft die Wirklichkeit nicht abbildet, nach RICKERT keinen Eingriff in die Objektivität der Wissenschaft bedeutet. Damit will er nur sagen, daß die Objektivität der Wissenschaft gar nicht dort liegt, wo man sie vermutet. Wie er selbst zugibt, ist seine Auffassung von der Beziehung der Wissenschaft zur Wirklichkeit nicht neu. Schon SOKRATES kannte den Gegensatz vom Allgemeinen und Individuellen. RICKERT unterscheidet sich von den Philosophen des Altertums nur dadurch, daß er das Allgemeine nicht hypostasiert [vergegenständlicht - wp], daß es für ihn keine Realität und keine Wirklichkeit ist, sondern daß alles Wirkliche für ihn im Anschaulichen und Individuellen steckt. Die Logik hat bis heute ihre Aufmerksamkeit nur auf das Allgemeine gerichtet, darin besteht ihre Einseitigkeit, und deswegen hat sie sich zu einer Logik der Naturwissenschaften gestaltet. Darum muß man ein Mittel zur Ergänzung dieser Einseitigkeit suchen.

Solange die Meinung herrscht, daß das Erkennen ein Abbilden der Wirklichkeit ist, ist man genötigt, die Behauptung anzuerkennen, daß es nur eine wissenschaftliche Methode gibt, weil es nur ein Abbild, eine Kopie der Wirklichkeit geben kann. Hat man aber auch auf dieses Vorurteil verzichtet, so besteht auch kein Grund mehr, an eine gemeinsame Methode zu glauben. Die naturwissenschaftliche Methode ist, mit Rücksicht auf das Allgemeine, gut, aht auch ihre Vorteile, weil sie die sich gestellten Ziele erreicht. Aber wie wir schon wissen, wird ihr Erfolg teuer erkauft, weil sie auf eine Darstellung der Wirklichkeit zu verzichten genötigt ist. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, eine Methode zu finden, welche die Lücken der ersteren ausfüllt. Freilich ist das Allgemeine wichtig, aber ebenso wichtig sind oft die individuellen und anschaulichen Gestaltungen, die in den Inhalt der naturwissenschaftlichen Begriffe nicht eingehen können. Dies wird nicht gesagt, um etwa den Wert der Naturwissenschaften herabzusetzen. Von Belang ist es, zu Bewußtsein zu bringen, daß die Wissenschaft von dem, was an jedem Ort und zu jeder Zeit gilt, gar nichts aussagen kann über das, was an bestimmten Stellen des Raumes und an bestimmten Zeitpunkten existiert. Auf die letzte Frage, die, um es nochmals zu wiederholen, nicht weniger wesentlich ist als die Frage nach dem Allgemeinen, vermag die Naturwissenschaft die Antwort, ihrer logischen Struktur wegen, niemals zu geben. Nachdem die Wichtigkeit dieser Frage einmal betont ist, wird versucht, die logische Struktur derjenigen Wissenschaft klarzumachen, die auf dieselbe eine befriedigende Antwort erteilen könnte.

§ 2. Offenbar ist, daß eine Wissenschaft, die von einem Geschehen an bestimmten Stellen des Raums und der Zeit berichtet, wirklich existiert, und diese Wissenschaft ist die Geschichte. Auch zeigt sich bereits, wodurch sich die Geschichte von der Naturwissenschaft unterscheidet: während diese die Wirklichkeit mit Rücksicht auf das Allgemeine darzustellen bestrebt ist, stellt jene nur das Besondere, das Individuelle dar.

Aber will das nicht heißen, daß die Geschichte als Wissenschaft unmöglich ist? In früheren Kapiteln wurde ausgeführt, daß man die Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit nur durch eine Bildung von Allgemeinbegriffen überwinden kann. Jetzt aber soll die anschauliche, unendliche und deshalb in ihrem Umfang einer adäquaten Darstellung unzugängliche Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft werden. Obwohl damit tatsächlich auf ein neues Problem eingegangen wird, so unterliegt es doch keinem Zweifel, daß durch die frühere Darstellung seine Unlösbarkeit nicht vorausgesetzt wird. Ohne Vereinfachung kann die Wirklichkeit nicht aufgefaßt werden, damit soll aber nicht gesagt werden, daß jede Vereinfachung auch ein Entfernen von der Wirklichkeit mit sich bringen soll. Die Geschichte kann ihre eigene Methode besitzen, sie sich von der bereits beschriebenen wesentlich unterscheidet, und kann dabei doch wissenschaftlich bleiben und sich von der Wirklichkeit nicht entfernen. Die Art, auf die wir uns die Wirklichkeit vorstellen, ist nach RICKERT durch unsere logischen Gesichtspunkte bedingt:
    "Sie wird Natur, wenn wir sie im Hinblick auf das Allgemeine, sie wird Geschichte, wenn wir sie mit Rücksicht auf das Besondere betrachten." (6)
Diese Definition der Geschichte ist bedeutend umfassender als die übliche, sie ist aber nach RICKERT für die Zwecke der logischen Untersuchung unentbehrlich. Später nimmt RICKERT den Begriff der Geschichte in einem engeren Sinn, einstweilen aber gebraucht er ihn in seiner weitesten Bedeutung, so daß der Begriff des Historischen all das umfaßt, was durch Raum und Zeit bestimmt ist. Ein unter dem Zaun liegender Stein, NAPOLEON, bescheidenes Veilchen oder SHAKESPEARE, all das sind, von einem logischen Gesichtspunkt aus betrachtet, gleichwertige Objekte des historischen Erkennens, weil jedes von ihnen nur einmal existiert und in seiner Art unwiederholbar ist. Man ersieht daraus, daß RICKERT die Geschichte von der Naturwissenschaft nicht deshalb scheidet, weil, wie es manche annehmen, die Gesetze der Entwicklung der ersteren schwer aufzufinden sind, im Gegenteil diese Schwierigkeit hätte ihn eher gereizt als abgeschreckt. Er gibt die Möglichkeit zr, daß die Geschichte - wie schon BUCKLE gewollt hat - unter allgemeine Gesetze gebracht werden kann, aber in diesem Fall würde es keine Geschichte mehr in seinem Sinn sein: sie würde wiederum eine Wirklichkeit darstellen, die mit Hilfe der naturwissenschaftlichen Methode bearbeitet ist, die aber weder NAPOLEON noch SHAKESPEARE, noch den vor uns liegenden Stein oder die vor uns aufbrechende Blume aufnehmen würde. Logisch schließen die Geschichtswissenschaft und die Gesetzeswissenschaft einander aus (7), und wenn wir die von RICKERT gestellten Aufgaben richtig verstehen und bewerten wollen, so dürfen wir niemals außer Acht lassen, daß er sich ausschließlich für logische, oder genauer erkenntnistheoretische Probleme interessiert. (8) RICKERT will ja gar keine methodologischen Regeln geben oder die Vertreter der Spezialwissenschaften, die Naturforscher oder Historiker, darüber aufklären, welcher Methoden sie sich bei ihren Untersuchungen bedienen sollen. Sie wissen selbst am Besten, was auf ihrem eigenen Gebiet das Richtige ist. Und welche Art der wissenschaftlichen Bearbeitung sie auch wählen mögen, sie haben immer recht, wenn es ihnen nur gelingt, ihr Ziel zu erreichen. Die Erkenntnistheorie dagegen hat ihre eigenen Aufgaben, zu deren Lösung sie ihre eigenen Wege findet.

Dieser Vorbehalt wird von RICKERT häufig wiederholt. Es geschieht, um vielen Mißverständnissen vorzubeugen. Nach dieser Abschweifung wenden wir und der weiteren Darlegung der RICKERTschen Ideen zu.

Die Einteilung der Wissenschaften in naturwissenschaftliche und historische muß man nicht in dem Sinn verstehen, als ob die ersteren sich ausschließlich mit der individuellen, die letzteren mit der allgemeinen Wirklichkeit befaßten. Dies würde nur in Bezug auf die letzte vollkommene Naturwissenschaft und auf die letzten Ziele der Geschichte zutreffen. Neben diesesn aber gibt es noch eine Reihe von Natur- und Geschichtswissenschaften, die sozusagen die Mittelglieder zwischen ihnen bilden. Die ersteren enthalten, je nachdem sie sich dem Ideal der Wissenschaft nähern, mehr oder weniger anschauliche Elemente; bei den letzteren spielen, aus denselben Gründen, die Allgemeinbegriffe eine mehr oder weniger bedeutende Rolle. Je mehr oder weniger historische Bestandteile eine Naturwissenschaft enthält, umso mehr oder weniger ist sie von der "letzten" Wissenschaft entfernt. Somit entsteht ein System von Wissenschaften, die in folgender Weise angeordnet sind: die eine Wissenschaft übergibt ihre Dingbegriffe einer anderen Wissenschaft, damit sie dieselben zu Relationsbegriffen umgestaltet, und so fort, bis schließlich die letzte Wissenschaft von allen historischen und anschaulichen Elementen vollkommen frei ist. Abgesehen von dieser letzten Wissenschaft können nicht nur alle übrigen Naturwissenschaften mit anschaulichen Dingen operieren, sondern sie müssen es sogar, weil sie sich die Aufgabe stellen, nicht die ganze Wirklichkeit, sondern nur einen Teil derselben zu umfassen. Sie sind Wissenschaften, die es mit einem "relativ Historischen" zu tun haben. Von diesem Punkt aus sucht RICKERT den prinzipiellen Gegensatz von zwei wissenschaftlichen Methoden durchzuführen. Je ferner nämlich die naturwissenschaftlichen Spezialdisziplinen dem Ideal stehen, umso bedeutsamer muß in ihnen das anschauliche Material werden, und desto mehr verlieren ihre Begriffe an Bestimmtheit und dadurch auch an allgemeiner Geltung. Damit gelangt man zu einem entscheidenden Punkt: man kann nicht mehr das Individuelle und besonders das, was RICKERT das Historische nennt, ignorieren. Dieses muß jetzt in Betracht gezogen werden und es muß dementsprechend auch eine neue Methode gebildet werden, weil es im Wesen der alten Methode lag, all das aus ihren Begriffen zu entfernen, was jetzt beibehalten und fixiert werden soll. Im Gegensatz zum naturwissenschaftlichen Verfahren heißt das neue, dem neuen Material entsprechend, das historische. In den Körperwissenschaften heißt diese Methode die "relativ historische", sie kann aber nicht mehr typisch und rein naturwissenschaftlich in einem früheren Sinn sein. So ergibt sich nach RICKERTs eigener Meinung, daß eine rein naturwissenschaftliche Darstellung für das Gebiet jeder Naturwissenschaft mit Ausnahme der "letzten" unmöglich ist. Gesetzt, die Äthertheorie von HERTZ wäre richtig und es hätte sich außerdem noch erwiesen, daß alle physikalischen Vorgänge unter diese Theorie gebracht werden können, durch die Licht, Schall, Elektrizität erklärt werden, so würde die Äthertheorie aus weiter nichts als Formeln bestehen, die sich auf alle Vorgänge des Lichts, des Schalls und der Elektrizität beziehen. Wer niemals Licht gesehen und Töne gehört hat, der würde aus diesen Formeln nicht das Geringste erfahren. Er würde auch niemals imstande sein, zu erklären, warum gerade die von ihm beobachteten Vorgänge und nicht irgendwelche andere vor sich gehen. Dies muß man im Auge behalten, um den von RICKERT festgestellten Unterschied zwischen den allgemeinen und individuellen Bestandteilen der Wissenschaft zu verstehen. Selbstverständlich interessiert sich kein Physiker für die Gliederung der Wissenschaft, er such nur die Vorgänge des Lichts, des Schalls und der Elektrizität festzustellen, wie sie ihm gegeben sind. Ihre "Geschichte" geht ihn gar nichts an. Außerdem fehlen ihm auch die Mittel, die Lösung solcher Probleme herbeizuführen. Auch RICKERT kümmert sich nicht darum. Der Kern seiner Ausführungen ist die logische Möglichkeit des historischen Begreifens des Lichts. Er geht aber noch weiter.
    "Auch die ponderabel Materie, um das, was vielleicht am Fremdartigsten klingt, herauszuheben, ist, wenn die Massenatome als Verdichtungszentren des Äthers angesehen werden, ebenfalls im Vergleich zum ewigen Äther nur ein historischer Vorgang, der eventuell einen Anfang und ein Ende hat wie alles Besondere, und von dem es daher auch eine Geschichte geben könnte." (9)
Mit noch größerem Recht als in der Physik darf man bei der Chemie von einem "relativ historischen" Charakter sprechen, weil diese Disziplin eine Mannigfaltigkeit chemischer Elemente darbietet. Die Theorien von LOTHAR MEYER und MENDELEJEFF geben das Recht, Fragen über den Ursprung der Elemente zu stellen. Man hat es hier mit dem Historischen höherer oder zweiter Ordnung zu tun. Wendet man sich der Biologie, der Wissenschaft von den Organismen, zu, so begegnet man in ihr einem Historischen von noch höherer, also dritter Ordnung. Die historischen Bestandteile spielen dementsprechend in dieser Wissenschaft eine noch größere Rolle. Mit einem Wort: eine empirische Naturwissenschaft, die keine historischen Bestandteile enthält, gibt es bisher nur als logisches Ideal. Dadurch wird aber die bisher gewonnene, prinzipielle Gliederung der Wissenschaften nicht in Frage gestellt. Das Suchen nach allgemeinen Gesetzen, denen sich die Wirklichkeit unterordnet, und ihre historische Darstellung ist zweierlei, und deshalb gibt es, wie später noch gezeigt werden wir, außer der naturwissenschaftlichen Methode noch eine historische. Sie kann auf verschiedenartiges Material angewendet werden, sowohl auf die Körperwissenschaften (Physik, Chemie, Biologie) als auch auf die Geisteswissenschaften (Psychologie und Soziologie).

Aber noch einen weiteren Einwand sieht RICKERT voraus. Wenn die Naturwissenschaften das Historische erster, zweiter, dritter Ordnung (10) - mit einem Wort: das relativ Historische höherer Ordnung - behandeln können, so folgt daraus noch nicht, daß sie dadurch unser eigenes Interesse an der Wirklichkeit vollständig befriedigen können. RICKERT anerkennt die Berechtigung und den Ernst dieser Einwendung, ist jedoch der Meinung, daß sie nicht stichhaltig genug ist, um seine Resultate zu widerlegen. Zunächst erinnert er daran, daß nur das relativ Historische und niemals die Wirklichkeit als solche, also das absolut Historische, eine Darstellung nach naturwissenschaftlicher Methode zuläßt. Daraus folgt, daß die einzelnen Persönlichkeiten in keiner Naturwissenschaft eine Stelle haben können. Sie machen in dieser Hinsicht keine Ausnahme, denn alles Individuelle geht in die naturwissenschaftlichen Begriffe nicht ein:
    "Begreiflich ist ja das allein, das man mit etwas anderem vergleichen kann, und nur so weit es begreiflich, als es anderem gleicht." (11)
Das Licht, der Schall, das organische Leben sind unbegreiflich. Eine Naturwissenschaft von ihnen gibt es,
    "weil sie ja nur relaltiv Historisches sind, und man daher innerhalb des Historischen auch die Natur dessen erforschen kann, was diesen Begriffen untergeordnet ist." (12)
So kann es von den Individuen, die einmal existieren, keine naturwissenschaftliche Untersuchung geben.

Jedoch wird man vielleicht sagen, daß die Geschichte sich nicht auf die Persönlichkeit zurückführen läßt, daß man in der Geschichtswissenschaft eine Darstellung erstreben muß, in der die Persönlichkeiten gestrichen sind. Wenn man auch zugibt, sagt RICKERT, daß diese Behauptung richtig ist, so vermag sie doch nicht seine Ausführungen zu erschüttern. Wie bereits erwähnt, wurden die Persönlichkeiten, d. h. die Individuen, welche Eigennamen tragen, aus den Naturwissenschaften ausgeschlossen. Es blieben noch Individuen, die Gattungsnamen führen, aber auch sie sind in der naturwissenschaftlichen Darstellung unbrauchbar. Verstehen wir denn unter den Worten "deutsch", "römisch", "griechisch" das, was allen Deutschen, Römern und Griechen gemeinsam ist? Wenn das wirklich der Fall wäre, so hätte man dadurch alle Worte nivelliert. So können die Individuen mit Eigennamen, wie diejenigen mit Gattungsnamen niemals in den Inhalt der naturwissenschaftlichen Begriffe hineingepreßt werden. Diese Frage soll später ventiliert [eingehend erörtert - wp] werden. An dieser Stelle wird nur dies hervorgehoben, daß unser Bedürfnis, sich der Wirklichkeit anzunähern, niemals durch das nach naturwissenschaftlicher Methode behandelte relativ Historische befriedigt werden kann. Schon jetzt, meint RICKERT, kann man sagen, daß dort, wo das Interesse der Naturwissenschaft seine Grenze findet, dasjenige der Geschichte erst beginnt. So ergänzen die beiden Arten von Wissenschaften einander. Die erste betrachtet die Wirklichkeit im Hinblick auf das Allgemein, die zweite im Hinblick auf das Besondere. Von einer dritten Art der Wissenschaft vermögen wir uns keinen Begriff zu machen.

§ 3. Wir haben das Problem, das die Geschichte enthält, kennen gelernt. Jetzt erhebt sich die Frage, ob sie imstande ist, es zu lösen, und auf welche Art es ihr gelingt. Mit anderen Worten: wie kann man die Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit überwinden, ohne sich dabei von ihr zu entfernen, wie es bei den Naturwissenschaften der Fall ist? Will man das, was wirklich erreichbar ist, erstreben, so muß man zweifellos einen Teil der Wirklichkeit dem andern opfern. Da es sich dabei aber um die Wissenschaft handelt, muß jede Willkür ausgeschlossen sein. Es muß ein wissenschaftliches Prinzip aufgestellt werden, nach dem die Auswahl erfolgt. Dies kann an einem Beispiel verdeutlicht werden. Einen BISMARCK z. B. darf und soll die Geschichte nicht übergehen. Aber deswegen interessiert die Geschichte doch nicht all das, was sich auf BISMARCK bezieht. Seine Rolle bei der Begründung des deutschen Reichs, sowie im deutsch-französischen Krieg lenkt die Aufmerksamkeit jedes Historikers auf sich, aber es ist ihm vollständig gleichgültig, welcher Schneider seine Röcke gemacht hat. Nach welchem Gesichtspunkt soll nun aber das Wesentliche vom Unwesentlichen in der Geschichte ausgeschieden werden? Haben wir das Recht, von einer, der naturwissenschaftlichen analogen, historischen Begriffsbildung zu sprechen? Dies würde offenbar der gesamten Lehre von RICKERT widersprechen. RICKERT war, wie wir wissen, bisher bemüht, nachzuweisen, daß die naturwissenschaftlichen Begriffe nur für die Wirklichkeit gelten, daß ihr Inhalt den Inhalt der empirischen Wirklichkeit nicht enthält, daß Sätze, wie z. B.: "es gibt eine Körperwelt", "es existiert Wasser" usw., "nicht Inhalt, sondern stillschweigende Voraussetzungen der Naturwissenschaften" sind (13) und daß der Sinn und die Bedeutung des naturwissenschaftlichen Begriffs nicht die Abbildung der Wirklichkeit ist. In der Geschichte dagegen muß es völlig anders sein. Der Historiker berichtet immer nur von dem, was sich wirklich ereignet hat. Dadurch besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen der Aufgabe des Historikers und derjenigen des Naturforschers, was aber RICKERT nicht veranlaßt, auf seine Bezeichnung "Begriff" zu verzichten. Bisher hat man das Wort "Begriff" allgemein in der Bedeutung eines Gedankens mit allgemeinem Inhalt angewandt, weil eben die Logik, in ihrer Einseitigkeit, alle wissenschaftlichen Aufgabe mit den naturwissenschaftlichen identifizierte. Diese Einseitigkeit muß überwunden werden. Die Geschichte bildet keine Allgemeinbegriffe, andererseits kann sie ihre Objekte (z. B. eine Persönlichkeit, wie die ALEXANDER des Großen, oder etwas Kompliziertes, wie etwa den peloponnesischen Krieg) in ihre Darstellung nicht mit allen Einzelheiten aufnehmen, d. h. ihre Darstellung kann sich niemals vollkommen mit den tatsächlichen Vorgängen decken. Sie bildet sich über dieselben ihre Gedanken, die niemals Kopien oder Abbilder der unübersehbaren Wirklichkeit werden können, weil nur das Wesentliche herausgehoben, d. h. das Wesentliche vom Unwesentlichen geschieden wird. Deshalb haben wir das Recht, die Denkgebilde in der Geschichtswissenschaft Begriffe zu nennen, wenn sie auch keinen allgemeinen Inhalt haben. So wie die naturwissenschaftlichen Begriffe, werden auch die historischen in *Existenzialurteile aufgelöst. Die beiden Arten der Urteile unterscheiden sich nur im Hinblick auf ihre Zwecke. Die Bezeichnung "Begriff" behält RICKERT bei, um die Aufgaben dieser beiden Arten der Wissenschaft zusammenfassen zu können: beide Wissenschaften suchen, jede auf ihre Art, die Wirklichkeit zu umfassen, aber diese Wirklichkeit geht in die Darstellung jeder derselben nicht ein. (14) Will man einen historischen Begriff bilden, so muß man nicht die ganze Wirklichkeit darzustellen suchen, sondern die Zusammenstellung der Elemente, seien sie auch allgemeine, muß in der Weise vorgenommen werden, daß etwas Individuelles, Einmalige zustande kommt, etwas, was einen Anfang und ein Ende hat. Es unterliegt keinem Zweifel, daß diese Aufgaben verwirklicht werden können. Nur darauf kommt es RICKERT zunächst an. Die Geschichte bedient sich zwar der Allgemeinbegriffe oder der naturwissenschaftlichen Wortbedeutungen, aber dieses Allgemeine ist für sie lediglich Mittel zum Zweck. Es ist der Umweg, auf dem die Geschichte zu ihrer eigentlichen und letzten Aufgabe, der Darstellung des Individuellen, gelangt, und den sie wegen der Eigentümlichkeit unseres Sprechens einschlagen muß. Dasselbe läßt sich in der Kust, besonders in der Poesie, beobachten. Um eine individuelle Darstellung zuwege zu bringen, verwendet der Dichter allgemeine, ja sogar allgemeinste Wortbedeutungen und gibt dabei doch konkrete, lebendige, sogar individuelle Bilder. Freilich ist der Dichter in seinem Verhältnis zur Wahrheit frei, was die Geschichte dagegen bringt, muß genau den Tatsachen entsprechen. Die Wahrheit über die Wirklichkeit, selbst die historische, ist aber keine Kopie oder Abbild der Wirklichkeit. Dementsprechend kann das logische Problem der Geschichte folgendermaßen formuliert werden: Welches Prinzip leitet die Zusammenstellung der historischen Begriffselemente? In der Beantwortung dieser Frage knüpft RICKERT an den denkbar umfassendsten Begriff des Historischen, nämlich an den Begriff des Individuums an. Die beiden Merkmale, der Besonderheit und Einzigartigkeit, wurden bereits behandelt; jetzt gesellt sich ein drittes hinzu, das der Unteilbarkeit nämlich. Wenn das Individuum nicht die beiden Merkmale der Einheit einer Mannigfaltigkeit un der Einzigartigkeit umschließt, so ist es kein Individuum mehr. Das Atom ist, wie alles Einfache, individualitätslos. In der Unteilbarkeit des zusammengesetzten Individuums sieht RICKERT den ersten Ansatz zur Lösung des Problems der historischen Begriffsbildung (15). Wenn das Wort "Individuum" nicht nur etymologisch, sondern auch seinem Wesen nach unteilbar ist, so werden die verschiedenen Elemente durch ein Prinzip oder ein Gesetz, die das historische Denken leiten, verknüpft. RICKERT versucht, die Richtigkeit dieser Behauptung zu prüfen und zugleich den Charakter oder das Wesen des Prinzips der historischen Begriffsbildung klarzumachen.

Wie wir schon wissen, gebraucht RICKERT das Wort "Individuum" in einem denkbar umfassendsten Sinn. Er wandte dasselbe an sowohl zur Bezeichnung eines Stücks Schwefel oder eines NAPOLEONs, wie auch zur Bezeichnung eines Steins oder eines ALEXANDER des Großen usw. All das sind Individuen, weil sie einmalig und einzigartig sind. Jedoch interessiert den Historiker ein Stück Schwefel oder ein Stein keineswegs, obwohl beides Individuen sind, während er für NAPOLEON oder ALEXANDER den Großen Interesse hegt. Beruth dies nun etwa darauf, fragt RICKERT, daß die ersteren Körper, die letzteren lebendige Menschen sind? Tatsächlich ist das nicht der Fall. Irgendein gewöhnlicher Stein entgeht unserer Beachtung, aber ein großer Diamant lenkt durch seine Einzigartigkeit die Aufmerksamkeit immer auf sich. Während die Zertrümmerung jenes Steins bei niemandem ein Bedauern oder Entrüstung hervorrufen würde, würde man denjenigen, der einen Kohinoor [109-Karat-Superdiamant der Kronjuwelen des englischen Königshauses - wp] zersplittern wollte, einen Barbaren schelten. Für die Einzigartigkeit und die Individualität eines gewöhnlichen Menschen interessiert man sich nicht etwa in der Weise, wie für einen Stein. Sowie der Stein kann er mit Leichtigkeit durch einen anderen Durchschnittsmenschen ersetzt werden. Anders verhält es sich aber in Bezug auf ALEXANDER, CÄSAR oder NAPOLEON: stirbt einer von diesen, so können Jahrhunderte dahingehen, bis sich ein anderer findet, der an ihre Stelle treten könnte. So scheiden sich aus der unendlichen Fülle der gleichgültigen Individuen, aus den lebendigen Menschen sowie aus der unorganischen Natur einige bedeutende Individuen, deren Wert auf ihrer Unersetzlichkeit und auf ihrer einzigartigen Individualität beruth. "Der Diamant soll nicht geteilt werden, und auch dies muß für alle Körper gelten, die In-dividuen sind." (16) So ist das Prinzip, das der Scheidung in Exemplare und Individuen zugrunde liegt, die Beziehung zu einem Wert. Diesen Satz behandelt RICKERT sehr ausführlich. Zugleich ist er bemüht, durch eine Reihe für uns wenig interessanter Erwägungen den nicht für jedermann gleichgültigen Umstand zu erklären, daß eine Anzahl von Menschen den Steinen gleichgesetzt wird. Außerdem betont er noch einmal die Relativität der wissenschaftlichen Methoden:
    "Deshalb muß man es sich erst ausdrücklich zum Bewußtsein bringen, daß diese Welt, ebenso wie die künstlerisch angeschaute oder in allgemeinen Begriffen gedachte Wirklichkeit, ebenfalls nur eine bestimmte Auffassung ist, die wir neben die naturwissenschaftliche und die künstlerische Auffassung als eine dritte sich prinzipiell von ihnen unterscheidende setzen, und als die Welt des wirklichen Lebens bezeichnen können." (17)
Die historische Auffassung, sowie die naturwissenschaftliche bildet also die Wirklichkeit nicht ab, sondern sie formt sie um. (18) Jetzt gilt es, sich den Prozeß der historischen Umformung der Wirklichkeit klarzumachen. Wenn die Geschichte eine Wissenschaft sein will, so muß sie offenbar immer eine Darstellung anstreben, die für alle gilt. Daraus ergibt sich, daß die Scheidung der Wirklichkeit in Exemplare und Individuen sich niemals willkürlich vollziehen darf. Es muß ein Wert zugrunde gelegt werden, der ein allgemeiner Wert sein muß. Bei der Gegenüberstellung zweier Körper, eines Stücks Kohle und eines Kohinoor, gibt man dem letzteren den Vorzug, nicht weil er dem persönlichen Geschmack besser zusagt, und auch nicht weil uns eine individuelle Laune dazu veranlaßt, sondern lediglich weil er einen allgemeinen Wert besitzt. (19) Dasselbe zeigt sich, wenn wir irgendeinem Durchschnittsmenschen eine Persönlichkeit wie GOETHE oder SHAKESPEARE gegenüberstellen. GOETHE verhält sich zu einem solchen Menschen, wie der Diamant zum Stein, mit anderen Worten: der Durchschnittsmensch kann durch andere Durchschnittsmenschen ersetzt werden; was aber an einem GOETHE oder an einem SHAKESPEARE von Bedeutung ist, ist nicht das, was sie mit allen anderen Menschen Verwandtes haben, sondern das, was sie von allen anderen unterscheidet. Diese Scheidung ist nicht willkürlich. Man wählt GOETHE oder den Kohinoor, weil man diese auf einen allgemeinen Wert bezieht. Man kann berechtigterweise annehmen, daß ihn alle als richtig anerkennen und deshalb annehmen werden.
    "Die unter diesem Gesichtspunkt zu In-dividuen werdenden Objekte stellt dann die Geschichte dar, die als Wissenschaft in allgemeingültiger Weise das Wesentliche vom Unwesentlichen zu scheiden und zu einer notwendigen Einheit zusammenzuschließen hat." (20)
So hat RICKERT also in dem, was er als allgemeinen Wert bezeichnet, ein festes unerschüttertes, keinem Zweifel unterliegendes Prinzip gefunden; ein Prinzip welches, so wie die Gesetzlichkeit der Naturwissenschaften, die historisch-wissenschaftlichen Untersuchungen leiten kann. Dieser Satz kann nach RICKERTs Meinung von Niemandem bestritten werden. Aber doch sieht er einen Einwand voraus, den nämlich, daß man es hier wieder, ebenso wie in den Naturwissenschaften, nicht mit Individuellem, sondern mit Allgemeinem zu tun hat. Dies ist aber, meint er, eine rein äußerliche Ähnlichkeit, diejenige des Wortes oder eines Terminus. Der allgemeine Wert soll erstens nicht mehrere individuelle Werte als seine Exemplare umfassen, sondern nur ein von allen anerkannter Wert sein; und zweitens ist das, was allgemeine Bedeutung hat, nicht darum selbst etwas Allgemeines. Das historische Individuum ist für alle durch das bedeutsam, wodurch es anders ist als alle andern. Mit einem Wort: in den Naturwissenschaften ist das Allgemein das Ziel, in der Geschichte nur das Mittel, dessen sie sich zur allgemeingültigen Darstellung des Individuellen bedient. Man muß das "mit allen Gemeinsame" von dem "für alle Bedeutsame" streng unterscheiden.

Außerdem ist "die Beziehung eines Individuums auf einen Wert sorgfältig von seiner direkten Bewertung zu unterscheiden" ("Grenzen", Seite 363) (21) Er verdeutlicht dies an einem Beispiel: Die Politiker verschiedener Richtungen streiten. Der Streit bedeutet nur, daß sie den Gegenstand des Streites verschieden bewerten und nicht, daß sie ihn nicht anerkennen. Im Gegenteil, wenn die Politiker die Bedeutung und Wichtigkeit des Streitobjekts nicht anerkannt hätten, so würden sie gar nicht darüber gestritten haben. Das Anerkennen, daß etwas wesentlich oder unwesentlich ist, vollzieht sich in gänzlicher Unabhängigkeit von der direkten Bewertung, deswegen nennt man es ein Beziehen. Durch das bloße Beziehen entsteht für alle Menschen in derselben Weise eine Welt von In-dividuen, und die Gliederung der Wirklichkeit in Exemplare und In-dividuen kann als die Grundlage der wissenschaftlich objektiven historischen Untersuchung betrachtet werden. Sie ist vielleicht objektiver als es die naturwissenschaftliche ist. Wenn es Manchem vielleicht schwer wird, dies zu begreifen, so liegt es nur daran, daß wir gerade das Selbstverständliche am Schwersten verstehen. Die sogenannte wissenschaftliche Objektivität des Historikers schließt "das Beziehen auf Werte" nicht nur nicht aus, sondern sie setzt es sogar voraus. Aus dem dem Historiker gegebenen Stoff wählt er nur das Wesentliche, Charakteristische, Wichtige und Bedeutsame. Wie kann er diese Aufgabe erfüllen, ohne die Voraussetzung von allgemein anerkannten Werten gemacht zu haben?

Somit haben wir, nach RICKERT Wir haben eine Art der Überwindung der extensiven und intensiven Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit durch die historische Begriffsbildung kennengelernt. Sie ist ebenso wissenschaftlich wie die naturwissenschaftliche, d. h. sie setzt wie die letztere ihre Begriffe in allgemeingültige, unbedingt notwendige Urteile um. Sie teilt aber nicht den Hauptfehler derselben, weil sie uns von der Wirklichkeit nicht entfernt. Zwar wird der Inhalt der Wissenschaft, den wir auf dem Weg der historischen Bearbeitung gewonnen haben, so gestaltet, daß nicht die ganze Wirklichkeit in ihrer anschaulichen Fülle zum Ausdruck kommt, "wohl aber die Individualität des empirischen Seins".

Der Begriff des historischen Individuums ist offenbar ein teleologischer, weil er auf der Beziehung zu einem Wert beruth. Die Bestimmung des historischen Begriffs, dem naturwissenschaftlichen analog, erfolgt in drei Stufen. Der naturwissenschaftliche Begriff hatte drei Stadien der Vollkommenheit: Allgemeinheit, Bestimmtheit und unbedingt allgemeine Geltung. Er wird auf dem Weg der logischen Bearbeitung aus der ursprünglich entstandenen Wortbedeutung allmählich gewonnen. Dieselben Stadien der Entwicklung haben auch die historischen Begriffe zu durchlaufen. Die Eigennamen bieten ihnen schon den ersten Stoff. Dieselben sind in der Sprache notwendig:
    "Dies kann aber nur darauf beruhen, daß bestimmte Individuen gerade wegen ihrer Individualität auf einen Wert bezogen werden." (22)
Selbstverständlich tritt diese Hervorhebung als reine Willkür auf. Man kann auch Gegenstände mit Eigennamen bezeichnen (wie z. B. ein Haus, ein Schiff usw.), aber sie haben nur für diejenigen eine Bedeutung, die diese Gegenstände mit Namen bezeichnet haben. Wenn man unter einem Individuum eine Anzahl in Gemeinschaft lebender Mensche versteht (die Familie, Gattung, Volk), so erhält der Eigenname einen viel weiteren Sinn. So zeigt sich, daß die primitivste Art der historischen Begriffsbildung der naturwissenschaftlichen Vollständig analog ist.

Alsdann wird auf das zweite Stadium der Entwicklung des historischen Begriffs eingegangen, auf die Bestimmtheit nämlich. Durch eine Definition, d. h. durch das Aufzählen der wesentlichen Elemente des Begriffs wird, wie wir schon wissen, die störende Anschaulichkeit aus demselben entfernt. Dies ist aber für die Geschichte eine unerreichbare Aufgabe. Ein relativ bestimmtes Bild der Wirklichkeit vermag sie schon zu entwerfen, doch muß sie Vieles dem freien Spiel der Phantasie des Historikers überlassen. Dies hatte Vielen zu der Behauptung Anlaß gegeben, daß die Geschichte keine Wissenschaft, sondern Kunst ist. RICKERT ist mit dieser Ansicht nicht einverstanden. In langer Ausführung bemüht er sich nachzuweisen, daß der Historiker, wenn er auch zuweilen dieselben Mittel der Darlegung verwendt wie der Künstler, doch nicht aus der Reihe der wissenschaftlichen Bestrebten gestrichen werden darf. Der Inhalt seiner Begriffe kann nicht ausschließlich aus Urteilen bestehen, er enthält auch das anschauliche Material, doch werden dem Spielraum der Phantasie bestimmte Grenzen gesetzt,
    "und in der Ausgestaltung möglichst bestimmter individueller Anschauungen ist das Analogon zur naturwissenschaftlichen Begriffsbestimmung zu erblicken".
Das dritte und letzte Stadium der Entwicklung des naturwissenschaftlichen Begriffs ist seine unbedingt allgemeine Geltung. Ist eine solche unbedingt allgemeine Geltung des historischen Begriffs überhaupt möglich? Die Lösung dieses Problems ist von der Frage untrennbar, ob die Geschichte eine Wissenschaft ist. Die Geltung der geschichtlichen Darstellung ist ihrerseits von der Anerkennung der unbedingt allgemeinen Werte abhängig. Wir wissen schon, wie dieses Problem von RICKERT gelöst wird. Eines heben wir aber doch noch hervor: Die Theorie RICKERTs setzt die Anerkennung von allgemeingültigen Werten voraus, und mit der Rechtfertigung dieser Voraussetzung steht und fällt sein ganzes System. (23)
LITERATUR - Fanny Lowtzky, Studien zur Erkenntnistheorie [Inaugural-Dissertation] Borna-Leipzig 1910
    Anmerkungen
    1) Eine Ausnahme hiervor macht nur Windelband in seinem von uns bereits zitierten Aufsatz "Geschichte und Naturwissenschaft". Vgl. Wilhelm Ostwalds Abhandung "Über die Naturphilosophie" (Hinneberg, "Die Kultur der Gegenwart, Abt. VI, Seite 138): "Descartes nahm den von der Kirche aus Platos Gedankenkreis übernommenen Gegensatz zwischen Geist und Natur in seine Philosophie auf, und bis auf den heutigen Tag hat diese Unterscheidung in der Trennung der Naturwissenschaften von Geisteswissenschaften ihre praktische Bedeutung behalten ..."
    2) "Grenzen", Seite 147
    3) "Grenzen", Seite 208
    4) "Grenzen", Seite 239; vgl. Georg Simmel, Die Probleme der Geschichtsphilosophie, dritte Auflage, Seite 105f.: "Die historisch gewußte Wirklichkeit ist der Grenzbegriff der gewußten Naturgesetzlichkeit ... An unzähligen Punkten des Weltbildes müssen die Erscheinungen als unherleitbare, als bloß gegebene Tatsachen hingenommen werden; hätten wir aber auch jene restlose Erkenntnis, so würde noch immer der besondere Inhalt ihrer Zeit- und Raumstelle das nicht zu rationalisierende Element sein, das durch Gesetze nicht absolut, sondern immer nur unter der Voraussetzung einer vorausgegangenen, ihrerseits nun unter der gleichen Irrationalität stehenden Tatsache deduzierbar wäre."
    5) Wie wir wissen, besteht die Aufgabe der Naturwissenschaften, nach Rickert, in dem Bestreben, das Ganze einer unübersehbaren Wirklichkeit zu erkennen, diese Wirklichkeit mit Rücksicht auf das Allgemeine zu betrachten und, wenn möglich, ihre Gesetze zu finden.
    6) "Grenzen", Seite 255
    7) "Grenzen", Seite 258
    8) Wie Rickert selbst hervorhebt, ist es schwer, einen scharfen Unterschied zwischen den Begriffen "logisch" und "erkenntnistheoretisch" zu machen. Die Aufgaben dieser zwei wissenschaftlichen Disziplinen fallen zusammen und ihr Unterschied liegt lediglich darin, daß die Erkenntnistheorie das Problem des Erkennens im Zusammenhang mit einer allgemeinen Weltauffassung behandelt.
    9) "Grenzen", Seite 275
    10) Diese Zahlen werden selbstverständlich in einem unbestimmten und bedingten Sinn gebraucht.
    11) "Grenzen", Seite 295
    12) "Grenzen", Seite 295
    13) "Grenzen", Seite 327.
    14) "... die Wirklichkeit selbst in ihrer anschaulichen und individuellen Gestaltung geht in keine Wissenschaft ein". ("Grenzen", Seite 338)
    15) Vgl. Georg Simmel, Die Probleme der Geschichtsphilosophie, Seite 26: "... das, was wir die Einheit der Persönlichkeit nennen, ist offenbar eine methodische Voraussetzung, ohne die es zu einer Verständlichkeit und Anordnungseinheit historischer Daten nicht käme. Sie ist ein Apriori, das Geschichte erste möglich macht." (von mir gesperrt)
    16) "Grenzen", Seite 351.
    17) "Grenzen", Seite 354
    18) Simmel dagegen hält es für unmöglich, die Bedeutung des historischen Apriori demjenigen von Kant gleichzusetzen: "Die Frage freilich, die Kant für die Aprioritäten der Natur dahingehend beantwortet, daß der Verstand sie dieser vorschreibt, ohne daß sie im Gegebenen an und für sich ein Gegenbild fänden, ist hier nicht so scharf und prinzipienmäßig zu entscheiden." (a. a. O., Seite 26)
    19) Persönlich würde ich vielleicht den eng utilitaristischen Standpunkt vertreten, demzufolge die Eigentümlichkeiten eines Kohinoors eine ebenso gleichgültige Sache für mich ist, wie die zufällige, sich nicht wiederholende Form des Kohlenstücks.
    20) "Grenzen", Seite 358
    21) Vgl. Alois Riehl, Logik und Erkenntnistheorie ("Kultur der Gegenwart", Seite 101): "Nach Rickert soll der Historiker seine Objekte nicht eigentlich bewerten, er soll sie nur auf Werte beziehen - eine psychologisch nicht durchführbare Forderung, da etwas auf Werte beziehen und es bewerten ein und derselbe unteilbare Urteilsakt des Geistes ist". Ich führe diese Worte Riehls an, weil für Rickert die oben erwähnte Scheidung von entscheidender Bedeutung ist. "Es wäre", sagt er, "geradezu das schlimmste von allen Mißverständnissen, wenn man unsere Ansicht so auffaßen würde, als hielten wir die Fällung von Werturteilen für eine geschichtswissenschaftliche Aufgabe. In der Loslösung jedes Werturteils von der Wertbeziehung müssen wir vielmehr ein wesentliches Merkmal der wissenschaftlichen historischen Auffassung erblicken". ("Grenzen", Seite 363)
    22) "Grenzen", Seite 380.
    23) Ich halte es für notwendig daran zu erinnern, daß die Frage, ob die Bearbeitung der Wirklichkeit als Natur möglich ist, bei Rickert mit seiner Werttheorie zusammenhängt. Es ist von vornherein klar, zu welchen Ergebnissen er gelangt wäre, wenn seine Theorie sich als undurchführbar erwiesen hätte. In dieser Hinsicht ist er Kantianer: er widerlegt den *Skeptizismus nicht sondern er nimmt ihn so, wie er ist, an. Diesen entscheidenden Punkt werde ich noch im kritischen Kapitel meiner Arbeit behandeln.