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MAX SCHNEIDER
Die erkenntnistheoretischen Grundlagen
in Rickerts Lehre von der Transzendenz

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Die Bedeutung des Erkennens beruth auf der Überzeugung, daß wir eine auch vom erkennenden Subjekt unabhängige und insofern transzendente Ordnung zu entdecken vermögen, denn wenn das Erkennen einen Sinn haben soll, so müssen wir etwas auch vom theoretischen Subjekt Unabhängiges dabei erfassen, und insofern liegt allen Versuchen, die Annahme einer transzendenten Welt zu rechtfertigen, ein richtiger Gedanke zugrunde.

"Erst die Mannigfaltigkeit dieses, natürlich immanent, Gegebenen, dessen Inhalt irrationaler Natur ist, bildet das empirische Subjekt in methodologischen Formen zu den Zusammenhängen wissenschaftlicher und praktischer Erkenntnis um, so daß Wissenschaft als Realisierung von Werten durch empirische Subjekte bezeichnet werden kann. Damit erweist sich die logische Priorität des Sollens vor dem Sein als stärkster Beweis für den Primat der praktischen Vernunft.


Vorwort

 
Es gibt zwei Arten, an ein philosophisches System, das den vorurteilsfreien Beschauer beim ersten Blick Kopfschütteln macht, kritisch heranzutreten. Einmal kann der Untersuchende seine Arbeit beim ersten Satz des vorliegenden Gedankenbaus beginnen, sogleich diesen nach allen Seiten hin drehen und wenden, ihn auf seine Tauglichkeit für weitere Ableitungen hin prüfen, seinem Zusammenhang mit dem folgenden logischen Gebilde nachgehen und so Schritt für Schritt wie an einem Faden durch das Labyrinth der Beweisgänge zu kommen suchen. Der erste aufgefundene Widerspruch gibt Anlaß, die weitere Prüfung des Lehrgebäudes einzustellen: der ganze Oberbau ruht ja auf lockerem Grund und fällt nun wie ein Kartenhaus zusammen.

Anders die zweite Art. Wer nach ihr verfährt, sucht ein philosophisches Werk als eine große Konzeption zu begreifen; er ist weniger skeptisch. Er hält sich weniger eng an den Begriff eines Wortes, als vielmehr an dessen gemeinten Sinn. Sein Ziel ist nicht zu zerstören, sondern zu lernen. Ihm kommt es mehr darauf an, den schöpferischen Geist, der aus dem Werk zu ihm spricht, zu verstehen; die geheimen Triebfedern zu entdecken, die mitwirkten am Gespinst der gedanklichen Zusammenhänge. Es wird ihm nicht entgehen, daß an irgendeiner Stelle des Gewebes eine Masche fallen gelassen und an einer anderen ein unechter Faden mit verwoben wurde, - aber es liegt nicht in seiner Absicht, von dieser Lücke aus das Ganze zu zerreißen -, er verfolgt vielmehr den freigelegten Faden, um so erst recht in den Sinn einzudringen, der den Meister leitete. Denn er weiß: Wer die Sonde der Kritik an jedes Stückchen Arbeit solange unbarmherzig ansetzt, bis alle Teilchen klar und geordnet vor ihm liegen, wird selten über die ersten Sätze eines philosophischen Entwurfs hinauskommen. Er weiß ferner, daß ein solches System nicht bloß das Ergebnis jahrelangen Sinnens und Grübelns ist, sondern daß die letzten Wahrheiten, zu denen so ein Weg philosophischen Denkens führt, im Akt einer einheitlichen Welterfassung gesehen worden sind. Nicht selten wird das Ziel gesehen, ehe der Weg dahin dem Strebenden ebenso deutlich vor Augen steht. Oft steht der große Gedanke vor dem schauenden Blick, bevor es klar ist, mit welchem Recht, auf welche Weise - ein "Apercu", ein glückhaftes Gesicht. Und nun erst stellt der verwunderte Verstand die Frage: Woher? Warum? Doch nicht immer erzwingt er eine volle Antwort; denn sein Wunsch ist allzu menschlich: er möchte das Geschaute in bestimmte Perspektiven rücken. Und bei diesem Bemühen entschwindet - leider - oft das hohe Bild, unmerklich, - an seiner Stelle erscheint ein Spiegel, der dem betroffenen Frager nicht mehr zeigt als dem "Philosophen" auf KLINGERs großem Bild. Logisch gefaßt, würde das heißen: Beweise werden immer für etwas geliefert. So nüchtern Manchen philosophische Darlegungen anmuten mögen, so unleugbar ist es, daß bei der Erschaffung aller großen philosophischen Systeme Mächte - Lebensmächte mit am Werk waren, deren Treiben in diesem "grauesten" Reich der Theorie schier für ausgeschlossen gelten sollte. Es sei etwa an KANTs Lehre vom intelligiblen Willen erinnert. Wie hoch hat sie SCHOPENHAUER geschätzt, dem gewiß der Blick für die Schwächen anderer nicht fehlte! Er konnte es aber nur, weil sein Geist mehr dem Schauen als dem Denken traute. Es ist wohl keinem der beiden genannten Philosophen gelungen, seine Erkenntnis von dem erwähnten Gegenstand in einwandfreien Beweisen unwiderleglich darzustellen. Es geht dem Philosophen wie dem Dichter: Das Letzte, was er ahnte, auszusprechen, ist auch ihm versagt. Dem liebevollen Blick allein enthüllt sich der Sinn solcher Weltbetrachtungen. Dann - plötzlich - hinter jenen logischen Zurechlegungen - da steigen sie empor, schattenhaft die Lebensgewaltigen, die stumm und unsichtbar beiseite standen, als ein Gott-Mensch seine Welt erschuf - mögen sie Schicksal, Angeborenheit, Volksseele, Zeitströmungen oder noch anders heißen. So ist es kein Wunder, wenn das Erkannte durchaus nicht immer zu einem widerspruchslosen System gestaltet wurde - kein Wunder, daß, wie CHAMBERLAIN einmal sagt: in einem Menschen widerspruchsvolle Gedanken nebeneinander wohnen können, - kein Wunder, daß der Aphoristiker immer recht, der Systematiker immer unrecht hat, - kein Wunder zumindest für denjenigen, dem es klar geworden ist, welch ein kompliziertes Gebilde das ist, was "Erkenntnis" genannt wird. Es bedarf gar keines besonders scharfen Auges, um eine "Erkenntnis" als das Produkt einer ganzen Anzahl zusammenwirkender Faktoren erstehen zu sehen. So paradox es nun klingen mag, so wahr ist es doch, daß selbst, ja gerade die Erkenntnis deren, welche nach Erkenntnis der Erkenntnis streben, von einem ganzen Gewirr verschiedenartiger Tendenzen erzeugt wurde. Einige an einem Lehrsystem aufzuzeigen, soll im Folgenden versucht werden - an einem System, das in seinen Ergebnissen ebenso befremdet, als es in seiner klaren Beweisführung evident erscheint; das aber andererseits einen Blick gestatten kann in Gedankenläufe, die in der modernen Erkenntnistheorie richtunggebend geworden sind - an RICKERTs erkenntnistheoretischer Lehre von der Transzendenz.




Rickerts Lehre von der
Transzendenz

Es gibt Transzendentes; denn "zum Begriff des Erkennens gehört ein Gegenstand, der nur dann für das Erkennen eine Bedeutung besitzt und ihm Objektivität verleiht, wenn er ein vom erkennenden Subjekt in jeder Hinsicht unabhängiger Gegenstand ist." (Gs. 83, 124, 125; Zw. 163, 171). Jede Wissenschaft ruht auf transzendenten Voraussetzungen. (Gr. 18) Ebenso wie für die Geschichte als Wissenschaft transzendente Annahmen unentbehrlich sind, so ist ein rein immanenter Naturalismus logisch undurchführbar (Gr. 18). Der Erkennende hat geradezu ein Bedürfnis nach einer transzendenten Welt als dem Etwas, das er erkennen will. (Gs 75, 77, 110) Solange also unter Transzendentem das vom "Bewußtsein" Unabhängige verstanden wird (Gs 27, 125), ist es Aufgabe des Erkennens - freilich auch nur des Erkennens (Gs 65) - diesen transzendenten Gegenstand zu bestimmen. (Gs 1) Ob das Erkennen auch fähig ist, diese Aufgabe zu lössen, kann keine Frage mehr sein; da "
    "die Bedeutung des Erkennens auf der Überzeugung beruth, daß wir eine auch vom erkennenden Subjekt unabhängige und insofern transzendente Ordnung zu entdecken vermögen, denn wenn das Erkennen einen Sinn haben soll, so müssen wir etwas auch vom theoretischen Subjekt Unabhängiges dabei erfassen, und insofern liegt allen Versuchen, die Annahme einer transzendenten Welt zu rechtfertigen, ein richtiger Gedanke zugrunde." (Gs 78)
Als "Aufgegebenes" (Gs 165) tritt das Transzendente dem Subjekt gegenüber (Gr 132) - und zwar in dem Sinne, daß das Erkennen sich danach zu richten hat (Gs 1). Zweck einer erkenntnistheoretischen Betrachtung ist nun, die logischen Voraussetzungen der Wirklichkeitserkenntnis zu hinterfragen (Gs 155, 180, 185, 244). Die Erkenntnistheorie hat es ja nur mit dem Begriff der Erkenntnisform zu tun. (Gs 63, 88, 168, 170, 183, 194, 207, 211, 220, 238 Anm. 42; Zw 177, 178, 211). Verpönt ist ihr die psychologische Fragestellung, wie Erkenntnis entsteht (Anm. zu Gs 42, Gs 88, 175, 148; Zw. 190). ("Die Erkenntnistheorie hat die Geltung der Erkenntnis zum Problem, die Psychologie hat es mit den tatsächlich vorhandenen psychischen Vorgängen zu tun." - Gs 88) Insofern jene also nicht das Problem des Seins, sondern das des Sinns der Erkenntnisprozesse zu lösen sucht (vgl. Log IV 301), kann sie als eine Fortsetzung von KANTs transzendentaler Vernunftkritik gelten (Gs 88, 114, 148, 169; Vorw. zur 2. Auflage). Daher kann das erkennende Subjekt, welches seinen Gegenstand nur unter dem bezeichneten Gesichtswinkel ins Auge faßt, weder psychophysischer noch immanenter Natur sein. Weil es nur ein logisches Gebilde sein darf, das notwendig zu allen immanenten Objekten gehört (Gs 27) und weil unter Objekt alles zu verstehen ist, was überhaupt ganz Objekt werden kann (Gs 75, 145, 154), so wird das erkenntnistheoretische Subjekt zu einem Begriff, und zwar zu einem Grenzbegriff, einem namenlosen, allgemeinen, unpersönlichen (Gr 130) Bewußtsein, dem einzigen, das niemals Bewußtseinsinhalt werden kann. (Gs 25, 47, 149, 68, 143, 145). Welche Beziehung muß dann zwischen diesem Subjekt und seinem Objekt bestehen? Die Antwort darauf wird sich aus einer Betrachtung über das erkenntnistheoretische Objekt ergeben. Dabei stellt sich heraus, daß Versuche, von der Psychologie aus an das Transzendente heranzukommen, keinen Sinn haben können. Sie gehen nämlich von einem falschen Subjekt-Objekt-Gegensatz aus, wonach der Transzendenz die Immanenz als Subjekt entgegengestellt wird. Nun gilt aber DILTHEYs "Satz der Phänomenalität", bzw. der Satz der Immanenz (Gs 19). Er behauptet, daß "alles, was für mich da ist, unter der allgemeinsten Bedingung steht, Tatsache meines Bewußtseins zu sein" (Gs 20, 74). Ja,
    "der Satz, daß alles unmittelbar gegebene Sein ein Sein im Bewußtsein ist, bedeutet nur die Konstatierung einer Tatsache, eines absolut unbezweifelbaren, in keiner Hinsicht weiter analysierbaren Erlebnisses" (Gs 29);
ist eine unbezweifelbar evidente Wahrheit von größerer Gewißheit, als irgendeine naturwissenschaftliche Theorie sie besitzt. (Gs 40) Andererseits ist die Existenz einer transzendenten Wirklichkeit auch nicht erschließbar (Gs 36). Denn: das Transzendente kann das Immanente unmöglich verursachen. Entweder berutz eine Beweisführung, die das Gegensteil vertritt, auf einer unstatthaften Bezeichnung des Bewußtseinsinhaltes durch das Wort "Erscheinung" (Gs 37), - oder es wird verkannt, daß die unmittelbare Erfahrung, welche alle Abstraktionsprodukte weit an Wirklichkeitsgehalt überragt, niemals als aus ihnen entstanden zu begreifen ist (Gs 41, 47), - oder schließlich wird übersehen, daß die Kausalität in keiner Richtung über das Immanente zu einem transzendenten Sein hinausführt (Gs 49). Daß die Heterogenität [Ungleichartigkeit - wp] und Zerrissenheit der Bewußtseinswirklichkeit eine Ergänzung durch die Transzendenz verlangt, um auf ein Kontinuum bezogen werden zu können und dait eine Wissenschaft zu ermöglichen (Gs 50), ist kein vollgültiger Beweis. Der Solipsismus vollends wird zur logischen Absurdität (Gs 53). Wer aber aus der Tatsache, daß dem menschlichen Willen in der Wirklichkeit Widerstände entgegentreten, die Existenz eines vom Bewußtsein Unabhängigen erschließen wollte, der ist Anhänger einer noch nicht erwiesenen psychologischen Theorie und übersieht, daß das wollende Ich wie alles Individuelle ein immanentes Objekt ist (Gs 65).

Damit ist die Unmöglichkeit der Annahme einer transzendenten seienden Wirklichkeit erwiesen (vgl. auch Zw 171). Also muß das Transzendente in einer ganz anderen Richtung als der bisher vermuteten gesucht werden (Gs 77). Und den Ausweg zeigt die Logik. Freilich eröffnet sie ihn erst dem, welcher aufgehört hat, das Sein dem vorstellenden Bewußtsein gegenüberzustellen (Gs 77). Ein gänzlich neuer Erkenntnisbegriff (Gs 77) entsteht dagegen, wenn berücksichtigt wird, "daß es Urteile sein müssen, in denen wir die Erkenntnis besitzen" (Gs 84, 169; Zw 181). Wenn nun jede Erkenntnis mit Urteilen beginnt, in Urteilen fortschreitet und nur in Urteilen bestehen kann (Gs 102f, 195) und wenn alle psychologische, vor allem jede vorstellungspsychologische Auffassung von der Entwicklung des Erkenntnisbegriffs ferngehalten werden soll, so kann der Sinn des Urteils nur in der in ihm enthaltenen Bejahung bzw. Verneinung erblickt werden, die als vierter Bestandteil zu den beiden Vorstellungen und ihrer Beziehung tritt (vgl. auch "Theorie" 305). Ja, "Erkennen ist seinem logischen Wesen nach ein Bejahen oder Verneinen" (Gs 103; vgl. auch Gs 164; Zw 182). Im Bejahen und Verneinen kommt aber ein Billigen oder Mißbilligen zum Ausdruck. (Gs 105) Dieses teilnehmende Verhalten hat jedoch nur Werten gegenüber einen Sinn (Gs 106; Log. I. Bd. 17). Somit wird das Erkennen bestimmt durch Gefühle (Gs 106), ja, der rein theoretische Erkenntnisakt besteht nur in der Anerkennung des Wertes der Gefühle (Gs 106, 108). Damit ist der Satz: "Erkennen ist gleich Anerkennen" (Gs 122) gerechtfertigt.

Natürlich hat das Gefühl der Gewißheit eine besondere Bedeutung, die es von allen anderen Lustgefühlen unterscheidet (Gs 111). Es charakterisiert ja in seinem Glauben an einen überindividuellen zeitlosen Wert eine logische Beurteilung (Gs 112). Seine logische Struktur ist also die einer Urteilsnotwendigkeit (Gs 113). In dieser kommt der eigentliche Sinn des Urteils, der in der Anerkennung des mit ihr verbundenen Wertes besteht, zum Ausdruck (Gs 115). Dieser Wert aber ist ein transzendentes Sollen (Gs 115), das auch im einfachsten Tatsachenurteil anerkannt wird (Gs 113) und dessen Absolutheit eben darum unbezweifelbar ist, weil es die Bedingung jedes Urteils ist (Gs 141, 173).

Wirklich ist demnach das als wahr Beurteilte, und wahr ist das als wertvoll Anerkannte (Gs 115f). Primäre Erkenntnisform ist also das gesollte Urteil, nicht die seiende Vorstellung (Gs 120). "Erst muß man urteilen, dann weiß man, was ist." (Gs 120, 157) Warum soll aber gerade dieses Urteil gefällt werden und nicht jenes? "Weil es eine Notwendigkeit besitzt, die Anerkennung fordert": d. h.: "Weil es gefällt werden soll (Gs 118). Mithin
    "ist der Gegensatz zwischen dem erkennenden Subjekt und dem Gegenstand, auf den sich die Erkenntnis richtet, nicht derjenige zwischen dem vorstellenden Bewußtsein und einer davon unabhängigen Wirklichkeit, sondern es ist der zwischen dem urteilenden, d. h. bejahenden und verneinenden Subjekt und dem Sollen, welches in den Urteilen anerkannt wird." (Gs 123, 148)
"Hat" jedoch "diese Anerkennung im Urteil wirklich einen absoluten Wert zum Gegenstand, der von jeder faktischen Anerkennung unabhängig ist?" (Gs 127) Die Verneinung dieser Frage führt zu einem logischen Widerspruch (Gs 128f); denn jeder, der den Wahrheitswert leugnet, erkennt doch, solange er auf die Geltung seiner Aussage Anspruch erhebt, das Sollen an, dessen Geltungsrecht er anzweifelte. (Gs 130, 138) Höchste Evidenz erreicht diese Folgerung durch eine Überlegung, welche von der selbst vom Positivisten vorausgesetzten Unbezweifelbarkeit der Tatsachenurteile ausgeht. Als Urteile nämlich erkennen auch diese einfachen Konstatierungen von Bewußtseinstatsachen die transzendente Urteilsnotwendigkeit an (Theorie, 287). Hiernach "weisen alle Bewußtseinsinhalte, d. h. alle "Tatsachen" über sich hinaus ins Transzendente" (Gs 165); dessen Objektivität damit eben auch unbezweifelbar geworden ist. "Es gibt also überhaupt keine Möglichkeit, das Transzendente in jeder Hinsicht zu leugnen." (Gs 157f) "Das anerkannte Sollen oder die Form des Seins kann als etwas Letztes, für sich Bestehendes angesehen werden, nach dessen Grund zu fragen, keinen Sinn hat." (Gs 173)

Daß das Transzendenzproblem nicht im Sein, sondern im Sollen liegen muß (Gs 115), erhellt sich auch daraus, daß die objektive Wirklichkeit und die daraus geformte Begriffswelt der Wissenschaft - erkenntnistheoretisch betrachtet - das Produkt gesollter Formen sind (Gs 174f, 182). "Jede wissenschaftliche Begriffsbildung ist wertend." (Gr. 589) Die Norm des Sollens bestimmt durch die konstitutiven Kategorien des Seins und der Gegebenheit (Gs 172f) die Form der objektiven Wirklichkeit, der Heterogenität des Individuellen (Gs 177, 179, 211). Erst die Mannigfaltigkeit dieses, natürlich immanent, Gegebenen, dessen Inhalt irrationaler Natur ist (Gs 168, 219, 222, 226f, 231), bildet das empirische Subjekt in methodologischen Formen zu den Zusammenhängen wissenschaftlicher und praktischer Erkenntnis um (Gs 217), so daß "Wissenschaft als Realisierung von Werten durch empirische Subjekte" bezeichnet werden kann (Gs 240). Damit erweist sich die logische Priorität des Sollens vor dem Sein als stärkster Beweis für den Primat der praktischen Vernunft (Gs 165, 240; Vorwort zur 2. Auflage, Gs 234). Als Wertwissenschaft (Gs 235; Gesch 111; Gr 611f) sucht die ganze Philosophie, für welche die Erkenntnistheorie von hoher Bedeutung ist (Gs 244), ins Reich der zeitlosen Geltung (vgl. auch Log. IV 324; Gs 165; Gr 585) erkennend einzudringen; als Wissenschaft vom Sollen erfaßt sie den Sinn des Seins (Gs 235).

Dies in den allergröbsten Zügen der systematische Zusammenhang von RICKERTs Lehre über die Transzendenz.

Vorbemerkungen.

Das Sollen ist also das Transzendente; ein überindividueller absoluter Wert (Gs 234, 236). - Mancherlei Überlegungen ließen uns darüber klar werden, daß dieses Ergebnis nicht das Ende einer eindeutigen Gedankenreihe ist, so bewußt einseitig RICKERT auch seine Beweise zu führen sucht. Wir glauben vielmehr, daß mehrerlei Triebfedern in diesem Philosophen wirksam gewesen sind. Die Haupttendenzen in seiner Lehre über das Transzendente aufzuzeigen und zu verfolgen, ist nun unsere Aufgabe.

Es ist sonach unvermeidlich, die Wurzeln, aus denen die Lehre vom Transzendenten erwächst, in ihren letzten Ausläufern aufzusuchen; d. h. unsere Untersuchung muß sich bis zu den Grundlehren von RICKERTs Erkenntnistheorie erstrecken - selbst auf die Gefahr hin, daß wir uns in der Verfolgung irgendeines Gedankengangs einmal verlieren sollten. Wir werden immer von einer besonderen Seite des RICKERTschen Transzendenten ausgehen und uns klar machen, wo die darin zum Ausdruck kommende Tendenz ihren Ursprung hat, wo sie sonst noch auftritt und welche Bedeutung sie für das RICKERTsche System gewinnt. Es kann uns nicht auf eine Vollständigkeit der Behandlung ankommen; andererseits müssen wir die Freiheit in Anspruch nehmen, ein und denselben Gegenstand an verschiedenen Stellen zu besprechen. Historische Notizen müssen wir uns meistens versagen; insbesondere müssen wir das interessante Verhältnis von RICKERT zu WINDELBAND so gut wie unberücksichtigt lassen. Eine strenge Einteilung des Stoffes ist, der Anlage dieser Arbeit entsprechend, nicht immer möglich. Verstreute Bemerkungen müssen oft das ersetzen, was um des jeweiligen Zusammenhangs willen der klaren Gedankenführung verloren geht. Auch ist unsere Abhandlung nicht frei von dem Nachteil, am vorgegebenen Stoff: an RICKERTs Transzendenzlehre, nur das Angreifbare hervorzuheben, das Anerkennenswerte aber stillschweigend - wie selbstverständlich - hinzunehmen. Vermutlich wird uns RICKERT schon aus diesem Grund zu jenen "Autoren" rechnen, "die um jeden Preis kritisieren wollen, weil ihnen zum positiven Schaffen die Begabung fehlt." (Zw 222). Dessen ungeachtet werden wir uns zuweilen dort, wo die besprochenen Tendenzen auf Ansichten führen, die wir nicht teilen können, in Anknüpfung an diese erlauben, eigene Meinungen geltend zu machen; womit wir gleichzeitig den Mangel an innerer Geschlossenheit dieser kritischen Studie entschuldigen möchten. Ja, manchmal suchen wir erst einen eigenen Standpunkt zu gewinnen, um die Gedankenbahnen in RICKERTs Erkenntniswelt umso deutlicher liegen zu sehen. Wir verhehlen uns aber durchaus nicht, daß wir noch auf viele Schwierigkeiten stoßen würden, wenn man uns auffordert, die unsere Kritik veranlassenden Gedanken lückenlos zu systematisieren.
LITERATUR - Max Schneider, Die erkenntnistheoretischen Grundlagen in Rickerts Lehre von der Transzendenz,[Inaugural-Dissertation] Dresden 1918