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LEONARD NELSON
Die Rechtswissenschaft
ohne Recht


"Der Psychologie ohne Seele und der Naturwissenschaft ohne Natur tritt nun eine Rechtswissenschaft ohne Recht an die Seite."

"Die Aufgabe, das Staatsrecht ausschließlich in seinem rechtlichen Gehalt zu erforschen und darzustellen, soll durch eine Wissenschaft gelöst werden, die ausschließlich dem Gewordenen und Seienden, nicht aber dem Seinsollenden zugewendet ist?"

"Daß eine Rechtsnorm Geltung hat, soll heißen, daß ihre Erfüllung garantiert ist. Ihre Erfüllung bedeutet aber, daß das, was geschehen soll, auch wirklich geschieht. Hört aber die Rechtsnorm darum auf, ein Sollen zu sein, weil das, was sie fordert, wirklich geschieht? Wird sie dadurch ihrerseits zu einem Gegenstand der Wissenschaft vom Seienden?"

 "Jellinek  betont, daß durch Rechtsbegriffe niemals ein reales Sein erkannt wird, weil allen Rechtsbegriffen in der Welt der Tatsachen nichts objektiv Wahrnehmbares entspricht."

"Rechtsnormen sind nicht hypothetische, d. h. unter der Bedingung eines Zwecks gebietende, sondern kategorische, d. h. schlechthin und ohne alle Rücksicht auf einen zu erreichenden Zweck gebietende Normen. Nach den Zwecken des Rechts zu suchen, ist daher eine in sich widerspruchsvolle Aufgabe."

"Ein Wille der Gesellschaft und eine Intelligenz der Gesellschaft ist kein Gegenstand empirischer Erkenntnis, sondern ein Hirngespinst metaphysischer Spekulation. Dieses Hirngespinst metaphysischer Spekulation wird von  Jellinek  zum letzten Fundament der Rechtswissenschaft gemacht."

"Wer ist den der souverände Mann?
Ach das ist bald gesagt:
Der, den man nicht hindern kann,
Ob er nach Gutem oder Bösem jagt."
- Goethe

"Am Ausgang des 19. und am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts stehen wir in einer jener Perioden, in welcher die Idee des Rechts verblaßt. Es wird Zeit, sie wieder in ihrer Bedeutung zu erkennen." - Ludwig von Bar



Einleitung

In einem Gespräche, das ich einst mit einem in seinem Vaterland als Forscher wie als Staatsmann gleich angesehenen römischen Juristen führte, kam die Rede auf die Vorzüge der deutschen und der italienischen Sprache. Mein Freund behauptete, von allen ihm bekannten Sprachen eigne sich keine so gut wie die deutsche dazu, abstruse oder banale Behauptungen so auszudrücken, daß sie den Schein eines besonderen Tiefsinns annehmen. Die italienische Sprache dagegen bekundet ihre Präzision und Klarheit gerade dadurch, daß man, um die Nichtigkeit einer im Deutschen tief klingenden Behauptung zu erkenen, nur den Versuch zu machen braucht, sie ins Italienische zu übersetzen. Als Beispiel erwähnt er die Erklärung, mit der ein berühmter deutscher Professor, dessen Schüler er als Student gewesen war, seine Vorlesungen begonnen hat. "Die Rechtswissenschaft", so hat jener erklärt, "ist die Wissenschaft vom Recht." "La scienza des diritto e la scienza del diritto", fügte mein Freund ironisch lächelnd hinzu, um durch die bloße Übersetzung die Trivialität der Erklärung ins Licht zu setzen. Ich wage nicht, zu widersprechen; denn ich war geneigt, ihm recht zu geben.

Heute sehe ich es anders an. Erfahrung und Nachdenken haben mich überzeugt, daß die Erklärung des deutschen Professors, weit entfernt, trivial zu sein, eine Behauptung von außerordentlicher Kühnheit enthält. Wer die Entwicklung verfolgt, die die Rechtswissenschaft in den Händen ihrer neueren Bearbeiter genommen hat, dem muß sie mehr und mehr in einem Licht erscheinen, wonach jene Erklärung vom Wesen der Jurisprudenz nicht nur nicht als trivial, sondern nicht einmal mehr als richtig gelten kann. Das Bestreben, die Forschung auf eine, wie man sagt, positive Basis zu stellen und sie von allen metaphysischen Voraussetzungen zu reinigen, hat zu einer Kritik der Grundbegriffe geführt, deren Ergebnis ein totaler Umschwung in den Anschauungen vom Wesen der Wissenschaft selbst ist, ein Umschwung, der so weit geht, daß ihm die überkommene Wortbedeutung ihres Namens nicht mehr Rechnung zu tragen vermag.

Dieser Vorgang ist übrigens nur das Symptom einer allgemeinen Entwicklung, deren gleichartige Wirkungen sich auf allen Gebieten der Wissenschaft bemerkbar machen. Überall ist der Positivismus zur Herrschaft gelangt, überall ist man gleichmäßig bestrebt, die Forschung auf die Feststellung der sinnlich wahrnehmbaren Tatsachen zu beschränken, alle Annahmen dagegen, die über das anschaulich Vorfindbare hinausgehen, auszumerzen und sich damit, wie man es nennt, von allen metaphysischen Voraussetzungen frei zu machen.

So hat die Psychologie längst aufgehört zu sein, was ihr Name bedeutet. Die Erforschung der  Seele  gilt dem modernen Psychologen als eine metaphysische Verstiegenheit, die er weit von sich weist, als ein Abenteuer, das ihn in die Gesellschaft der Obskuranten, Okkultisten, Spiritisten und Theosophen versetzen würde; denn mit seinem Chronoskop [Stoppuhr - wp], Tachitoskop [bis unter eine Millisekunde - wp] und Kymographion [Pulsmesser - wp] kann er ein so mysteriöses Ding nicht beobachten oder gar messen.

Und wie es eine Verkennung der modernen Psychologie wäre, wenn man ihr eine Erforschung der Seele zumuten wollte, so täte man auch einem modernen Vertreter der Naturwissenschaft unrecht, wollte man in der von ihm betriebenen Wissenschaft eine solche von der  Natur  suchen. Denn was über ein bloßes Registrieren von Empfindungen hinausgeht, würde, soweit es sich nicht in willkürlichen Festsetzungen zum Zweck einer möglichst ökonomischen Zusammenfassung und Übersicht der gewonnenen Empfindungen erschöpft, metaphysische Voraussetzungen in die Wissenschaft hineinziehen und muß daher als etwas empirisch Unkontrollierbares aus dem Bereich einer reinen Erfahrungswissenschaft verwiesen werden. Eine von seinen Empfindungen unabhängige, durch notwendige und allgemeine Gesetze geregelte Natur ist etwas, was sich den Beobachtungen und Experimenten des Naturforschers entzieht, und worüber daher seine Wissenschaft keinen Aufschluß geben kann. Ob es eine solche Natur gibt, und wie sie beschaffen ist, dies sind Fragen, die alle menschliche Wissenschaft übersteigen, und über die man das Urteil denen überlassen muß, die sich des Besitzes einer übersinnlichen Offenbarung erfreuen. SOKRATES behält danach recht, wenn er die Bestrebungen seiner Zeitgenossen, zu einer Wissenschaft von der Natur zu gelangen, als einen frevelhaften Übergriff in das Vorrecht der Götter zurückwies, und Männer wie GIORDANO BRUNO, KEPLER und GALILEI, die dieses aberwitzige Unterfangen erneuert und sich zu Märtyrern ihres Irrwahns gemacht haben, verdienen nicht länger unsere Bewunderung.

Der Psychologie ohne Seele und der Naturwissenschaft ohne Natur tritt nun eine Rechtswissenschaft ohne Recht an die Seite. Ein Recht, das objektiv und unabhängig von aller Anerkennung seitens der Menschen Verbindlichkeit besäße, das seine Gültigkeit nicht der Rücksicht auf soziale oder politische Opportunität verdankt, noch auch der Ehrwürdigkeit des historisch Gewordenen, ist ein offenbar nur der Metaphysik angehöriges Gebilde. Nicht mit einem solchen Recht daher, sondern einzig mit den ihren Forschungsmitteln zugänglichen Rechtsüberzeugungen, Vorstellungen, Gefühlen, Willensakten, oder was sonst als historisch erweisbare Rechtsquelle gelten mag, kann es die positive Wissenschaft zu tun haben. Ob das, was als Recht anerkannt wird und als Recht gilt, auch objektiv Recht ist oder nicht, darüber zu urteilen, muß sie sich für inkompetent erklären. Dies ist in der Tat der Zustand, den wir in der heutigen Jurisprudenz antreffen.

Der Preisgabe des objektiven Rechtsbegriffs von seiten der Jurisprudenz hat aber nicht nur tiefgreifende Folgen für das Schicksal dieser Wissenschaft, sondern ihr Einfluß erstreckt sich auch auf das Schicksal des Rechts selbst. Die Existenz oder Nichtexistenz der Seele hängt nicht davon ab, ob die Psychologie sie anerkennt. Und das Bestehen der Natur und ihrer Gesetze wird nicht dadurch bedroht, daß die Wissenschaft es verschmäht, sie in den Kreis ihrer Forschung zu ziehen. Es besteht keine Gefahr, daß die Erde aufhören könnte, sich um die Sonne zu drehen, sollten auch die Naturforscher dieser Wahrheit die Annerkennung versagen. Wird aber die Wissenschaft der Unterscheidung von Recht und Unrecht die Anerkennung verweigert, so wird dadurch die Sicherheit und Geltung des Rechts selbst untergraben. Denn ob Recht oder Unrecht herrscht, das hängt vom Verhalten der Menschen ab, und mit der Zerstörung des Glaubens an die Verbindlichkeit des Rechts müssen unvermeidlich auch die Triebfedern zur Sicherung und Erhaltung des Rechts gelähmt werden. Wo die Wissenschaft dem Recht ihren Schutz versagt, da wird das Recht überhaupt schutzlos. Denn wenn schon die berufenen Hüter des Rechts nicht seine Heiligkeit achten, wie viel mehr werden es dann diejenigen mit Füßen treten, denen bei der skrupellosen Verfolgung ihrer Interessen nur das Recht eine Schranke setzen konnte.

Wo sich daher dieser juristische Nihilismus der Wissenschaft bemächtigt, da wird auch ein praktischer Nihilismus im Völkerleben die unausbleibliche Folge sein, und nur soweit die äußere Rechtsordnung noch durch die Macht der Gewohnheit oder durch ein glückliches Gleichgewicht der an ihrer Zerstörung interessierten Kräfte aufrechterhalten bleibt, tritt diese Folge nicht unmittelbar in Erscheinung.

Eine Prüfung des in der neueren Jurisprudenz zur Herrschaft gelangten Dogmas erscheint angesichts seiner hohen praktischen Tragweite als eine Aufgabe von nicht bloß theoretischem Interesse, und sie verdient gewiß umso mehr Aufmerksamkeit in einer Zeit, wo die gewaltigsten Umwälzungen im öffentlichen Leben alle Gedanken auf die Frage nach den Normen hinlenken, die für die Neugestaltung der Gesellschaft bestimmend sein sollen und von deren Anerkennung das Schicksal der Völker abhängt und mit dem Schicksal der Völker das Wohl und Weh jedes einzelnen.

Im Folgenden sollen die von einigen neueren Juristen entwickelten staats- und völkerrechtlichen Ansichten erörtert werden, die für die gekennzeichnete Tendenz als typisch gelten können und die auch in der Gegenwart besonderen Beifall gefunden haben. Bei dieser Prüfung soll jedoch der Maßstab nicht der Rücksicht auf die praktischen Konsequenzen der einzelnen Lehren entnommen werden, sondern wir werden, um den Standpunkt der reinen Wissenschaft nicht zu verlassen, uns einzig von der Frage nach der inneren Haltbarkeit, d. h. nach der Widerspruchslosigkeit und der Vollständigkeit der Begründung der zu prüfenden Lehrgebäude leiten lassen.

Die wissenschaftlichen Tendenzen, die uns hier interessieren, haben ihren konzentriertesten Ausdruck in der Lehre von der  Souveränität  gefunden. Gemäß der ausgezeichneten Rolle, die dieser Begriff sowohl im Staatsrecht wie auch besonders im Völkerrecht spielt, wird er ganz von selbst in den Mittelpunkt der uns beschäftigenden Probleme rücken, und unsere Untersuchung wird daher im wesentlichen zu einer Kritik des die heutige Rechtslehre beherrschenden Souveränitätsprinzips werden.


Erstes Kapitel
Die Begründung des Staatsrechts
durch die Lehre vom Staatswillen

[bei GEORG JELLINEK]

§ 1. Von der Staatsrechtslehre als Wissenschaft

Beginnen wir mit einer Prüfung der Lehren JELLINEKs, des zweifellos noch immer angesehendsten und einflußreichsten Staatsrechtslehrers unserer Zeit. Sein Hauptwerk, das dann auch hier vorwiegend benutzt werden soll, ist die "Allgemeine Staatslehre", die soeben in einer neuen Auflage erschienen ist.

Die Wissenschaften zerfallen nach JELLINEK in beschreibende oder deskriptive, erklärende oder theoretische und angewandte oder praktische. "Die ersten wollen die Erscheinungen feststellen und ordnen, die zweiten Regeln ihres Zusammenhangs aufweisen, die dritten ihre Verwendbarkeit für praktische Zwecke lehren." (A 6) (1) Unter diesen Klassen von Wissenschaften muß auch die Staatsrechtslehre ihre Stelle finden.

An dieser Einteilung ist von vornherein bemerkenswert die Gleichsetzung angewandter und praktischer Wissenschaft. Praktische Wissenschaft gibt uns Regeln für das Handeln. Jene Einteilung setzt also voraus, daß sich Regeln für das Handeln nur durch eine Anwendung theoretisch festzustellender Regeln des Zusammenhangs der Erscheinungen erhalten lassen oder daß sie wenigstens nur insofern Gegenstand einer Wissenschaft werden können. Diese Voraussetzung läut auf die Behauptung hinaus, daß die praktischen Zwecke selbst, in deren Dienst die Anwendung theoretischer Regeln erfolgt, keiner weiteren wissenschaftichen Beurteilung unterworfen werden können. Alle praktische Wissenschaft könnte hiernach nur eine  relative  Bedeutung beanspruchen; d. h. sie könnte nur mit Rücksicht auf willkürlich gewählte Zwecke die Regeln angeben, denen gemäß jene zu verwirklichen wären. Mit anderen Worten: die Wissenschaft würde zwar über die  Mittel  zur Erreichung irgendwelcher Zwecke Aufschluß geben können, niemals aber über die Vorzugswürdigkeit oder Verwerflichkeit der Zwecke selbst. Sie würde, nach KANTs treffendem Ausdruck, zwar hypothetische, nicht aber kategorische Imperative zu lehren vermögen.

Hiermit stimmt dann auch überein, was JELLINEK über die "angewandte oder praktische Staatswissenschaft" sagt (A 13f). Diese ist ihm die  Politik
    "Da absolute Zwecke nur auf dem Weg metaphysischer Spekulation aufgezeigt werden können, so ... können nur relative politische Untersuchungen wissenschaftlichen Wert gewinnen, d. h. solche, die hypothetisch einen bestimmten Zweck als zu erreichend annehmen, dabei aber die Möglichkeit einer anders gearteten teleologischen Beurteilung zugeben müssen." "Allgemeingültige politische Regeln können schon deshalb nicht aufgestellt werden, weil alle konkreten politischen Zwecke entweder relativ oder metaphysisch, in beiden Fällen aber Gegenstand eines individuellen oder parteimäßigen Meinens und Glaubens sind." (A 21)
In der Tat, die Aufstellung kategorischer praktischer Sätze würde eine metaphysische, d. h. von aller Erfahrung unabhängige Erkenntnis erfordern. Daß eine solche als Wissenschaft unmöglich ist, setzt JELLINEK als selbstverständlich voraus.

Dennoch soll es eine von der Politik unabhängige Staatswissenschaft geben. Diese ist einerseits, als "soziale Staatslehre", Wissenschaft vom  Sein  des Staates, andererseits, als Staatsrechtslehre, Wissenschaft von den in jenem Sein "zum Ausdruck kommen sollenden Rechtsnormen." (A 20) Hier macht nun die "soziale Staatslehre" keine Schwierigkeit; sie ist teils eine beschreibende, teils eine erklärende Wissenschaft von Sein des Staates. Wie aber verhält es sich mit der Staatsrechtslehre? Sie soll eine Wissenschaft von  Normen  sein, d. h. von "Regeln, welche ein Sein-sollen ausdrücken", wie überhaupt die Rechtswissenschaft "eine Wissenschaft nicht der Seinsgesetze, sondern der Normen" ist. (A 20) Die Staatsrechtslehre wäre also eine praktische Wissenschaft. Ihre Normen sollen aber nicht politischer Natur sein; sie beanspruchen also nicht nur hypothetische, sondern kategorische Gültigkeit. Für eine solche Wissenschaft war ja aber in der gegebenen Einteilung der Wissenschaften kein Platz. Dieser Konsequenz wird dann auch alsbald der eben definierte Begriff der Staatrechtslehre wieder geopfert. An hrem normativen Charakter wird zwar zunächst noch festgehalten. Aber die Rechtsnormen sollen das Besondere an sich haben, daß sie  geltende Normen  sind, d. h. solche, "denen Garantien ihrer Erfüllung zur Seite stehen". "Diese Geltung", so wird geschlossen, "erhebt sie zu einem Teil des Seienden." Das Recht übt, im Unterschied von anderen Willensnormen, als reale Macht bestimmte berechenbare Wirkunen aus. "Darum ist das Recht dieser Seite nach Gegenstand der Wissenschaft vom Seienden." (A 20) Und bald hören wir sogar, "daß das allgemeine Staatsrecht keine Lehre von einem geltenden Recht, sondern gleich dem nicht-juristischen Teil der Staatslehre eine Theorie ist, die nicht Normen, sondern wissenschaftliche Sätze enthält". "Die Forderung einer von der Politik geschiedenen Staatslehre, die ... in ihren Resultaten nur dem Gewordenen und Seienden, nicht dem Seinsollenden zugewendet ist", sei die Errungenschaft der neueren deutschen Publizistenschule, "deren Aufgabe es ist, das Staatsrecht ausschließlich in seinem rechtlichen Geahlt zu erforschen und darzustellen". Diese Einsicht in die Natur der Staatsrechtslehre wird dals eine "grundlegende Erkenntnis der neuesten Zeit" gepriesen (A 63f). Sie ist aber nichts als barer Widerspruch. Es war zugestanden, daß das Recht aus Regeln besteht, welche ein Sollen ausdrücken. Die Aufgabe aber, das Staatsrecht ausschließlich in seinem rechtlichen Gehalt zu erforschen und darzustellen, soll durch eine Wissenschaft gelöst werden, die ausschließlich dem Gewordenen und Seienden, nicht dem Seinsollenden zugewendet ist? Kurz: das Staatsrecht soll erforscht werden durch eine Wissenschaft, die ausschließlich dem zugewendet ist, was  nicht  Staatsrecht ist?

Der Fehler liegt hier im Schluß von der "Geltung" der Rechtsnormen auf ihre Zugehörigkeit zum "Seienden". Daß eine Rechtsnorm Geltung hat, soll heißen, daß ihre Erfüllung garantiert ist. Ihre Erfüllung bedeutet aber, daß das, was geschehen soll, auch wirklich geschieht. Hört aber die Rechtsnorm darum auf, ein Sollen zu sein, weil das, was sie fordert, wirklich geschieht? Wird sie dadurch ihrerseits zu einem Gegenstand der Wissenschaft vom Seienden? Wenn einen Norm gilt, so ist das, was sein soll, ein Seiendes. Keineswegs aber wird dadurch das Sollen selbst zu einem Seienden. Keineswegs ist es richtig, daß das Recht, im Unterschied von anderen Willensnormen, als reale Macht bestimmte Wirkungen ausübt. Wenn, wie JELLINEK an anderer Stelle betont, "durch Rechtsbegriffe niemals ein reales Sein erkannt wird" (A 162), wenn allen Rechtsbegriffen "in der Welt der Tatsachen nichts objektiv Wahrnehmbares entspricht" (A 183), so kann das Recht auch nicht als reale Macht Wirkungen ausüben. Nur die  Vorstellung  der Rechtsnormen und der mit ihrer Übertretung verbundenen Folgen vermag dies. Nur diese Vorstellung, nicht aber das Recht selbst, ist ein "tatsächlicher Faktor des Volkslebens", den die Geschichte "nach dem Maß eines realen Seins, der tatsächlichen Wirkungen messen" kann. (A 20f)

Wenn daher der "ideale Typus" des Staates, der "kein Seiendes, sondern eine Seinsollendes und damit zugleich als Wertmaßstab des Gegebenen" ist, als olcher aus der "theoretisch-wissenschaftlichen Erkenntnis" verbannt und in den Bereich der "Spekulation verwiesen wird (A 36), so ist dies freilich richtig, falls man unter theoretischer Wissenschaft dasjenige versteht, deren Objekt "das Seiende, nicht das Seinsollende, die gegebene Welt, nicht eine zu erschaffende" ist. Der Schluß aber, daß ein solcher Typus "nicht auf dem Weg wissenschaftlicher Forschung" zu finden ist, da "wie alle Spekulation, auch die vom idealen Staatstypus in letzter Linie auf dem Boden subjektiver Überzeugungen ruht", und daß er "daher nicht Objekt des Wissens, sondern des Glaubens" sei, ist ein Trugschluß. Er steht und fällt mit der durch nichts zu begründenden Behauptung, daß "theoretische Wissenschaft" mit Wissenschaft überhaupt gleichbedeutend ist, daß mit anderen Worten, eine Wissenschaft des Sollens unmöglich ist. Unter dieser Voraussetzung aber wäre auch keine Rechtswissenschaft möglich. Es gäbe also erst recht keine Staatsrechtswissenschaft. Wer darauf verzichtet, die Staatsrechtslehre als praktische Wissenschaft zu bearbeiten, mag den Begriff des Staatsrechts umdeuten, wie er will; wenn der Zweck der Staatslehre wie der aller Jurisprudenz "auf Gewinnung einer praktischen Möglichkeit gerichtet ist, das tatsächliche Leben rechtlich zu beurteilen", wenn alle Konstruktionen, die nicht irgendwie diesem praktischen Zweck zu dienen imstande sind, keinen wissenschaftlichen Wert haben" (A 51f), und wenn eine nur dem Seienden zugewendete Rechtswissenschaft "den edleren Teil ihres Berufes gänzlich aufgeben würde" (A 19), so ist sein Unternehmen gerichtet.


§ 2. Vom Begriff des Rechts

Der Wunsch, der Staatsrechtslehre ihre praktisch Bedeutung zu retten,  ohne  sich doch auf den Boden der "metaphysischen Spekulation" zu begeben, führt nun zu den abenteuerlichsten Mißgriffen. Vor allem gilt es, einen dieser widerspruchsvollen Anforderung genügenden Begriff des  Rechts  zu gewinnen. Das Dogmatische eines solchen Vorgehens rächt sich hier sogleich beim ersten Schritt. Statt vor allem diesen Begriff selbst zu erörtern und so zuerst die  Bedeutung  des Wortes "Recht" zu fixieren, stellt man uns sofort vor die Wahl zwischen zwei aufs Geratewohl herausgegriffenen Hypothesen über die "Natur" oder das "Wesen" des Rechts, ohne die Frage der Vollständigkeit der zur Wahl gestellten Möglichkeiten auch nur zu streifen.
    "Entweder man sucht die Natur des Rechts als einer vom Menschen unabhängigen, im objektiven Wesen des Seienden gegründeten Macht zu erforschen oder man faßt es als subjektive, d. h. innermenschliche Erscheinung auf." (A 332)
Offenbar sind in dieser Alternative mehrere, voneinander verschiedene Gegensätz vermengt. Der Gegensatz zu einer im Wesen des Seienden gegründeten Macht wäre ein als bloßes Sollen von allem Sein unabhängig bestehendes Recht. Von diesem Gegensatz des Seins und des Sollens ist der zwischen Objektivem und Subjektivem wohl zu unterscheiden. Objektiv wäre ein von der Vorstellung der Menschen unabhängiges, subjektiv ein von den menschen nur vorgestelltes Recht. Wieder ein anderer Gegensatz ist schließlich der des Inneren und Äußeren. Als "innermenschliche Erscheinung" wäre das Recht etwas Psychisches; der Gegensatz dazu wäre eine außermenschliche oder physische Erscheinung.

Eine einfache Erörterung des Rechtsbegriffs hätte es klar gemacht, daß wir unter "Recht" in der Tat nicht sowohl eine im Wesen des Seienden begründete Macht, als vielmehr ein bloßes Sollen verstehen. Ist aber das Recht überhaupt nichts Seiendes, so ist ferner auch klar, daß es weder zu dem außer uns, noch zu dem in uns Seienden gehören kann, daß ihm also so wenig psychische wie physische Existenz zukommt. Was aber den Gegensatz des Objektiven und Subjektiven betrifft, so ist klar, daß, wenn wir vom  "Recht"  sprechen, wir etwas anderes meinen als unsere oder anderer Menschen  Vorstellung vom  Recht. Die Frage, ob wir berechtigt sind, ein solches objektives Recht anzunehmen, kann dabei ganz dahingestellt bleiben; jedes rechtliche Urteil, das wir fällen, setzt faktisch das Bestehen eines solchen voraus; denn wenn wir sagen, daß etwas Recht ist, so meinen wir etwas anderes, als daß wir es für Recht halten. Sagen wir nämlich, daß wir etwas für Recht halten, so läßt diese Aussage die Frage, ob es auch Recht  sei,  offen; gerade dies behaupten wir aber, wenn wir sagen, daß es Recht sei.

Für JELLINEK aber fällt der Begriff eines objektiven Rechts mit dem einer äußeren Macht zusammen, der Gegensatz des Objektiven aber ist für ihn das Innermenschliche oder Psychische. Daß den Rechtsbegriffen kein "reales Sein" entspricht, ist ihm gleichbedeutend damit, daß ihnen keine "Realität  außer  uns" oder nichts "Materielles" entspricht. (A 162) Und so genügt ihm die Erinnerung, daß ihn die Annahme eines objektiven Rechts auf den Weg der "metaphysischen Spekulation" führen würde, um kurzerhand zu schließen, daß das Recht "ein Teil der menschlichen Vorstellungen" ist.
    "Es existiert in unseren Köpfen, und die nähere Bestimmung des Rechts hat dahin zu gehen, welcher Teil unseres Bewußtseinsinhaltes als Recht zu bezeichnen ist." (A 332)
So wird das Recht dann zu einer "psychologischen Erscheinung", rechtliche Urteile zu psychologischen Urteilen und somit die Rechtswissenschaft zu einem Zweig der Psychologie.

Wenn das Recht aus menschlichen Vorstellungen besteht, so ist die nächste und wichtigste Frage: aus Vorstellungen  wovon?  Auf den ersten Blick könnte man diese Frage für einfach genug halten und meinen, sie beantwortet sich von selbst; denn um welche anderen Vorstellungen könnte es sich handeln als um die vom Recht? Aber diese Antwort würde offenbar fehlgehen. Denn das Recht ist ja gerade als ein Teil unserer Vorstellungen erklärt worden: diese Vorstellungen  selbst sind  das Recht. Also kann das,  was  wir in diesen Vorstellungen vorstellen, alles andere, nur nicht das Recht sein. Jede Vorstellung ist die Vorstellung von  etwas,  und dieses Etwas kann nicht die Vorstellung selbst sein. Wohl kann auch eine Vorstellung wieder vorgestellt werden, aber nur durch eine neue Vorstellung, die dann ihrerseits die erste zum Gegenstand habt. Ist also das Recht ein Teil unserer Vorstellungen, so wird es von der äußersten Erheblichkeit, zu wissen, welches die, vom Recht jedenfalls verschiedenen, Gegenstände dieser Vorstellungen sind.

Statt aber diese Frage zu beantworten oder auch nur aufzuwerfen, geht JELLINEK auf seine frühere Erklärung zurück, das Recht besteht aus Normen, d. h. aus Regeln für menschliches Handeln. Da jedoch auch die Vorschriften der Religion sowohl wie der Sittlichkeit und der Sitte  Normen  sind, so entsteht die Frage nach dem unterscheidenden Merkmal der  rechtlichen  Normen. Hier heißt es:
    "Da alle Handlungen auf bestimmte Zwecke gehen, so liegt es nahe, in den spezifischen Zwecken des Rechts sein Unterscheidungsmerkmal von anderen normgebenden Mächten zu suchen. Über diese Zwecke wird sich leicht Übereinstimmung herbeiführen lassen" (A 332f)
In diesem Schluß ist sowohl die Prämisse wie der Schlußsatz als auch der Schluß selbst falsch. Daß alle Handlungen auf Zwecke gehen, würde bedeuten, daß jede Handlung nur als Mittel zur Herbeiführung eines von ihr selbst verschiedenen Erfolges, nie um ihres unmittelbaren Wertes oder ihrer inneren Notwendigkeit willen geschieht, womit zumindest das  rechtliche  Handeln gerade ausgeschlossen wäre. Verhielte es sich aber auch so, so würde daraus doch nichts für einen spezifischen Zweck oder überhaupt für einen Zweck des Rechts folgen. Denn das Recht ist keine Handlung, sondern besteht aus Normen für Handlungen. Und in der Tat, schon die Sprachwidrigkeit des Ausdrucks verrät, daß es widersinnig ist, von "Zwecken des Rechts" zu sprechen. Rechtsnormen sind nicht hypothetische, d. h. unter der Bedingung eines Zwecks gebietende, sondern kategorische, d. h. schlechthin und ohne alle Rücksicht auf einen zu erreichenden Zweck gebietende Normen. Nach den Zwecken des Rechts zu suchen, ist daher eine in sich widerspruchsvolle Aufgabe.

JELLINEK läßt diese Aufgabe dann auch bald wieder fallen, um das entscheidende Merkmal in der Art der Normen selbst zu suchen. Er findet es darin, daß sie
    1. "Normen für das äußere Verhalten der Menschen zueinander" sind, daß sie

    2. "von einer anerkannten äußeren Autorität ausgehen" und daß

    3. ihre "Verbindlichkeit durch äußere Mächte garantiert ist".
Die beiden ersten Kriterien lassen so sehr jede Begründung und besonders das zweite auch jede Erklärung seines Sinnes vermissen, daß es nicht lohnt, auf sie einzugehen. Nur das dritte wird einer näheren Erörterung gewürdigt, die jedoch seinen Sinn mehr verdunkelt als aufklärt.
    "Alles Recht hat als notwendiges Merkmal das der Gültigkeit. Eine Norm gilt dann, wenn sie die Fähigkeit hat, motivierend zu wirken, den Willen zu bestimmen." (A 333)
Wie aber eine Norm die Fähigkeit erklangen kann, zu wirken, bleibt nach wie vor rätselhaft. Eine solche Annahme erscheint nur möglich, wenn man die Norm mit der Vorstellung der Norm verwechselt. Nur die Vorstellung der Rechtsnorm vermag motivierend auf den Willen zu wirken. So heißt es dann auch weiter:
    "Diese Fähigkeit entspringt aus der nicht weiter ableitbaren Überzeugung, daß wir verpflichtet sind, sie zu befolgen." (A 333)
Davon abgesehen aber kommt offenbar alles darauf an, was hier unter "Fähigkeit" verstanden werden soll. Daß nicht ohne weiteres die  Befolgung  der Rechtsnorm zum Kriterium ihrer Gültigkeit gemacht wird, versteht sich; denn wir sprechen einer Rechtsnorm nicht dann schon die Gültigkeit ab, wenn sie gelegentlich übertreten wird. Also nicht sowohl die Befolgung als die  Fähigkeit,  sich Befolgung zu verschaffen, die  "Möglichkeit,  verwirklicht zu werden", wie es an anderer Stelle heißt (A 17), ist für die Gültigkeit erforderlich. Was aber bedeutet diese Fähhigkeit oder Möglichkeit? Sie kann entweder physisch (im weitesten Sinn des Wortes) verstanden werden oder rechtlich. Im ersten Sinn bezeichnet das Wort einen theoretischen Begriff, im zweiten einen praktischen.

In keiner von beiden Bedeutungen ist jedoch die "Gültigkeit" ein definierendes Merkmal des Rechts. Als physische Möglichkeit, sich Befolgung zu verschaffen, wäre sie nichts andrees als die zur Erzwingung eines bestimmten Verhaltens erforderliche  Macht.  Durch das Hinzukommen dieser Macht kann aber offenbar eine Norm, die nicht schon ansich rechtlichen Charakter besitzt, nicht zu Recht werden, es sei denn, daß man sich mit einem bloßen Faustrecht begnügen wollte. Rechtlich verstanden wäre dagegen jene "Fähigkeit" nur eine Umschreibung für das  Recht,  ein bestimmtes Verhalten zu erwirken. Es wäre also das Recht durch das Recht definiert. Die "Gültigkeit", oder besser die "Geltung", kann also keinesfalls zu den logisch notwendigen Merkmalen des Rechts gehören.

Indessen, das Wort "Gültigkeit" hat noch eine andere Bedeutung. Demnach bedeutet die Gültigkeit einer Rechtsnorm, daß sie für uns verbindlich ist oder daß wir verpflichtet sind, sie zu befolgen. Dieser Begriff wird von JELLINEK in kaum zu entwirrender Weise mit jenem anderen des "Geltens" vermengt. Verbindlichkeit ist allerdings ein wesentliches Merkmal der Rechtsnormen. Statt sie aber als solches anzuerkennen, macht JELLINEK daraus die  Überzeugung  von der Verbindlichkeit: an die Stelle der Verpflichtung durch eine Rechtsnorm setzt er die "psychologische Grundtatsache des sich Verpflichtetwissens durch eine "Norm", und auf diese will er dann wieder die Gültigkeit oder Geltung der Rechtsnorm zurückführen. Die Gültigkeit der Rechtsnorm "entspringt aus der nicht weiter ableitbaren Überzeugung, daß wir verpflichtet sind, sie zu befolgen". Sie "ruht daher in letzter Linie immer auf der Überzeugung von ihrer Gültigkeit. Auf dieses rein subjektive Element baut sich die ganze Rechtsordnung auf." (A 333f)

Hiermit kommen wir also wieder auf die Theorie vom psychologischen Charakter des Rechts zurück und damit dann schließlich auch auf die Frage, welches die Vorstellungen sind, aus denen das Recht besteht. Wir erfahren jetzt, daß es die Vorstellungen  von der Gültigkeit des Rechts  sind:
    "Die Überzeugung, daß etwas Recht ist, ist die letzte Quelle des Rechts selbst." (A 355 - vgl. auch A 371 und R 48: "Ein Recht zwischen zwei Individuen wird dadurch geschaffen, daß ein jedes vom andern tatsächlich als Träger von Rechten anerkannt wird."
Wenn dies eine Erklärung des  Begriffs  des Rechts sein soll, so ist der logische Zirkel darin offenbar. Von der Überzeugung, daß etwas Recht ist, zu sprechen, hat nur Sinn, wenn "Recht" etwas anderes bedeutet als dasjenige, wovon wir überzeugt sind, daß es Recht ist. Nur wenn der Begriff des Rechts schon anderweitig bestimmt ist, ist es möglich, sich von etwas zu überzeugen, daß es Recht sei. Denn wenn "Recht" das bedeutet, wovon wir überzeugt sind, daß es Recht ist, so wäre die Überzeugung, daß etwas Recht ist, in Wahrheit nur die Überzeugung, daß wir eine Überzeugung haben, etwas sei Recht; diese Überzeugung wäre aber ihrerseits nur wieder die Überzeugung, daß wir die Überzeugung haben, daß wir die Überzeugung haben, es sei Recht und so fort ins Unendliche. Jede  Rechts überzeugung wäre nur die Überzeugung von einer Rechts überzeugung,  was sich selbst widerspricht.

Soll aber der Satz nicht sowohl eine Definition als vielmehhr nur ein  Kriterium  des Rechts sein, so ist er nicht minder widersinnig. Um uns zu überzeugen, daß etwas Recht ist, müßten wir uns danach überzeugen, daß wir überzeugt sind, es ist Recht. Wie können wir dies aber, da wir dazu die Überzeugung, es ist Recht, ihrerseits schon besitzen müßten. Wir müßten also schon ein von der Rechtsüberzeugung unabhängiges Kriterium des Rechts haben. Dann aber wäre dieses und nicht die Rechtsüberzeugung das Kriterium des Rechts.

Widerspruchslos wäre der fragliche Satz nur in dem Sinn, daß er die Unmöglichkeit eines von der Rechtsüberzeugung unabhängigen Rechts behauptete. Es wäre dann nur eine Umschreibung der Behauptung: Es gibt zwar Rechtsüberzeugungen, aber kein Recht. Womit dann zugleich die notwendige  Falschheit jeder Rechtsüberzeugung  behauptet wäre. Einzig im Sinne dieser  Leugnung eines Rechts überhaupt  ließe sich der Satz logisch widerspruchsfrei durchführen. Dann kann er aber wieder nicht, wie JELLINEK will, als Kriterium bei der Aufstellung von Rechtssätzen dienen.

Logisch gibt es nur die beiden Möglichkeiten: Entweder wir nehmen das Bestehen eines Rechts an; dann ist dieses Recht unabhängig von aller Rechtsüberzeugung, und jede mit ihm nicht übereinstimmende Rechtsüberzeugung hat also irrig zu gelten. Oder wir leugnen das Bestehen eines solchen Rechts; dann verlangt die Konsequenz, jede Rechtsüberzeugung für falsch zu erklären und zuzugestehen, daß keine Rechtsüberzeugung das, was nich ansich Recht ist, zu Recht machen kann. In keinem Fall kann die Rechtsüberzeugung zur Quelle des Rechts werden.

Der Konsequenz dieser einfachen und klaren Sachlage sucht JELLINEK sich zu entziehen, indem er, um ohne Anerkennung eines objektiven Rechts dennoch ein rechtliches Kriterium festzuhalten, dieses auf die subjektive Rechtsüberzeugung zu gründen unternimmt. Da es aber mannigfache und einander widerstreitende Rechtsüberzeugungen gibt, so bedarf er hier noch eines Prinzips der Auswahl zwischen den verschiedenen Rechtsüberzeugungen. In Ermangelung eines höheren, die richtige von der falschen Rechtsüberzeugung unterscheidenden Kriteriums bleibt aber keine andere Auszeichnung übrig als die des "Durchschnitts" gegenüber der "Minderheit" (A 334). Die "herrschende Rechtsüberzeugung" wird ihm so zum "Kriterium des Rechts" (A 481). Ob etwas Recht oder Unrecht ist, wird so zum Problem "massenpsychologischer Feststellungen" (A 334), deren Ergebnis naturgemäß von Ort zu Ort und von Zeit zu Zeit wechselt. Seinen von dem der herrschenden Kirche abweichenden Glauben frei zu bekennen, kann sowohl Recht als auch Unrecht sein: In Spanien war es zur Blütezeit der Inquisition Unrecht, im gegenwärtigen Amerika ist es Recht. Die Rechtswissenschaft ist ein Zweig der Massenpsychologie.

Der Grundgedanke dieser Auffassung ist aber nicht nur juristisch absurd und logisch widerspruchsvoll, er ist auch soziologisch falsch. Das  geltende  Recht braucht durchaus nicht der Überzeugung des Durchschnitts eines Volkes zu entsprechen. Bei einer extrem demokratischen Verfassung könnte es sich allenfalls so verhalten; an und für sich aber hängt es nicht sowohl von der herrschenden Rechtsüberzeugung als vielmehr von der  Machtverteilung  im Volk ab, was in ihm als Recht gilt. Und selbst im demokratischen Staat hängt das geltende Recht zwar vom Willen der Mehrheit ab, dieser aber wird durch das  Interesse  der einzelnen, nicht durch ihre Rechtsüberzeugung bestimmt.


§ 3. Die Relativität des positiven Rechts
und die normative Kraft des Faktischen

Die relativistische Umdeutung des Rechtsbegriffs hat nun freilich noch einen besonderen Grund. Wer ein objektives Recht annimmt, kann nicht umhin, zu behaupten, daß ein und dasselbe zwar für Recht  und  für Unrecht gehalten werden, nicht aber sowohl Recht als auch Unrecht  sein  kann. Er muß die Konsequenz auf sich nehmen, daß, was zu einer Zeit und an einem Ort Recht ist, es auch zu jeder anderen Zeit und an jedem anderen Ort sein muß. Ein solcher Standpunkt scheint aber mit der Anerkennung eines positiven rechts unvereinbar zu sein. Denn dieses bestimmt sich durch Gewohnheit und willkürliche Festsetzung; es besitzt keinen allgemeingültigen, von Ort und Zeit unabhängigen Inhalt. Wollen wir also nicht, wie einst die extremsten Anhänger des Naturrechts, die Mannigfaltigkeit oder wenigstens den Gegensatz der positiven Rechtsordnungen auf einen bloß rechtlichen Irrtum zurückführen, so scheinen wir genötigt zu sein, den Begriff des objektiven Rechts preiszugeben.

Diese auf den ersten Blick unlösbar erscheinende Schwierigkeit verschwindet jedoch, wenn man sich nur die Mühe macht, eine genauere Sprache anzuwenden. Versteht man unter "positivem Recht" den Inhalt der in einem bestimmten Volk durch Gewohnheit oder willkürliche Festsetzung bestimmten sogenannten Rechtsregeln, so erhält man allerdings ein von Volk zu Volk und von Zeit zu Zeit wechselndes Recht. Aber dies ist ein für prinzipielle Betrachtungen gefährlicher Sprachgebrauch. Denn das bloße Faktum der Gewohnheit oder gesetzgeberischer Verfügungen macht noch gar kein Recht aus. Rechtscharakter erhalten diese erst vermöge der ihnen an und für sich gar nicht innewohnenden  Verbindlichkeit.  Daß aber die in einem Volk durch Gewohnheit und Gesetzgebung gebildeten Verkehrsregeln für die Angehörigen dieses Volkes Verbindlichkeit erlangen, dies ist seinerseits kein Satz des positiven, d. h. durch Gewohnheit oder willkürliche Festsetzung begründeten Rechts, da er vielmehr selbst er allem sogenannten positiven Recht seinen Rechtscharakter verleiht. Verstehen wir daher genauer unter positivem Recht die für ein Volk bestehende Verbindlichkeit der in ihm durch Gewohnheit und Gesetzgebung bestimmten Verkehrsregeln, so wechselt zwar der Inhalt dieser letzteren von Volk zu Volk und von Zeit zu Zeit, nicht so aber darum auch das positive Recht selber. Denn nur aufgrund des Umstands, daß in einem bestimmten Land zu einer bestimmten Zeit bestimmte Verkehrsregeln den Inhalt des Herkommens und der Gesetzgebung bilden, sind sie in diesem Land und zu dieser Zeit  Recht.  Daß sie aber  unter diesem Umstand  Recht sind, dieser Satz gilt mit schlechthin allgemeiner Gültigkeit, ohne alle Rücksicht auf Ort und Zeit. Nimmt man also diesen für ihren Rechtscharakter wesentlichen Umstand in den Inhalt der fraglichen Rechtsnormen auf, so verschwindet der scheinbare Widerstreit der einzelnen positiven Rechtsordnungen und damit auch der Schein eines Widerspruchs zwischen der Allgemeingültigkeit des objektiven und der Wandelbarkeit des positiven Rechts.

Hiernach werden wir auch beurteilen können, was es mit der "normativen" oder "rechtserzeugenden Kraft des Faktischen" für eine Bewandtnis hat. Wir kommen damit auf die, wie JELLINEK meint, für die Rechtswissenschaft grundlegende "Lehre von den rechtserzeugenden Kräften". (A 350) Ein Faktum "erzeugt" (A 345) an und für sich niemals ein Recht; aber freilich gibt es rechtlich erhebliche Tatsachen, ja unabhängig von solchen gibt es überhaupt kein  materiell bestimmtes Recht.  Denn alles bestimmte Recht ist positiven Ursprungs. Auf die Frage aber: Wie kann das bloß Tatsächliche rechtliche Bedeutung erlangen? oder, nach JELLINEKs zweideutigem Ausdruck: "Wie wird Nichtrecht zu Recht?" (A 350) ist nur die eine Antwort möglich: Dadurch, daß eine allgemeine Rechtsnorm an den fraglichen Tatbestand eine rechtliche Folge knüpft. So erhält der Tatbestand eines Versprechens rechtliche Bedeutung kraft des allgemeinen Gesetzes, daß Versprechen gehalten werden sollen. So erhalten in einem Volk Herkommen und positive Gesetzgebung rechtliche Bedeutung kraft des Prinzips der Verbindlichkeit ausdrücklicher oder stillschweigender Übereinkunft. Welches der positive Inhalt dieser Übereinkunft ist, ist rechtlich zufällig und kann nur historisch erkannt werden; daß aber eine solche Übereinkunft, wo sie einmal besteht, verbindlich ist, dies ist rechtlich notwendig und die Erkenntnis davon allgemeingültig. Die Lehre von den rechtserzeugenden - Nichtrecht in Recht verwandelnden - Kräften ist also nur durch eine Verkennung des von allem Faktischen unabhängigen Rechtsgesetzes entstanden; sie beruth auf einer Verwechslung der rechtserheblichen Tatsachen unter dem Rechtsgesetz mit einer angeblichen Erzeugungsquelle des Rechts selber. Mit der Aufhebung dieser Verwechslung verschwindet das Geheimnis von der "normativen Kraft des Faktischen".


§ 4. Das metajuristische Problem

Die unmittelbare Folge dieses Fehlers ist der phantastische Gedanke einer der Rechtswissenschaft logisch übergeordneten "metajuristischen" Wissenschaft, deren Aufgabe es sein soll, das Geheimnis der "Gründe" oder "Quellen" des öffentlichen Rechts und damit des Rechts überhaupt zu ergründen. Dabei soll es sich wohlverstanden nicht etwa um die Feststellung der "letzten realen Ursache" einer bestimmten Rechtsordnung, sondern um den "letzten rechtlichen Grund" "allen Rechts überhaupt" handeln. (A 368f) Die Frage, ob und wie eine solche Wissenschaft möglich ist, kümmert JELLINEK nicht, und ebensowenig denkt er daran, daß er dabei den für allein gangbar erklärten Weg der empirischen Forschung zugunsten einer bodenlosen metaphysischen Spekulation verläßt. Und doch muß jeder, der sich nicht durch die Unbestimmtheit der Worte täuschen läßt, sehen, daß ihn schon diese Fragestellung in neue Widersprüche verwickelt. Denn da der Grund der Verbindlichkeit einer Rechtsnorm nur in einer anderen Rechtsnorm liegen kann, so ist klar, daß der Begriff eines "letzten rechtlichen Grundes allen Rechts überhaupt" unmittelbar einen logischen Widerspruch enthält.

Auf diese Schwierigkeit läßt sich JELLINEK in seiner Staatslehre nicht ein, aber eine merkwürdige Stelle seiner Schrift über "die sozialethische Bedeutung von Recht, Unrecht und Strafe" kann uns zeigen, wie er sich ihre Auflösung vorstellt. Hier heißt es:
    "Alle Gebote und Verboten setzen eine gebietende und verbietende Macht voraus. Willkür oder die notwendigen Zweck einer gebietenden oder verbietenden Macht sind die letzten möglichen Quellen aller Sitten- und Rechtsgesetze. Wenn man bei einem bestimmten Gebot nach der gebietenden Macht frägt, sodann von welcher Macht jene ihre Befugnis zu diesem Gebot erhalten hat, hierauf nach dem Rechtsgrund, aus dem die zweite Macht die Sanktion ihrer Tätigkeit herleitet usw., so kann offenbar dieser Regreß der Rechtsgründe nicht ins Unendliche weitergehen, sondern wir kommen schließlich zu einem letzten Grund des Rechts, der nicht mehr Recht, sondern nur ein Faktisches sein kann." (S 113f)
Dieses Faktische findet er dann, da nur von einer  intelligenten  Macht Gebote oder Verbote ausgehen können, "die empirische Wissenschaft" aber "außer der Gesellschaft und ihren Gliedern keine intelligente Macht kennt", in der Gesellschaft.

Daß aber jener Regreß der Rechtsgründe nicht ins Unendliche weitergehen kann, ist hier lediglich ein willkürlicher Machtspruch. Entweder bedarf jede Rechtsnorm eines höheren Rechtsgrundes; dann gilt dies auch für die diesen Rechtsgrund bildende Rechtsnorm, und ein "letzter Grund des Rechts" ist unmöglich. Oder es gibt einen letzten Rechtsgrund: dann liegt dieser in einer Rechtsnorm, die ihren Grund nicht wieder außer sich und also auch nicht in einem Faktum hat. Geht man aber einmal von der Voraussetzung aus, daß jedes Gebot nur durch eine gebietende Macht möglich ist, so führt die Frage nach dem Rechtsgrund des Gebotes ins Unendliche, und vor der Konsequenz der Unmöglichkeit eines letzten Rechtsgrundes gibt es kein Entweichen.

Was aber die Behauptung betrifft, daß alle Gebote eine gebietende Macht voraussetzen, so beruth sie auf dem Unvermögen, sich unter einem Gebot etwas anderes als einen Befehl zu denken. Eine Rechtsnorm ist allerdings stets ein Gebot (oder Verbot), niemals aber kann ein  Befehl  eine Rechtsnorm sein. Ein Befehl ist allemal eine Willensäußerung und daher "nur als Handlung einer Intelligenz denkbar". Daß freilich die  Gesellschaft  eine solche sei, sollte im Namen der "empirischen Wissenschaft" nicht behauptet werden. Ein Wille der Gesellschaft und eine Intelligenz der Gesellschaft ist kein Gegenstand empirischer Erkenntnis, sondern ein Hirngespinst metaphysischer Spekulation. Dieses Hirngespinst metaphysischer Spekulation aber wird von JELLINEK zum letzten Fundament der Rechtswissenschaft gemacht.

Könnte ein Befehl der Grund von Rechten sein, so läge in der Tat der letzte Grund solcher Rechte in einem Faktum, nämlich im Faktum einer Willensäußerung. Dieses Faktum hätte dann wirklich "normative Kraft". Und diese Kraft könnte es in der Tat nur vermöge der "Macht" ausüben, über die die befehlende Intelligenz verfügt. Was kann das aber für ein Gebot sein, das nur durch die macht des Befehlenden gilt und das also nicht durch eine ihm selbst innewohnende Notwendigkeit, sondern nur vermöge der durch jene Macht mit seiner Erfüllung oder Verletzung verbundenen Folgen zur Befolgung nötigt? Ein solches Gebot ist ein hypothetisches, aber kein kategorisches Gebot, d. h. es ist für die ihm Unterworfenen ein Gebot der Klugheit, aber keine Rechtsnorm.

Dem entspricht dann auch die Art und Weise, in der JELLINEK das metajuristische Problem zu lösen unternimmt: Es ist der "Zweck, einen bestimmten Zustand der Gesellschaft zu erhalten", der allem Recht innewohnt (S 46) und der die "einzige Quelle" bildet, aus der sich, unabhängig von aller metaphysischen Spekulation, "ein Sollen ableiten läßt". (S 34)

Die behauptete Bedingtheit durch einen Zweck steht aber mit dem Begriff des Rechts als eines Sollens geradezu im Widerspruch. Die angebliche Auflösung des Problems würde also, statt einen Grund des Rechts aufzuweisen, vielmehr alles Recht als bloße Jllusion erweisen. "Die Wissenschaft", sagt JELLINEK dann auch, "darf nicht vergessen, daß alles Sollen ein bedingtes Müssen ist." (S 22) Entweder bedeutet dieser Satz, daß der Begriff des Sollens mit dem eines bedingten Müssens identisch ist; dann widerspricht er sich selbst. Oder er bedeutet, daß das, was uns als Sollen  erscheint,  in Wahrheit  kein  Sollen  ist,  sondern sich bei wissenschaftlicher Prüfung als ein durch einen von uns nicht dafür erkannten Zweck bedingtes Müssen erweist. Dann aber wäre mit der Aufdeckung dieses Zwecks nicht sowohl der gesuchte Rechtsgrund für das Sollen gefunden, als vielmehr die  Unmöglichkeit  eines solchen Rechtsgrundes zugestanden. Und so heißt es dann auch:
    "Bei näherer Betrachtung wird sich finden, daß der Schein eines unbedingt bindenden Gebotes nur dadurch entstand, daß die vorausgesetzte Bedingung unserer Natur so tief eingeprägt ist, daß es reifliche Überlegung und wissenschaftliche Untersuchung kostet, um sie ins Bewußtsein zu bringen. Diese Bedingung ist das Wollen der Existenz der Gesellschaft." "Wenn das Bejahen der Gesellschaft, welches der Vordersatz eines ethischen Gebotes bildet, unter der Bewußtseinsschwelle liegt, so ... spricht das Gewissen in der Form des unbedingten Sollens zu uns." (S 20f)
Nur dadurch also, daß wir den Zweck der Erhaltung der Gesellschaft vergessen, nimmt das durch diesen Zweck bedingte Müssen den Schein eines Sollens an. So endet dann die angebliche Begründung des Rechts damit, alles Recht in einen nichtigen, nur durch die Schwäche des menschlichen Gedächtnisses erklärlichen Schein zu verwandeln.


§ 5. Das Problem des Staatsrechts

Unbekümmert um diese alles Recht zerstörende Konsequenz unternimmt es JELLINEK, mit seiner Befehlstheorie das Staatsrecht zu begründen. Die befehlende und als solche Recht schaffende Macht der Gesellschaft ist ihm der  Staat Die von seiten des Staates ergehenden Befehle sind "Recht für die ihm Unterworfenen". Wie ist dann aber ein "Recht für den Staat selbst" möglich? Dies ist das Grundproblem des Staatsrechts; denn es scheint, "der Staat selbst könne sich nichts befehlen". (A 367f; vgl. 476)

In der Tat, lassen wir einmal die Gleichsetzung von Rechtsnormen und Befehlen zu, so läßt sich allenfalls verstehen, wie der Staat vermöge seiner Herrschaftsmacht für die dieser Macht Unterworfenen Recht zu schaffen vermag. In der "Lehre von den Staatenverbindungen" heißt es hierüber:
    "Es gibt zwei Möglichkeiten der rechtlichen Verpflichtung: Verpflichtung durch eigenen und Verpflichtung durch fremden Willen. Die letztere findet beim Untertanen statt, bei dem, der rechtlich einem Imperium unterworfen ist. Und zwar ist der Untertan im letzten Grund in allen seinen Rechtshandlungen durch den Staatswillen, also einen anderen Willen als den seinigen verpflichtet, denn auch eine Verpflichtung durch den eigenen Willen kann für ihn rechtlich nur statthaben, insofern der Staat im Voraus an einen solchen Akt des Untertans durch seine Befehle eine rechtliche Wirkung geknüpft hat, insofern die vom Staat gesetzte Rechtsordnung den ihr Unterworfenen durch seine Handlung für verpflichtet erklärt. Jede Verpflichtung des Untertans muß sich auf einen Satz des objektiven Rechts, also des Staatswillens, gründen. Ausschließliche Verpflichtbarkeit durch den Staatswillen, also durch fremden Willen, ist das juristische Merkmal des Untertans." (L 31f)
Diese Verpflichtung des "Untertans" durch den "Staatswillen" läßt sich, wie gesagt, nach der Befehlstheorie insofern verstehen, als hier dem Staat vermöge seiner Herrschermacht Garantien der Erzwingbarkeit seines Willens zur Verfügung stehen. Ist aber einmal der rechtserzeugende Charakter der Herrschermacht anerkannt, so läßt sich die Konsequenz umgehen, daß, soweit die Herrschermacht ihrem Willen Geltung zu verschaffen vermag, dieser Wille niemals rechtswidrig sein kann. Denn andernfalls müßte man ein von der befehlenden Macht unabhängiges Kriterium des Rechts voraussetzen, durch das die Verbindlichkeit der Befehle eingeschränkt wäre. Eine rechtliche Bindung des Staates ist also mit der Befehlstheorie logisch unvereinbar. Der von JELLINEK versuchte Beweis des Gegenteils ist dann auch durchaus sophistisch. Das für ihn entscheidende Argument ist folgende:

Die vom Staat geschaffene Rechtsregel "enthält die Bindung der Staatsorgane an sie. Damit allein ist aber die Tätigkeit des Staates selbst gebunden, indem staatliche Organtätigkeit Staatstätigkeit selbst ist, ja eine andere Staatstätigkeit als die durch Organe vermittelte überhaupt nicht existiert". (A 369; vgl. auch 478: "Erläßt der Staat ein Gesetz, so bindet es nicht nur die einzelnen, sondern auch seine eigene Tätigkeit rechtlich an dessen Normen. Er befiehlt im Gesetz auch den ihm als Organe dienenden Personen, ihren Organwillen dem Gesetz gemäß zu gestalten. Da aber der Organwille Staatswille ist, so bindet der Staat durch Bindung der Organe sich selbst.")

Dieses Argument ist ein bloßes Wortspiel. Denn entweder sind die "Staatsorgane", deren Bindung an die Rechtsregel hier behauptet wird, der befehlenden Herrschermacht unterworfen, oder sie sind mit ihr identisch. Im ersten Fall snd sie, als Unterworfene, allerdings der Voraussetzung gemäß an die Rechtsregel gebunden; es sollte ja aber bewiesen werden, daß  nicht  nur die der staatlichen Herrschermacht Unterworfenen, sondern auch diese  selbst  rechtlich gebunden ist. Im anderen Fall ist die Behauptung, daß die Staatsorgange durch die für die Unterworfenen verbindliche Rechtsregel gebunden seien, nichts anderes als der zu beweisende Satz selbst. Der Beweis beruth also auf einer offenbaren  petitio principii [es wird vorausgesetzt, was erst zu beweisen ist - wp]

Aller Einspruch gegen das Dogma der absolutistischen Staatslehre, "daß jeder Akt der höchsten Staatsgewalt seinem Wesen nach rechtmäßig ist, so daß sie selbst niemals ein Unrecht begehen kann" (A 372; vgl. 165f), ist daher bei JELLINEK nichts als eine willkürliche Inkonsequenz. Und eine Inkonsequenz, mit der es ihm selbst so wenig Ernst ist, daß er für den Fall einer Abweichung der "rechtlichen Macht" von den "geschriebenen oder ungeschriebenen Normen der Verfassungen und Gesetze" ausdrücklich erklärt, "solchenfalls könne zwar ein logisches Urteil über deren Nichtübereinstimmung mit der Norm gefällt werden, aber kein rechtliches, weil eben jeder wie immer geartete Richter mangelt und mangeln muß." (A 362) Was bleibt nach diesem Zugeständnis eigentlich noch vom Staatsrecht übrig? Die Antwort könnte man im folgenden Satz suchen:
    "Zu einem rechtswidrigen Zustand wird ein so geschaffener erst dann, wenn ein Staatsorgan die ihm ausdrücklich gesetzten rechtlichen Schranken derart überschreitet, daß es das gesetzliche Funktionieren anderer Organe überhaupt verhindert."
Was aber bestimmt diese Grenze für die rechtliche Gebundenheit des Staates? Wenn die staatliche Gesetzgebung keiner rechtlichen Beschränkung unterliegt, woher dann die Beschränkung "gesetzlichen Funktionierens" überhaupt? Die Konsequenzen aus der gegenteiligen Lehre sollen dies beweisen:
    "Wenn der Staat rechtlich alles kann, so kann er auch die Rechtsordnung aufheben, die Anarchie einführen, sich selbst unmöglich machen. Muß ein solcher Gedanken aber abgewiesen werden, so ergibt sich eine Rechtsschranke des Staates am Dasein seiner Ordnung. Der Staat kann zwar wählen, welche Verfassung er haben soll, er muß jedoch irgendeine Verfassung haben. Die Anarchie liegt im Bereich der faktischen, nicht der rechtlichen Möglichkeit." "Ist es aber dem Staat wesentlich, eine Rechtsordnung zu besitzen, so ist damit allein schon die Lehre von der absoluten Unbeschränktheit der Staatsgewalt negiert. Der Staat steht nicht derart über dem Recht, daß er sich des Rechts selbst entledigen könnte. Nur das  Wie,  nicht das  Ob  der Rechtsordnung liegt in seiner Macht, in seiner faktischen wie in seiner rechtlichen." (A 477; vgl. R 38f)
Warum,  fragt man, "muß ein solcher Gedanke abgewiesen werden"?

Durch die Willenstheorie ist eine derartige Behauptung jedenfalls nicht zu beweisen, da sie ihr vielmehr direkt widerspricht. Da bietet sich dann als willkommene Aushilfe das Kriterium der Rechtsüberzeugung an:
    "Es kommt daher hier in letzter Linie darauf an, ob nach der Anschauung einer bestimmten Zeitepoche der Staat selbst durch seine abstrakten Willensäußerungen gebunden ist oder nicht. Diese Frage aber ist eine historische, mit keiner allgemein gültigen Formel zu lösende." (A 371)
Die Massenpsychologie liefert den Schlüssel zur Lösung des Problems des Staatsrechts: Die staatliche Selbstverpflichtung entspricht der "herrschenden Rechtsüberzeugung". "Damit ist beim subjektiven Charakter aller Kriterien des Rechts die rechtliche Art staatlicher Selbstbindung dargetan." (A 481; vgl. 355: "Da die Überzeugung, daß etwas, das einen solchen Anspruch erhebt, Recht sei, die letzte Quelle des Rechts selbst ist, so ist damit der Rechtscharakter des öffentlichen Rechts unwiderleglich dargetan.")

Warum aber wird ohne alle Befragung der herrschenden Rechtsüberzeugung erklärt, daß der Staat zwar irgendeine Verfassung haben muß, in der Wahl der Verfassung aber rechtlich nicht beschränkt sei? Daß er zwar zur Einführung einer Gesetzgebung überhaupt verpflichtet ist, der Inhalt derselben jedoch seinem schrankenlosen Belieben überlassen bleibt? Mit der herrschenden Rechtsüberzeugung steht eine solche Auffassung zweifellos in schroffstem Widerspruch. Aber man sieht wohl, daß hier aller Respekt vor der herrschenden Rechtsüberzeugung ein Ende haben muß; denn indem diese an den Inhalt von Verfassung und Gesetzgebung bestimmte - und seien es noch so allgemeine - Anforderungen stellt, erkennt sie die "Idee eines Rechts vor dem Staat" an, stellt sie sich ihrerseits auf den Standpunkt eines objektiven,  von der nur historisch zu erforschenden Rechtsüberzeugung unabhängigen  Rechts, auf einen  metaphysischen  Standpunkt also, der mit "unserer" angeblich "geläuterten Anschauung vom Recht", welche "dessen Existenz vom Dasein einer es verwirklichenden Organisation abhängen läßt" und die sinnlose Frage, ob die das Recht verwirklichende Organisation "unter oder über dem Recht steht, als eines der schwierigsten Probleme der gesamten Staatslehre zeigt" (A 476), schlechthin unvereinbar ist.

So nimmt dann die Staatsrechtslehre, wo sich das Kriterium der Rechtsüberzeugung als eine zweischneidige Waffe zeigt, alsbald eine eigentümlich objektive Sprache an. "Der Staat steht nicht derart über dem Recht, daß er sich selbst des Rechts entledigen könnte." Es ist "dem Staat wesentlich, eine Rechtsordnung zu besitzen". (A 477) Dies ist offenbar keine massenpsychologische, sondern will eine rechtliche Aussage sein. Und zwar geht sie über die frühere Behauptung, daß der Staat, wenn er durch die Einführung einer Rechtsordnung seine "Untertanen" verpflichtet, sich selbst zugleich verpflichtet, weit hinaus; es wird damit vielmehr behauptet,  daß  der Staat zur Einführung einer Rechtsordnung verpflichtet ist. Es scheint diesem Satz auch nicht an einer sehr einleuchtenden und nichts weniger als metaphysischen Begründung zu fehlen: ist doch "im Begriff der Staatsgewalt schon der der rechtlichen Ordnung enthalten". (A 433) Die Notwendigkeit einer Rechtsordnung für den Staat erscheint somit als eine einfache logische Folge des Begriffs des Staates.

Wer aber hiermit eine Begründung jenes Rechtssatzes gefunden zu haben glaubt, ist das Opfer eines Wortspiels. Bloße logische Notwendigkeit kann nie zum Grund einer rechtlichen Notwendigkeit werden. Man mag den Begriff des Staates definieren wie man will; daraus eine Rechtsnorm abzuleiten, wird immer eine vergebliche Mühe bleiben. Mag also auch die Notwendigkeit einer Rechtsordnung für den Begriff des Staates wesentlich sein, was folgt daraus anderes, als daß, wo eine Rechtsordnung fehlt, nicht von einem "Staat" gesprochen werden darf. Wer mehr daraus schließen und behaupten wollte, daß der Staat die Rechtsordnung nicht aufheben, die Anarchie nicht einführen darf, hätte zuerst zu beweisen, daß überhaupt so etwas wie ein Staat  sein soll  oder daß ein Gebilde, das ein Staat ist, auch ein Staat  bleiben  soll.

Soll aber die für den Begriff des Staates wesentliche Notwendigkeit der Rechtsordnung soviel bedeuten wie die  Pflicht  zur Aufrechterhaltung einer Rechtsordnung, soll also nicht sowohl die Rechtsordnung selbst als vielmehr nur die Pflicht, eine solche aufrechtzuerhalten, für den Staat logisch notwendig sein, so fehlt der Beweis, daß das nach dem sonstigen Sprachgebrauch "Staat" genannte Gebilde zugleich ein Staat im Sinne dieser Definition ist. Um aber zu beweisen, daß ein Gebilde in diesem Sinne ein Staat ist, müßte man schon vorher wissen, daß ihm die fragliche Pflicht obliegt, denn nur unter dieser Voraussetzung fällt es ja unter den definierten Begriff des Staates. Diese Pflicht aber könnte man wiederum nur erkennen, wenn man schon wüßte, daß es ein "Staat" ist. Sodaß auch hier der logische Zirkel in die Augen springt.


§ 6. Die Lehre von der
Rechtfertigung des Staates

Betrachtet man das Kapitel von der "Rechtfertigung des Staates", so könnte es freilich scheinen, als sei JELLINEK den Beweis für die Notwendigkeit des Staates nicht schuldig geblieben. In Wahrheit füllt aber auch dieses Kapitel die Lücke in der Begründung des Staatsrechts nicht aus. Wie überall, so entspricht auch hier dem Reichtum der historischen Exkurse die Ärmlichkeit der eigenen Gedanken.

Es versteht sich nach dem bereits Erörterten, daß die "Rechtfertigung" des Staates, wenn sie für die Lösung des Problems des Staatsrechts irgendeine Bedeutung haben soll, nur im Nachweis einer ihrerseits  nicht wieder nur bedingten  Notwendigkeit des Staates bestehen kann. Denn der bloße Nachweis, daß der Staat als Mittel zu einem dem Belieben überlassenen Zweck notwendig sei, kann nie die behauptete Pflicht zur Aufrechterhaltung der dem Staat wesentlichen Rechtsordnung begründen. Hinsichtlich dieses für das Schicksal des Staatsrechts im Grunde allein entscheidenden Punktes weicht JELLINEK aber überall einer klaren und eindeutigen Stellungnahme aus. Auf der einen Seite erkennt er zwar an, daß die Frage, um die es sich hier handelt, "sich nicht auf dem Boden des Seienden, sondern des Seinsollenden bewegen", daß sie "nicht theoretischer, sondern praktischer Natur" sind (A 185), er verwirft die Weisungen der "Machttheorie", weil "Streit über sie höchstens in der Richtung geführt werden kann, ob sie klug, nicht aber, ob sie zulässig sind" (A 197), er erwähnt beifällig die Worte ROUSSEAUs: "Commencons donc par ecarter tous les faits, car ils ne touchent pont a la question." [Lassen Sie uns mit der Entfernung aller Fakten beginnen, weil sie nicht den Punkt berühren, um den es geht. - wp] (A 212) Das hindert ihn aber nicht, auf der anderen Seite zu behaupten, daß "der Nachweis der Notwendigkeit des Staates nur durch eine sorgfältige Betrachtung der gegebenen Welt geführt werden kann. " (A 222) "Gerichtet werden kann die Rechtfertigung des Staates nur an diejenigen, welche grundsätzlich die Kultur und daher auch deren Bedingungen bejahen." (A 222) So wird also der Staat gerechtfertigt als Mittel zur Erreichung der Kulturzwecke. Schon die "partikularen Lebenszwecke" und "in noch höherem Grad die Gesamtheit der Lebenszwecke ... können nur verfolgt und erreicht werden unter der Voraussetzung des Daseins einer Rechtsordnung." (A 223) "In Wahrheit ist es nur die Rechtsordnung, welche die Möglichkeit eines gesellschaftlichen Lebens garantiert." (A 226) - Sehen wir von der Unbestimmtheit aller dieser Behauptungen ab, die ansich schon einen Streit über ihre Richtigkeit wertlos macht, nehmen wir an, wir wüßten, was unter "Kulturzwecken", "partikularen Lebenszwecken" und der "Gesamtheit der Lebenszwecke" zu verstehen ist und wie sich alle diese Zwecke zueinander sowozl als auch zum "gesellschaftlichen Leben" verhalten, setzen wir endlich auch als erwiesen voraus, daß nur mittels des Staates diese Zwecke erreichbar sind, was haben wir dann mit diesem Nachweis gewonnen? Wir wissen dann, daß, wer diese Zwecke will, unklug handelt, wenn er nicht auch den Staat will. Da aber diese Zwecke selbst dadurch dem Belieben des einzelnen nicht entzogen sind, so ist dies auch für den Staat nicht der Fall.

Mit diesem Ergebnis stimmt die ausdrückliche Erklärung überein, daß eine "jurstische Rechtfertigung für den Staat unmöglich", ein "Rechtsgrund des Staates" nicht aufweisbar sei. (A 186)

Wenn aber JELLINEK des weiteren die Notwendigkeit einer Rechtsordnung dadurch begründet, daß "ihr gänzliches Fehlen die natürlichen Machtverhältnisse" ungehemmt "walten ließe", "daß das  bellum omnium contra omnes  [Krieg aller gegen alle - wp] die notwendige Folge des Fehlens von Staat und Recht wäre" und daß sie "in einem solchen allgemeinen Krieg sofort tatsächliche Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse bilden würden", daß in der rechtlosen Gesellschaft dem Starken über den Schwachen "der Sieg bestimmt wäre" und daß man nur unter der Herrschaft des Rechts "im Verkehr mit einer gewissen Sicherheit auf den gesellschaftlichen Charakter der Handlungen anderer zu bauen vermag" (A 226f), so setzt er offenbar stillschweigend die Verwerflichkeit eines Zustandes voraus, in dem die natürlichen Machtverhältnisse ungehemmt walten, in dem der Starke über den Schwachen siegt und der eine sich nicht im Verkehr auf den anderen verlassen kann. Was bedeutet aber dieses Verwerfungsurteil anderes als die - zwar nicht ausdrücklich, aber tatsächliche - Anerkennung eines objektiven, von der Sanktion durch staatliche Befehle unabhängigen Rechts?

Die Ausflucht, dieses Verwerfungsurteil habe nicht rechtliche, sondern ethische Bedeutung (A 186), läuft auf einen bloßen Wortstreit hinaus. Man mag es vorziehen, nur die durch eine Organisation garantierten Normen "Rechtsnormen" zu nennen und sie als solche von den "ethischen" zu unterscheiden. Nur sollte man sich dann darüber klar sein, daß diese Gegenüberstellung lediglich terminologische Bedeutung hat und keinen Schluß auf eine Verschiedenheit des Inhalts und der Verbindlichkeit beider Arten von Normen erlaubt. Es sind  dieselben  Normen, welche, solange sie der Garantie durch eine Organisation ermangeln, "ethische" Normen, sobald sie diese Garantie erlangen, dagegen "Rechtsnormen" heißen.

Was ist danach der lang und breit getadelte "Fehler" der naturrechtlichen "Rechtstheorien", die die Notwendigkeit des Staates auf das Recht zu gründen unternahmen, anderes, als daß sich diese Theorien noch nicht der neuen, unklare Geister vollends verwirrendenn Terminologie bedienten? Oder glaubt JELLINEK im Ernst, daß die Begründer der Vertragstheorie der Vorwurf trifft, sie hätten den Staat in  dem  Sinne auf einen Satz der "Rechtsordnung" gegründet, daß sie etwa meinten, die Vertragstreue sei eine auch im Naturzustand garantierte Norm? Sollte die Lehre von Männeren wie HOBBES, ROUSSEAU und KANT wirklich darauf hinauslaufen, daß die auch unabhängig vom Staat garantierten Normen des Staates bedürften, um garantiert zu werden?

Auf nichts als eine solchen Unsinn stiftende Terminologie gestützt, brüstet man sich jenen "der Vergangenheit angehörenden" Lehren gegenüber mit "dem klaren Einblick in das Wesen des Rechts, den die Wissenschaft der Gegenwart gewonnen hat." (A 218)

Nichts vielleicht zeigt deutlicher die gänzliche Fremdheit und Verständnislosigkeit, mit der JELLINEK dem Rechtsbegriff gegenübersteht, wie seine Kritik der Vertragstheorie. (A 214f) Die Vertragstheorie behauptet, wie alle "Rechtstheorien", einen Rechtsgrund des Staates, d. h. sie leitet die praktische Notwendigkeit des Staates aus einem Rechtssatz ab. Dies genügt JELLINEK, um sie für ein naives  hysteron proteron  [das Frühere ist das Spätere - wp] zu erklären. Ein solches wäre sie allerdings, wenn sie ebensowenig wie JELLINEK zwischen Staat und Recht zu unterscheiden vermöchte, denn dann würde sie mit dem Rechtsgrund des Staates den Rechtsgrund des Rechts aufzuweisen unternehmen und sich damit in den Zirkel des "metajuristischen" Problems verstricken. Der Fehler liegt also nicht in der Vertragstheorie, sondern in JELLINEKs eigener Verwechslung von Recht und Staat.

"Wie lange Zeit hat es gedauert", ruft er aus, "ehe der Satz von der bindenden Kraft der Verträge, der dem Naturrecht so selbstverständlich erscheint, überhaupt gefunden wurde!" (A 216)

Was aber beweist dies gegen eine Lehre, die, wie JELLINEK selbst wiederholt betont, "nicht etwas historische" verstanden sein will (A 208), der der Gesellschaftsvertrag nicht eine geschichtliche Tatsache, sondern die "Vertragsidee" eine "Beurteilungsnorm" des Staates ist (A 210), die "nicht den vergangenen, sondern, wie jede Rechtfertigungslehre, ausschließlich den gegenwärtigen und künftigen Staat auf eine rationale Basis stellen will" (A 214f), für die es einzig darauf ankommt, ob die Einrichtung des Staates "auch gewollt werden  kann"  (A 215), und die man "darum mitnichten widerlegt hat, wenn man sie als unhistorisch nachweist"? (A 215) Hängt denn die Richtigkeit eines Satzes von der Zeit ab, die es dauert, bis er gefunden wird?
    "Daß der bloße Konsens absolut verpflichtende Kraft hat, ist überdies auch heute ein nirgends in ausnahmsloser Geltung stehender Satz." (A 216)
Hiermit ist aber die Frage verschoben; denn nur innerhalb der Grenzen, in denen ein Vertrag überhaupt verpflichtet, behauptet die Vertragstheorie die Verbindlichkeit des Staatsgesetzes. Aus dem Bestehen solcher Grenzen auf die Falschheit dieser Theorie zu schließen, beweist daher zu viel, da nach derselben Konsequenz auch die privatrechtliche Bedeutung der Verträge nichtig sein müßte.
    "Ferner ist es unmöglich, das objektive Recht für Inhalt und Rechtsfolgen des Grundvertrages aufzuweisen." (A 216)
Die Forderung eines objektiven Rechts für den Inhalt des Vertrages widersprich sich selbst. Es liegt im Begriff des Vertrages, daß sein Inhalt willkürlich, also  nicht  rechtlich bestimmbar ist. Was aber die Rechtsfolgen des Vertrages betrifft, so liegt die Beweislast auf seiten desjenigen, der das Bestehen solcher Rechtsfolgen außer der Verbindlichkeit des Vertrages behauptet.
    "Der größte Mangel der naturrechtlichen Begründung des Vertrages ist aber die Unmöglichkeit, die absolute Bindung des Individuums durch den einmal abgegebenen Konsens zu erweisen." (A 216)
Dies träfe aber wieder nur diejenige Theorie, die das Recht selbst nicht nur den Staat durch den Vertrag zu begründen unternimmt. Eine rechtliche Begründung des Vertrags wäre allerdings unmöglich, wenn das Recht seinerseits erst auf den Vertrag gegründet werden sollte. Gibt es aber überhaupt eine Verbindlichkeit der Verträge, so muß es auch möglich sein, sie zu erweisen.

Geht man freilich mit ROUSSEAU von der Freiheit als dem höchsten Prinzip des Rechts aus, so muß dieser Beweis mißlingen. Denn soviel ist gewiß richtig, daß "das Individuum kraft dieser unverzichtbaren Freiheit auch jederzeit den Vertrag lösen" könnte. Daraus aber zu schließen, daß die Vertragslehre "ihr Ziel verfehlt", wäre nur zulässig unter der Voraussetzung, daß ein anderer Aufbau der Rechtslehre als aufgrund des Prinzips der Freiheit unmöglich ist. Der Mühe aber, diese Voraussetzung zu prüfen, hat sich JELLINEK nicht unterzogen.

Wenn also die Vertragstheorie einen Fehler enthält, so ist dieser von JELLINEK wenigstens nicht gefunden worden.


§ 7. Die Lehre vom
Zweck des Staates

Neben die Frage nach dem "Grund" des Staates tritt die Frage nach seinem "Zweck". Erst durch ihre Beantwortung "wird die Rechtfertigung des Staates vollendet". (A 229, 236, 264) Aber hier verwickelt uns die Scheu vor der Metaphysik nur in immer neue Widersprüche. Die Lehre vom Zweck des Staates wird dadurch notwendig, daß in der Rechtfertigung des Staates "zugleich die Aufforderung an ihn liegt, sein Dasein mit einem materiell gerechtfertigten Inhalt zu erfüllen", dieser Inhalt aber nur "durch die Zwecke gerechtfertigt wird, die er vollbringt". (A 229) Trotzdem aber heißt es, es sei weit gefehlt, zu meinen, "daß sich irgendeine bestimmte Form des Staates irgendwie aus einem allgemeinen Prinzip als allein gerechtfertigt ableiten läßt".
    "Gerade weil zu allen Zeiten politische und soziale Parteien und ihre theoretischen Partisane in derartige Lehren zu verfallen geneigt sind, muß die ernste Wissenschaft ein solches Beginnen von sich weisen. Einen allgemeingültigen Idealtypus des Staates könnte man nur aufgrund metaphysischer Prinzipien behaupten, über welche eine Übereinstimmung niemals stattfinden wird." "Eine Wissenschaft, die Parteiansprüchen absolute Geltung unterlegt, verfehlt ihr Ziel. Sie überzeugt nicht die noch nicht Überzeugten und erzeugt statt gehoffter Zustimmung unerwünschte Opposition." (A 228)
Auf welcher Seite ist aber wohl der größere wissenschaftliche Ernst: dort, wo man unbekümmert um die Gefahr, eine unerwünschte Opposition zu erzeugen und in politischen Verruf zu geraten, vielleicht auch von gelehrten Wortanbetern als Metaphysiker verschrien zu werden, die erkannte Wahrheit lehrt, oder dort, wo man, um sich nicht in diese Gefahr zu begeben, die Ansprüche der Wissenschaft zum Schweigen bringt? Aber freilich, eine Wissenschaft, die sich dazu hergibt, vor den "herrschenden Überzeugungen" im Staub zu kriechen, vollzieht nur an sich selbst die Konsequenz ihrer Lehren, wenn ihr die eigene Überzeugung nichts mehr gilt, sobald sie nicht auf allgemeine Zustimmung hoffen kann.

JELLINEK unterscheidet nun zwischen der Frage nach dem objektiven und der nach dem subjektiven Zweck des Staates. Jene fragt, welcher Zweck dem Staat "in der Ökonomie des historischen Geschehens im Hinblick auf die letzte Bestimmung der Menschheit zukommt", diese, "welchen Zweck die Institution des Staates in einem gegebenen Zeitpunkg für die ihr Eingegliederten und damit für die Gesamtheit besitzt". (A 230f) Die erste Frage weist er als wissenschaftlich unlösbar zurück, da wir in Wahrheit keine objektiven, d. h. "von einer höheren, die Geschichte durchwaltenden Macht gesetzten Zwecke" (A 233) kennen. Es bleibt also nur die Frage nach dem subjektiven Zweck des Staates übrig. "Diese Frage muß aufgeworfen und beantwortet werden." (A 234)

Hier findet sich aber eine verhängnisvolle Zweideutigkeit. Es handelte sich zunächst um den Gegensatz zwischen den von einer uns unbekannten höheren, die Geschichte durchwaltenden Macht gesetzten und unseren eigenen, menschlichen Zwecken. Sehen wir aber von den ersten ab, so bleibt noch zu unterscheiden zwischen den von den Menschen wirklich verfolgten Zwecken und denen, die sie sich setzen  sollten,  d. h. die sie bei hinreichender Bildung verfolgen würden. Diese beiden Gegensätze werden von JELLINEK verwechselt, wenn er aus der Unmöglichkeit einer wissenschaftlichen Lehre von den "objektiven" Zwecken auf den nur "historisch-politischen" Charakter der Lehre von den Staatszweckenn schließt und diese Lehre in die "Soziallehre" des Staates verweist, mit der Behauptung, es gebe "keine begriffich notwendigen, sondern nur nach den Anschauungen der Geschichtsepochen wechselnde Staatszwecke". (A 237) Hiernach bliebe nur übrig, festzustellen, welche Zweck zu dieser oder jener Zeit, in diesem oder jenem Staat wirklich verfolgt worden sind; zwischen vorzugswürdigen und minderwertigen Zwecken zu unterscheiden wäre aber unmöglich. Es gäbe nur eine theoretische, nämlich psychologische Lehre von den Zwecksetzungen, aber gar keine eigentlich praktische Lehre von den Zwecken selbst.

Dies hieß dann also in Wahrheit, auf jede Staatszwecklehre zu verzichten. Aber diese Konsequenz zieht JELLINEK wieder gar nicht. Ihm ist es nur darum zu tun, der Verantwortung für jede metaphysische Behauptung durch die ihr angefügte psychologische Hintertür auszuweichen, die es gestattet, auf jede Frage eine Antwort zu geben, die sich, je nach den Umständen, bald als eine bestimmte normative Entscheidung, bald im Gegenteil als deren Ablehnung ausdeuten läßt. Zwar läßt ihm das Interesse an einer bestimmten Entscheidung gelegentlich ein objektiv-praktisches Urteil entschlüpfen; so wenn er auf die Amtstätigkeit der Universitätslehrer zu sprechen kommt, wo sich sein durch keine metaphysische Scheu gemilderter Zorn auf diejenigen ergießt, die den Unterschied von "Amtstätigkeit" und "Staatstätigkeit" für unentbehrlich erklären und dadurch die Freiheit derer gefährden, "die im staatlichen Auftrag eine höhere intellektuelle Tätigkeit ausüben." (A 260f) Im übrigen aber hebt er überall im Nachsatz auf, was er im Vordersatz behauptet. Kaum hat er ein Zweckurteil ausgesprochen, so nimmt er es durch die Erklärung wieder zurück, daß dieses Urteil zwar nach der gegenwärtigen Einsicht der Wissenschaft als richtig zu gelten hat, daß jedoch die Frage, ob es auch wirklich richtig sei, der Metaphysik zur Entscheidung überlassen bleiben muß. Mit diesem metaphysisch-psychologischen Schaukelspiel wird die Kritik des treuherzigen Lesers so lange eingeschläfert, bis man ihn nach Belieben zum Narren halten kann. Fragt er nach dem Zweck des Staates, so antwortet man ihm, daß "gemäß unserer modernen, durch die gesamte Wissenschaft bestimmten Weltanschauung fortschreitende Entfaltung und reichere Ausbildung der menschlichen Kräfte der notwendige und darum anzuerkennende Inhalt der Geschichte" sei, und daß folglich auch "alle staatliche Tätigkeit unter diesem Gesichtspunkt zum Endzweck die Mitarbeit an der fortschreitenden Entwicklung der ihm Eingegliederten und der Gattung" habe (A 262f). Wendet der Leser aber ein, daß ein metaphysisches Urteil nicht in die ernste Wissenschaft gehört, so klärt man ihm sein Mißverständnis mit dem Hinweis auf, daß ja nur eine psychologische Behauptung darüber aufgestellt worden ist, was unsere moderne Weltanschauung sich als den Zweck des Staates denkt. Es sei zwar zuzugeben, daß "ohne eine Metaphysik der Geschichte eine teleologische Untersuchung der sozialen Phänomene nie gründlich vorgenommen werden kann, weil die letzten Zweck des Menschlichen rein empirischer Forschung unzugänglich sind". Aber nicht diese teleologische Untersuchung selbst sei hier vorgenommen worden, sondern nur die psychologische Untersuchung, welches für "die herrschende Geistesrichtung" das Ergebnis dieser teleologischen Untersuchung sei. "Metaphysischer Betrachtung bleibt die Frage überlassen, inwiefern dieser subjektiven Anschauung auch eine objektive Wahrheit zukommt." (A 262f)

Wir wollen uns aber nicht im Namen ernster Wissenschaft zum Narren halten lassen. Wir wissen entweder von einem Zweck des Staates, oder wir wissen nicht von ihm. Wissen wir von ihm, so widersprechen wir uns selbst, wenn wir die Frage dahingestellt sein lassen, ob unserer Überzeugung auch objektive Wahrheit zukommt, denn wir stellen unser eigenes Wissen damit in Abrede. Es ist unmöglich, von etwas überzeugt zu sein und dabei zu zweifeln, ob das, wovon man überzeugt ist, wahr ist. Wissen wir aber nichts von einem Zweck des Staates, so widersprechen wir uns selbst, wenn wir sagen, daß wir zwar von keinem Zweck des Staates wüßten, wohl aber davon, daß wir von etwas überzeugt sind. Es ist unmöglich, zu wissen, daß man von etwas überzeugt ist, von dem man  nicht  überzeugt ist.

Dieser Widerspruch begegnet uns auf Schritt und Tritt; seine Aufweisung ist allein schon hinreichend, um das Ganze mit so viel mühseliger Spitzfindigkeit errichtete Gebäude dieser Staatslehre zunichte zu machen.

"Ein Staat", sagt JELLINEK, "der diesem auf unseren heutigen politischen Anschauungen beruhenden Maßstab nicht entspricht, ... erscheint uns als minderwertig." (A 264) Daß ein Staat, weil er nicht unserem Wertmaßstab entspricht, uns als minderwertig erscheint, heißt doch, daß wir ihn für minderwertig halten. Halten wir ihn aber für minderwertig, warum haben wir nicht den Mut, unserer Überzeugung auch Ausdruck zu geben und zu sagen: "Er  ist  minderwertig?" Das Zugeständnis, daß dies unsere Überzeugung ist, straft uns Lügen, wenn wir die Frage, ob dieser Überzeugung auch eine objektive Wahrheit zukommt, "metaphysischer Betrachtung überlassen". Denn indem wir erklären, diese Überzeugung zu haben, gestehen wir, diese metaphysische Frage schon entschieden zu haben.

"Eine Vielheit von Menschen, heißt es an anderer Stelle (A 179), "wird für unser Bewußt sein geeinigt, wenn sie durch konstante, innerlich kohärente Zwecke miteinander verbunden sind." Eine solche Zweckeinheit soll der Staat sein. Aber:
    "Ob die Einheiten, die wir denknotwendig durch die Anwendung des Zweckbegriffs bilden, auch unabhängig von unserem Denken in irgendeiner Form existieren, wissen wir nicht und können wir mit den Hilfsmitteln wissenschaftlicher Forschung nicht feststellen. An diesem Punkt hat unser sicheres Wissen ein Ende und die metaphysische Spekulation ihren Anfang. Diese Grenze soll hier nicht überschritten werden." (A 182)
Ist hier nun gesagt, daß ein durch gewisse Zwecke verbundene Vielheit von Menschen dadurch geeinigt wird, oder ist dies nicht gesagt? Beides! Oder auch keins von beidem! Wie es gefällt. Es ist ja nur gesagt, daß sie "für unser Bewußtsein" geeinigt wird. Nur, daß es für uns "denknotwendig" sei, zu denken, sie werde geeinigt, dies und nicht mehr ist behauptet. Ob sie auch in Wirklichkeit geeinigt wird, können wir nicht wissen. Man müßte die Grenze des Wissens überschreiten und den unsicheren Boden der metaphysischen Spekulation betreten, um derartiges zu behaupten. Genug, daß wir wissen, was für uns zu denken notwendig ist.

Aber wie? Wenn es für uns zu denken notwendig ist und wir also auch wirklich denken, eine Vielheit werde geeinigt, was denken wir dann eigentlich? Denken wir, daß die Vielheit geeinigt wird, oder denken wir etwas anderes? Offenbar dieses; denn wie sollten wir das nicht denken, das für uns denknotwendig ist. Wir denken also nicht, daß wir nur  denken,  die Vielheit werde geeinigt, sondern wir denken, sie werde wirklich geeinigt. Wir denken also gerade das, wovon wir dachten, daß wir es  nicht  denken, nämlich eben den metaphysischen Gedanken, der die behauptete Grenze des wissenschaftlichen Denkens überschreitet.

Wenn also JEllINEK zu denken meint, daß wir genötigt sind, zu denken, der Staat sei das in seiner Staatslehre geschilderte Gebilde, ob er es aber wirklich ist, kann als eine metaphysische Frage dahingestellt bleiben, so täuscht er sich. Er  denkt  vielmehr nur, zu denken, und denkt in Wirklichkeit überhaupt nicht, da, was er für Gedanken hält, nur Worte sind.


§ 8. Das Prinzip der Autonomie

Ist hiernach der Versuch, das Staatsrecht durch die Lehre von der Rechtfertigung des Staates zu begründen, als mißlungen zu betrachten, so bleibt doch ein letzter Ausweg zu prüfen, auf dem JELLINEK das Problem des Staatsrechts lösen zu können hofft und auf den wir besonders auch, um zu einem Urteil über seine völkerrechtlichen Lehren zu gelangen, eingehen müssen. Man kann sagen, daß dieser Ausweg geradezu darin besteht, den Grundgedanken des vorher eingeschlagenen Weges auf den Kopf zu stellen. Die Klippe, an der die Befehlstheorie scheitert, soll nämlich durch das Prinzip der "Autonomie" umschifft werden. Nach den Lehren der Befehlstheorie "besteht der Staat in  Willensverhältnissen"  nämlich von Menschen, die befehlen und solchen, die diesen Befehlen Gehorsam zollen". "Als letzte objektive Bestandteile der Staaten ergeben sich daher Willensverhältnisse Herrschender und Beherrschter." (A 176f) Der Widerspruch dieser Lehre läßt sich mit denselben Worten nachweisen, mit denen JELLINEK die von ihm verworfene Rechtstheorie zu widerlegen versucht. Hier sagt er:
    "Jedes Rechtsverhältnis bedarf der normen, die es regeln, und diese Normen müssen die Glieder des Rechtsverhältnisses miteinander verbinden, setzen also eine über den Gliedern stehende Macht voraus, von welcher diese Normen ausgehen." (A 168f)
Diese Worte sprechen nur die Konsequenz der Befehlstheorie aus und treffen daher in Wahrheit auch nur diese selbst. In der Tat, die Verbindlichkeit des Herrscherwillens für den Beherrschten setzt eine Rechtsnorm voraus, die das Rechtsverhältnis zwischen ihnen derart regelt, daß der Beherrschte dem Willen des Herrschers rechtlich unterworfen wird. Diese Rechtsnorm könnte aber nach der Befehlstheorie nur der Ausfluß des Willens einer über beiden stehenden Macht sein. Was JELLINEK daher gegen die "Objekt-Theorie" des Staates einwendet, gilt auch gegen die seinige:
    "Jede derartige Theorie könnte als rechtliche Erklärung des Staates nur dann befriedigen, wenn es gelänge, eine überstaatliche Rechtsordnung nachzuweisen, von der der Herrscher sein Recht zur Herrschaft erhält." (A 166)
Wird auf die Aufweisung einer solchen überstaatlichen Rechtsordnung verzichtet, so bleibt nichts übrig, als den rechtlichen Charakter des den Staat konstituierenden Willensverhältnisses abzuleugnen und das angebliche Rechtsverhältnis als ein bloßes Gewaltverhältnis anzuerkennen. Entweder wir behaupten seine Rechtsnatur, dann werden wir ins Unendliche auf immer übergeordnete Willensverhältnisse als Rechtsquellen verwiesen, ohne daß wir je zu einer wirklichen Rechtsquelle kämen, oder aber wir verzichten von vornherein auf eine solche: in keinem von beiden Fällen läßt sich die Verbindlichkeit des Herrscherwillens für den Willen des Beherrschten begründen. Umso weniger ist es von einer solchen Theorie aus möglich, umgekehrt eine rechtliche Verbindlichkeit für den Willen des Herrschers zu begründen: auch von ihr aus kann "die Anerkennung der Untertanen als Rechtssubjekt durch den Staat nur durch Trugschlüsse herbeigeführt werden." (A 164) Kurz: ein "Staatsrecht" ist auf der Grundlage dieser Theorie ein in sich widerspruchsvoller Begriff; ihre Konsequenz ist der nackte, schlechthin schrankenlose Absolutismus.

Diese Konsequenz läßt sich auch nicht dadurch wegschaffen, daß man den Staat als "Rechtssubjekt" bezeichnet. (A 183) Diese Bezeichnung bleibt vielmehr, solange man nicht die  Existenz  staatlicher Recht aufgewiesen hat, ein bloßes Wort. Von einem Rechtssubjekt zu sprechen, hat nur Bedeutun, wo man eine das Recht regelnde Rechtsnorm voraussetzt. Wie ist diese aber beim Staat möglich, wenn aus seinem "Willen" das Recht erst abgeleitet werden soll, er also seinerseits die Voraussetzung für die Möglichkeit aller Rechtsnormen sein soll?

Bei dieser Lage der Dinge kostet es JELLINEK gar nichts, die Befehlstheorie, wo sie versagt, durch ihr  Gegenteil  zu ersetzen. Unter Berufung auf den "gewaltigen Fortschritt, den die ethische Erkenntnis seit KANT gemacht" habe, verwirft er nunmehr die Auffassung von der "heteronomen" Natur der Pflicht, wonach "jede Verpflichtung nur in der Form eines Gebotes einer höheren Macht an eine untergeordnete möglich" erscheint (A 480), wonach "die ethische Macht dem einzelnen etwas von außen Kommendes, daher jede Pflicht ein fremdes Gebot" ist. "Von diesem die sittliche Autonomie und daher jede Ethik in einem höheren Sinn verwerfenden Standpunkt gibt es natürlich keine wie auch immer geartete Selbstverpflichtung. Aber auch ebensowenig irgendeine andere Begründung der letzten ethischen und rechtlichen Probleme als auf fatalistische Unterwerfung unter eine fremde göttliche oder physische Übermacht." (A 368)

Das Problem des Staatsrechts scheint damit auf die einfachste Weise gelöst: Der eigene Wille des Staates erweist sich so als der Rechtsgrund seiner Verpflichtung.
    "Der Begriff der Pflicht ist ein einheitlicher. Der Wandel der ethischen Theorie von der Pflicht muß daher notwendig den der juristischen zur Folge haben. Im Begriff der staatlichen Selbstverpflichtung liegt daher so wenig ein Widerspruch wie in dem der sittlichen Autonomie." (A 481)
Aber die Seichtigkeit dieser Ausflucht läßt sich nicht verbergen. Denn  erstens  bleiben wir auch hier bei einem bloßen  Willensverhältnis  stehen:
    "Formell kann das Recht nur abgeleitet werden aus den Willensverhältnissen: Verbindlichkeit von Willensakten durch andere Willensakten." (A 479f)
Es macht aber grundsätzlich wenig aus, ob der Willensakt, aus dem sich die Verbindlichkeit eines anderen Willensaktes ableitet, derselben oder einer anderen Person zukommt: Das Rechtsverhältnis, das in der Verbindlichkeit des einen Willensaktes für den anderen besteht, "bedarf der Normen, die es regeln". "Diese Normen müssen die Glieder des Rechtsverhältnisses miteinander verbinden." Es würde also auch hier der Schluß gelten, daß diese Normen "eine über den Gliedern stehende Macht voraussetzen, von welcher diese Normen ausgehen." (A 168f) Es bleibt daher wieder nichts übrig, als entweder beim bloß faktischen Willensverhältnis stehen zu bleiben und auf eine Begründung seiner Rechtsnatur von vornherein zu verzichten, oder aber diese Rechtsnatur aus einem höheren Willensverhältnis abzuleiten, für welches dann wieder dasselbe gelten würde, so daß wir auf eine unendliche Reihe von Willensakten geführt würden, deren jeder seine Rechtmäßigkeit nur auf den nächst höheren gründen könnte, - eine Reihe, deren Unendlichkeit es unmöglich machen würde, über die bloß faktischen Willensakte hinaus zu einem wirklichen Rechtsgrund zu gelangen. Ob wir es dabei mit eigenen oder fremden Willensakten zu tun haben, macht hierfür gar keinen Unterschied.

Zweitens  aber ist es ein grober Widerspruch, das sogenannte Prinzip der Autonomie, d. h. der Verpflichtung durch eigenen Willen, zwar für den Staat, nicht aber auch für das Individuum gelten zu lassen. "Der Begriff der Pflicht", sagt JELLINEK, "ist ein einheitlicher. Der Wandel in der ethischen Theorie von der Pflicht muß daher notwendig den der juristischen zur Folge haben." Nun wohl, entweder gilt das Prinzip der Autonomie, oder es gilt nich; es kann aber nicht für den Staat das Prinzip der Autonomie, für das Individuum dagegen die Befehlstheorie gelten. JELLINEK aber sucht beides zu vereinigen. In der "Lehre von den Staatenverbindungen" kommt dieser Versuch am schroffsten zum Ausdruck:
    "Es gibt zwei Möglichkeiten der rechtlichen Verpflichtung: Verpflichtung durch eigenen und Verpflichtung durch fremden Willen. Die letztere findet beim Untertanen statt, bei dem, der rechtlich einem Imperium unterworfen ist. Ausschließliche Verpflichtbarkeit durch den Staatswillen, also durch fremden Willen ist das juristische Merkmal des Untertanen." (L 31f) "Verpflichtbarkeit durch eigenen Willen ist das juristische Merkmal des Staates." (L 34)
Freilich hat es JELLINEK, offenbar im Gefühl dieses Widerspruchs, vermieden, dem Prinzip der Autonomie eine einigermaßen bestimmte Formulierung zu geben; vielmehr verbreitet er über diesen für seine Staatslehr so wichtigen Punkt wieder ein solches Dunkel, daß es ihm möglich wird, jeden bestimmten, der Kritik zugänglichen Sinn seiner Behauptungen abzuleugnen. Man kann nach ihm einerseits zugeben, daß "gewissermaßen jede Verpflichtung Selbstverpflichtung ist" (R 15), andererseits aber hütet er sich wohlweislich, das fragliche Prinzip in einer Form auszusprechen, die eine ihm entgegengesetzte, heteronome Auffassung der Pflicht geradezu ausschließt. Vielmehr preist er die "autonome Sittlichkeit als höchste Form des Ethos". (A 368) Mit ihrer Verwerfung ist daher konsequenterweise nicht die Ethik überhaupt, sondern nur die "Ethik in einem höheren Sinn" unvereinbar. (A 368) Nur der "volle sittliche Wert" hat die Autonomie des Willens zur Voraussetzung. (R 14) So kann er sich dann dem erwiesenen Widerspruch gegenüber auf die Behauptung zurückziehen, daß Autonomie für den Staat und Heteronomie für das Individuum sich keineswegs ausschließen. Eine Behauptung, bei der nur zu fragen wäre, warum die höhere Form des Ethos dem Individuum vorenthalten bleiben sollte. "Vollkommen sittlich", sagt JELLINEK, "ist nur eine Handlung, zu der wir uns selbst kraft unseres Wesens, nicht kraft einer von einem anderen gesetzten Norm verpflichtet fühlen." (A 480) Hiermit wird dann auch auf diesen letzten Einwand eine Antwort bereit gehalten: Auch dem Individuum wird damit die Möglichkeit eines vollkommen sittlichen Handelns gegeben; es kommt nur darauf an, daß es sich kraft seines eigenes Wesens zur Befolgung des Staatswillens verpflichtet fühlt. Halten wir uns aber im Ernst an diese Erklärung, so ist damit die Lehre von der Verpflichtung des Untertanen durch den Staatswillenn wieder zurückgenommen; denn diese Verpflichtung ist durch die  höhere  Bedingung der Übereinstimmung mit dem  eigenen  Willen des Individuums eingeschränkt. Die ganze Theorie der rechtlichen Ursprünglichkeit und Selbständigkeit der staatlichen Herrschermacht bricht mit diesem Zugeständnis zusammen. Die unmittelbare Folge aber davon ist, daß, wenn dem Individuum die Autonomie zugestanden wird, sie dem Staat abgesprochen werden muß, ganz im Gegensatz zu der Absicht, in der das Prinzip der Autonomie eingeführt wurde.

Die Tragweite dieser Konsequenz darf nicht verkannt werden. Die Lehre von der Verpflichtung durch den eigenen Willen führt in ihrer Anwendung auf das Individuum geradewegs auf die staatsrechtliche Doktrin von der Volkssouveränität und damit auf die von JELLINEK bekämpfte Form der Vertragstheorie des Staates, die von einem rechtlichen Prinzip der Freiheit ausgeht. Gegen sie gilt dann auch, was JELLINEK gegen die Vertragstheorie überhaupt einwendet: sie ist, "logisch zuende gedacht, nicht staatsbegründed, sondern staatsauflösend". (A 217)
    "Ist der Mensch seinem Wesen nach frei, dann ist der Satz ROUSSEAUs unwiderleglich, daß die Freiheit unverzichtbar ist, dann kann das Individuum aber kraft dieser unverzichtbaren Freiheit auch jederzeit den Vertrag lösen." (A 216)
Eine rechtliche Bindung an den Staat ist mit der Autonomie des Individuums unvereinbar. Die Konsequenz dieses Prinzips ist daher die rechtliche Unmöglichkeit des Staates, d. h. Anarchie; so daß sich die Unmöglichkeit einer Begründung des Staatsrechts auf dem Boden der Willenstheorie auch von dieser Seite her zeigt.

Doch das Prinzip der "Autonomie" läßt bei JELLINEK noch eine andere Deutung zu. Hiernach hängt die Verpflichtung nicht sowohl vom eigenen  Willen  ab, als vielmehr von seiner  Anerkennung  der Verpflichtung, d. h. von seiner  Überzeugung,  daß er verpflichtet ist. "Alles Recht", heißt es, "ist nur möglich unter der Voraussetzung, daß wir die Fähigkeit haben, uns durch Anforderungen an unseren Willen, deren Inhalt subjektivem Gutdünken entrückt ist, verpflichtet zu halten." (A 352)
    "Der letzte Grund allen Rechts liegt in der nicht weiter ableitbaren Überzeugung seiner Gültigkeit. Norm ist niemals etwas bloß von außen Kommendes, sondern muß stets die auf einer Eigenschaft des Subjekts ruhende Fähigkeit besitzen, von diesem als berechtigt anerkannt zu werden." (A 371)
Wir kommen hiermit auf die Lehre von der Rechtsüberzeugung als letzter Rechtsquelle zurück.

Der ansich richtige Ausgangspunkt dieser Lehre liegt in der Bemerkung, daß bloße Überlegenheit der Macht niemals ausreicht, um uns eine Verbindlichkeit aufzuerlegen, daß vielmehr eine Verbindlichkeit für uns nur da bestehen kann, wo wir auch die Möglichkeit haben, sie kraft  eigener Einsicht  als solche zu erkennen. Aber das bedeutet nicht, daß wir diese Einsicht  wirklich haben  müßten, und noch viel weniger bedeutet es, daß sie der  Grund  oder  Quelle  der Verbindlichkeit ist. Zwar spricht auch JELLINEK zunächst nur von der "Fähigkeit", die Norm als verpflichtend anzuerkennen. Aber aus der Fähigkeit der Anerkennung wird bei ihm alsbald die Anerkennung selbst und aus dieser dann der Grund oder die Quelle der anerkannten Verpflichtung. Hiermit verwickeln wir uns aber in dieselben Schwierigkeiten wie bei der Lehre vom Willen als Verpflichtungsgrund. Denn wenn nicht die anerkannte Pflicht selbst, sondern ihre Anerkennung es ist, was uns eigentlich verpflichtet, so ist auch die Verpflichtung durch die Anerkennung nur durch die Anerkennung der Verpflichtung durch die Anerkennung der Verpflichtung möglich usw. in unendlicher Reihe, ohne daß wir über die Anerkennungsakte hinaus zu einem wirklichen Verpflichtungsgrund kämen. Ja die Schwierigkeit ist hier noch viel größer als bei der Willenstheorie. Denn um von der Anerkennung der Verpflichtung zu sprechen, müssen wir schon den Begriff einer von der Anerkennung unabhängigen Pflicht voraussetzen.

Daß die Rechtsüberzeugung nur durch Trugschlüsse den Schein eines Kriteriums des Rechts erhalten kann, weil wir, um zu irgendeiner Rechtsüberzeugung zu gelangen, schon ein anderes Kriterium des Rechts besitzen müssen, hatten wir schon festgestellt. An diesem Ergebnis ändert es nun aber nichts, wenn man die Rechtsüberzeugung durch die Fähigkeit zu ihr ersetzt, d. h. durch die Bedingung, daß die fragliche Überzeugung auftreten würde, wenn die hinreichende Einsicht vorhanden wäre. Denn wenn wir fragen, wann denn die  hinreichende  Einsicht vorhanden ist, so läßt sich nur antworten, daß die Einsicht dann hinreicht, wenn sie  richtig  ist. Fragt man aber, wann sie richtig ist, so bleibt nur die Antwort, daß richtig die  dem Recht entsprechende  Einsicht ist. Welche diese aber ist, sollte durch das Kriterium gerade entschieden werden. Darum ist auch das Kriteriume der "Selbstgesetzgebunge der Vernunft" (A 480) gänzlich leer. Denn "Vernunft" ist hier nur ein anderer Ausdruck für die Fähigkeit der rechtlichen Einsicht; wir müßten daher, um das Kriterium anwenden zu können, erst wissen, welches die durch Vernunft zu erkennende rechtliche Gesetzgebung ist, und dazu bedürften wir eines anderen, vom Prinzip der Selbstgesetzgebung der Vernunft unabhängigen Kriteriums.

Es ist unzweifelhaft richtig, daß Recht nur das jenige ist, was wir durch Vernunft als solches erkennen. Dieser Satz allein kann als das recht verstandene Prinzip der Autonomie bezeichnet werden. Aber es ist eine große Täuschung, zu meinen, daß dieser Satz uns ein  Kriterium  des Rechts an die Hand geben kann. Diese Täuschung ist die Quelle der folgenschwersten Irrümer der Naturrechtsschule gewesen, und als solche wirkt sich auch noch heute fort, besonders, wie das Beispiel JELLINEKs lehrt, bei denen, die mit Verachtung auf jene Schule herabsehen. "Es sind nicht alle frei, die ihrer naturrechtlichen Ketten spotten." (A 552)

Es bleibt eine durch keine Spitzfindigkeit wegzudisputierende Alternative: Entweder wir trauen uns ein rechtliches Wissen zu, oder wir trauen es uns nicht zu. Trauen wir uns zu, zu wissen, was Recht ist, so trauen wir uns eben damit auch zu, zu wissen, was  wirklich  Recht  ist,  und nicht nur, wovon andere oder wir selbst  wollen,  daß es Recht sei, oder wovon andere oder wir selbst  denken,  daß es Recht sei, oder wovon andere oder wir selbst  denken,  daß es Recht sei; kurz, wir trauen uns zu, ein objektives, von keinem Willen und von keiner Überzeugung abhängendes Recht zu erkennen. Trauen wir uns dies aber  nicht  zu, gestehen wir, von keinem objektiven Recht zu wissen, so müssen wir ehrlicherweise auch gestehen, nicht zu wissen, daß fremder oder eigener Wille, fremde oder eigene Überzeugung ein Kriterium des Rechts sei; wir dürfen also zwar behaupten, daß dieser oder jener  will  oder  denkt,  daß etwas Recht ist, nicht aber, daß das, was er will oder denkt, Recht ist. Kurz, wir dürfen zwar nach Belieben psychologische Urteile fällen, müssen uns aber jedes rechtlichen Urteils enthalten.

Wer daher sagt, er erkennt zwar etwas als Recht an, maßt sich aber nicht an, zu wissen, daß es auch objektiv Recht sei, weiß entweder selbst nicht, was er sagt, oder er lügt. Denn wenn es wahr ist, daß er, wie er im Vordersatz behauptet, das fragliche Recht anerkennt, so traut er sich zu, das Recht zu kennen; es ist also  nicht  wahr, daß er, wie er im Nachsatz unter dem Schein der Bescheidenheit vorgibt, sich  nicht  zutraut, es zu kennen. Ist dagegen seine Behauptung wahr, daß er sich nicht zutraut, das objektive Recht zu kennen, so ist seine Behauptung, daß er es als Recht anerkennt, unwahr. Unter dem Mantel der Bescheidenheit verbirgt sich also nur die Unehrlichkeit.

Man wende nicht ein, der Satz: "Ich erkenne etwas als Recht an" sei nur ein psychologisches Urteil. Allerdings ist er dies. Aber dieses psychologische Urteil ist ein Urteil über ein anderes, nicht wieder psychologisches, sondern ein rechtliches Urteil, nämlich über mein Urteil, daß etwas Recht ist. Ist also das psychologische Urteil richtig, so urteile ich wirklich, daß etwas Recht ist. Ich täusche also entweder mich selbst oder andere, wenn ich das Gegenteil behaupte.


§ 9. Das Problem des Erkenntnisgrundes
der rechtlichen Erkenntnis

Was aber ist der Erklärungsgrund dafür, daß denkende Menschen immer wieder in das so leicht zu zerreißende Gewebe dieser Sophistik geraten?

Er liegt zunächst in der Unbestimmtheit der Sprache, die es erlaubt, unter einem Ausdruck wie dem, daß der Wille ein Verpflichtungsgrund ist, bald etwas Richtiges, bald etwas Falsches zu verstehen. Wenn sich auch das Recht, als ein praktisches Gesetz, niemals auf irgendwelche Tatsachen zurückführen läßt, so gibt es doch rechtlich erhebliche Tatsachen, d. h. Tatsachen, an die sich eine Rechtsfolge knüpft. Daß sich aber an eine bestimmte Tatsache (etwa an eine Anerkennung, eine Gewohnheit oder einen Vertrag) eine bestimmte Rechtsfolge knüpft, ist nur möglich durch das Bestehen eines Rechtsgesetzes, vermöge dessen diese Verknüpfung stattfindet. Wo es uns nun, wie gewöhnlich, nur darauf ankommt, den Inhalt bestimmter, einzelner Recht zu ermitteln, können wir daher ohne Gefahr von einem verpflichtenden oder rechtserzeugenden Charakter bestimmter Tatsachen sprechen; denn wir setzen dabei stillschweigen das von diesen Tatsachen unabhängige Rechtsgesetz voraus. Entsteht aber die Frage nach dem allgemeinen Prinzip des Rechts überhaupt, so können wir nicht, ohne uns in einen Widerspruch zu verwickeln, in derselben Weise von einem Grund oder einer Quelle oder von der Erzeugung des Rechts sprechen. Denn wenn die rechtliche Erheblichkeit einer Tatsache nur in der Bedeutung besteht, die sie aufgrund des Rechtsgesetzes hat, so kann man nicht umgekehrt die Verbindlichkeit des Rechtsgesetzes auf die rechtliche Erheblichkeit einer Tatsache gründen.

Verkennt man dies, verwechselt man die rechtserheblichen Tatsachen unter dem Rechtsgesetz mit einer über demselben stehenden Quelle des Rechts, so gerät man in ein Netz von immer neuen *Widersprücen. Man kann dann mit gleichem Recht behaupten und bestreiten, daß der Wille ein Verpflichtungsgrund ist. Man kann dann aus der Voraussetzung, daß jede Verpflichtung einen Willen als Verpflichtungsgrund erfordert, schließen, daß da ein fremder Wille nicht verpflichten kann, der eigene Wille der einzige Verpflichtungsgrund sei, wie daß, da der eigene Wille icht verpflichten kann, ein fremder Wille der Grund aller Verpflichtung sein muß, oder auch, mit wieder demselben Recht, daß, da weder eigener, noch fremder Wille verpflichtet, in Wahrheit überhaupt keine Verpflichtung möglich ist. Alle diese Schlüsse haben den gleichen Wert und Unwert. Mit jeder dieser Theorien kann man die anderen widerlegen und durch die Widerlegung der anderen die eigene beweisen.

Wer aber eingesehen hat, daß die Rechtserheblichkeit einer *Tatsache nur aufgrund des Rechtsgesetzes möglich ist, wird sich nicht mehr die widerspruchsvolle Aufgabe stellen, nach der Erzeugungsquelle des Rechts zu suchen. Er wird weder einen Willen, noch eine Überzeugung als Verpflichtungsgrund ansehen; er wird daher auch daraus, daß ein fremder Wille kein solcher sein kann, nicht schließen, daß eigener Wille oder eigene Überzeugung ein solcher sei. Und er wird daraus, daß sich kein Verpflichtungsgrund für die Pflicht und kein Rechtsgrund für das Recht finden läßt, nicht schließen, daß es keine objektive Pflicht und kein objektives Recht gibt.

Hier mischt sich jedoch noch ein anderer Fehler ein, der der Frage nach der Erzeugungsquelle des Rechts einen Schein von Bedeutung gibt. Er entsteht dadurch, daß man die Frage nach dem Erkenntnisgrund oder der Erkenntnisquelle des Rechts mit der Frage nach dem Realgrund oder der Erzeugungsquelle des Rechts verwechselt. Die Frage nach dem Erkenntnisgrund oder nach der Quelle, aus der wir unsere Erkenntnis des Rechts schöpfen, ist gar keine rechtliche Frage, sondern, recht verstanden, eine solche der psychologischen Vernunftkritik. Es ist nämlich die Frage: Auf welche unmittelbare Erkenntnis lassen sich unsere rechtlichen Urteile zurückführen? Wobei von vornherein so viel feststeht, daß dieser Erkenntnisgrund unserer rechtlichen Urteile selbst eine  rechtliche  Erkenntnis sein muß. Denn aus bloßer Tatsachenkenntnis oder gar aus bloßer *Logik läßt sich keine rechtliche Erkenntnis ableiten; Rechtserkenntnis ist praktische Erkenntnis, praktische Erkenntnis läßt sich aber nicht auf eine theoretische zurückführen. Das Problem des Erkenntnisgrundes des Rechts ist also das Problem der  Kritik der praktischen Vernunft:  es wird gelöst durch die psychologische Aufweisung einer unmittelbaren praktischen Vernunfterkenntnis. In diesem Sinne ist es unzweifelhaft richtig, daß unsere Rechtsüberzeugung "das Fundament der Erkenntnis von Rechten und Pflichten" überhaupt und also auch "des Staates" ist. (A 370)

Mit diesem Problem wird nun aber leicht ein anderes verwechselt. (2) Die Frage nach dem Grund der rechtlichen Erkenntnis scheint nämlich durch die Aufweisung einer unmittelbaren rechtlichen Erkenntnis nicht gelöst zu sein, da sich die Frage nach dem Grund der aufgewiesenen rechtlichen Erkenntnis wiederholen würde. Der Erkenntnisgrund des Rechts kann, so scheint es, nicht selbst in einer rechtlichen Erkenntnis liegen. Versteht man die Aufgabe so, daß nach dem Grund der rechtlichen Erkenntnis überhaupt gefragt wird, so ist diese Folgerung in der Tat unvermeidlich. So verstanden, enthält aber die Fragestellung einen Widerspruch. So wenig es eine Erkenntnis geben kann, die den Grund aller Erkenntnis enthält, so wenig eine rechtliche Erkenntnis, die den Grund aller rechtlichen Erkenntnis enthält. Eine andere als selbst rechtliche Erkenntnis kann aber, wie sich zeigte, erst recht nicht den Grund aller rechtlichen Erkenntnis enthalten. Das Problem des Erkenntnisgrundes aller rechtlichen Erkenntnis ist daher ebenso widerspruchsvoll, wie das Problem des Rechtsgrundes allen Rechts. Das erste Scheinproblem zieht aber das zweite unmittelbar nach sich. Will man nämlich die rechtliche Erkenntnis auf eine über aller rechtlichen Erkenntnis stehende Quelle zurückführen, so muß man annehmen, daß sich auch das Recht selbst auf etwas zurückführen läßt, was nicht Recht ist; man befindet sich also unmittelbar vor der "metajuristischen" Aufgabe.

Diese Verwechslung der vernunftkritischen Aufgabe der Zurückführung der rechtlichen Urteile auf eine unmittelbare rechtliche Erkenntnis mit dem erkenntnistheoretischen Problem der Begründung aller rechtlichen Erkenntnis ist die tiefste Wurzel aller erörterten Fehler und Widersprüche. Sie ist es, die JELLINEK hindert, bei einer unmittelbaren rechtlichen Erkenntnis stehen zu bleiben, und die ihn dazu verleitet, die Frage, wie Nicht-Recht zu Recht wird, lösen zu wollen. Diese Aufgabe kann aber nur dadurch lösbar erscheinen, daß man die Rechtserheblichkeit einer Tatsache unter dem Rechtsgesetz mit einer "rechtserzeugenden Kraft" der Tatsache verwechselt, also durch die Lehre von der "normativen Kraft des Faktischen".

So nur erklärt sich auch die Tendenz, keine metaphysischen Behauptungen zuzulassen. Eine unmittelbare rechtliche Erkenntnis könnte in der Tat nur eine metaphysische Erkenntnis sein, wenn man darunter eine solche versteht, die sich weder auf rein logische, noch auf empirische Erkenntnisgründe zurückführen läßt. Daß eine solche Erkenntnis unmöglich ist, setzt JELLINEK überall als selbstverständlich voraus. Daher auch sein Bemühen, alle Rechtssätze so lange umzudeuten, bis sie von allem metaphysischem und damit rechtlichen Gehalt befreit sind; ein Unternehmen, das sich nur dadurch bewerkstelligen läßt, daß man dem wahren Sinn der fraglichen Rechtssätze, unter Beibehaltung ihrer sprachlichen Form, entweder leere logische Identitäten oder empirisch-psychologische Behauptungen unterschiebt.
LITERATUR - Leonard Nelson, Die Rechtswissenschaft ohne Recht, Leipzig 1917
    Anmerkungen
    1) Die zitierten Schriften JELLINEKs werden hier mit folgenden Abkürzungen bezeichnet:
      A = Allgemeine Staatslehre, Berlin 1914
      L = Die Lehre von den Staatenverbindungen, Wien 1882
      Ö = System der subjektiven öffentlichen Rechte, Freiburg i. Br. 1892
      R = Die rechtliche Natur der Staatenverträge, Wien 1880
      S = Die sozialethische Bedeutung von Recht, Unrecht und Strafe, Berlin 1908
    2) Wer sich über das Verhältnis dieser Probleme genauer orientieren will, sei auf meine Schrift "*Über das sogenannte Erkenntnisproblem", Göttingen 1908, verwiesen.