ra-2K.JoëlG. MehlisL. PohorillesE. H. SchmittB. RussellF. Strunz    
 
WOLFGANG SCHULTZ
Naturphilosophie und Mystik

"Heraklit schmähte in maßloser Selbstschätzung seine Mitbürger und schätzte das Spiel ihrer Kinder höher als ihre Politik, aber es hat zu diesem menschenhassenden, einsamen, in den Bergen schweifenden, Gras und Pflanzen fressenden, schwarzgalligen Philosophen auch ein vollständiges Gegenstück gegeben, nämlich den Philosophen der Wohlgemutetheit und des Wohlbefindens, den Demokrit. Und während dieser Demokrit über die nutzlose Geschäftigkeit der törichten Menschen beständig lacht und seine Weisheit deshalb die lachende heißt, ist Heraklit der weinende Philosoph. Zwischen und über beiden Gegensätzen steht stilgerecht vermittelnd der stets ernste Denker Anaxagoras, der weder je geweint, noch gelacht hat."

Mit Ausnahme der bereits in der ersten Studie zur antiken Kultur eingehend behandelten Systeme des PYTHAGORAS und des HERAKLIT haben wir alle Gebäude philosophischer Spekulation bis auf das des PARMENIDES herab durchschritten. Wir haben zugleich zu Beginn dieses Teiles darauf hingewiesen, daß jene früher untersuchte Philosophie des PYTHAGORAS und des HERAKLIT, obgleich der Zeit nach jünger als die ionische Naturphilosophie, doch beträchtlich älteren Traditionen entstammt als diese. Wir haben aber hierbei gleichzeitig bemerkt, daß die ionische Naturphilosophie ein historisches Problem ist, das zu lösen ist, wenn man das Erstehen dieser Naturphilosophie und auch noch außerdem jene alten Traditionen begreifen will, aus denen die ionische Naturphilosophie in irgendeiner Weise erwachsen sein muß, - sei es durch eine konsequente Fortbildung, sei es durch bewußten Widerspruch.

Aber in dem Augenblick, in welchem wir die Naturphilosophie als Problem betrachten, hört sie auch auf, für uns eine isolierte Tatsache zu sein, in diesem Augenblick beginnt sie vielmehr in eine lange Kette anderer Phänomene der geistigen Kultur einzutreten, die bisher nur zu sehr, aber in Wirklichkeit völlig mit Unrecht, zum Verständnis der antiken Philosophie vernachlässigt oder bloß nebenbei gestreift, keineswegs aber erschöpfend behandelt wurden. Diese Verschiebung ihrer bisherigen Stellung tritt mit Notwendigkeit ein; denn ein Problem kann überhaupt nur dann gestellt werden, wenn einzelne Tatsachen miteinander in Zusammenhang gebracht und aufeinander bezogen werden. Welche Phänomene der übrigen geistigen Kultur aber neben die bisher so isoliert betrachtete ionische Naturphilosophie gestellt werden müssen, ergibt sich aus nichts deutlicher als aus der eingehenden Betrachtung der späteren, fast insgesamt in der einen oder anderen Weise von ihr zwar beeinflußten, aber doch auch von anderen Strömungen getragenen, philosophischen Systeme. Diese Systeme sind soeben an unseren Augen vorbeigezogen, wir haben die Zusammenhänge und Abhängigkeiten in ihnen und unter ihnen besonders hervorgehoben, wir haben die isoliert gegebenen Glieder dieser großen philosophischen Tradition auf ein Minimum zu beschränken getrachtet: aber jetzt müssen wir daran gehen, diejenigen Stellen, an denen diese Tradition diskontinuierlich, ja in sich widerspruchsvoll zu sein scheint, also gerade die historisch-problematischen Stellen ins Auge zu fassen, um zu sehen, wie eine solche Diskontinuität nicht allein zwischen den Systemen, wie z. B. zwischen den Spekulationen eines THALES und daneben denen eines PYTHAGORAS, besteht, sondern wie weit sie sich bis tief hinein in die Kerne einzelner philosophischer Systeme erstreckt, so daß der Denker einen Widerstreit in sich selbst zu wiederholen scheint, den sein Volk als Ganzes erlebt haben muß. Eben hierdurch kommen wir vom Einzelnen zum Allgemeinen, vom besonderen philosophischen System zur Gesamtheit einer oder mehrerer philosophischer Richtungen und schließlich von der Gesamtheit philosophischer Spekulation überhaupt zur geistigen Kultur des betreffenden Volkes als solcher und zu den Grundlagen dieser Kultur. Die Richtung der Betrachtung, in der wir uns also jetzt bewegen wollen, wird in gewissem Sinne zu der bisher eingehaltenen entgegengesetzt sein; denn bisher trachteten wir, die Trümmer zusammenzuschließen, die Einheit in den Systemen hervorzuheben, der großen Kontinuität in der Entstehung der Systeme inne zu werden: jetzt hingegen werden wir bestrebt sein müssen, die erst eben hierdurch überblickbar gewordenen Lücken und Bruchstellen ersichtlich zu machen, nach den Ursachen derselben zu forschen, die bisher schon an einer reichen Menge von Beispielen deutlich gewordene Kontinuität der philosophischen Überlieferung als Forschungsprinzip zwecks Ausfüllung dieser Lücken zu verwenden und also erst gelegentlich dieser konstruktiven Ausgestaltung des unmittelbar historisch Gegebenen zum ursprünglichen Prinzip der Reduktion der voneinander scheinbar unabhängigen Glieder zurückzukehren.

Die Loslösung fernerer, der gesamten geistigen Kultur des hellenischen Volkes zugehöriger Phänomene vom Grundstock der traditionellen hellenischen Philosophie ergibt sich durch einen Blick auf das Material, welches uns nunmehr vorliegt, noch vollständiger als im ersten Abschnitt dieses Teils, wo wir nur grobe Umrisse in Auge fassen konnten. Die Philosophie zeigt sich auf Schritt und Tritt mit der Poesie, mit der Kunst, am ursprünglichsten und innigsten aber mit der Religion und allen religiösen und mystischen Strömungen verknüpft. Wir haben deshalb auch gleich eingangs und insbesondere unter Hinweis auf die Charakteristik der offenbar ältesten Philosophiesysteme diese mystische Richtung in der antiken Philosophie der wissenschaftlich aufklärenden Richtung der ionischen Naturphilosophie gegenübergestellt und eben in diesem Gegensatz unser fundamentales historisches Problem gefunden. Dasselbe läßt sich aber am übersichtlichsten in folgenden drei Fragen formulieren:
    1. Wodurch kennzeichnet sich die ionische Naturphilosophie?

    2. Wodurch kennzeichnet sich die in manchen Systemen mit ihr verknüpfte, in manchen wieder von ihr relativ unbeeinflußte, bei der Mehrzahl der Philosophen bemerkbare Mystik?

    3. Wie verhalten sich beide Geistesrichtungen zueinander?
Man sieht auf den ersten Blick, wie diese drei Fragen gerade so zusammenhängen, daß eine die andere in gewissem Sinne immer wieder von neuem voraussetzt, und wie sie derart mit aller Eindringlichkeit auf das zentrale Problem hinweisen, um das herum sie symmetrisch gruppiert und aus dem sie auch organisch erwachsen sind, nämlich auf das Problem: ob beide Richtungen voneinander isolierte Glieder einer philosophischen Tradition oder ob sie einer ursprünglichen Einheit entsprungen sind. Von unseren drei Fragen ist aber nur die dritte  und auch diese nur zum Teil, beantwortet worden, sofern der ganze vorliegende Teil dieses Buches sich mit dem Verhalten beider Geistesrichtungen zueinander beschäftigt hat, aber allerdings nicht mit ihrer spekulativen Bedeutsamkeit, sondern mit ihrer konkreten Wirksamkeit, mit dem Einfluß, den sie im tatsächlichen Verlauf der Entwicklung philosophischer Gedanken von THALES an bis herab auf PARMENIDES auf sämtliche in diesem Zeitraum entstandene Systeme genommen haben. Wie sich also beide Richtungen in dieser Zeit zueinander verhielten,  wissen wir, - wie sie sich in der vorangegangenen Zeit zueinander verhalten haben mögen, müssen wir erst untersuchen, um dann schließlich sagen zu können, wie sie sich zueiander verhalten,  nämlich nicht mehr historisch, sondern philosophisch, nicht mehr im Hinblick auf ihre spezielle Gestaltung bei den Hellenen, sondern im Hinblick auf ihre generelle Begründung im Wesen der menschlichen Seele. Indem wir aber an dieser Stelle bemerken, wie die philosophische Mystik nur ein Teil der gesamten Mystik des thaletischen Zeitalters ist, bemerken wir auch, daß ein unmittelbarer Zusammenhang der nach der Art der erratischen Blöcke [Findlinge - wp] abgesprengten Teile des ursprünglichen mystischen Grundstockes in den philosophischen Systemen mit eben diesem Grundstock, mit der großen mystischen Tradition des Volkes, bestanden haben muß. Wir sehen, wie die philosophische Mystik offenbar nur ein Glied ist im Gebäude dieser auch außerhalb der philosophischen Systeme überlieferten Mystik, wie sie also auch ebenso offenbar dem, der in dieses Gebäude noch nie eingetreten ist, unverständlich und unerklärlich sein muß. Wir kommen hierdurch zu unserer zweiten  Frage oben. Allerdings, auch sie können wir jetzt nur im Rahmen der philosophischen Mystik beantworten; aber wir sind verpflichtet, zumindest die über diesen Rahmen hinausweisenden Anknüpfungspunkte an die traditionelle Mystik ersichtlich zu machen. Und es scheint, als ob nach der Beantwortung dieser zweiten Frage das, worauf die erste  geht, gewissermaßen als Residuum übrig bleiben müßte. Ein solches Verfahren würde aber leicht den Eindruck erwecken, als wäre die Mystik der Alten ihr absolut Verständliches, ihre Naturphilosophie aber ihr absolut Unverständliches, gewissermaßen der irrationale Rest in ihrem Denken. In Wirklichkeit aber ist es umgekehrt: wir müssen ihre Mystik erst langsam durch eine rückschreitende Analyse aus ihrer Philosophie und diese wiederum insbesondere aus ihrer uns dem Wesen nach relativ verständlichsten Naturphilosophie erschließen. Und eben deshalb schlagen wir lieber den umgekehrten Weg ein. Zuerst soll die ionische Naturphilosophie charakterisiert, dann eine philosophische Mystik von ihr losgelöst werden. Die vollständige Beantwortung der dritten und letzten Frage aber müssen wir auf den Zeitpunkt verschieben, in welchem die gesamte, auch außerhalb der philosophischen Systeme stehende Mystik zur Sprache gekommen ist.


1. Charakteristik der
ionischen Naturphilosophie

Die spätere biographische Konstruktion des sophistischen und der folgenden Zeitalter hat ihre Vorstellung von der ionischen Naturphilosophie in zwei Anekdoten über den vermeinten Begründer derselben, über THALES, zusammen mit einer dritten über ANAXAGORAS, recht deutlich zum Ausdruck gebracht. Man soll dem THALES vorgeworfen haben, daß er ein armer Mann sei und sein Wissen nicht zu seinem Nutzen zu verwenden vermöge. Er aber bewies sogleich das Gegenteil durch die Tat. Aus seinen astrologischen Beobachtungen prognostizierte er sich ein reiches Öljahr, kaufte mittels Angeld [Anzahlung - wp] sämtliche Ölpressen in der Gegen von Milet auf und konnte sie zur Erntezeit zu einem beliebig hohen Preis verkaufen. So zeigte er, daß es für den Weisen ein Leichtes ist, reich zu werden, daß aber sein Sinn nicht hierauf gerichtet ist. Und als den ANAXAGORAS jemand frug, weshalb er sich nicht um die öffentlichen Dinge annehme und die Obsorge um sein Vaterland vernachlässige, soll ihm ANAXAGORAS geantwortet haben: "Lästere nicht; denn gar sehr liegt mir am Herzen das Vaterland!" und hierbei zeigte er empor zum Himmel. Die Sehnsucht nach der Vereinigung mit dem Überirdischen, die in diesen Worten liegt, ist ein mystischer Zug, den die Anekdote noch bewahrt hat. In ihm liegt der Grund für den auch bei einem THALES sonst unbegreiflichen Verzeicht auf die irdische Verwertung der aus seinem Wissen sich ergebenden Macht. Noch haftet dieses Wissen an den Sternen, noch kämpft es damit, alles Irdische in ihnen vorbildlich und abbildlich zu erschauen, noch wendet sich die Macht aus diesen Einsichten nicht dem Leben zu, es sei denn höchstens, um ab und zu den außen stehenden Gaffer zum Schweigen zu bringen. Aber das Zeitalter der anekdotischen Biographie hat dieses Warten nicht mehr verstanden. Ihm hat im Großen und Ganzen der Sinn für den mystischen Zug in der Antwort des ANAXAGORAS gefehlt und derselbe PLATON, dessen philosophische Idealfigur in der Gestalt des SOKRATES aus Mangel an rhetorisch-sophistischen Kenntnissen in den Tod gehen muß, war ein andermal Sophist und Rhetor genug, um zu erzählen, wie eine geschäftige und reizende thrakische Sklavin sich vor Lachen gar nicht halten kann, daß der freigeborene, große ionische Naturphilosoph THALES die Grube vor seinen Füßen nicht gesehen, sondern nach den Sternen geguckt hat und soeben in sie hineingefallen ist.

Man sieht deutlich genug, wie die erste dieser Anekdoten mit Absicht darauf gemünzt ist, den THALES als Vater der Börsenspekulanten zu kennzeichnen, damit ARISTOTELES durch sie seine Behauptungen illustrieren kann, wie dann die letzte von PLATON einer Komödie entnommen sein muß, in welcher THALES von seiner kleinen Haushälterin genuß Spaßhaftes zu erleiden haben mochte, - wahrscheinlich nicht weniger als der geduldige SOKRATES von seiner XANTIPPE oder in den Komödien von ARISTOPHANES. Wir würden uns aber völlig über das Wesen solcher Anekdoten täuschen, wenn wir es für möglich hielten, daß sie auch selbst von Komikern oder Sophisten ganz frei erfunden werden können. Wahrscheinlicher, wenngleich auch in dieser konkreten Fassung nicht zu beweisen, ist es, daß THALES einer frühen Zeit und einer verlorenen Sonderüberlieferung für den Erfinder der Ölpresse oder doch einer bestimmten Art von Ölpresse gegolten habe. Wieder scheinen wir durch diese Annahme des THALES als praktischen Menschen, der seine Kenntnisse für das Leben zu verwenden weiß, zu charakterisieren; denn er soll ja auch durch die Anlage eines Kanals de, KRÖSUS den Halysfluß abgeteilt und so sein Wissen technisch verwertet, ja er soll sogar Politik getrieben und Teos als den Mittelpunkt Ioniens zum Sitz einer Bundesverwaltung vorgeschlagen haben. Aber wenn wir richtig vermuteten, er habe irgendwann einmal als Erfinder der Ölpresse gegolten, dann müssen wir doch in diesem anekdotischen und nichthistorischen Moment, denke ich, mehr suchen. Ich für meinen Teil vermute darin eine Annäherung des THALES an den halbgöttlichen Aristaios,  den Erfinder der Olivenzubereitung, der Bienenzuch, der Wollbearbeitung und des Gerinnenmachens der Milch, - lauter Kenntnisse, die ihm von den Nymphen, in deren Höhle er aufwuchs, gelehrt wurden, - d. h. die Anekdote von Ölpresse müßte ihrem Kern nach ein entfernter Sprößling des Sagenkreises von den sieben Weisen sein, in dem die sieben Weisen als die sieben Söhne des Apollo  (die Wochentage) gedacht und also selbst göttlich vorgestellt waren. Derart aufsteigend bemerkt man aber in der letzten Anekdote von der Grube und den Sternen noch eine ältere Schicht der Überlieferung. Unmittelbare Zeugnisse vom Zeitalter der Kosmologen bekräftigen, daß einem PHEREKYDES von Syros, dem Zeitgenossen und Widersacher des THALES, Schluchten, Gruben, Höhlen, Türen und Pforten Symbole waren für Auf- und Untergang der Seelen. Es hat sehr viel Verlockendes an sich, die streng antithetische Art hellenischer Auffassung auch hier wiederzuerkennen: THALES fällt in die Grube, die ihm PHEREKYDES gegraben hat, hierbei - und nicht bei der Betrachtung eines Weltkampfes im Gedränge und in der Hitze, wie sein Grundstoff, das Wasser, verdampfend, sondern das Auge zu den höchsten Höhen der Sterne gerichtet - geht er zugrunde. Sollen wir noch weiter gehen, die Grube als die Höhle der Nymphen deuten, in welcher dieser Aristaios  ja auch erzogen worden war, die reizende, kleine thrakische Sklavin aber als eine der Nymphen selbst, derart, daß die beiden Anekdoten sich jetzt einheitlich aneinanderschlössen und selbst die Äußerlichkeit bedeutsam würde, daß die vorerwähnten Symbole des PHEREKYDES PORPHYRIOS in seiner Schrift de antro nympharum  überliefert hat? - Die Phantasie kennt keine Schranken und wir wissen, daß sie allein die Mutter aller unserer Kenntnisse ist. Deshalb müssen wir sie hin und wieder spielen lassen, um hernach recht ernst auf ihre Heiterkeit herabzublicken.

Wie immer wir aber auch die Anekdoten über einen THALES, über die sieben Weisen oder über andere ionische Naturphilosophen deuten mögen: den Weg, den wir soeben gelegentlich unserer Deutung von der rationalistisch-sophistischen Auffassung späterer Zeit an bis zu den ihr zugrunde liegenden letzten mystischen Symbolen haben einschlagen müssen, den werden wir auch sonst immer wieder von neuem zu wandern haben; denn wenn man sich, wie THALES, zu einer Mystik in ständigem, offenbaren Gegensatz befindet, dann muß man dieselbe verstanden und erlebt und überlebt haben, dann ist man selbst in dieser Gegensätzlichkeit von ihr noch ganz durchtränkt, dann gibt man eben Deutern Gelegenheit, aus dem System heraus zuerst mystische, dann sophistische Biographie zu konstruieren. Aber was wir erfassen wollen, ist nicht der THALES im Licht und in der Auffassung der späteren Zeiten, sondern der THALES, der uns als der Begründer der ionischen Naturphilosophie entgegentritt. So wenden wir uns wieder seinem System zu: Sehen wir, ob die hieraus sich ergebende Charakteristik mit der in den biographischen Notizen gelegenen übereinstimmt!

Der zunächst sich aufdrängende und somit äußerlich auffälligste Zug der von THALES begründeten ionischen Naturphilosophie ist ihr Streben nach Orientierung zur Umgebung, nach Orientierung zum Weltall und in unmittelbarem Zusammenhang hiermit, nach Aufstellung von ordnenden und leitenden Gesichtspunkten. Die Geographie dient ihr dazu, den Wohnort der Menschen, die Erde, konstruktiv-symmetrisch auszubauen, d. h. nach einem Stilprinzip, nach dem Prinzip des kosmologischen Analogieschlusses. Dadurch wird sie aus einem wirren Knäuel von Einzelbeobachtungen zu einer gegliederten Einheit, deren Entfaltung vom Mittelpunkt des Erdkreises aus die Erdkarte der thaletischen Zeit zu veranschaulichen trachtet. Das Symbol dieser Einheit ist die Insel Delos, von der noch EPIMENIDES, mystisch genug, gesagt haben soll:
    Denn ein Nabel war  weder inmitten der Erde, noch des Meeres.
    Gibt  es aber einen, so ist er den Göttern offenbar, den Menschen unklar.
Wir sehen also, wie ein von der Mystik weit weg zur Wissenschaft führendes Prinzip dennoch in der Mystik selbst gewurzelt hat; denn Delos ist nicht nur in dem erwähnten figürlichen Sinn eine Einheit: es ist eine solche auch deshalb, weil die Summe der Zahlenwerte der Buchstaben dieses Wortes die Zahl 55 ergibt, die zugleich die Einheit und die Zehnheit, nämlich die Summe der zehn ersten Zahlen ist. Diese mystische Einheit, die in dem Wort Delos  lag, hat aber eben THALES überwunden, indem er ihr einen neuen, nicht mystischen Sinn zuwies. Sie wurde ihm zum Orientierungszentrum auf der Erdscheibe. Wie THALES, von diesem Zentrum ausgehend, die Schiefe des Himmelsäquators im Ansteigen der Gebirge auf der Erdscheibe gegen Norden zu durch das Bild des vorne hoch gebauten Nachens, wie er ferner die Nilüberschwemmungen durch das periodische Schwanken dieses Nachens und endlich die mythologischen Weltfluten durch Stürme im Weltmeer erklärte, haben wir ebenso auseinandergesetzt wie seine geometrischen Konstruktionen, in denen neuerlich der kosmologische Analogieschluß waltet und durch die er die Himmelsphänomene unmittelbar auf die Erde projezieren, ja sogar die scheinbare Breite der Sonnenscheibe nicht ungenau messen konnte. Im Zentrum dieser ganzen Welt aber steht Delos. So wie es vier Weltrichtungen gibt, haftet diese Insel auf dem Meeresgrund mit vier Säulen. Dort mußte die Welt im Meeresgrund verankert sein, dort mußte auch die tiefste, abgründlichste Tiefe zum Urmeer hinabführen. Der delische Taucher war dem ganzen Altertum sprichwörtlich für die Vertiefung in das Unergründliche, ja ein gewisser Kroton  soll sogar unter dem symbolischen Titel "Taucher" eine Schrift verfaßt und vom Werk des unergründlichen HERAKLIT als Ansicht des KRATES, der es zuerst veröffentlichte, überliefert haben, nur ein delischer Taucher könne es ergründen, ohne darin zu ertrinken. THALES aber hat sich in diese Tiefe hinabgewagt. Indem er durch sie hindurch wieder zur Grundlage der Welt, zum unendlichen Okeanos  kam, auf welchem der Erdnachen nach seiner Lehre schwimmt, glaubte er ihr Wesen, ihre innere Einheit, aus der sie besteht, gefunden zu haben: das Wasser. Aber diese Einheit ist nicht mehr etwas Mystisches, sie bedeutet vielmehr wieder nur eine neue, vom Mystischen weg zur Wissenschaft hinführende Deutung jenes ursprünglichen mystischen Urgrundes. Okeanos  war noch Vater der Welt, aber nicht mehr bloß Gott, sondern auch Stoff. Wer hat die Welt gezeugt? fragen die Kosmologen. Woraus besteht die Welt? Woraus entstand sie? frug THALES, frug nach ihm jeder Philosoph, der in die Fußstapfen der ionischen Naturphilosophie trat. Auch diese Frage nach dem einheitlichen Wesen oder nach dem Ursprung entspricht dem Bedürfnis nach Ordnung, nach Einsicht und noch nach mehr: nach Erklärung. Denn darin scheint das Wesen aller Erklärung zu liegen: daß eine Mannigfaltigkeit von Dingen auf einfachere Prinzipien reduziert und aus diesen heraus wieder dargestellt wird, daß man also, wo immer sie gelungen ist, mittels einer wissenschaftlichen Hypothesenbildung vom Prinzip stets zur Wirklichkeit, von der Wirklichkeit wieder invers [umgekehrt - wp] zum Prinzip gelangen kann. Und darin nun liegt nach dem Orientierungsstreben der zweitnächste Hauptzug der ionischen Naturphilosophie, nämlich in diesem durch die Stellung des Kausalproblems im besonderen und durch die wissenschaftliche Problemstellung im allgemeinen gegebenen theoretischen Verhältnisse zur Wirklichkeit. Und eben deshalb bemerken wir bei THALES zuerst jenes bis dahin noch gar nicht bekannte und ansich so eigentümliche, theoretische Verhalten zur Welt, das ihm von Seiten seiner Umgebung jenen Spott zugezogen haben soll, der in Wirklichkeit, wie wir an jenen beiden Anekdoten über ihn gezeigt haben, eine Konstruktion späterer Zeit ist.

Die an THALES anschließendes ionische Naturphilosophie bestätigt die soeben gegebene Charakteristik, ohne sie durch wesentliche Züge zu bereichern. Sie verdeutlicht die fortschreitende Vervollkommnung der in ihr bereits angedeuteten Tendenz und die Erweiterung durch neu hinzutretende Materialien: sie zeigt, wie die Beobachtung in immer weiterem Umfang verwendet wird, wie sich sogar Ansätze zum Versuch und zur Differenzierung der Phänomene nach den bekannten Methoden der induktiven Forschung einstellen; wir sehen sie immer mehr zum Experiment auf der einen Seite, zur Technik auf der anderen und damit sowohl zur Wissenschaft als auch zur konkreten Herrschaft über praktische Dinge mittels der wissenschaftlichen Einsichten hindrängen: aber der Grundzug dieser ionischen Naturphilosophie und der naturphilosophischen Richtung in den außerionischen Systemen bleibt stets der schon bei THALES so deutlich erkennbare. An die Stelle der mystischen Beherrschung der Welt durch Symbole, welche in ihre innersten Tiefen dringen, ist die theoretische Betrachtung der Welt durch Gedanken, welche hoch über allem Irdischen schweben, getreten. Und die legendäre, traditionelle Biographie bringt dieses Verhältnis ebenso deutlich zum Ausdruck, wie es sich aus der Betrachtung des Systems selbst erschließt.


2. Die Mystik in den
ersten philosophischen Systemen


A. Traditionelle Biographie
1. Heraklits Ende

Die biographisch-anekdotischen Quellen fließen nicht nur über THALES, sondern auch über die anderen bisher behandelten Denker reichlich genug, so daß es sich ansich schon lohnt, sie bis zu ihren Ursprüngen zurückzuverfolgen und zu untersuchen, aus welchen Traditionen sie entspringen und wie viel von der eigentlichen Lehre sie noch in sich bergen. Daß ihnen ein systemgeschichtlicher Wert in vielen Fällen ganz unmittelbar zukommt, konnten wir schon gelegentlich mancher mit PYTHAGORAS verknüpften Legenden nachweisen. Auch die offenbar ebenfalls durch die Komödie erfundene Erzählung vom Tod des HERAKLIT, der sich habe von der Sonne ausdörren lassen, um nicht mit feuchter Kehle in den Hades zu gehen, wurde von mehr als einer Seite als Anspielung auf sein System erkannt. Wir wollen ihnen genauer nachgehen und zusehen, welcher Wert ihnen für die Charakteristik des Mystischen im besonderen und für die Rekonstruktion der alten Lehren im allgemeinen zukommt: denn die Kontrollen anhand des sicher Überlieferten steht uns ja noch immer nach einem solchen Exkurs auf den unsicheren Boden der biographischen Erfindungen frei.


2. Der weinende, der lachende
und der ernste Philosoph

Das Beispiel, welches wir soeben der biographischen Überlieferung des HERAKLIT entnommen haben, führt uns sofort tief in unsere Materie hinein. Ein späteres Zeitalter hat sich darin gefallen, nicht nur zu erzählen, wie dieser Philosoph in maßloser Selbstschätzung seine Mitbürger schmähte und das Spiel ihrer Kinder höher schätzte als ihre Politik, sondern es hat auch zu diesem menschenhassenden, einsamen, in den Bergen schweifenden, Gras und Pflanzen fressenden, schwarzgalligen Philosophen ein vollständiges Gegenstück erfunden, nämlich den Philosophen der Wohlgemutetheit und des Wohlbefindens, den DEMOKRIT. Und während dieser DEMOKRIT über die nutzlose Geschäftigkeit der törichten Menschen beständig lacht und seine Weisheit deshalb die lachende heißt, ist HERAKLIT der weinende Philosoph. Zwischen und über beiden Gegensätzen steht stilgerecht vermittelnd der stets ernste Denker ANAXAGORAS, der weder je geweint, noch gelacht hat. Aber hierin liegt nicht bloß das Streben nach der Konstruktion wirkungsvoller Charaktergegensätze oder äußerliches Symmetriebedürfnis, wie es darin zutage tritt, daß man der heimlichen Reise des HIPPOKRATES zum Lachenden DEMOKRIT in Abdera eine ebenso heimliche des MELISSOS zum weinenden HERAKLIT in Ephesos zur Seite gestellt hat, sondern beträchtlich mehr. Schon jene Äußerung über das Kinderspiel, die dem HERAKLIT auf dem Weg zum Artemis-Heiligtum entfährt, erinnert ganz deutlich an das uns erhaltene Fragment vom spielenden Knaben, der mit der Ewigkeit gleichgesetzt ist. Die Dreiheit der Gemütszustände: Weinen, Lachen und zwischen beiden vermittelnd der Ernst verweist auf das Grundprinzip der heraklitischen Dialektik. Aber noch mehr! Wir hatten Gelegenheit, zu zeigen, daß das Weinen dem Wasser, das Lachen dem Feuer, beide Gemütszustände dem Hermes  oder dem sie vereinigenden Logos  zugehören. So scheint es, als hätte sich die spätere sophistische Dialektik eines der Grundgedanken des heraklitischen Systems, in dem das Wesen seines geschichtlichen Zusammenhangs mit den nämlichen Strömungen hervortritt, die auch im System des PYTHAGORAS zum Ausdruck kamen, bemächtigt, um das, was ursprünglich mystisch gemeint war, in ihrem eigenen Sinn auszubauen.


3. Die Entstehung von Sophismen

Wir lassen scheinbar den eigentlichen Zusammenhang außer Acht und wenden uns einigen anderen Erzeugnissen der Sophistik zu, welche, obgleich nicht eigentlich biographischen Charakters, doch das Gepräge einer ganz analogen Entstehung auf sich tragen.

Man kennt allgemein das Sophisma, welches noch heute unter dem Namen "der Kreter" oder auch "der Lügner" in jedem Lehrbuch der Logik als Paradigma zu finden ist und das ob seiner erkenntnistheoretischen Feinheit scharfsinnige Denker immer wieder von Neuem beschäftigt. Ein Kreter sagt: Alle Kreter sind Lügner. Frage: Hat er jetzt gelogen oder die Wahrheit gesagt? Den Anknüpfungspunkt für die Konstruktion dieses Sophismas erblicke ich aber in dem Satz, mit welchem der Kreter EPIMENIDES, selbst wieder den HESIOD nachahmend, seine Theogonie einleitete: "Die Kreter sind stets Lügner, wilde Bestien, gierige Bäuche." Schon die Imitation des KALLIMACHOS hebt den logischen Widerspruch hervor, der darin liegt, daß ein Kreter alle Kreter, also auch sich selbst, der dies sagt, lügen läßt, indem sie behauptet, daß ein von Kretern in der Absicht erbautes Grab, um kundzugeben, daß der darin Begrabene tot sei, den Beweis für die Unsterblichkeit des Bestatteten erbringt: "Die Kreter sind stets Lügner; auch dein Grab, o Herr, haben Kreter gebaut, du aber starbst nicht: denn du bist ewig."

Das Problem des Kausalregresses haben die Sophisten auf die Form gebracht, ob die Henne früher ist oder das Ei. Wer erkennt nicht die Beziehung dieser Frage auf das orphische Weltei?

Im Gorgias  des PLATON verspottet SOKRATES die Behauptung des KALLIKLES, man müsse jeden Genuß ausgenießen, um glückselig zu wsein, indem er fragt, ob auch, da Kratzen mit Genuß verbunden ist, ein mit Kratzen zugebrachtes Leben glückselig heißen dürfe. Wir erinnern uns, daß PHERKYDES von Syros an der Läusekrankheit zugrunde gegangen sein soll. Besteht zwischen beiden Stellen ein innerer Zusammenhang - und dies ist wahrscheinlich, da in der Krankheit des PHEREKYDES eine mystisch angedeutete Apotheose gelegen haben dürfte - dann hat diesmal auch PLATON eine mystische Überlieferung scheinbar biographischen Inhaltes zu einem sophistischen Argument ausgestaltet.


4. Zenos Paralogismen

ZENON, der Eleate, der Erfinder jener aporistischen Beweisgänge, welche das ganze Altertum so rege beschäftigt haben, wurde, weil er stets einander entgegengesetzte Behauptungen antinomistisch mit gleicher Stufe erwies, der Doppelzüngige genannt. Als ihn der Tyrann NEARCHOS, den er hatte stürzen wollen, foltern ließ, soll ZENON sich die Zunge abgebissen und sie dem Tyrannen ins Gesicht gespien haben. Eine andere Version läßt ihn mit den Zähnen das Ohr des Tyrannen erfassen und abbeißen. Das Organ des Sprechens und das des Hörens stellt die Überlieferung derart einander gegenüber, beides sichtlich in Bezug auf den logos,  den der frevlerische Tyrann nicht vernehmen oder den ZENON ihm nicht mitteilen will. Das Paralogisma von Achilles  und der Schildkröte scheint ZENON aus einer alten mystischen Tradition konstruiert zu haben. Die Schildkröte ist von altersher ein Symbol für die Himmelswölbung. Wie langsam scheint sich diese zu bewegen, wie rasch der göttliche Sohn des Peleus;  aber wer wollte mit der Sonne um die Wette laufen? Daß die Schildkröte jenen Symbolwert besaß, geht daraus hervor, daß Hermes  aus ihr seine Lyra, das Symbol für das harmonische All, verfertigte, und daß es mit der Schildkröte eine eigene Bewandtnis hatte, entnehmen wir daraus, daß die pythagoräischen Symbole verbieten, Schildkröten ins Haus zu nehmen und daß schließlich dieselbe Überlieferung, welche die Legenden von den Ureinwohnern der Insel Samos mit PYTHAGORAS in Zusammenhang bringt, das Erscheinen einer weißen Schildkrötenart auf Samos als besonders wichtig eigens berichtet. Wie ZENON durch eine Umdeutung des Wettlaufes mit der Sonne zum Problem der konvergenten unendlichen Reihe gekommen ist, verstehen wir in dem Augenblick, in welchem auch wir das Symbol Schildkröte  als die wirkliche Schildkröte betrachten. Noch klingt die ursprünglichste, an manche scherzhaft-symbolische Volksrätsel erinnernde Fassung in der Frage des ZENON an: Wie kann es kommen, daß das Langsamste vom Raschesten doch nie eingeholt wird?

Das Paralogisma vom Hirsekorn ergibt sich als antithetische Konstruktion im Sinne des pythagoräischen Problems von der Sphärenharmonie. Der Klang der Sterne ist so groß, daß er nicht mehr,  der des Hirsekorns so klein, daß er noch nicht  gehört wird.

Schließlich das Paralogisma vom fliegenden und doch zugleich ruhenden Pfeil. Der Pfeil ist ein pythagoreisches Symbol. Er ist der Pfeil auf dem Bogen des weltschöpfenden Eros, also die Welt oder das Wesen selbst, das von der Gottheit weg zu ihr zurückfliegt und im nunc stans  [zeitloses Jetzt - wp] ewig verharrt. Sein uns bekanntes ältestes Vorbild ist der sagenhafte Pfeil des Abaris,  den Abaris  vom hyperboräischen Apollon  empfangen hat und der dieser Apollon  selbst oder die Sonne ist, welche einem Pfeil gleich, überall gegenwärtig, den Himmelsraum durchmißt.

Es war von Interesse, diese für jene Zeit und für ZENON selbst so überaus charakteristischen Umgestaltungen von Symbolen zu dialektischen Problemen hervorzuheben, obgleich ZENON noch außerhalb des Rahmens der vorliegenden Untersuchung steht, weil wir bei ihm das unmittelbar beobachten können, was wir sonst überall zwar zu vermuten aber bloß psychologisch glaubwürdig zu machen vermögen. Und die an seine Person anknüpfende Legende hat ihm vergolten, was er selbst an seiner Überlieferung getan hatte: seine Doppelsinn kündende Zunge, das Ohr des Tyrannen, der Mörser, in dem er schließlich zu Staub - er, der Träger des großen logos,  zu Teilchen kleiner als seine Hirsekörner - zerstampft wird: das alles ist antithetisch-sophistische Konstruktion.


5. Die lakonische Brachylogie

Die Größten wie die Kleinsten unter den Sophisten rühmten sich eineir besonderen Kunst: je nach Bedarf über dieselbe Sache lang, aber auch kurz reden zu können. Rhetorische Breite und einsilbige Fülle wollten sie zugleich beherrschen. Ihre Brachylogie [Kurzwörtigkeit - wp] aber bezeichneten sie selbst als lakonisch. Sie wollten in ihr nachahmen, was ihnen durch die lakonische Apophthematik [Sinnsprüche - wp] vorgebildet war. Diese Apophthematik aber steht in einem innigen Zusammenhang mit der populären philosophischen Tradition, und wir wollen sie insbesondere im Hinblick auf THALES und die sieben Weisen näher besprechen.

Die Apophthematik ist ihrem eigentlichen Wesen nach mit der Erothematik [Fragekunst - wp] auf das Innigste verbunden. Die lakonischen Antworten, auch die der sieben Weisen überhaupt und des THALES im Besonderen, hängen mit einer ganz bestimmten Art, Fragen zu stellen, zusammen. Noch die Neupythagoräer haben die Bedeutung dieses Zusammenhanges gekannt und gewürdigt. JAMBLICH bring die Symbole seiner Sekte damit in Verbindung. Auch diese Symbole, sagt er, sind Antworten auf dreierlei Arten von Fragen:
    1. Was ist es?
    2. Was ist es am meisten?
    3. Was soll man tun und lassen?
Und besonders die Wahrheit, die in den Fragen der zweiten Art liegt, ist, meint er, die nämliche wie die der sieben Weisen. Denn auch die sieben Weisen haben nicht untersucht: Was ist das Gute? sondern: Was ist das Beste? So fragen auch die Pythagoräer nicht nur: Was sind die Inseln der Seligen? Sonne und Mond! Was ist das Heiligtum in Delphi? Das Geviert, welches die Harmonie der Sirenen ist!", sondern sie fragen auch: "Was ist das Gerechteste? Opfern! Was ist das Weiseste? Die Zahl; zu zweit jedoch der, welcher den Dingen einen Namen gab!" Ganz ähnlich antwortet auch das "Sich selbst Erkennen" auf die Frage: "Was ist am schwersten?" oder das "Der Gewohnheit Folgen" auf die Frage: "Was ist am leichtesten?"

Aber damit daß JAMBLICH die Sprüche der Weisen mit den pythagoräischen Symbolen in eine Linie stellt, kennzeichnet er dieselben als Symbole. Die Überlieferung stimmt mit seiner Ansicht überein. Die Sage berichtet, jeder der sieben Weisen habe einen Spruch für eine der sieben Säulen des Apollo-Heiligtums in Delphi beigesteuert. WILHELM HEINRICH ROSCHER hat in ebenso scharfsinniger, wie überzeugender Weise die auf die inschriftliche Anordnung dieser heiligen und vor allem auch von symbolisch-mystischem Geist getragenen delphika grammata  bezüglichen Quellen untersucht und damit ein für alle Mal den wichtigsten, weil altertümlichsten Teil der schwankenden Apophthematik auf einen festen, sakralen Kern zurückgeführt. Wir aber sind, indem wir hier eine literarische Überlieferung, mythologische Forschung, archäologische Untersuchung und philosophische Erwägung einander an der nämlichen, durch die inschriftliche Anordnung der delphika grammata  gegebenen Stelle begegnen sehen, endlich dort angelangt, wo wir die Umgestaltung mystischen Tiefsinns in sophistische Brachylogie geradezu mit Händen greifen und ganz unmittelbar beobachten können. Diese Stelle erfordert jedoch auch noch aus einem zweiten Grund ein ganz besonderes Interesse. An ihr sehen wir ebenso unmittelbar, wie das zur sophistischen oder profanen Umdeutung taugliche Symbol herrenlos ist und im Laufe der Zeit unter Benützung der mit ihm verknüpften mythischen Überlieferung sich unter den historischen Personen seinen Herrn sucht und dadurch die Geschichtsschreibung selbst legendär beeinflußt; denn dies und nur dies ist ja das Wesen der Legende, nämlich das Hineinspielen des vorangegangenen Mystischen oder Symbolischen in die eben vergangene Wirklichkeit. So war wohl schon von den grauesten Zeiten her mit den sieben delphika grammata,  welche nach anderer und wohl älterer Überlieferung die erste Pythia  (Phenomene) als Mund der Gottheit verkündet haben soll, der Gedanke verknüpft, daß diese sieben Worte der Gottheit von ihren sieben Söhnen stammen. Diese sieben Söhne begann man unter den Menschen zu suchen und so wurden die delphischen Sprüche den halbhistorischen, ins Legendäre umgestalteten sieben Weisen zugeteilt.


6. Legendenbildungen

Wie die Legende bereit war, sich prägnanter historischer Gestalten zu bemächtigen, zeigt der ungeschickt genug gefälschte Brief, den TRASYBULOS an einen anderen Weisen, nämlich an PERIANDER von Korinth, gerichtet haben soll. Demnach hätte Thrasybulos vor einem Sklaven desselben die höchsten Häupter in einem Mohnfeld abgehauen, um hierdurch symbolisch anzudeuten, daß jener die vornehmsten Bürger seiner Stadt töten soll. Dieser Zug ist nichts weniger als historisch, sondern rein legendär, denn einer aus dem Kollegium der sechs ersten römischen Könige, TARQUINIUS SUPERBUS, tut genau dasselbe. Es muß in diesem Fall ein inniger Zusammenhang zwischen der unteritalischen und der hellenischen Sagenbildung bestanden haben.

Ein solcher Zusammenhang tritt nicht minder deutlich in der Legende von Parmiskos  aus Metapont zutage, der in die Höhle des Trophonios  hinabstieg und, als er heraufkam, nicht mehr lachen konnte. Als er die Pythia  deshalb befrug, sagte sie: "Um das freundliche Lachen fragst du mich. Unfreundlicher? Die Mutter wird es dir zuhause geben. Sie ehre besonders." Parmiskos  hoffte nun, sobald er nach Hause kommen und seine Mutter sehen werde, wieder lachen zu können. Als dies aber durchaus nicht eintrag, glaubte er sich getäuscht. Aber durch Zufall kam er nach Delos, bewunderte die Insel und ging schließlich auch, sich das Heiligtum der Leto,  der Mutter des Apollo,  ansehen. Aber während er dort ein dieser ihrer Würde entsprechendes Standbild erwartete, erblickte er ein unförmiges Holzbild und lachte darüber unbändig. Alsbald erinnerte er sich nun des Spruches der Pythia  und ehrte die Göttin besonders. Er schenkte ihr einen silbernen Mischkrug, welcher sich im Inventar des Artemistempels zu Delos angeführt gefunden und seinen Stifter davor geschützt hat, einfach bloß als legendäre Parallelfigur zum Brutus  der römischen Sage betrachtet zu werden, der als erste seine Mutter, die Erde, umarmte und küßte. Aber obgleich in unserem Fall ein Denkmal das literarisch überlieferte Wunder des Parmiskos  zu bezeugen scheint, muß man doch noch vorsichtig sein, wenn man einen historischen Kern aus der Legende herausschälen will. Die Verheißung der Pythia,  daß der Anblick der "Mutter" erfreut und den Traurigen lachen macht, erhält sogleich einen tiefen mystischen Sinn, wenn man sich an Demeter  (Deo) erinnert, die durch den Anblick der enthüllten Geschlechtsteile der Baubo  aus tiefster Betrübnis erheitert wird. Die Gleichung "Mutter" - "Mutter Erde" - "weiblicher Geschlechtsteil" bedarf für den Kenner religionshistorischer Zusammenhänge keiner Begründung. Die Mutter gebiert, Baubo  schwingt das Iakchoskindlein  unter ihrer Scham. Die schrecklichen Gesichter in der Trophonioshöhle verblassen im Angesicht der Mutter und der an ihren gesegneten Leib geknüpften Verheißungen. Das Lachen selbst zählt zu den mystischen Lauten. Die Legende von Parmiskos  und die Bezeugung seines Weihgeschenkes sagen uns nicht mehr, als daß es einen Mann dieses Namens gegeben hat. Welche Ereignisse ihm zustießen und seinen Besuch der Höhle des Trophonios  mit seinem im Artemistempel auf Delos (als im Nabelpunkt der damaligen Welt) dargebrachten Weihegeschenk in Zusammenhang setzen und dann immer weiter ausschmücken ließen, vermögen wir nicht mehr festzustellen.

LITERATUR Wolfgang Schultz, Studien zur antiken Kultur, Bd. 2 (Altionische Mystik), Wien und Leipzig 1907