cr-2V. NorströmM. Nemovon HartmannW. TatarkiewiczA. Messer     
 
GOTTLOB FRIEDRICH LIPPS
Mythenbildung und Erkenntnis
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"Der naive Mensch weiß nichts vom Prozeß seines Wahrnehmens und kann doch keine Bewegung und Veränderung wahrnehmen, ohne daß zugleich Gegenstände, an denen er früher Ähnliches beobachtet hat, zu erneuter Wahrnehmung gelangen."

"Naiv ist der Mensch, wenn er seiner Denktätigkeit nicht gewahr wird und darum die Erkenntnisse, zu denen er kommt, für den unvermittelten und unbedingten Ausdruck bestehender Tatsachen hält, ohne sich über ihr Vorhandensein zu wundern und nach ihrer Herkunft zu forschen."

"Wir sind berechtigt, überall da von Mythenbildung zu reden, wo der wahrnehmende Mensch Gegenstände als unbedingt und schlechthin bestehend annimmt und all das in ihnen zu finden glaubt, was er selbst durch den Wahrnehmungsprozeß erst in sie hineingelegt hat."


Vorwort

Die hier vorliegende Abhandlung ist die Frucht einer durch eine Reihe von Jahren fortgesetzten Beschäftigung mit den Grundfragen der Philosophie, zu denen ich durch meine "Untersuchungen über die Grundlagen der Mathematik" (Philosophische Studien, Bd. 9, 10, 11, 14) geführt worden bin.

Nachdem ich erkannt hatte, daß es gewisse (von mir iterierbar [wiederholbar - wp] genannte) Bestimmungen des Denkens sind, die der Mathematik zugrunde liegen, fand ich, daß auch beim Erfassen der Wirklichkeit nur der Vollzug der Bestimmungen des Denkens in Betracht kommt. Es galt hier insbesondere das erfaßbare Dasein der Wirklichkeit und das Zusammenbestehen der Daseinsweisen zu unterscheiden, um eine Einsicht in die zeitlich-räumliche Form der Wirklichkeit zu gewinnen. Die Wirklichkeit selbst stellte sich aber als die den Raum erfüllende und in der Zeit sich verändernde Körperwelt dar. Dabei ergab sich, daß die Raumkörper mit gewissen, ihre Zustandsänderung beherrschenden Parameter zu behaften sind, und daß die Parameter der leblosen Körper nur von den augenblicklichen Zuständen, die Parameter der belebten Körper auch von den vergangenen Zuständen abhängen und so eine Entwicklung ermöglichen.

Das objektive Aufleben der Vergangenheit bei den Einwirkungen, denen der lebendige Körper gegenwärtig unterliegt, bildet die Unterlage des Bewußtseins, dessen Inhalte sich als Gefühle und Empfindungen auf die Erregungszustände quantitativ bestimmbarer Elemente gründen. Die Kombinationen dieser Elemente machen die mannigfach abgestuften Beziehungen der Ähnlichkeit und Verwandtschaft begreiflich, die zwischen den Qualitäten zusammengehöriger Bewußtseinsinhalte bestehen. Den Gedanken, die Bewußtseinselemente auf Kombinationen von Elementen zu gründen, habe ich bereits in der Abhandlung "Einleitung in die allgemeine Theorie der Mannigfaltigkeiten von Bewußtseinsinhalten" (Philosophische Studien 20) entwickelt, allerdings ohne den Zusammenhang mit der hier gegebenen Lösung des Problems vom Erfassen der Wirklichkeit.

Das Aufleben der Vergangenheit bedingt aber nicht bloß die im Bewußtsen tatsächlich sich vollziehenden Unterscheidungen und Verknüpfungen des Denkens. Es veranlaßt überdies eine durch frühere Erlebnisse beeinflußte Auffassung der Dinge. Dies macht uns den naiven Menschen verständlich, der vom Prozeß seines Wahrnehmens nichts weiß und doch keine Bewegung und Veränderung wahrnehmen kann, ohne daß zugleich Gegenstände, an denen er früher Ähnliches beobachtet hat, zu erneuter Wahrnehmung gelangen. Da er nun zunächst und hauptsächlich an seinem eigenen Leib Bewegungen und Veränderungen erlebt hat, so findet er vor allem sich selbst in den betracheten Gegenständen wieder. Er heftet so sein eigenes Sein, ohne sich dessen bewußt zu werden, den Gegenständen an und glaubt in den Naturvorgängen das Wirken lebender Wesen wahrzunehmen. Darin besteht die Mythenbildung, die überall auftritt, wo der wahrnehmende Mensch Gegenstände als unbedingt und schlechthin bestehend annimmt und all das in ihnen zu finden glaubt, was er selbst durch den Wahrnehmungsprozeß in sie hineingelegt hat.

Im Widerstreit gegen die Mythenbildung entwickelt sich die kritische Weltbetrachtung. Sie erfordert keine neu entstehenden geistigen Vermögen, sondern lediglich ein umfangreicheres und stärkeres Aufleben der Vergangenheit in der Gegenwart, wobei sich Widersprüche geltend machen, die zu der Unterscheidung zwischen der Wahrnehmung der Dinge und ihrem Wesen führen. Das Wesen der Dinge wird, wie die Geschichte der Philosophie lehrt, zunächst als eine der Sinnenwelt unmittelbar zugrunde liegende oder als eine sie übersteigende Wirklichkeit zu begreifen gesucht. Zu einer völligen Durchführung des kritischen Verhaltens gelangt man jedoch erst dann, wenn man den Grund für das Wesen der Dinge ebenso wie für ihre sinnliche Wahrnehmung im eigenen Denken und Wahrnehmen sucht.

In diesem Sinne die Grundlagen der kritischen Philosophie zu entwickeln ist die Aufgabe der folgenden Untersuchungen.



Erster Abschnitt
Naive und kritische Weltbetrachtung

I. Kapitel
Der Ursprung der Philosophie

Durch nichts wird der denkende Mensch so sehr in Verwunderung versetzt wie durch die Erwägung, daß er einen Bestandteil der Welt bildet und doch die Welt nur als Gegenstand seines Denkens kennt, und daß somit die Welt ihn umschließt und doch bloß als Inhalt seines Bewußtseins in Erscheinung tritt.

Der Mensch existiert als ein Körper neben anderen Körpern, von denen er Wirkungen empfängt, und auf die er Wirkungen ausübt; als eine Ansammlung von Stoffen, die sich nach bestimmten Gesetzen verbinden und wieder trennen. Darum ist er ein Bestandteil der Welt, in der er geboren wird, lebt und stirbt.

Er lebt jedoch nicht bloß innerhalb der Welt, im Empfangen und Ausüben von Wirkungen, in der Aufnahme und Abgabe von Stoffen. Er gelangt auch zu einem Wissen von der Welt, indem er die Gegenstände seiner Umgebung wahrnimmt und aufgrund beharrender Eigenschaften und wechselnder Zustände voneinander unterscheidet und zueinander in Beziehung setzt. Und bloß auf diesem Weg gewinnt er eine Kenntnis vom Sein und Werden, in welchem sich ihm die Welt, in der er lebt, darbietet. Die Welt ist somit nur in der Form der Unterscheidungen und Beziehungen, die im Denken vollzogen werden, vorhanden.

So ist dann in der Tat der Mensch einerseits ein Bestandteil der Welt und ein Produkt der Weltentwicklung, während er andererseits die Welt doch nur als Inhalt seines Bewußtseins aufgrund der Unterscheidungen und Verknüpfungen seines Denkens kennt. Und dies ist es, was die Verwunderung erregt und das Dasein der Welt und des Menschen zu einem Rätsel macht.

Die Verwunderung ist aber - wie SOKRATES in PLATONs Theätet sagt - der wahre Zustand des Philosophen und bildet den einzig möglichen Anfang für die Philosophie, weshalb die Götterbotin Iris, die den Menschen alles Wissen übermittelt, mit Recht als ein Sproß des Thaumas [Wunder - wp] angesehen wird.

Gilt dies von jeder Verwunderung über ein Erlebnis im eigenen Bewußtsein oder über ein Geschehnis in der Natur, so muß umso mehr die Verwunderung über die wechselweise Bedingtheit von Mensch und Welt als der Ursprung der Philosophie anerkannt werden. Sie führt ja mit Notwendigkeit zu der Frage nach dem Wesen der Welt und des Menschen, auf deren Beantwortung die Philosophie in allen ihren mannigfachen Ausgestaltungen schließlich abzielt.

Durch die Verwunderung, mit der man einerseits die Welt und andererseits den Menschen betrachtet, wird jedoch noch keine Beantwortung der Frage nach dem Wesen der Welt und des Menschen angebahnt.

Betrachtet man nämlich zunächst sich selbst als einen Bestandteil der Welt, so möchte man es wohl für möglich halten, mit der Welt zugleich das eigene Sein zu ergründen. Die Welt, die man als gegeben annimmt, ist jedoch nur als Inhalt des Bewußtseins vorhanden. Und eben dieses Bewußtsein bringt man von Anfang an als unverstandenen Faktor mit hinzu, so daß es ein vergebliches Bemühen ist, ihn als ein Produkt der Weltentwicklung gewinnen und begreifen zu wollen. - Geht man andererseits von den Tatsachen des eigenen Bewußtseins aus, in denen man den zweifelsfreien Zugang zu aller Erkenntnis zu finden hofft, so lassen sich keine Grenzen des Bewußtseins angeben, die man überschreiten könnte, um zu der vom Menschen unabhängigen Welt zu gelangen. Die Welt, in der man lebt und handelt, zerfließt dann zu einem wesenlosen Schein oder rückt in eine dem Erkennen unzugängliche Ferne.

Man könnte darum versucht sein, das Wesen der Welt und des Menschen als unergründbar und somit die Aufgabe der Philosophie als unlösbar anzusehen. Dann müßte man es als die Bestimmung des Menschen halten, zur Stellung von Fragen getrieben zu werden, auf die es keine Antwort gibt. Und ein Dichter wie HEINRICH HEINE wäre völlig im Recht, wenn er für den Menschen, der am nächtlichen Meer, dem Sinnbild des geheimnisvollen flutenden Weltgeschehens, mit zweifelndem Sinn eine Lösung der uralten Rätsel von der Welt und dem Menschen sucht, keine andere Antwort hätte als den bloßen Hinweis auf das unverstandene Werden und Vergehen:
    Es murmeln die Wogen ihr ewiges Gemurmel,
    Es wehet der Wind, es fliehen die Wolken,
    Es blinken die Sterne gleichgültig und kalt,
    Und ein Narr wartet auf Antwort.
Die scheinbare Unlösbarkeit der philosophischen Aufgabe ist jedoch in Wahrheit nur die Folge davon, daß weder die Welt mit ihren aufeinander wirkenden Substanzen noch das menschliche Bewußtsein mit seiner Fülle unterscheidbarer Erlebnisse als Ausgangspunkt der Untersuchung geeignet ist, eben weil die Welt den Menschen und der Mensch die Welt in sich schließt und das Begreifen des einen das Begreifen des anderen zur Voraussetzung hat. Man muß darum einen tieferliegenden Ausgangspunkt suchen, der die Welt und den Menschen in ihrer untrennbaren Verwebung zu erkennen gestattet.

Um ihn zu finden, ist darauf zu achten, daß nicht erst der Zustand der Verwunderung zum Denken antreibt und zu Erkenntnissen hinleitet, sondern daß der Mensch von Haus aus denkt und erkennt, auch wenn ihm die ungeklärten Beziehungen zwischen dem eigenen Sein und dem Sein der Welt noch nicht zu Bewußtsein gekommen sind.

Was kümmern doch den Menschen die Rätsel des Daseins, wenn er den Aufgaben des praktischen Lebens gegenübersteht, deren Ausführung ihn völlig in Anspruch nimmt. Da sieht er sich in das Getriebe des Lebens eingefügt und in den Weltlauf eingeschlossen, und er kommt gar nicht dazu, sich darauf zu besinnen, daß er selbst und die ihn umgebende Welt nur im Rahmen seines Bewußtseins für ihn vorhanden ist. Und doch denkt er, indem er tätig ist. Sein Handeln ist von vernünftiger Überlegung geleitet. Er beobachtet und vergleicht. Er bemerkt Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten. So gewinnt er Erkenntnisse, die auf Erfahrung beruhen sich berichtigen und mehren und schließlich zu einer mehr oder weniger festgefügten, weiter oder enger umgrenzten Welt- und Lebensauffassung führen. Solange er aber nur die Ziele im Auge hat, die er seinem Handeln gesteckt sieht, fühlt er nicht das Bedürfnis, der Herkunft seines Lebens nachzuspüren und festzustellen, inwieweit dabei einesteils sein subjektives Wahrnehmen und Denken und andernteils die Beschaffenheit der objektiven Wirklichkeit maßgebend ist, und wie überhaupt er selbst und die Welt in ihrem Nebeneinander und Ineinander bestehen können.

Ein entsprechendes Verhalten zeigt der Künstler, der aus den dunklen Regungen seiner Gefühle heraus lebensvolle Gestalten schafft und mit den Hilfsmitteln seiner Kunst zur Darstellung bringt. Indem er die ihn umgebende äußere Welt mit den Gebilden seiner Phantasie belebt, verwebt sich ihm das eigene Sein mit der objektiven Wirklichkeit zu einer unmittelbar erlebten Einheit, die den Inhalt seiner künstlerischen Weltbetrachtung bildet. Und er hat gar kein Verlangen danach, sich darüber klar zu werden, wie es möglich ist, daß das, was sich schattenhaft und unbestimmt in seinem Innern regt, unter den mannigfachen Einflüssen seiner Umgebung zum Leben erwacht und mit dem Sein der äußeren Welt verschmilzt.

So ist es auch, wenn man an das Wirken von Kräften und Wesen glaubt, die weder unter den Gegenständen der Außenwelt wahrgenommen noch als Inhalt des Bewußtseins unmittelbar erlebt werden. Es wäre ja kein Glauben, wenn jene Kräfte und Wesen nicht als schlechthin und unbedingt existierend angenommen und in den Begebenheiten der Natur oder in den Schicksalen des Lebens wirksam gefunden würden. Darum bilden sie den Untergrund, auf den alles Sein und Werden bezogen und aus dem es abgeleitet wird, während sie selbst, ihrem Wesen nach, einer Begründung weder bedürfen, noch überhaupt fähig sind.

Man kann demnach durch die Arbeit des täglichen Lebens, durch die Beschäftigung mit den Inhalten und Gestalten des eigenen Bewußtseins oder auch durch den Glauben an übersinnliche Wesen und Kräfte sich befriedigt fühlen und in Anspruch nehmen lassen, so daß man über die aufgrund äußerer Erfahrung und innerer Erlebnisse unvermittelt sich darbietenden Erkenntnisse nicht hinauskommt und die Rätsel des Daseins, die der Philosoph zu lösen begehrt, auf sich beruhen läßt.

Schließlich ist zu beachten, daß bereits die einfachsten Unterscheidungen und Verknüpfungen der Gegenstände unserer Umgebung auf einer Betätigung des Denkens beruhen und Erkenntnisse in sich schließen. Wir bemerken nur die unwillkürlich sich vollziehende Denktätigkeit nicht, so daß wir auch die Erkenntnisse nicht wie etwas Gewordenes und Erworbenes, sondern als etwas unbedingt und schlechthin Bestehendes ansehen, das in ganz selbstverständlicher Weise in den unterschiedenen und verknüpften Gegenständen uns entgegentritt.

Das Denken wird somit in der Tat nicht erst durch die Verwunderung über ein rätselhaftes Vorkommnis hervorgerufen. Es erweist sich vielmehr wie das Atmen als eine unwillkürlich sich vollziehende Lebensäußerung, die unbeachtet bleiben und auch dann, wenn sie einmal beachtet worden ist, sehr wohl wieder außer acht gelassen werden kann.

Wenn man aber überhaupt nicht leben kann, ohne zu denken und zu Erkenntnissen zu gelangen, so ist ein doppeltes Verhalten zu unterscheiden, je nachdem die Tatsache des Denkens und die Entstehung der Erkenntnisse verborgen bleibt oder zu Bewußtsein kommt. Im ersteren Fall soll das Verhalten als naiv, im letzteren Fall als kritisch bezeichnet werden.

Naiv in dem hier festgehaltenen Sinn ist der Mensch, wenn er seiner Denktätigkeit nicht gewahr wird und darum die Erkenntnisse, zu denen er kommt, für den unvermittelten und unbedingten Ausdruck bestehender Tatsachen hält, ohne sich über ihr Vorhandensein zu wundern und nach ihrer Herkunft zu forschen.

Er wird hingegen kritisch, wenn er in sich selbst die Quelle seines Erkennens und somit sich selbst als den Erkennenden entdeckt. Dann wird er darauf aufmerksam, daß das Erkannte nicht eine vom erkennenden Subjekt unabhängige Existenz besitzt, sondern ein Erzeugnis des Denkens ist, das bezweifelt und angefochten werden kann und erst dadurch, daß es sich gegen den Widerspruch behauptet, eine Bedeutung gewinnt.

Beachtet er nun sein Denken, sas ihn zu seinen Erkenntnissen führt, so kann ihm nicht länger verborgen bleiben, daß die in vermeintlicher Unabhängigkeit bestehende Wirklichkeit auf seinem Unterscheiden und Verknüpfen beruth und lediglich als Inhalt seines Bewußtseins vorhanden ist, während er doch andererseits nur innerhalb dieser Wirklichkeit zu leben vermag. Und hierdurch sieht er sich vor die rätselhafte Verwebung des erkennenden Subjekts mit den erkannten Objekten gestellt, die - wie bereits hervorgehoben wurde - zu der Frage nach dem Wesen der Welt und des Menschen und hiermit zur Philosophie führt.

Demgemäß können wir nunmehr anstelle der bloßen Verwunderung über die Rätsel des Daseins schärfer und bestimmter das kritische Verhalten des denkenden Menschen als den Ursprung der Philosophie bezeichnen.

Dies führt allerdings dazu, nicht bloß die Bemühung um eine, von den Widersprüchen der naiven Betrachtungsweise freie Gesamtauffassung der Welt und des Menschen, sondern das kritische Erkennen überhaupt der Philosophie zuzuweisen. Und da jeder wissenschaftliche Forscher mit Recht geneigt sein wird, seine Erkenntnisse, auch wenn sie dem Herkommen nach der Philosophie nicht zugerechnet werden, als kritische anzusehen und das naive Verhalten für die vorwissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen Erkenntnisse verantwortlich zu machen, so werden Philosophie und Wissenschaft einander gleichgesetzt. Dies kann jedoch unbedenklich geschehen, sofern nur die Klarlegung des Wesens kritischer Erkenntnis nachträglich eine Abgrenzung der Philosophie von den sogenannten Einzelwissenschaften möglich macht. Man hat so überdies den Vorteil, einen einheitlichen Zugang zur gesamten wissenschaftlichen Erkenntnis zu erhalten und der Tatsache gerecht zu werden, daß die Philosophie und die Einzelwissenschaften aus gemeinsamen Anfängen hervorgehen.

Diese Bestimmung des Ursprungs zeigt uns zugleich den Weg zur Lösung der philosophischen Aufgabe.

Sie führt nämlich zu der Einsicht, daß kritische Erkenntnisse nur aufgrund einer vorhergegangenen naiven Betätigung des Denkens möglich sind, da man schon gedacht und erkannt haben muß, wenn man auf die Entstehung der Erkenntnisse durch das Denken aufmerksam werden soll. Dies hat aber zur Folge, daß die auf naiver Unbefangenheit beruhenden Ansichten auch für das kritische Erkennen eine Bedeutung gewinnen, da sie als jedermann geläufige Erfahrungen und als Erzeugnisse des sogenannten gesunden Menschenverstandes bequeme Anknüpfungspunkte bieten. Es sind jedoch nur die auf ihre Herkunft und ihre Bedingungen geprüften Erkenntnisse als gültig und verbindlich anzusehen, so daß dem naiven Verhalten kein Einfluß eingeräumt werden darf.

Darum bildet die reine und strenge Durchführung des kritischen Verhaltens die Voraussetzung für die philosophische Forschung.

Ob und inwieweit diese Voraussetzung erfüllbar ist, läßt sich aber nur aufgrund einer klaren Einsicht in die Eigenart des naiven und des kritischen Verhaltens beurteilen. Diese Einsicht zu gewinnen muß deshalb unsere erste Sorge sein.

Das naive Verhalten, das dem Menschen von Haus aus eigen ist, tritt in der Kindheit des einzelnen Menschen und im Urzustand der menschlichen Gesellschaft am Reinsten zutage. Es kann sich jedoch nur in der Welt- und Lebensauffassung des primitiven Menschen ungestört entfalten, da die Entwicklung des Kindes von Anfang an durch Erziehung und Unterricht beeinflußt wird.

Aus diesem Grund wollen wir einen Einblick in den Geisteszustand des primitiven Menschen zu gewinnen suchen.


II. Kapitel
Die naive Weltbetrachtung als
Quelle der Mythenbildung

So wenig wir imstande sind, uns eine unseren Sinnen unzugängliche Welt vorzustellen, ebensowenig können wir ein geistiges Leben, das unserem eigenen völlig fremd wäre, begreifen. Der Geisteszustand des primitiven Menschen kann uns daher nur insofern verständlich werden, als wir ihn in uns selbst zu erleben vermögen. Hätte er eine ganz eigenartige Beschaffenheit, die nur in jenem ersten Entwicklungsstadium vorhanden wäre, um unwiederbringlich zu verschwinden und in völlig anders geartete Zustände überzugehen, so könnte er auch nicht zum Gegenstand unserer Betrachtung gemacht werden. Der primitive Mensch käme alsdann nicht in seinen subjektiven Bewußtseinszuständen, sondern nur in seiner objektiven leiblichen Existenz für uns in Frage.

Wird aber die Auffassung des primitiven Menschen durch die Erkenntnis, die wir von uns selbst haben, von vornherein bedingt, so müssen wir zunächst die Faktoren, von denen wir unser eigenes Leben beherrscht finden, hervorheben, damit wir einzusehen vermögen, welche Produkte in den Anfangszuständen der menschlichen Gesellschaft aus ihnen hervorgehen können. Geschieht dies nicht, so verhält man sich bei der Feststellung des naiven Verhaltens, das der primitive Mensch zeigt, selbst wieder naiv, indem man eine Auffassungsweise entwickelt, deren Ursprung unbeachtet und ungeprüft bleibt.

Da nun der Mensch denkt, indem er handelt, so kommt schon das Kind zu der Ansicht, die der Erwachsene zunächst festzuhalten geneigt ist, daß man überhaupt nichts tun kann, wenn man nicht zuvor das Ziel der Tätigkeit ins Auge faßt und sich seine Erreichung vorgenommen hat. Man betrachtet dann den Intellekt als das Primäre im Menschen, aus dem die Willenshandlung hervorgeht. Aufgrund eines solchen Intellektualismus glaubt man, daß auch der primäre Mensch in seinem Tun und Lassen von vernünftiger Überlegung geleitet wird. War er zunächst, dem selbstsüchtigen Grundzug seines Wesens folgend, im unvernünftigen Kriegszustand gegen jedermann - dem bellum omnium contra omnes [Krieg aller gegen alle - wp] gestanden, so verbindet er sich nun bei wachsender Einsicht aufgrund freier Überlegung mit seinen Genossen. Er verabredet gemeinsame Unternehmungen und gründet ein auf Vertrag beruhendes, staatliches Gemeinschaftsleben. Kurz: er strebt nach Vollkommenheit, weil er diese Vollkommenheit als Ziel vor Augen sieht.

Einer solchen Auffassungsweise widerstreitet indessen die Tatsache, daß der Mensch zwar denkt, indem er handelt, aber keineswegs daran gebunden ist, stets das Ziel seines Handelns ins Auge zu fassen und das Handeln selbst mit Bewußtsein zu verfolgen. Er weiß ja oft genug nicht, was er tut, weil er in seinen Gedanken mit anderen Dingen beschäftigt ist. Überdies zeigen die der Beobachtung zugänglichen ursprünglichen Geisteszustände, die uns im Leben des unzivilisierten Menschen und des Kindes entgegentreten, nicht von einem solchen Streben nach vorgesteckten Zielen. Da scheint sich das bewußte Leben vielmehr erst aus triebartig hervorbrechendem Wollen und Handeln zu entwickeln.

Dies führt dazu, nicht den Intellekt, sondern den Willen als das Primäre im Menschen anzuerkennen, aus dem sich das bewußte Geistesleben entfaltet. Anstelle des Intellektualismus tritt so der Voluntarismus. Dann wird man geneigt sein, auch beim primitiven Menschen ein durch Instinkte geleitetes Handeln, wie beim Tier, vorauszusetzen, in welchem sich neben dem uranfänglich vorhandenen Nahrungstrieb noch höhere Triebe wirksam zeigen, aus denen der durch Motive geleitete Wille und hiermit das Bewußtsein selbst hervorgeht.

Die Entfaltung unbewußter Triebe zu einem bewußten Geisteszustand können wir jedoch unmöglich in uns selbst erleben, da wir im bewußtlosen Zustand nichts von uns wissen und das Wiederaufleben unseres Bewußtseins nicht zu beachten vermögen. Darum ist es unbegreiflich, wie der Wille imstande sein soll, sich aus unbewußten Trieben heraus im Verstand ein Werkzeug zu bereiten, das ihn zu einem auf Ziele gerichteten, zweckmäßigen Handeln befähigt. Es hat somit keinen Sinn, den Geisteszustand des primitiven Menschen aus Instinkthandlungen, wie sie beim Tier vorausgesetzt werden, ableiten zu wollen. Man wird im Gegenteil erst aufgrund einer klaren Einsicht in das bewußte Willensleben des Menschen in der Lage sein, das Triebleben der Tiere dem Verständnis näher zu bringen.

Als ursprüngliche Lebensäußerung des Menschen kann man daher nur Trieb- und Willenshandlungen, die von Bewußtseinszuständen begleitet sind, ansehen. Und wir stellen keine Theorie auf, sondern wir begnügen uns mit der Hervorhebung des einfachen Tatbestandes, wenn wir einesteils das Handeln als ein objektives Geschehen, durch das der Mensch mit der ihn umgebenden Welt in Verbindung tritt, anderenteils das Bewußtsein als den subjektiven Zustand, in welchem das objektive Geschehen durch die Unterscheidungen und Beziehungen des Denkens erfaßt wird, bezeichnen, so daß weder von einem Bewußtsein, dem nichts Objektives zugrunde läge, noch von einem objektiven Sein und Werden, das nicht irgendwie erfaßt und gedacht würde, die Rede sein kann.

Es versteht sich von selbst, daß der subjektive Zustand des Erfassens und Denkens nicht selbst wieder ein objektives Geschehen ist und weder im Sinne des Voluntarismus aus einem solchen hervorgehen kann, noch im Sinne des Intellektualismus ein solches hervorzubringen vermag. Bewußtsein und objektives Sein oder Denken und Handeln stellen vielmehr die beiden zusammengehörigen, aber nicht auseinander ableitbaren Faktoren dar, auf denen das menschliche Sein beruth.

In seiner objektiven Beschaffenheit erweist sich der Mensch nun einerseits durch die Einwirkungen der Außenwelt und andererseits durch die Besonderheit seiner eigenen, zugleich mit diesen Einwirkungen zur Geltung kommenden Natur bedingt. Er hätte kein selbständiges Leben und Handeln, wenn er gleich einem fallenden Stein bloß den Einflüssen seiner Umgebung gehorchen würde; und er hätte überhaupt keine objektive Existenz, wenn er ein von aller Welt unabhängiges, außernatürliches, bloß aus seinem Innern heraus sich entwickelndes Dasein, wie eine LEIBNIZschen Monade, führen würde. Darum wird er erst aufgrund des Zusammenwirkens der äußeren und inneren Bedingungen zu einem lebendigen, der objektiven Wirklichkeit angehörenden Wesen. Hierbei zeigt er seine eigene Natur ganz offenkundig dadurch, daß die Zustände, in denen er sich befindet und die Vorgänge, die sich in ihm abspielen, nicht unwiederbringlich in andere Zustände und Vorgänge übergehen, sondern immer wieder auftreten, sobald durch einen geeigneten äußeren Anlaß die Bedingungen hierfür erfüllt sind. So kommt es, daß diese vergangenen Zustände und Vorgänge in den Einwirkungen, denen er gegenwärtig unterliegt, wieder aufleben und nachwirken.

Dieses Aufleben und Nachwirken der Vergangenheit in der Gegenwart verleiht auch dem geistigen Leben das charakteristische Gepräge. Jedermann ist in der Lage, sich jeden Augenblick davon zu überzeugen, daß das, was er früher gefühlt, empfunden und wahrgenommen hat, nicht spurlos verschwunden ist, sondern immer wieder in deutlicher Klarheit oder in verschwommenen Umrissen auftaucht. Es bildet den unaufhebbaren, bald hier, bald dort hervortretenden und in die Gegenwart hereinragenden Hintergrund für die Auffassung der äußeren Gegenstände und der eigenen Zustände. Man sagt dann, daß man sich die Vergangenheit in das Gedächtnis zurückruft oder, wenn die Erinnerung ohne unser Zutun eintritt, daß die vorhandenen Inhalte unseres Bewußtseins selbst die entschwundenen Inhalte wachrufen und an sich ketten oder sich mit ihnen assoziieren. Darum bezeichnet man das Gedächtnis als das Grundvermögen und die Verkettung oder Assoziation der Vorstellungen als das Grundgesetz, von dem der willkürliche und unwillkürliche Ablauf des bewußten geistigen Lebens beherrscht wird. Indem sodann aufgrund der Vorstellungsassoziationen und der Leistungen des Gedächtnisses Erfahrungen über den gesetzmäßigen Ablauf des Naturgeschehens und die gewohnheitsmäßigen Erfolge des Handelns sich häufen, lernt man in der Gegenwart die aus ihr sich entwickelnde Zukunft vorhersehen. Insbesondere verknüpft sich die Vorstellung von einem Ziel des Handelns mit der Handlung selbst, die man so im Hinblick auf das Ziel ausführt und durch die Vorstellung des Zieles veranlaßt glaubt. Man sagt dann, daß man seinem Handeln Ziele setzt, die man erreichen will. Und der Wille gilt nun als die Grundkraft des Geistes, die das zielbewußte, von Motiven geleitete Handeln erst möglich macht.

Lassen wir jedoch die Kräfte, Vermögen und Gesetze des Geistes auf sich beruhen, und halten wir daran fest, daß Bewußtsein und objektives Sein oder Denken und Handeln untrennbar zusammengehören, so gelangen wir zwar zu keiner Erklärung, wohl aber zu einer Auffassung der Grundtatsachen unseres geistigen Lebens, die uns das Verständnis für den primitiven Menschen unmittelbar erschließt.

Wenn nämlich der Mensch in seinem Bewußtsein lediglich sein eigenes objektives Sein und Werden erfaßt, so muß auch für die Zustände der Erinnerung eine objektive Unterlage vorhanden sein. Wir finden sie im Wiederaufleben der objektiven Vorgänge, die den ursprünglichen Erlebnissen zugrunde lagen.

Dabei kann von einem absichtlichen Aufsuchen und Zurückrufen des Vergangenen, das irgendwie im Gedächtnis gespeichert wäre, oder von einer Assoziation mit früheren, wieder wachgerufenen Begebenheiten, die für sich allein bereits bestimmte Inhalte des Bewußtseins bilden würden, nicht die Rede sein. Denn die subjektiven Zustände sind nicht etwa imstande, im Widerspruch mit ihrer Subjektivität, die ihnen zugrunde liegenden objektiven Vorgänge hervorzubringen. Wir haben es vielmehr als eine letzte, schlechthin bestehende Tatsache hinzunehmen, daß ein lebendes Wesen mit den äußeren Einwirkungen zugleich den Nachwirkungen früherer, wieder auflebender objektiver Vorgänge unterworfen ist, und daß auf ihnen die Erinnerung an vergangene Erlebnisse beruth.

Dann müssen wir aber zugestehen, daß überhaupt jedes in der Gegenwart wieder wirksam werdende, objektive Geschehen in einem subjektiven Zustand des Bewußtseins zur Geltung kommt. Erlangt es eine hinreichende Selbständigkeit, so tritt die Erinnerung an das Vergangene auf. Ist dies nicht der Fall, so wird es nur im Verein mit dem sonstigen objektiven Geschehen im Bewußtsein erfaßt. Es bedingt alsdann, ohne für sich allein hervorzutreten, eine modifizierte Auffassung des gegenwärtig Erlebten, das hierdurch einen veränderten Inhalt gewinnt. Und eine solche Beeinflussung ist nicht etwa bloß ausnahmsweise vorauszusetzen. Sie ist stets vorhanden, da der Mensch erst durch das Wiederaufleben seiner Vergangenheit zu einem lebenden Wesen wird.

So ist dann auch der primitive Mensch darauf angewiesen, sich seines primitiven Daseins bewußt zu werden und dabei der Beeinflussung durch seine Vergangenheit zu unterliegen.

Dem engen Kreis, der seiner objektiven Existenz gezogen ist, wird darum ein ebenso beschränkter geistiger Horizont entsprechen, und andererseits wird das, was innerhalb jenes Kreises den größten Raum einnimmt, auch im geistigen Leben entsprechend hervortreten.

Wir wunderns uns darum nicht darüber, daß Berichte über das Leben der Naturvölker einerseits den völligen Mangel an Interesse für die Ursachen der Naturerscheinungen und die größte Gleichgültigkeit gegen Dinge, die bisher unbekannt waren, und andererseits eine große Beweglichkeit und Genauigkeit des Beobachtens, gepaart mit außergewöhnlicher Sinnesschärfe, hervorheben.

Wenn nämlich ein Schwarzafrikaner auf die Frage, "was während der Nacht aus der Sonne wird, und ob dieselbe Sonne am anderen Morgen wiederkehrt", für kindisch und keiner Beantwortung wert halten, so zeigt dies bloß, daß die Sonne für unser Denken nichts zu bedeuten hat, weil in ihrem bisherigen Leben die Abhängigkeit vom Licht und der Wärme der Sonne noch nicht hervorgetreten ist. Und wenn ferner Australier, die an Bord eines Schiffes kamen, über nichts von all dem, was ihnen zum erstenmal vor Augen trat, in Erstaunen gerieten und bloß auf das, was sie zu essen bekamen, achteten, so ergibt sich daraus, daß sie auf der Entwicklungsstufe der nahrungssuchenden Horden standen, deren Leben ausschließlich auf die Befriedigung der einfachsten Lebensbedürfnisse, wie Essen, Trinken, Schlafen, gerichtet ist und darum für die Beschäftigung mit anderen Dingen keinen Raum läßt. Es ist andererseits nicht weniger eine Folge der ganzen Lebensführung, wenn Indianer in den einfachen Unterscheidungen und Beziehungen, die mit der Sinneswahrnehmung verknüpft sind, zu besonderer Vollkommenheit gelangen und z. B. aus kaum wahrnehmbaren Fußspuren die Anzahl der vorübergegangenen Männer, Frauen und Kinder zu bestimmen vermögen.

Daß aber der primitive Mensch in einem so eng umgrenzten Kreis lebt, hat offenbar seinen Grund in der geringen Ausdehnung und Stärke, mit der seine Vergangenheit in der Gegenwart nachwirkt und Einfluß gewinnt. Er ist in geringerem Maße lebendig als der entwickelte Mensch.

Gleich einem Kind ist er bedingungslos den augenblicklichen Eindrücken und Erregungen preisgegeben, bald angestrengt tätig, bald maßlos träge, wie die Umstände es verlangen oder gestatten, dabei launisch, schwankend und unbestimmt. In seiner Tätigkeit beschränkt er sich auf die Befriedigung der notwendigsten Bedürfnisse, die sich immer wieder geltend machen. Die Sorge um die Zukunft kennt er nicht. Er sammelt keine Vorräte, sondern schwelgt im Überfluß und läßt zugrunde gehen, was er nicht verzehren kann, um später bei mangelnder Nahrung zu darben.

Dementsprechend ist sein geistiges Leben ohne durchgreifende Zusammenhänge. Die Gegenstände, die im Raum unterschieden werden, treten nicht zueinander in Beziehung, sondern bleiben in einem gleichgültigen Nebeneinander - wie auch das Kind die Wohnräume, in denen es aufwächst, einzeln deutlich erfaßt, ohne sie in seinem Bewußtsein zu der einheitlichen Gesamtauffassung des Hauses, dem die Räume angehören, zusammenzuschließen. Und das Vergangene stellt sich in der Erinnerung neben das Gegenwärtige, es verknüpft sich jedoch nicht mit ihm zu einem zusammenhängenden Verlauf - wie wenn beim Anblick eines fruchtbeladenen Baumes die Erinnerung an den blühenden Baum auftaucht, ohne daß man das Hervorgehen der Frucht aus der Blüte beachtet.

Bei dieser stumpfen Gleichgültigkeit läßt der primitive Mensch die größten Widersprüche unbeachtet nebeneinander bestehen. Es bleibt ihm so völlig verborgen, daß er selbst die Unterscheidungen und Verknüpfungen vollzieht, durch die er seiner Erlebnisse bewußt wird. Er nimmt vielmehr in naiver Unbefangenheit die Gegenstände, die er kennenlernt, hin, als wenn sie unabhängig von ihm existierten und er unmittelbar an sie herantreten könnte. Und er merkt es nicht, daß hierbei seine eigene Person zur Geltung kommt, indem Eindrücke aus früherer Zeit, die nicht als selbständige Erinnerungsbilder hervortreten, in den gegenwärtigen Eindrücken aufleben.

In Wahrheit kann er jedoch keines sich bewegenden oder sich verändernden Gegenstandes bewußt werden, ohne daß in demselben die Gegenstände, an denen er früher Ähnliches beobachtet hat, zu einer erneuten Wahrnehmung gelangen. Und weil er zunächst und hauptsächlich an seinem eigenen Leib Bewegungen und Veränderungen erlebt hat, so findet er vor allem sich selbst in einem betrachteten Gegenstand wieder. Da sich aber das Aufleben des eigenens Seins nicht zu einem Erinnerungsbild verselbständigt und ihm darum nicht zu Bewußtsein kommt, so glaubt er in einem Gegenstand ein Leben, das dem eigenen ähnlich ist, wahrzunehmen. Und der Gegenstand erscheint ihm selbst umso ähnlicher, je größer die Übereinstimmung der beobachteten Bewegungen und Veränderungen mit den selbsterlebten ist.

Darum findet er in den anderen Menschen seinesgleichen und in den Tieren ihm ähnliche Geschöpfe. Aber selbst im fließenden Strom, im Waldesrauschen, in den vom Wind gejagten Wolken und im zuckenden Blitz, in der Sonne, dem Mond und den Sternen, die am Himmel hinziehen, ja im Himmel selbst, erblickt er lebende Wesen. Er gelangt so zur Mythenbildung: er heftet sein eigenes Sein, ohne davon zu wissen, den sich bewegenden und sich verändernden Gegenständen an und glaubt darum in allem Naturgeschehen das Wirken lebender Wesen wahrzunehmen.

Dabei darf man nicht an übernatürliche, unsichtbare Geister denken, die in den Gegenständen ihren Wohnsitz haben. Denn für den primitiven Menschen existiert nur, was er sehen und hören kann. Deshalb ist zunächst der unmittelbar wahrgenommene Wald oder Strom oder Himmel ein lebendes Wesen. Das Leben tritt allerdings am deutlichsten in den Tieren hervor, die gelegentlich im Waldesdunkel oder in der Tiefe des Stromes oder im Blau des Himmels auftauchen. Und dies führt zu einem Glauben an besondere Wesen, die in den Dingen leben und als Götter verehrt werden. Diese Götter sind aber keine Geister. Sie sind anfänglich nichts anderes als jene Tiere - was dadurch bestätigt wird, daß die ältesten Göttervorstellungen auf Tiergestalten zurückweisen. Und wenn sie in durchaus verständiger Entwicklung zu menschenähnlichen oder übermenschlichen Wesen werden, die mit übermächtiger Kraft den Lauf der Welt lenken und über das Leben der Menschen herrschen, so bleiben sie doch sinnlich vorstellbar und durch die Tiere, die ihnen als Attribute beigesellt werden, mit ihrem Ursprung verknüpft. Die Dinge werden so lediglich mit einem Doppelleben begabt. Sie besitzen von vornherein schon das Leben, das in den Wesen, die in ihnen wohnen, nochmals Gestalt gewinnt.

Ein solches Doppelleben findet der primitive Mensch auch in sich selbst, wenn er im Schlaf träumt und im Traum, ähnlich wie im wachen Zustand, wenngleich in eigentümlich veränderter Weise, sich betätigt. Dann muß er sich nämlich noch eine andere Existenzweise zuschreiben, die zwar nur im Traum selbstständig hervortritt und beim Erwachen in die gewöhnliche zurücksinkt, der aber trotzdem eine sinnenfällige Wirklichkeit zukommt.

Es entsteht so die Vorstellung von der Seele - vergleichbar dem Schatten, der bald vom Körper wegstrebt, bald in ihn hineinkriecht, jetzt ein vollkommenes Ebenbild und dann eine unförmliche Verzerrung darstellt. Dieses schattenhafte Dasein erlischt sogar im Tod nicht. Denn die Hinterbliebenen sehen ja den Verstorbenen in ihren Träumen und lebhaften Erinnerungsbildern und glauben manche in unheimlicher Weise von ihm ausgehende Wirkungen wahrzunehmen. Darum begraben sie ihn mit umso größerer Sorgfalt; sie legen an seinem Grab Speisen und Getränke und sonstige Bedarfsgegenstände nieder, um ihm keinen Anlaß zum Verlassen seiner Ruhestätte zu geben. Oder sie verbrennen den Toten in der Hoffnung, ihn völlig zu beseitigen; sie zerstören seine Wohnung und vernichten seinen Besitz, um jeden Zusammenhang mit ihm zu lösen.

Indem sich hiernach der sogenannte Seelenglaube und der Totenkult ebenso wie der Glaube an das Leben in der Natur als ein unmittelbarer Ausfluß der naiven Weltbetrachtung erweise, gewinnen wir die Einsicht, daß der naive Mensch in seinem Denken den Bereich des sinnlich Wahrnehmbaren nicht überschreitet. Er kennt weder eine übersinnliche Welt, noch geistige, in der Sinnenwelt verborgene Kräfte und Mächte, sondern bloß Gegenstände, die er unvermittelt wahrzunehmen glaubt, da er nichts von den Unterscheidungen und Verknüpfungen seines Denkens weiß, auf denen seine Wahrnehmungen beruhen.

Daß diese Gegenstände selbst belebt sind und lebende Wesen in sich bergen, tritt ebenso wie die Verdoppelung des eigenen, sinnenfälligen Seins im Schattenwesen der Seele als charakteristisches Merkmal der Weltbetrachtung des primitiven Menschen in den Vordergrund. Wir haben aber erkannt, daß bei jeder Wahrnehmung frühere Eindrücke aufleben und nachwirken, auch wenn sie nicht in einem Erinnerungsbild bemerkbar werden, und daß somit der scheinbar unvermittelt wahrgenommene Gegenstand für die naive Auffassung mit all dem behaftet erscheint, was erst durch den Wahrnehmungsprozeß hinzugebracht wird.

Darum finden wir das Wesen der Mythenbildung nicht im Seelenglauben der Natur mit lebenden Wesen, sondern vielmehr in der Annahme, daß die Gegenstände unabhängig vom wahrnehmenden Menschen existieren, während in der Tat ihre Auffassung durch den Wahrnehmungsprozeß bedingt ist.

Wir sind demnach berechtigt, überall da von Mythenbildung zu reden, wo der wahrnehmende Mensch Gegenstände als unbedingt und schlechthin bestehend annimmt und all das in ihnen zu finden glaubt, was er selbst durch den Wahrnehmungsprozeß erst in sie hineingelegt hat.

Es wird so ersichtlich, daß die Neigung zur Mythenbildung nicht bloß im Urzustand der menschlichen Gesellschaft vorhanden ist. Sie bleibt, auch wenn die Auffassungsweise des primitiven Menschen verschwindet. Darum kann sich die kritische Weltbetrachtung nur allmählich im Kampf gegen die Mythenbildung entwickeln.

Diesen Entwicklungsgang haben wir nun zu betrachten, damit wir in den Stand gesetzt werden, in der reinen und strengen Durchführung des kritischen Verhaltens den Zugang zur Philosophie zu gewinnen.
LITERATUR - Gottlob Friedrich Lipps, Mythenbildung und Erkenntnis, Leipzig und Berlin 1907