cr-2Th. LippsW. WirthP. SchilderW. Herrmann     
 
JULIUS BERGMANN
Die Erkenntnis aus dem
praktischen Selbstbewußtsein

[eine Kritik]

"Die Wissenschaft strebt eine Erkenntnis an, die von allen denkenden Wesen Anerkennung beanspruchen darf, indem sie sich lediglich auf Tatsachen und die Gesetze des Denkens beruft, ohne an die Aussprüche des Gefühls oder Willens, soweit sie nicht selbst zu den in Untersuchung stehenden Tatsachen gehören, zu appellieren."

"Für das geistreiche Geplauder der Salons mag jene Begriffsdichtung wie dieses Kartenhausbauen eine nicht unziemliche Beschäftigung sein, ein ernster wissenschaftlicher Kopf wird sich in der Stille seines Arbeitsraumes nie dazu prostituieren."

"Die Logik stürzt zusammen, wenn aus ihr der Satz herausgezogen wird, daß das richtige Denken wertvoller ist als das unrichtige, die Wahrheit wertvoller als der Irrtum."

Die  Philosophischen Monatshefte haben sich das Verdienst erworben, die philosophischen Kreise auf ein Buch aufmerksam zu machen, welches in den theologischen, an die es sich zunächst wendet, bereits als eine hervorragende Erscheinung anerkannt war. WILHELM HERRMANNs "Die Religion im Verhältnis zum Welterkennen und zur Sittlichkeit". Die Bedeutung dieses Buches wird es rechtfertigen, wenn dieselben nochmals einer auf dasselbe sich beziehenden Betrachtung Raum gönnen. Dabei sollen aber nicht wieder die religionsphilosophischen und theologischen Ergebnisse der Untersuchung hervorgehoben werden; es soll sich vielmehr lediglich um deren erkenntnistheoretische Grundlage handeln, obwohl auch die ethischen Erörterungen eine eingehendere Betrachtung verdienen würden.

HERRMANNs Erkenntnislehre besteht in der Begründung und der Entwicklung des Satzes, daß die wahre Realität nicht nur dem bloßen Erkennen, oder, wie er sagt, dem  reinen  Erkennen  unzugänglich  ist, sondern daß auch gar kein Zug zu ihr in demselben angetroffen wird, ja, daß dem Erkenntnisvermögen als solchem nicht einmal eine Ahnung einer höheren Realität als derjenigen, auf welche die Erscheinungen des äußeren Sinnes Anspruch machen dürfen, innewohnt. Er behauptet nicht, daß die wahre Realität, das  ontos on  [Sein des Seins - wp], dem menschlichen Geist schlechthin unzugänglich ist, aber sie soll sich demselben in seinem nicht-theoretischen Verhalten offenbaren, und erst nach dieser Offenbarung und auf Grund derselben soll sie dann auch dem Erkennen zu tun geben, und zwar nicht, wie andere ähnlich Gestimmte gewollt haben, zu mystischer Kontemplation, sondern zu theologischer Begriffsbildung.

Dieser Ansicht gegenüber will ich im Folgenden die platonische Lehre zu verteidigen suchen, welche Sein und Erkennen für korrelative Begriffe erklärt, behauptend, daß alles Erkennen ein Erkennen des Seienden und daß das vollkommen Seiende vollkommen erkennbar ist. Nicht will ich damit den Versuchen, vom Standpunkt des Absoluten aus das gesamte Sein zu konstruieren, das Wort reden. Ich schließe mich vielmehr der Überzeugung LOTZEs an, daß wir, in den letzten Verzweigungen der Wirklichkeit stehend, diesen Standpunkt auch in den Versuchen, die Welt zu begreifen, nicht verlassen können. Und damit entferne ich mich nicht von PLATO. Ist doch auch nach ihm das höchste Seiende, der Urquell allen Seins, Gott oder die Idee des Guten, den endlichen Geistern unerkennbar nur durch eine Art von Wahrsagung zu erfassen, eine  epekeina tes ousias,  d. h. ein über dem endlichen Sein, auf das sich alle menschlichen Begriffe beziehen, stehendes, und damit ein  epekeina tes epistemes,  das Korrelat nicht des menschlichen, sondern des eigenen göttlichen Erkennens. In dieser Auffassung von den Schranken der menschlichen und aller nicht Gott selbst eigenenden Erkenntnis scheint mir die Unterscheidung der Religion von der Wissenschaft, um die es HERRMANN vor allem zu tun ist, nicht weniger gesichert zu sein als in der seinigen, welche das Erkennen im Grunde zu einem bloßen Träumen herabsetzt.

Statt meiner abweichenden Meinung in den Worten Ausdruck zu geben, daß HERRMANN dem bloßen Erkennen zu  wenig  zugesteht, könnte ich auch sagen, er beansprucht  zuviel  für dasselbe oder vielmehr alles, was er beansprucht, entbehrt des Rechtsgrundes, denn seine nähere Bestimmung des Begriffs des bloßen Erkennens fällt so aus, daß ich denselben nicht einmal für das halten kann, als was er, wie HERRMANN selbst meint, dem unkritischen Verstand erscheint, für die unnatürlichste Abstraktion, indem er als Abstraktion doch immer eine wenn auch nie isoliert vorkommende Seite eines Wirklichen zum Gegenstand haben müßte; ich hoffe aber nachweisen zu können, daß ihm in der Wirklichkeit gar nichts entspricht.

Die Wissenschaft strebt eine Erkenntnis an, die von allen denkenden Wesen Anerkennung beanspruchen darf, indem sie sich lediglich auf Tatsachen und die Gesetze des Denkens beruft, ohne an die Aussprüche des Gefühls oder Willens, soweit sie nicht selbst zu den in Untersuchung stehenden Tatsachen gehören, zu appellieren. Will man diese Erkenntnis als bloße oder reine bezeichnen, so bin ich die Abstraktion mitzuvollziehen bereit. Auch auf die  unmittelbare  Erkenntnis, die Wahrnehmung, läßt sich die so verstandene Unterscheidung unbedenklich übertragen, denn auch Wahrnehmungsakte werden vielfach durch außerhalb ihrer selbst liegende Erregungen des Gefühls oder des Willens getrübt, so wenn dem Furchtsamen der Strauch am Weg die Gestalt eines Menschen annimmt. Bezüglich des Wahrnehmens kann diese Unterscheidung auch mit den Worten HERRMANNs, die bezüglich der vermittelten Erkenntnis offenbar nicht mehr zutreffen, formuliert werden:
    "Unter dem reinen Erkennen verstehe ich diejenige Tätigkeit des vorstellenden Bewußtseins allein, welche unmittelbar mit dem Dasein desselben gesetzt wird, ohne daß dabei der Einfluß jenes Inhaltes der Menschenseele, der im Fühlen und Wollen bewegt wird, sich geltend macht";
oder in diesem Gebiet kann das reine Erkennen definiert werden als
    "die durch Gefühl und Wille nicht beeinflußte Tätigkeit, durch welche sich die Einheit des Bewußtseins stetig vollzieht." (Seite 16)
Allein von ihrem Urheber werden diese Definitionen offenbar so verstanden, daß ihr Gegenstand zu etwas Hypothetischem wird, dessen Realität zu erweisen bleibt. Nämlich nicht nur soll das unmittelbare Erkennen, um reines heißen zu dürfen, dem Einfluß alles  neben  ihm sich regenden Fühlens und Wollens hinsichtlich seines Ergebnisses vollständig entzogen sein, sondern es soll auch selbst gar nichts vom Charakter dieser Tätigkeiten an sich haben; den Begriff des Erkennens oder des Vorstellens oder des Bewußtseins soll denjenigen des Fühlens und Wollens schlechthin  entgegengesetzt  sein. Es wird also die psychologische Hypothese gemacht, daß vom Bewußtsein noch irgendetwas übrig bleibt, wenn man von allem, was auf der untersten Stufe des Seelenlebens noch Fühlen oder Wollen genannt werden kann, also von demjenigen Fühlen und Wollen, dessen auch die erst wahrnehmende, noch zu keiner Reflexion fortgeschrittene Seele fähig ist, abstrahiert.

HERRMANN ist Kantianer. Nun wird zwar niemand im Allgemeinen den Kantianern unserer Zeit zumuten, sich um einen Kantianer älterer Zeit namens FICHTE viel zu bekümmern, aber von einem so besonnenen und gründlichen Denker wie HERRMANN, der dabei so viel seiner Geistesrichtung Verwandtes in FICHTEs ethischem Idealismus gefunden haben muß, hätte man erwarten sollen, daß ihn die Lehre, der zufolge das Bewußtsein, die Ichheit, ursprünglich und dem innersten Kern nach ein  Streben  ist, veranlassen würde, nicht so rasch den mit dem Begriff des reinen Erkennens geöffneten Weg zu betreten.

Ich versuche diesen Begriff des Bewußtseins gegenüber der Hypothese vom reinen Erkennen zu erläutern und soweit zu entwickeln, wie es in diesem Zusammenhang notwendig ist, indem ich es dahingestellt sein lasse, in welcher Entfernung von FICHTE ich mich dabei bewege.

Es genügt zu diesem Zweck, die unterste Stufe des bewußten Seelenlebens, die der bloßen Sinnlichkeit, ins Auge zu fassen. Das auf dieser Stufe stehende Ich reflektiert noch nicht auf sich selbst; es besinnt sich noch nicht auf seine Ichheit, unterscheidet sich noch nicht als das Eine mit sich identisch bleibende Subjekt von seinen mannigfachen und wechselnden Zuständen, zieht sich aus diesen noch auf keine Weise in sich selbst zurück, sondern ist ihnen ganz und gar hingegeben, seine Ichheit ist noch ganz in demjenigen, was ein denkender Beobachter von ihm zu präzidieren vermag, versunken: aber es  ist  doch Ich. Damit scheint mir nun nichts anderes gesagt zu sein, als daß auch schon auf der Stufe der Sinnlichkeit das Bewußtsein sich selbst zum Inhalt oder Gegenstand hat, Bewußtsein des Bewußtseins, Selbstbewußtsein ist. Ich zumindest vermag in dem, was ich mein Ich nenne, nichts anderes zu finden als ein Bewußtsein vom Bewußtsein. Und sicherlich wird niemand glauben, daß ein Wesen, welches zwar Bewußtsein hätte, aber von diesem seinem eigenen Bewußtsein nicht das Mindeste erfahren würde, sich selbst ein Ich sein kann. Ob gleichsam hinter dem Bewußtsein nocht eine Seele als Träger oder Substrat desselben steht, oder ob das Ich selbst letztes Subjekt ist, welches von nichts mehr prädiziert werden kann, während alles, was im bewußten Seelenleben vor sich geht, von ihm prädiziert werden muß: das kann hier dahingestellt bleiben.

Das Bewußtsein genügt sich in seiner Allgemeinheit nicht zum Inhalt. Jedenfalls ist es tatsächlich auf der Stufe der Sinnlichkeit von einer Vielheit wechselnder Bestimmtheiten erfüllt. Andererseits finde ich es jedoch schlechthin undenkbar, daß das Bewußtsein jemals etwas anderes als sich selbst zum Inhalt haben könnte (wie überhaupt, daß eine reale, nicht bloß der gar nicht  seienden  Erscheinungswelt angehörige Tätigkeit auf etwas anderes als sich selbst gerichtet sei, etwas anderes zu erfassen und zu gestalten vermag als sich selbst). Bezüglich der mannigfachen und wechselnden Bestimmtheiten, die den Inhalt des sinnlichen Bewußtseins bilden, bleibt nun dieser Ansicht nichts anderes übrig, als sie als Bestimmtheiten des Bewußtseins selbst, nicht einer diesem zur Unterlage dienenden Seele, als  Modifikationen des Bewußtseins  selbst zu fassen. Nicht als reines oder allgemeines hat sich demnach das sinnliche Bewußtsein zum Inhalt, sondern als auf mannigfache und wechselnde Weise modifiziertes; nicht reines Ich sondern empirisches ist es, indem es Bewußtsein von sich selbst ist.

Die Modifikationen des sinnlichen Bewußtseins mögen im Allgemeinen sinnliche Vorstellungen heißen, unter dem Vorbehalt, daß dieses Wort später in einem genau anzugebenden engeren Sinn genommen werden darf. Auch HERRMANN beschreibt (Seite 17) "die elementarsten Anfänge allen Erkennens" als "eine Mannigfaltigkeit von  Zuständen  des Bewußtseins" und nennt diese Zustände Vorstellungen. Auf die Frage, welches der Inhalt oder Gegenstand der Vorstellung ist, ist bis jetzt zu antworten: das so vorstellende Ich selbst. Das Bewußtsein hat sich selbst und nur sich selbst zum Inhalt und zwar als sich selbst zum Inhalt habendes (ein Gedanke, den zu ebnen ich anderwärts bemüht gewesen bin, hier aber mit seinen Schwierigkeiten behaftet bleiben lassen muß), und dieser sein Inhalt zerlegt sich ihm in eine Vielheit von Modifikationen, Vorstellungen, welche sich selbst zum Inhalt habende bestimmte Bewußtseinsakte sind.

Der Begriff der Bewußtseins modifikation  nötigt weiter, denjenigen der Bewußts affektion  zu bilden. Das Bewußtsein muß auf irgendeine Weise, sei es von sich selbst, sei es von anderem, affiziert sein, damit es sich in eine wechselnde Mannigfaltigkeit von Modifikationen ausbreitet, und seiner Affektionen müssen so viele sein wie seiner Modifikationen und jeder Wechsel dieser muß auf einem Wechsel jener beruhen. Den deutlicheren und durchgearbeiteteren Begriff vom Verhältnis des Bewußtseins zu seinen Modifikationen und Affektionen will ich durch ein sinnliches Bild ersetzen. Man nehme zunächst einmal mit SPINOZA an, daß das Bewußtsein vollständig der Ausdehnung korrespondiert. Dann erfaßt jedes bestimmte ausgedehnte Ding sich selbst als ausgedehntes, aber nicht als ein ausgedehntes überhaupt, sondern als ein solches, dessen Ausdehnung durch eine aus mannigfachen Teilen bestehende fortwährend mehr oder weniger sich ändernde Oberfläche begrenzt ist. Ändert man nun diese Auffassung dahin ab, daß man das Bewußtsein, statt es bloß der Ausdehnung korrespondieren zu lassen, geradezu mit derselben identifiziert, so stellen die mannigfachen den Körper begrenzenden Flächen die Bewußtseinsaffektionen im sinnlichen Bild dar, die Ausdehnung des Körpers, sofern sie durch je eine dieser Flächen begrenzt ist, je eine Modifikation des Bewußtseins, die Ausdehnung des Körpers in ihrer Ganzheit und Einheit, das ganze einheitliche Bewußtsein.

Die Affektionen des sinnlichen Bewußtseins will ich wiederum unter dem Vorbehalt, das Wort später in einem engeren Sinn gebrauchen zu dürfen, Empfindungen nennen. Alsdann bilden die Empfindungen den Inhalt der Vorstellungen, aber nicht den alleinigen, vielmehr bildet den ganzen Inhalt jeder Vorstellung sie selbst, die Empfindung ist nur die bestimmte Bewußtseinsaffektion, durch welche die Modifikation, die Vorstellung genannt wurde, als solche besteht und diese bestimmte Modifikation ist. Ich habe nichts dagegen, wenn man das Wort  Empfindung  lieber so verwenden will, daß es dasselben wie  sinnliche Vorstellung  bezeichnet, dieses Selbige von einem anderen Gesichtspunkt aus betrachtend. Nämlich so könnte man zwischen Empfinden und Vorstellen unterscheiden, daß im Begriff des ersteren unser Gedanke, unsere Reflexion, von der Affektion zum affizierten und modifizierten Bewußtsein, in demjenigen des letzteren umgekehrt vom Bewußtsein zu seiner Modifikation und Affektion fortgeht.

Die Empfindungen sind teils solche, an deren bestimmter Qualität das Ich ein Interesse nimmt, d. h. angenehme oder unangenehme, teils solche, die ihm, soweit es ihre eigentümliche Qualität betrifft, gleichgültig sind, indifferent. Die ersteren pflegen sinnliche Gefühle genannt zu werden; die anderen mögen Empfindungen im engeren Sinn des Wortes heißen.

Die Untersuchung der Empfindungen im engeren Sinne des Wortes und der Gefühle innerhalb der Empfindungen im weiteren Sinne zieht eine analoge Unterscheidung innerhalb der Vorstellungen nach sich, die Unterscheidung derjenigen, deren korrespondierende Affektionen indifferente Empfindungen sind, und derjenigen, denen in derselben Weise Gefühle entsprechen. Die ersteren müssen Vorstellungen in einem engeren Sinne des Wortes genannt werden. Um die eigentümliche Natur der anderen zu verstehen, möge man bemerken, daß ein angenehmes Gefühl haben so viel heißt wie: ein Gefühl gern haben, und daß ebenso das ungern haben eines Gefühls mit dem haben eines unangenehmen Gefühls einerlei ist, ferner daß das gern haben ein haben wollen, ein zu haben begehren, das ungern haben ein nicht-haben wollen, ein zu haben verabscheuen ist, und endlich, daß das haben eines Gefühls, also auch das gern und ungern haben, das positive und das negative Begehren eines solchen, in einem Bewußtsein von ihm besteht. Demnach ist die Bewußtseinsmodifikation, die von der auf einer indifferenten Empfindung beruhenden Vorstellung im engeren Sinne des Wortes unterschieden werden sollte, als sinnliches Begehren (positives oder negatives) zu bezeichnen.

Wenn man freilich in den Begriff des Begehrens dies aufnimmt, daß der begehrte subjektive Zustand noch nicht erreicht ist, also erst in der vorschauenden Phantasie besteht, so darf das Wort hier nicht angewendet werden. Dann gibt es aber überhaupt in der bloß sinnlichen Seele noch kein Begehren, denn diese lebt ausschließlich in ihren momentanen wirklichen Zuständen. Da man übrigens von Verabscheuen nicht bloß in Beziehung auf erst drohende Zustände, sondern auch in Beziehung auf bereits eingetretene spricht, so ist nicht einzusehen, warum man für das analoge positive sozusagen  attrahierende  Verhalten, statt es mit unter dem Namen des Begehrens zu begreifen, einen neuen bilden soll. Noch mag die Andeutung erlaubt sein, daß sich wohl  alles  Begehren und Wollen als Verhalten des Bewußtseins zu einem wirklichen gegenwärtigen Zustand fassen läßt, nämlich das scheinbare positive Begehren eines erst durch die Phantasie Vorgestellten als negatives Begehren eines wirklich vorhandenen Mangelgefühls.

Es wäre ein Mißverständnis dieser Skizze, wenn man in ihr die Absicht erblicken würde, das Begehren aus einem bloßen Vorstellen abzuleiten. Denn sie meint nicht, daß ein sich immer selbst gleiches Vorstellen je nach den Bewußtseinsaffektionen, auf welche es sich bezieht, Vorstellen im engeren Sinne des Wortes oder Begehren zu nennen wäre; vielmehr will sie in der Tätigkeit des Bewußtseins, die zuerst allgemein Vorstellen genannt wurde, selbst einen Unterschied setzen, welcher nicht minder tiefgreifend ist, als derjenige zwischen indifferenter Empfindung und Gefühl, so daß der Begriff des Gefühls ebensosehr den des Begehrens voraussetzt, wie dieser jenen, und also nicht der Begriff des Vorstellens lediglich dadurch, daß man das Vorstellen auf ein Fühlen bezieht, in denjenigen des Begehrens übergeführt werden könnte. Man kann freilich in der Wortbestimmung sagen, das Vorstellen in einem weiteren Sinn sei Begehren, wenn es ein Gefühl zum Inhalt hat, aber mit demselben Recht auch, die Empfindung werde zu einem Gefühl, wenn sie einem Begehren entspricht oder widerspricht.

Sofern es sich demnach um das Verhalten des sinnlichen Bewußtseins zu seinen Affektionen und Modifikationen handelt, bin ich damit einverstanden, wenn man zwei Weisen desselben unterscheidet, auf deren eine, das Empfinden und Vorstellen im engeren Sinne des Wortes (in einem weiteren Sinne ist auch das Fühlen ein Empfinden, das Begehren ein Vorstellen) sich die Beschreibung beziehen läßt, die HERRMANN vom reinen Erkennen gibt. Aber abstrahieren wir nunmehr wieder von den Affektionen und Modifikationen des Bewußtseins, um dasselbe in seinem Verhalten zu sich selbst, wie es in allem Wechsel der Affektionen dasselbe bleibt, in aller Vielheit derselben Eines ist, - um es gleichsam der Substanz nach, oder, wie gesagt zu werden pflegt, als  reines  Bewußtseins zu betrachten. Vom Wechsel eines interessierten und eines gleichgültigen Verhaltens oder von einem teils interessierten teils gleichgültigen wird hier nicht die Rede sein können, da es sich eben um das handelt, was aller Mannigfaltigkeit und allem Wechsel des Bewußtseins als die bleibende Einheit zugrunde liegt. Nur zwischen zwei Ansichten steht demnach die Wahl; entweder ist das Verhalten des Bewußtseins, sofern es sich auf sich selbst abgesehen von aller Bestimmtheit seiner Zustände bezieht, ein interessiertes oder ein gleichgültiges.

Im ersten Fall ist das Bewußtsein wesentlich und immer Selbstgefühl und Selbstwille, im anderen ein kaltes Selbstempfinden und Selbstvorstellen. Im ersten Fall hat das Ich nicht bloß an seinen empirischen Zuständen Lust oder Unlust und begehrt oder verabscheut sie, sondern (da hier Unlust und Verabscheuen auch der radikalste Pessimist nicht denken wird), es hat auch an seiner Ichheit als solcher, an seinem Dasein überhaupt seine Lust und begehrt sich; im anderen Fall ist das Ich als solches ein teilnahmsloser Spiegel seiner selbst. Diese letzte Ansicht ist diejenige HERRMANNs, die andere die meinige.

Mir zerrinnt der Begriff des Bewußtseins, des Ich, in Nichts, wenn ich jenes Selbstfühlen und Selbstbegehren wegzudenken versuche. Das Bewußtsein ist gar nichts anderes als ein Selbstfühlen und ein Selbstbegehren. Ich denke, wenn ich dieses wegdenke, kein lebendiges Bewußtsein mehr (lebendiges Bewußtsein - Pleonasmus!), nicht einmal mehr eine Tätigkeit, eine Energie, Regsamkeit, sondern, wenn überhaupt noch etwas, ein selbstloses träges Sein wie etwa die Ausdehnung. Eine Form der Einheit soll es sein, aber was ist das für eine Einheit, die in ihrer Stumpfheit keinem Reiz, sich gegen die andrängende Vielheit als Einheit zu betätigen, zugänglich ist. Das ist die passive Einheit des Raums, in der alles gleichgültig nebeneinander liegt.

Man könnte einen Widerspruch darin finden, daß das Bewußtsein als solches Fühlen und Streben sein und sich doch gegen gewisse Affektionen und Modifikationen seiner selbst gleichgültig verhalten soll. Ist das Bewußtsein seiner Natur nach Interesse, so kann es niemals und in keiner Hinsicht ein uninteressiertes Verhalten annehmen; und umgekehrt, wenn es das kann, so läßt sich daraus der Begriff eines ansich gänzlich uninteressierten Bewußtseins bilden. Allein daß es ein schlechthin uninteressiertes Verhalten des Bewußtseins geben kann, ist gar nicht beantwortet worden. Denn die indifferenten Empfindungen wurden nicht als Affektionen definiert, an denen selbst, sondern als solche,  an deren eigentümlichen Qualitäten  das Bewußtsein kein Interesse nimmt. Indem das Bewußtsein an sich selbst seine Lust hat, hat es eine solche auch an  jeder  seiner Empfindungen, sofern dieselbe überhaupt seine Affektion und als solche eine Bedingung seiner Wirklichkeit ist, und damit an jeder seiner Vorstellungen, aber die besondere Qualität einer Empfindung, z. B. einer Farben-Empfindung, kann von der Art sein, daß sich in ihr dem Bewußtsein kein eigentümlicher Wert kund tut, sondern nur der allen Empfindungen gemeinsame, daß überhaupt in ihr das Bewußtsein wirklich ist. Immerhin muß jedoch zugegeben werden, daß hier eine Schwierigkeit liegt, daß es ein Problem ist, wie die Allgemeinheit des Lustfühlens in eine Besonderheit übergehen kann, die doch keine Besonderheit des Lustfühlens ist, ja sogar in eine Besonderheit, durch welche das Lustfühlen in ein Unlustfühlen verwandelt werden kann. Allein, wer besonnen und billig denkt, und aus eigenen Bemühungen um die Lösung der Rätsel der Bewußtseinstheorie deren Schwierigkeit kennt, wird vom gegenwärtigen Versuch nicht verlangen, daß er seinen Grundgedanken in allen seinen Konsequenzen sicherstellt.

Die Lehre vom reinen Erkennen, welche ich hier bekämpfe, leugnet auch ihrerseits das Selbstgefühl nicht; vielmehr gesteht sie ihm, wie demnächst ausführlich erörtert werden soll, eine kaum geringere Bedeutung zu als ich. Aber sie will es vom Bewußtsein unterscheiden. Das Bewußtsein gilt ihr als solches für ein durchaus sich selbst gleichgültiges Verhalten, alles Interesse gilt ihr für einen Inhalt, der aus dem Dunkel einer das Bewußtsein tragenden Seele fertig in dasselbe emporsteigt. Sie sagt vom Selbstbewußtsein, inwiefern dasselbe Gefühl und Wille zum Inhalt hat, es sei die  Ausdeutung  eines ursprünglichen Selbstgefühls (Seite 107). Ich setze voraus, daß sie auch die  besonderen  Gefühle und Begehrungen der Sinnlichkeit, die sogenannten physischen Lust- und Unlustgefühle und -Triebe, die ich als Affektionen bzw. Modifikationen des Bewußtseins zu fassen versucht habe, als einen derartigen, dem Bewußtsein ursprünglich fremden Seeleninhalt betrachte. Sie nimmt also ein zweifaches Ich an, das Ich des kalten und farblosen Selbstbewußtseins und das Ich der fühlenden und wollenden Seele. Und nur  die  reale Beziehung statuiert sie zwischen beiden, daß das Letztere, um am Licht des Bewußtseins zu partizipieren, sich gleichsam in das Erstere emporheben kann, und daß es dann dessen Tätigkeit in bestimmte Richtungen zu lenken die Kraft hat.

In  ausdrücklicher  Weise läßt die Lehre von der reinen Erkenntnis das fühlende und wollende Ich nur an einem ihm fremden Bewußtsein partizipieren. Heimlich aber gibt sie demselben noch außer seiner Beziehung zum Bewußtsein des vorstellenden Ich sein apartes Bewußtsein. Denn im Gefühl soll doch dem fühlenden Subjekt sein Dasein und der Wert desselben kund werden; das Selbst- und Daseinsgefühl soll ein sich selbst Innewerden der Seele sein. Ist aber das Kunde erhalten, das Innewerden etwas anderes als Bewußtsein? Wenn einer Seele das Bewußtsein schwände, wie könnten ihr alle inneren Spannungen und Regungen das erloschene Licht ersetzen? Was hätte sie also von ihrem Selbstgefühl, was ginge dasselbe sie überhaupt an? Nich einmal irgendein Nutzen für ein künftiges Bewußtsein erwüchse daraus. Denn dem erwachenden Bewußtsein würde die Aufgabe, den Wert des Daseins der Seele in sich aufzunehmen, um nichts dadurch erleichtert, daß sich desselben bereits das blinde Gefühl bemächtigt hätte. Man denke sich einen außerhalb der Seele stehenden Beobachter; würde demselben die Entdeckung des Seelenwertes dadurch erleichtert, daß die Seele ihn nicht bloß hätte, sondern auch fühlen würde?



Aber das reine Erkennen, behauptet sein Anwalt, offenbart sich in seinen Leistungen. Alles was KANT der Anschauung und der produktiven Einbildungskraft zuschreibt, nimmt er für das reine Erkennen in Anspruch, das sich zunächst als Anschauen und produktives Einbilden äußert. Die Mitteilung einiger Stellen wird zur Erläuterung genügen.
    "In der Mannigfaltigkeit vereinzelter Vorstellungen erweist sich das Bewußtsein als das identische Subjekt, welches sie alle als seine Vorstellungen hat. Aber dieses Wissen von sich als dem identischen Subjekt oder Ich ist nur dadurch möglich, daß es dem Bewußtsein zugleich gelingt, die vielen Einzelvorstellungen, welche ihm zeitlich gesondert gegeben sind, irgendwie auf ein Beharrliches zu beziehen, welches erlaubt, die einzelnen Vorstellungen nicht nur als zeitlich getrennt, sondern auch als irgendwie verbunden zu denken. In sich selbst findet nun das Bewußtsein eine solche beharrliche Einheit nicht, da in ihm alles wechselt; eine Vorstellung folgt der anderen. Wenn dem Bewußtsein nichts weiter zur Verfügung stände, als dies, daß es Subjekt der Einzelvorstellungen ist, so müßte sich das identische Ich vielmehr in eine endlose Folge verschiedener Subjekte zersplittern. Es muß etwas Neues hinzukommen, welches nicht schon im Bewußtsein und seinen (von uns hier in der Abstraktion) vereinzelten Zuständen enthalten ist. Dieses Neue ist die räumliche Anschauung. In ihr besitzt das Bewußtsein ein Beharrliches, auf welches der Wechsel seiner Zustände bezogen werden kann, während die Zeit, mithin alles, was im inneren Sinn ist, beständig fließt. Wenn das Ich nicht imstande wäre, dieselbe Mannigfaltigkeit räumlich geordnet anzuschauen, welche zunächst nichts als eine zeitliche Folge von Modifikationen seines Zustandes ist, so wäre eine Einheit des Bewußtseins überhaupt nicht möglich. Man darf mithin sagen, daß das Erkennen der Eigenschaften an einem räumlichen Gegenstand  reines  Erkennen ist; denn da die Einheit des Ich nicht wäre, wenn es nicht die Anschauung des räumlichen Gegenstandes produzieren würde, so bedarf es zu dieser Produktion nicht der Anregung durch den Willen, in welchem die Spannung eines Gefühls gelöst wird." (Seite 17-18)

    "Das Zeitverhältnis der Folge kann nur wahrgenommen werden in einer Zeit, als einem Beharrlichen. Es bedarf also, um auch nur jene Folge innerer Zustände aufzufassen, des Begriffs eines beharrlichen Substrates, auf welches das Zeitverhältnis der Folge als seine Bestimmung bezogen werden kann. Dieses Substrat kann das Ich selbst, das Subjekt der Einzelvorstellungen nicht sein, da es als solches vielmehr in eine Vielheit einzelner Subjekte zersplittert ist. Es handelt sich ja gerade darum, wie es sich trotzdem als das identische Subjekt in einer Mannigfaltigkeit von Zuständen behaupten kann. Es tut dies, indem es mittels der räumlichen Anschauung den bestimmten Gegenstand außerhalb seiner selbst produziert." (Seite 19)

    "In unserer Vorstellung vom äußeren Gegenstand steckt also dieser Begriff, der Begriff der Substanz, welchen das Ich handhaben muß, um durch die Erzeugung jener Vorstellung zu sein, was es ist, identisches Subjekt seiner Zustände."

    "Als ebenso notwendige Bedingungen für die Vorstellungen, welche wir faktisch von den räumlichen Gegenständen haben, erweist  Kant  die Begriffe der Kausalität und der Wechselwirkung." (Seite 20)

    "Überall daher, wo  reines  Erkennen eines Geschehens stattfindet, wird uns auch die Anwendung des Kausalitätsbegriffs begegnen." (Seite 21)
Ich füge diesem Bericht sogleich den weiteren über die Leistungen hinzu, welche dem reinen Erkennen  versagt,  aber dem vom Gefühl und Willen erfüllten möglich sein sollen.

Auf dem Gebiet des reinen von allem Zusammenhang mit anderen geistigen Funktionen isoliert gedachten Erkennens gibt es jenen Standpunkt nicht, von welchem aus jenes fast abschätzig klingende Urteil über die Vorstellungswelt des reinen Erkennens möglich wird, daß sie nur Erscheinungen umfaßt. Ob ein Gegenstand, der dadurch zustande gekommen ist, daß das Mannigfaltige der Anschauung in die Formen der Einheit des Bewußtseins eingegangen ist, bloßer Schein ist, dem keine Wirklichkeit entspricht, diese Frage kann dem reinen Erkennen gar nicht entstehen.
    "Der im Raum angeschaute Gegenstand ist ganz ebenso wirklich, wie das Bewußtsein selbst - nur sofern jener da ist, ist ja auch das Bewußtsein da."
Allerdings verlangt der lebendige Mensch mehr vom Ding, als ihm der kantische "Gegenstand" zu bieten vermag. Aber
    "sobald man Anstoß nimmt an dem Gedanken, daß das Ding aus lauter Vorstellungen bestehen soll, sobald man nach einer weiteren Erklärung des Mannigfaltigen im Raum fragt, welche über die immanente Verknüpfung desselben in sich hinausführt, so läßt man sich bereits von einem Interesse leiten, welches nicht mehr das des bloßen Erkennens ist." (Seite 30 und 31)
Woher denn nun aber die Begriffe der Erscheinung und des Dings-ansich?
     "Kant  nennt die Dinge des reinen Erkennens, die Objekte des bloßen vorstellenden Bewußtseins,  Erscheinungen.  Den Gegensatz der gewöhnlichen Meinung von den Dingen gegen diesen Begriff formuliert er im  Begriff des Dings-ansich.  Wir meinen, an den Dingen ein Mehr an Realität zu haben, als uns  Kant  an den erkennbaren Erscheinungen, an den Objekten möglicher Erfahrung aufweist. Die lebendige Person mit ihrem bestimmten und mannigfaltigen Inhalt, den sie in Gefühlen und Begehrungen erlebt, sieht nicht bloß vom Bewußtsein erzeugte Vorstellungseinheiten, sondern eine Außenwelt, welche den durch das Gefühl angeeigneten inneren Vorgängen als ein Fremdes, Verschlossenes gegenübersteht. Die Objekte unserer Vorstellungen gelten uns als wirklich, sofern sie von uns unabhängig sind. Damit ist ein Realitätspostulat ausgesprochen, welches auf dem Gebiet des reinen Erkennens nicht in Betracht kommen kann." (Seite 47, 48)

    "Die Relation zu unserem Gefühl gibt den Dingen den Hintergrund des Dings-ansich, der sie selbst zu Erscheinungen, zu Realitäten minderen Grades herabsetzt. Das Ding-ansich ist kein Korrelat des vorstellenden Bewußtseins, sondern das Korrelat des Subjekts, welches seines Daseins im Gefühl gewiß ist." (Seite 49)

    "Das vorgestellte Ding enthält nichts als Bestimmungen und Funktionen des Bewußtseins; es ist eine sinnliche Anschauung, welche als Fall eines Gesetzes gedacht wird. Wenn wir von diesem vorgestellten Ding das Ding-ansich unterscheiden, so sind es zwei Merkmale, in welchem wir das Letztere dem Ersteren entgegensetzen, die Unabhängigkeit der Dinge von uns und die Geschlossenheit in sich. Für beide Gedanken ist im bloß vorstellenden Bewußtsein kein Raum. Die Unabhängigkeit der Dinge von uns und die Geschlossenheit in sich. Für beide Gedanken ist in einem bloß vorstellenden Bewußtsein kein Raum. Die Unabhängigkeit der Dinge von uns wird erst denkbar, indem wir die Vorstellungseinheiten des Bewußtseins in Beziehung setzen zur gefühlsmäßigen Gewißheit unserer eigenen Existenz und Spontaneität." (Seite 51)

    "Das Ding ansich, das Unbedingte, ist ein Reflex des fühlenden und wollenden Subjekts in der Welt der reinen Erfahrung." (Seite 82)
Es ist durchaus konsequent von HERRMANN, wie zuerst die innere so nun auch die äußere Realität zu spalten. Dem unlebendigen selbstlosen Ich des vorstellenden Bewußtseins als Subjekt läßt er mit Recht eine Welt bloßer  Gegenstände,  eine hohle Erscheinungswelt als Inbegriff seiner äußeren Objekte entsprechen, und mit Recht erklärt er die Selbständigkeit und Geschlossenheit, die jeder, soweit er seinem natürlichen Verstand folgt, tatsächlich den äußeren Objekten zuschreibt, die kernhafte Realität, die  Dingheit,  für eine Setzung seitens des im Selbstgefühl und, wie ich hinzufüge, im Selbstwollen seiner eigenen kernhaften Realität gewissen Ichs.

In der näheren Bestimmung dieser Übertragung möchte ich ihm indessen, bevor ich ihr Ergebnis an sich prüfe, eine Modifikation vorschlagen. Die Übertragung würde, glaube ich, gewinnen, wenn er eine strengere Analogie bestehen ließe zwischen dem Verhältnis des bloß vorstellenden Ich zu den luftigen Gegenständen einerseits und demjenigen des fühlenden und des wollenden Ich zu den soliden Dingen andererseits. Wie er das solide Ding für einen Reflex des fühlenden Subjekts erklärt, so meine ich, würde er gut tun, auch die gegenständliche Erscheinung als einen Reflex jenes zu fassen. Das fühlende Ich überträgt, den eben mitgeteilten Aussprüchen zufolge, seine gediegene Realität auf die äußeren Gegenstände und erhebt sie damit (natürlich für seine eigene Meinung) zu Dingen; das bloß vorstellende dagegen soll seine haltlose Realität nicht auf die Empfindungsbestimmtheiten übertragen und sie so zu Gegenständen machen können, sondern umgekehrt sollen ihm die äußeren Gegenstände, zu denen es seine Empfindungen umgeformt hat, es erst ermöglichen, ein einheitliches und im Wechsel seiner Empfindungen und Vorstellungen mit sich identisches Ich zu sein, und sollen ihm so erst diejenige Realität geben, die es als bloß vorstellendes Subjekt besitzt. Es sei, meine ich, kein glücklicher Gedanke gewesen, so die Realität des vorstellenden Ich aus derjenigen seiner Gegenstände fließen zu lassen, während umgekehrt die dinghafte Realität aus derjenigen des ihr korrelativen Ich, d. h. des fühlenden, abgeleitet wurde.

Es scheint mir nämlich, daß das vorstellende Ich beharrliche Einheiten außerhalb seiner selbst zu ersinnen unfähig sein müßte, wenn es nicht zuvor in sich selbst eine beharrliche Einheit gefunden hätte. Wechselt, wie HERRMANN behauptet, im Bewußtsein ursprünglich alles und liegt alles in ihm zusammenhanglos nebeneinander, so kann es sich in alle Ewigkeit auf keine Weise zu einer beharrlichen Einheit machen, auch nicht auf dem Umweg des Vorstellens beharrlicher Einheiten außerhalb seiner selbst. Und selbst wenn ihm solche beharrliche Einheiten entgegentreten würden, so könnte es dieselben doch nicht als solche erkennen, solange es sich nicht selbst als beharrliche Einheit gefunden hätte. Und umgekehrt: wenn das Bewußtsein fähig ist, seine flutenden Empfindungen in die beharrlichen Einheiten von Gegenständen umzusetzen, so kann es ansich nicht die zusammenhanglose Vielheit und der ruhelose Wechsel sein, als welche HERRMANN es schildert. Kann denn ein Armer sich dadurch bereichern, daß er zuerst einem anderen Armen ein Kapital schenkt und dann mit ihm teilt? Könnte das vorstellende Ich eine Einheit und ein Beharren, welche es nicht besitzt, in seinen Empfindungsinhalt hineinlegen und denselben so zu Gegenständen machen, so könnte es auch wohl noch weiter in diese Gegenstände die Selbständigkeit und Geschlossenheit, die Momente jener soliden Dingheit, die ihm selbst abgeht, hineinlegen und aus ihnen zurückempfangen und das reine Erkennen würde dann also schon leisten können, was erst Zeugnis des vom Fühlen und Wollen belebten und gekräftigten sein soll.

Ich gebe zwar nicht zu, daß die Einheit des Bewußtseins nur im Vorstellen äußerer Gegenstände wirklich sein kann, kann mir vielmehr ein einheitliches und im Wechsel identisches Bewußtsein, welches ganz und gar auf ein Innenleben beschränkt ist, denken; doch davon bin auch ich überzeugt, daß, wenn das Bewußtsein irgendwie den Impuls zum Vorstellen äußerer Gegenstände empfängt, - daß sich dann seine Einheit in bestimmten Formen, die es diesen Gegenständen vorschreibt und die alle in der allgemeinen Form der Gegenständlichkeit enthalten sind, geltend machen muß. Aber Voraussetzung dafür ist, daß das Bewußtsein  zuvor  Einheit ist und, was wohl auch HERRMANN als dasselbe anerkennt, sich als Einheit erfaßt hält. HERRMANN selbst kann nicht umhin, die Einheit des Bewußtseins doch immer wieder als das Ursprüngliche und diejenige der Gegenstände als das Abgeleitete zu denken. Durch das reine Erkennen, lehrt er ja, vollziehe sich die Einheit des Bewußtseins (Seite 16); diese muß also doch wohl ein Besitz sein, über den das reine Erkennen verfügen kann, und dann ist es nicht wahr, daß die Einheit des Ich nicht wäre, wenn es nicht die Anschauung des räumlichen Gegenstandes produzieren würde (Seite 18), oder zumindest nicht dies, daß das Bewußtsein in sich selbst gar keine Einheit und kein Beharren zu finden vermag. Mit KANT läßt HERRMANN die Funktionen, durch die die Seele zu Vorstellungen von Gegenständen kommt, aus der Einheit des Bewußtseins entspringen (Seite 17); wie ist diese Behauptung vereinbar mit der anderen, daß im Bewußtsein alles wechselt und zusammenhanglos nebeneinander liegt?

Indessen scheint sich um dem Widerspruch zu entgehen noch ein Ausweg zu öffnen. Wie, wenn das individuelle Bewußtsein gar nicht entstanden wäre und es sich von jeher im Vorstellen äußerer Gegenstände betätigt? Dann würde allerdings in jedem Augenblick das Vorstellen äußerer Gegenstände die Einheit des Bewußtseins bereits zur Voraussetzung haben, aber andererseits wäre doch seine Einheit selbst ein Effekt solchen Vorstellens, nämlich eines  früheren.  Verzichten wir darauf, das Bewußtsein vor unseren Augen entstehen zu lassen, erklären wir vielmehr geradezu, es sei gar nicht entstanden, und fragen wir nur, wie es sich, das nun einmal mittels des Vorstellens äußerer Gegenstände als beharrliche Einheit bestehende, als solche  erhält,  so können wir antworten: dadurch, daß es seine Einheit von Neuem in einem äußeren Vorstellen geltend macht und sie im nächsten Augenblick von den vorgestellten Gegenständen zurückempfängt, um sie sofort wieder in derselben Weise zu projizieren und zurückzuempfangen. HERRMANN schlägt in der Tat einen Weg ein, der sich vom eben beschriebenen nur dadurch unterscheidet, daß die Entstehung des Bewußtseins statt geleugnet zu werden ins Unerforschliche geschoben wird. Nachdem er nämlich den Einfall LANGEs: daß die Tatsache der Verbindung des Mannigfaltigen in der Empfindung zur Einheit einer Vorstellung ganz wohl ein Vorgang sein kann, durch welchen wir als Subjekt erst entstehen, zurückgewiesen hat, bemerkt er:
    "Wir können jene Tätigkeit doch nicht in ihrer Wirksamkeit beobachten, bevor ein Bewußtsein da ist, dem sie dient. Wir kennen sie nur als Funktion des schon vorhandenen Ich, das durch sie im Ablauf der Empfindungen seine Identität erhält, indem es Vorstellungsverbindungen vollzieht. Da  Kant  aber nur auf eine Analyse der faktisch gegebenen menschlichen Vorstellung ausgeht, so genügt ihm der Nachweis, daß der Gegensatz von Subjekt und Objekt, welcher das Wesen der Vorstellung ausmacht, immer als Resultat auf einen Vorgang zurückweist, in welchem eine bereits bestehende Einheit des Mannigfaltigen sich als identisches Ich behauptet. Ob die Einheitsfunktion, durch welche dies geschieht, ursprünglich durch irgendwelche anderen Faktoren erzeugt ist, geht uns nichts an; wir kennen sie nur als Funktion des Ich, das ohne einen anderen Inhalt zu haben sich in ihr als das einheitliche Subjekt einer Mannigfaltigkeit von Vorstellungen erhält." (Seite 22 und 23)
Daß jedes individuelle Bewußtsein, jedes Ich unentstanden und unvergänglich ist, halte ich, wie ich anderwärts zu begründen versucht habe, in der Tat für einen notwendigen Gedanken; notwendig nicht der Tatsache des äußeren Vorstellens, sondern derjenigen des Selbstbewußtseins wegen. Bezüglich des Selbstbewußtseins nämlich erhebt sich eine Schwierigkeit, welche derjenigen, die HERRMANNs Theorie vom äußeren Vorstellen drückt, sehr ähnlich ist. Das selbstbewußte Ich ist Subjekt und Objekt, beides in Bezug auf sich selbst. Sowie aber die äußere Vorstellung HERRMANNs die Einheit des Bewußtseins, durch welches sie zustande kommt und diese wieder die äußere Vorstellung, in der sie allein wirklich ist, voraussetzt, so setzt, da Subjekt und Objekt korrelative Begriffe sind, das Ich als Objekt sich selbst als Subjekt und das Ich als Subjekt sich wieder selbst als Objekt voraus. Und nur die Annahme (die ich hier nicht wieder ausführen und begründen darf), daß das Ich von Ewigkeit her sich aus dem Objekt ins Subjekt und aus diesem wieder in jenes umwanelt und so in alle Ewigkeit fortfährt, kann den Widerspruch im Ich-Begriff lösen.

Ich will nicht untersuchen, ob sich in derselben Weise die wechselseitige Bedingtheit zwischen der beharrlichen Einheit des Subjekts und derjenigen des äußeren Objekts denken läßt. Angenommen, es ist so, so bliebe es doch dabei, daß das Subjekt die beharrliche Einheit zuerst in sich selbst findet und dann dazu benutzt, seine Empfindungsbestimmtheiten in ihm gegenüberstehende beharrliche Einheiten umzudeuten. Man müßte sich die Dauer des Ich denken als eine Reihe unendlich kleiner Zeitteile und jeden dieser unendlich kleinen Zeitteile damit ausgefüllt, daß das Ich, welches im Besitz zugleich der eigenen beharrlichen Einheit und äußerer Vorstellungen in denselben eingetreten wäre, seine ihm bis dahin bewahrte Einheit von Neuem dazu benutzte, seine Empfindungen auf äußere Gegenstände zu beziehen, und sie (seine Einheit) so in den nächsten Augenblick hinüberrettet. Nicht dürfte man einen unendlich kleinen Zeitteil in der anderen Weise abgrenzen, daß der äußere Gegenstand, der zu Anfang desselben vorgestellt würde, seine beharrliche Einheit dazu benutz, dem ihm gegenüberstehenden Ich, welches in den nächsten Augenblick eintretend seine Einheit zu verlieren in Gefahr wäre, diese Einheit zu erneuern. Denn durch eine solche Auffassung würde das Verhältnis, welches HERRMANN selbst zwischen Subjekt und Objekt statuiert, umgekehrt werden; sie würde nicht den äußeren Gegenstand aus dem Ich, sondern umgekehrt dieses aus jenem entspringen lassen, d. h. sie würde den äußeren Gegenstand zum Ich und das Subjekt zu dessen äußeren Gegenstand machen. Ich muß dabei bleiben, daß HERRMANN sich widerspricht, indem er lehrt, das Bewußtsein, aus dessen Beharrlichkeit und Einheitlichkeit die Beharrlichkeit und Einheitlichkeit des äußeren Gegenstandes entspringt, könne in sich selbst kein Beharren und kein Eins-sein finden und sei eben deshalb genötigt, äußere Gegenstände damit auszurüsten, um sich dann seinerseits von ihnen damit ausrüsten zu lassen.

Soviel über die Art, auf welche HERRMANN die Unterscheidung der bloßen Vorstellungsrealität und der Gefühlsrealität aus dem Gebiet des Selbstbewußtseins auf dasjenige des Bewußtseins von Außendingen überträgt. Gegen das  Ergebnis  der Übertragung finde ich im wesentlichen dasselbe einzuwenden, wie gegen die erste Unterscheidung selbst. Wie mein Begriff des Selbstbewußtseins in nichts zerrinnt, wenn ich alles Selbstfühlen und Selbstbegehren aus ihm herauszupräparieren suche, so auch der Begriff des äußeren Gegenstandes, wenn ich aus ihm jene Selbständigkeit fortlasse, von der HERRMANN mit Recht behauptet, daß das Vorstellen sie dem Selbstgefühl entlehnt, jene eigentliche solide Dingheit, welche der bloßen Erscheinung entgegengesetzt ist. Die Substantialität und die Kausalität, in welchen ich mit HERRMANN die beiden Momente erblicke, die sich zunächst im Begriff des Gegenstandes unterscheiden lassen, kann ich nicht denken ohne eine Selbständigkeit zu denken. Ich wüßte nicht, was mir das Wort  Substanz auf äußere Gegenstände bezogen, noch bedeuten könnte, wenn nicht einen Halt und eine Stütze, die es den Eigenschaften ermöglicht, das Untertanenverhältnis, in welchem sie zum empfindenden Subjekt als dessen Empfindungsbestimmtheiten stehen, zu verleugnen und den subjektiven Zuständen der Empfindung als Repräsentanten einer fremden Macht gegenüberzutreten. Wenn aber das vorstellende Bewußtsein den äußeren Gegenstand für ein Substantielles in diesem Sinn des Wortes nimmt, so meint es auch im Gegenstand ein Selbständiges, von ihm Unabhängiges, dem das Vorgestelltwerden nur eine äußerliche Beziehung ist, zu erblicken. Und ebenso müßte ich den Worten  Kausalität, Wirken,  wenn ich auf eine Selbständigkeit des wirkenden Dings Verzicht leisten wollte, in Zukunft einen Sinn beilegen, der gar nichts mehr mit demjenigen zu tun hätte, welchen jeder ihnen gibt, auch der Philosoph, sobald er sich mit seinen Mitmenschen, ja sobald er sich mit sich selbst verständigen will. Schon PLATO glaubte, wie der  Sophist  zeigt, die solide dinghafte Realität nicht besser bezeichnen zu können, als indem er ihr die Fähigkeit des Tuns und des Leidens zuschrieb. Die Stoiker und Epikureer sind ihm hierin gefolgt, und neuerdings hat LOTZE, der Meister in der Kunst, für den Gedanken den bezeichnendsten Ausdruck zu finden, auf die platonische Definition zurückgegriffen. Auch SEYDEL betont gegen HERRMANN den Zusammenhang des Kausalitätsbegriffs mit dem zwecksetzenden und mittelsuchenden Willen.

HERRMANN geht über KANT in einer Richtung hinaus, die ihn, wenn das vermeintliche Interesse der Theologie nicht ablenkend hinzuträte, zu einem ethischen Idealismus führen müßte, den FICHTE zu einem System zu gestalten versucht hat. Er hat sich davon überzeugt, daß wir im Ich-Bewußtseins mehr besitzen, als eine formale Einheit, aus der die Formen einer schattenhaften Gegenständlichkeit entspringen, nämlich ein Subjekt des Fühlens und Wollens, und daß sich uns in diesem Ich-Bewußtsein die echte Realität offenbart, die wir von den Dingen ansich verlangen. Aber dieser Schatz soll der weltlichen Wissenschaft, der die gefühlte Realität nichts weiter als ein Produkt rein subjektiver Einbildung ist (Seite 108), unzugänglich sein. Nur die Theologie soll ihn zu heben imstande sein. Für die weltliche Wissenschaft soll das Ich jener Schemen bleiben, zu dem die transzendentale Logik es ausgehöhlt hat, und außer diesem schemenhaften Ich soll es für die weltliche Wissenschaft nur jene schemenhafte Körperwelt geben, die selbst den  Schein  eines markigen kräftigen Daseins nicht in das erkennende, sondern nur in das fühlende und wollende Subjekt wirft. Diesem Begriff der weltlichen Wissenschaft wird der letzte Teil dieser kritischen Erörterungen gewidmet.



Das wissenschaftliche Naturerkennen ist nach HERRMANN nichts weiter als eine  absichtliche  Steigerung der Vorstellungstätigkeit (Seite 25), des reinen Erkennens, von welchem bisher insofern die Rede war, als es gleichsam ein mechanischer Effekt der Einheit des Bewußtseins ist. Diese Absicht entspringt praktischen Motiven. Keineswegs dient die wissenschaftliche Naturerklärung dem reinen Trieb des Erkennens, wenn sie auch nur mit den reinen durch keine praktische Voraussetzung getrübten Erkenntnismitteln arbeiten soll. Der durch das Gefühl der Lust und Unlust erregte Wille, auf die Natur zu handeln, ist auch die Quelle der Naturwissenschaft selbst; sie ist vorhanden nicht schon deshalb, weil das Bewußtsein die Natur erkennen muß, sondern deshalb, weil der fühlende und wollende Mensch die Natur beherrschen will (Seite 35). Erklären will der Mensch, weil er handeln muß (Seite 75). Auch von der Metaphysik gilt dies, welche somit gleich den speziellen Naturwissenschaften eine praktische Welterklärung ist (Seite 76). Wenn sowohl die Abhängigkeit der wissenschaftlichen Naturerklärung wie auch der Metaphysik von dem Zweck, die Welt mechanisch zu beherrschen, nicht anerkannt wird, so hat dies nur darin seinen Grund, daß man in der Regel das Pathos solcher Bedürfnisse in das wissenschaftliche Streben einfließen läßt, welche in demselben niemals Befriedigung finden können. Schlimmstenfalls hat jenes Sträuben seinen Grund in einem philiströsen Dünkel des zunftmäßigen Gelehrten, der es nicht einsehen kann, daß der  ganze  Mensch der Zweck jeder seiner Funktionen ist und daß die Würde jedes besonderen Berufes sich in dem Maß vergrößert oder verringert, wie er sich diesem Zweck unterwirft. (Seite 76)

Für die eigentliche Absicht dieser kritischen Erörterungen ist es gleichgültig, aus welchen Motiven das wissenschaftliche Erkennen abgeleitet und auf welchen Zweck es bezogen wird. Dennoch kann ich an den vorstehenden Erklärungen nicht vorübergehen, ohne gegen ihre Einseitigkeit Einsprache zu erheben. Daß aus dem vermeintlichen reinen Erkenntnisvermögen kein  Trieb  zur Erkenntnis entspringen kann, folgt aus dem Begriff desselben. Aber ohne der Folgerichtigkeit Abbruch zu tun, hätte HERRMANN anerkennen können, daß sich im vernünftigen Geist mit dem reinen Erkenntnisvermögen ein Trieb nach Erkenntnis um der Erkenntnis willen  verbindet,  dessen Befriedigung Lust gewährt und der auch ohne alle praktischen Nebenmotive die Erkenntnistätigkeit in Bewegung zu setzen vermag, ein Trieb auch nach einer solchen Erkenntnis, welche HERRMANN selbst der rein weltlichen zurechnet, z. B. nach der mathematischen. Wer einen solchen Trieb zugesteht, wird auch die zwar nicht jedem einzelnen Menschen aber den Menschheit obliegende Aufgabe, in der weltlichen Erkenntnis fortzuschreiten, nicht auf ein bloßes Mittel zum Zweck, sondern auf ein Moment im Endzweck des menschlichen Daseins beziehen. Ja, der Vollendung des  ganzen  Menschen soll das weltliche Erkennen dienen, aber der ganze Mensch ist eben nicht bloß der fühlende und wollende, sondern auch der erkennende.

Also eine Wissenschaft, die lediglich aus dem reinen Erkenntnisvermögen hervorgeht, gibt es nach HERRMANN nicht, denn die begehrende Seele muß den Trieb hergeben, der das reine Erkenntnisvermögen erst in Bewegung setzt und auf bestimmte Ziele richtet, - ein Satz, gegen welchen die Ansicht, daß es ein reines Erkenntnisvermögen in dem in Rede stehenden Sinn gar nicht gibt, natürlich nichts einzuwenden hat. Die Abhängigkeit auch der weltlichen Wissenschaften von einem praktischen Vermögen erstreckt sich nach ihm aber noch weiter. Von den beiden Zweigen derselben, die, nach KANTs Ausdruck, die ausgedehnte und die denkende Natur zum Gegenstand haben, gilt ihm jeder noch in besonderer Weise für bedingt durch das praktische Vermögen, so jedoch, daß in ihnen keine praktischen Voraussetzungen als  Argumente  gebraucht werden.

Zunächst die Wissenschaft von der  ausgedehnten  Natur (HERRMANN selbst bedient sich der Bezeichnungen ausgedehnte und denkende Natur nicht, dieselben müssen aber ganz in seinem Sinne sein, da ihm alles nicht theologische Erkennen als Naturerkennen gilt), ist mit der Voraussetzung behaftet, welche KANT in der Einleitung zur "Kritik der Urteilskraft" erörtert, der Voraussetzung einer Gleichartigkeit der Gegenstände, der zufolge sie nicht eine unübersehbare Mannigfaltigkeit, sondern eine unserer Fassungskraft angemessene Ordnung darstellen (Seite 32, 33). Diese zusammenhängende Begreiflichkeit der Natur nämlich läßt sich weder erkenntnistheoretisch aus den Bedingungen der Erfahrung ableiten noch empirisch beweisen; ihre Annahme ist vielmehr der Widerschein des Zwecks, dem wir das Erkennen unterordnen, auf dem Gebiet des Erkennens (Seite 34), sie ist die aus der bloßen Bewegung des reinen Erkennens nicht ableitbare Grundvoraussetzung, auf welche hin die Arbeit der wissenschaftlichen Naturerklärung unternommen wird (Seite 35). Mit dieser Voraussetzung bildet die Naturwissenschaft den Gedanken eines Weltganzen, das ist aber eine Realität anderer Art als die dem reinen Erkennen verständliche, einer Realität, wie sie vom fühlenden und wollenden Ich verlangt wird. Denn mit dem Gedanken des Weltganzen "wird gerade dasjenige absichtlich abgeschnitten, worin sich sonst für unser Erkennen die Realität eines Gegenstandes bewährt, die unermeßlichen Beziehungen desselben zu anderen Gegenständen in einer beharrlichen Wirklichkeit". (Seite 38)

Zweitens ist nach HERRMANN auch die Wissenschaft von der  denkenden  Natur, soweit es überhaupt nach ihm eine solche Wissenschaft geben kann, nicht bloß insofern durch das praktische Vermögen bedingt, da dieses wie alle Triebe so auch den Trieb des Erkennens hergeben muß, sondern noch in besonderer Weise. Wenn nämlich psychische Vorgänge als Gegenstände des Erkennens auftreten, so hat dies nur darin seinen Grund, daß das Bewußtsein im gleichmäßigen Fortgang des Erkennens aufgehalten wird durch das Gefühl für den unvergleichlichen Wert seiner Tätigkeit. (Seite 45, 46)

Nachdem hiermit über die Lehre von der praktischen Bedingtheit des wissenschaftlichen Erkennens berichtet ist, soll im Folgenden von den Leistungen die Rede sein, die dem so bedingten Erkennen zugestanden, bzw. nicht zugestanden werden.

Vermöge seines Zusammenhangs mit dem Gefühls- und Begehrungsleben der Seele ist das wissenschaftliche Welterkennen nach HERRMANN in zwei Richtungen befähigt, das ganz reine Erkennen auch in dessen denkbar größter Steigerung zu übertreffen. Es kann es bis zu einer Metaphysik der ausgedehnten Natur und wenn auch nicht zu einer eigentlichen Psychologie dann doch zu einem gewissen Ansatz zu einer solchen bringen.

Der Reiz zu metaphysischen Versuchen entspringt aus der Empfindung des Mangels, daß eine für den Betrieb wissenschaftlicher Welterklärung und mechanischer Weltbeherrschung eine so wertvolle Überzeugung, wie die alle Wissenschaft begleitende von der Möglichkeit einer zusammenhängenden Naturerklärung nur als reines Zutrauen existiert (Seite 69). Die Metaphysik bringt demnach dieselben Begriffe, mit denen sich die Wissenschaft als mit vorläufig beglaubigten Hypothesen in das grenzenlose Gebiet der Erfahrung hinauswagt, mit einer Vorstellung vom einem einheitlichen Wesen der Welt in eine solidarische Verbindung (Seite 70). Da jedoch jene Hypothesen sich fortwährend ändern, so ist es das unausbleibliche Schicksal jedes metaphysischen Systems, durch den nächsten weitgreifenden Fortschritt der Empirie als unnütz beseitigt zu werden (Seite 70). Übrigens ist die Religion imstande, das Bedürfnis, dem die Metaphysik für eine kurze Zeit zu genügen sucht, auf eine höhere Art dauernd zu befriedigen und somit die Metaphysik als System überflüssig zu machen. (Seite 75)

Eine eigentliche Psychologie erklärt HERRMANN für unmöglich. Den entscheidenden Grund für diese Ansicht erblickt er darin, daß unter  Seele  das letzte Subjekt für alle Vorstellungen verstanden wird, daß die Seele also nicht, wie sie doch als Erkenntnisobjekt müßte, ein Begriff ist, indem jeder Begriff als Prädikat von anderen Dingen gebraucht werden kann. Jeder Versuch, die Seele mit den Mitteln der Naturwissenschaft als ein Objekt neben anderen zu erkennen, führt direkt darauf, die subjektive Gewißheit von derselben aufzulösen.
    "Denn, wenn Gegenstände nur in ihren Beziehungen zu anderen erkannt werden können, so fordert im Gegenteil jene Gewißheit, daß das in seinem absoluten Wert gefühlte Dasein nicht wiederum als Prädikat eines anderen, also daß es beziehungslos gedacht wird." (Seite 42)
Das Erkennen der psychischen Vorgänge kann aber nur in ihrer Subsumtion unter das Kausalgesetz bestehen, dieses aber setzt den Begriff der Substanz voraus und der letztere wiederum läßt sich nur anwenden auf die räumliche Anschauung, so daß die beharrliche Substanz des Psychischen nur in der Materie gesucht werden kann. Man kommt daher, wenn die psychischen Vorgänge einmal erkannt werden sollen, mit Notwendigkeit auf die materialistische Erklärung (Seite 44, 45). So liegt, wenn auch in einem geringen Maß, die Möglichkeit vor, auch in den Zusammenhang der psychischen Vorgänge mit den gewohnten Mitteln wissenschaftlicher Welterklärung einzudringen, indem man die das psychische Ereignis begleitende materielle Bewegung der Beobachtung unterwirft. (Seite 101)

Selbstverständlich fühle ich mich nicht berufen, als Anwalt eines wissenschaftlichen Erkennens aufzutreten, welches keinen anderen Zusammenhang mit dem Gefühls- und Begehrungsleben der Seele hat als jenen äußeren, welchen HERRMANN ihr, wie oben berichtet, zugesteht. Vielmehr muß ich in der Kritik der Leistungsfähigkeit einer solchen Wissenschaft noch über ihn hinausgehen.

Zunächst behaupte ich von jener Metaphysik, die ihr Gebäude von jedem weitgreifenden Fortschritt der Empirie zertrümmert sieht, aber sogleich, in der sicheren Erwartung der Wiederholung dieses Schicksals, unverdrossen nach einem neuen Plan wieder aufzuführen unternimmt, daß ihre Arbeit tief unter derjenigen des bloßen Handlangers der Wissenschaft steht. Sie ist um nichts besser als LANGEs Begriffsdichtung, der gegenüber HERRMANN ihr einen Vorrang zu sichern bemüht ist (Seite 72). Für das geistreiche Geplauder der Salons mag jene Begriffsdichtung wie dieses Kartenhausbauen eine nicht unziemliche Beschäftigung sein, ein ernster wissenschaftlicher Kopf wird sich in der Stille seines Arbeitsraumes nie dazu prostituieren.

Jene Psychologie sodann, welche die mit psychischen Ereignissen verbundenen materiellen Bewegungen beobachtet, ist nichts anderes als Physiologie; mit dem Zugeständnis ihrer Möglichkeit wird also dem forschenden Geist kein Feld neben demjenigen der empirischen Naturwissenschaft eröffnet.

Was bleibt dann nun für die Philosophie? Etwa die Logik und die Ethik? Sofern HERRMANN überhaupt noch eine Logik und eine Ethik für möglich hält, muß er sie zu  theologischen  Disziplinen erklären. Denn beide stellen ihre Forschungen unter einen Gesichtspunkt, der dem reinen Erkennen gänzlich unzugänglich ist, und auch demjenigen wissenschaftlichen, welches zwar unter dem Einfluß von Gedanken steht, die der fühlenden und wollenden Seele entquellen, aber dieselben nicht in seinen Inhalt eindringen läßt. Nicht bloß die Ethik, sondern auch die Logik handelt ja von  Normen Normen aber kennt nur die fühlende und die wollende Seele. Die Logik schätzt die Wahrheit, im richtigen Denken sieht sie ein Besseres als im unrichtigen, im methodischen eine höhere Tätigkeit als im unmethodischen. Was weiß aber jene an das reine Erkennen sich anschließende Wissenschaft von solchen Unterschieden? HERRMANN wird sich dieser Konsequenz, die Logik und die Ethik entweder ganz zu beseitigen oder für die Theologie in Anspruch zu nehmen, nicht weigern können, wenn er sich der Worte erinnert, mit welchen er PFLEIDERER abstreitet, daß es so etwas wie "höchste Tatsächlichkeiten" für die Metaphysik geben könnte. PFLEIDERER hatte gesagt  (Herrmann  Seite 133):
    "Das wäre dann doch eine recht sonderbare Metaphysik, welche ihrer Aufgabe, das Tatsächliche zu erkennen, zu genügen glaubte, während ihr die höchste Tatsächlichkeit, der ethische und religiöse Geist, gar nicht vorhanden wäre."
Daß Religion und Sittlichkeit als Erscheinungen des geistigen Lebens Tatsachen sind, welche die Psychologie nicht außer Acht lassen darf, gibt HERRMANN zu, aber er will sie, wie es scheint, nur in dem Sinn für Gegenstände der Wissenschaft gelten lassen, für welche SPINOZA den klassischen Ausdruck erfand, indem er von der Natur und der Kraft der Affekte und der Macht des Geistes über sie ganz so handeln zu wollen erklärte, als ob es sich um Linien, Flächen oder Körper handelt. Denn er sagt:
    "Was soll es nun aber heißen, wenn diese psychischen Tatsachen als höchste Tatsächlichkeit bezeichnet werden? Ordnet denn die Wissenschaft, welches das Tatsächlichvorhandene erklären will, die Tatsachen nach ihrem Wert? Ich denke, je mehr sich die  erklärende  Wissenschaft aus der Form herausarbeitet, welche dem Mittelalter entsprach, desto mehr ist sie darauf bedacht, sich in der Auffassung des Tatsächlichen nicht durch Wertbestimmungen beeinflussen zu lassen."
Ist das richtig, so kann es auch keine erklärende Logik geben, denn die Logik stürzt zusammen, wenn aus ihr der Satz herausgezogen wird, daß das richtige Denken wertvoller ist als das unrichtige, die Wahrheit wertvoller als der Irrtum; wenn aber keine  erklärende  Logik, so nach der Konsequenz der Lehre vom reinen Erkennen überhaupt keine wissenschaftliche, denn für diese Lehre gibt es keine andere Wissenschaft als die erklärende.

Die Logik und die Ethik fallen jedoch schon mit der Verurteilung der nicht physiologischen sondern der psychologischen Psychologie. Oder haben diese Wissenschaften ein anderes Objekt als den Geist? Wie man auch zwischen der Psychologie und den normativen Wissenschaften unterscheiden mag, in diesem Objekt treffen sie zusammen. Ist also, wie HERRMANN behauptet, die eigentliche Psychologie unmöglich, weil der Geist kein Erkenntnisobjekt sein kann, so auch keine Logik und keine Ethik. Ist umgekehrt Logik oder Ethik möglich, so sind die gegen die Psychologie vorgebrachten Gründe unzulänglich, weil durch sie zuviel bewiesen wird. Übrigens kann ich hier nicht umhin, die Überzeugung auszusprechen, daß es bei der Unterscheidung der Psychologie einerseits, der Logik und Ethik andererseits nicht sein Bewenden haben kann. Ich meine nicht, daß die Logik und die Ethik den Charakter der bisherigen Psychologie annehmen müssen, sondern umgekehrt, daß die Psychologie sich in Logik und Ethik aufzulösen hat, indem darin der Grundbegriff der Seele liegt, daß sie sich selbst Normen vorschreibt und daß auch diejenigen psychischen Vorgänge, auf die sich direkt keine Normen beziehen, doch nur aus der Autonomie ihres Wesens begriffen werden können.

Daß mit der Psychologie, Logik und Ethik auch die Erkenntnistheorie, die Vernunftkritik, beseitigt ist und daß also HERRMANN, der doch von diesen Wissenschaften aus erst zur Theologie gelangen will, seinen eigenen Standpunkt untergraben hat, bedarf keines Nachweises mehr.

Mit der Philosophie braucht sich die Menschheit also in Zukunft nicht mehr abzumühen. Nur bis zu dem Punkt muß sie gepflegt werden, an welchem ihr der Nachweis entspringt, daß sie selbst unmöglich ist. Sie ist, nach den alten Vergleichen, die Leiter, die man umwirft, nachdem man das Ziel erreicht hat, das Feuer, das nicht bloß den Stoff, sondern auch sich selbst verzehrt, die Purganz [Reinigung - wp], die mit den bösen Säften zugleich sich selbst austreibt. Ich fürchte aber, sie treibt nicht bloß die bösen Säfte und sich selbst aus dem Leib der Wissenschaft aus, sondern läßt gar keine Säfte mehr darin. Denn wenn man näher zusieht, so gehen auch die guten Säfte der Mathematik und der empirischen Naturwissenschaft, welche zurückbleiben sollten, den Weg der Philosophie.

Die Mathematik geht von gewissen synthetischen Urteilen a priori aus, welche keines mathematischen Beweises mehr fähig sind. Entweder gründet sich nun die Gewißheit derselben auf gar nichts, und dann werden sie nicht erkannt, sondern  geglaubt;  oder man besitzt für sie einen erkenntnistheoretischen, einen transzendentalen Beweis. Ich will nun nicht darauf zurückkommen, daß die Lehre von der reinen Erkenntnis, indem sie alle Philosophie aufhebt, auch die Möglichkeit eines solchen Beweises bestreitet, sondern annehmen, derselben kann in der Tat geführt werden und zwar so geführt werden, daß er sich seinerseits nicht wieder auf einen Glauben, sondern lediglich auf Tatsachen und auf die formal-logische Denknotwendigkeit beruft. Nachdem der Beweis so geführt wäre, würde zwar der  Mathematiker  seine Zuversicht auf die Wahrheit seiner Axiome nach wie vor als Glauben besitzen, aber es müßte zugegeben werden, daß die  Mathematik  selbst damit dem Gebiet des Glaubens entzogen wäre. Allein bis jetzt ist jener Beweis tatsächlich nicht geführt, jedenfalls nicht von KANT. Denn da KANT lehrt, daß ein synthetisches Urteil a priori nicht durch die bloß formal-logische Denknotwendigkeit gewiß gemacht werden kann, so kann sein Nachweis der Apriorität und notwendigen Gültigkeit der mathematischen Axiome, wenn er anders mit seinen eigenen Prinzipien in Einklang stehen soll, nur entweder von Tatsachen oder von geglaubten Sätzen ausgehen. Geht er von geglaubten Sätzen aus, so bleit der Glaube die Grundlage des mathematischen Wissens; beruft er sich auf Tatsachen, so muß er von KANT selbst so lange für unzulänglich gehalten werden, wie die Behauptung aufrechterhalten wird, daß aus bloßen Tatsachen keine allgemeinen und notwendigen Wahrheiten abgeleitet werden können; es bleibt also wiederum beim Glauben. Würde eingewendet, die mathematischen Grundsätze seien unmittelbar gewiß, sie bedürfen ebensowenig wie eines mathematischen eines transzendentalen Beweises, so wäre zu erwidern, daß jene unmittelbare Gewißheit eben die des Glaubens ist. Mögen die mathematischen Grundsätze immerhin aus reiner Vernunft stammen (was übrigens nach kantischer Lehre gar nicht der Fall ist, da Raum und Zeit nicht Formen der Vernunfttätigkeit sind, sondern von der Vernunft als Dispositionen des unvernünftigen Teils der Seele vorgefunden werden sollen): solange nicht ohne alle Berufung auf Tatsachen sowie auf Glaubenssätze nachgewiesen ist, daß sie aus reiner Vernunft stammen und daß das, was daher stammt, notwendig wahr ist, auch wenn sein Gegenteil sich nicht widerspricht, solange bleibt die Gewißheit Glaube.

Duldet denn nun aber die an das reine Erkennen sich anschließende Wissenschaft den Glauben als einen Bestandteil in ihrer Grundlage? Nach der Beschreibung, die HERRMANN von ihr gibt, gewiß nicht. Auch wird wohl jeder zugeben, daß ein isoliertes Erkenntnisvermögen etwas derartiges wie Glauben hervorzubringen unfähig ist. Der Glaube, und nicht bloß dieser, sondern selbst die auf Tatsachen und Demonstration sich gründende  Überzeugung,  gehört nicht einer bloß erkennenden, sondern der zugleich fühlenden und wollenden Seele an.

Was von den Axiomen der Mathematik gilt, gilt auch von den Grundsätzen des reinen Verstandes, welche die empirische Naturwissenschaft auf Schritt und Tritt voraussetzt, dem Satz von der Beharrlichkeit der Substanz und dem Kausalitätsgesetz. Und so muß auch zum Naturerkennen einer Wissenschaft, die sich auf der Grundlage des HERRMANNschen reinen Erkennens aufbaut, die Fähigkeit abgesprochen werden. Noch in einer anderen Hinsicht kann die empirische Naturwissenschaft des Glaubens nicht entbehren. Jene Idee nämlich, welche HERRMANN selbst als eine unentbehrliche Voraussetzung dieser Wissenschaft nachweist, die Idee der Harmonie, Ordnung und Gesetzmäßigkeit in der Sinnenwelt, hat für den Naturforscher nicht bloß eine regulative und impulsive Bedeutung, sondern in jedem Schluß unvollständiger Induktion nimmt er sie unter seine vArgumente auf. Der Schluß, der dem hundertsten von hundert Dingen, die sich bisher als völlig gleichartig erwiesen haben, eine bis dahin an ihm nicht beobachtete Kraft deshalb zuschreibt, weil sie neuerdings an den neunundneunzig anderen beobachtet wird, hat nicht die mindeste Beweiskraft mehr, wenn ihm eine stillschweigend mitgedachte Prämisse genommen wird, nämlich die Prämisse, daß wahrscheinlicherweise das, was von 99 Dingen einer Klasse gilt, auch vom hundertsten gelten muß. Ohne diese Prämisse oder eine andere ihr wesentlich gleiche verstößt der Schluß gegen die Regeln der Syllogistik, wäre er einfach ein Fehlschluß und könnte als solcher nicht nur keine Gewißheit, sondern auch kein Minimum an Wahrscheinlichkeit gewähren. Wahrscheinlichkeit kann der Conclusio eines Schlusses nicht dadurch zukommen, daß der Schluß einem richtigen mehr oder weinger ähnlich sieht, (vom richtigen Schließen gilt, was die Stoiker vom richtigen Handeln behaupteten: es gibt kein Mehr oder Weniger in der Richtigkeit), sondern nur der Conclusio eines logisch völlig bündigen Schlusses, in welchem aber eine Prämisse oder beide nur auf Wahrscheinlichkeit Anspruch machen. Jene in einem unvollständigen Induktionsschluß stillschweigend mitgedachte Prämisse fließt aber aus der allgemeinen Glaubensüberzeugung, daß die Natur durchweg das Gepräge eines Werkes göttlicher Intelligenz trägt.

So ist es also nichts mit der reinen Wissenschaft. Selbst wenn es jenes reine Erkennen gäbe, von welchem wir gelesen haben, daß es sich als Anschauungsvermögen und produktive Einbildungskraft aus den Empfindungen eine Welt schemenhafter Gegenstände konstruiert, könnte es doch keine Fortsetzung in einer wenn auch noch so bescheidenen Wissenschaft finden, auch nicht, wenn ihm das fühlende und wollende Ich in einer äußerlichen Weise zuhilfe kommen, welche HERRMANN ihm zugestanden hat.

Gern gäbe ich nun noch meiner Kritik einen größeren positiven Gehalt durch den Nachweis, wie aus der Quelle desjenigen Selbstbewußtseins, das ich oben als das alleinige dem rein erkennenden HERRMANNs gegenüber zu behaupten bemüht gewesen bin, des, indem es vorstellt, zugleich fühlenden und wollenden Selbstbewußtseins, eine Wissenschaft geschöpft werden kann, die zwar nicht ohne Schranken aber doch nicht von der echten Realität ausgeschlossen ist. Allein Erörterungen von so ausgedehnter Art, wie sie dazu erforderlich wären, würden sich hier wohl nicht glücklich anfügen. Ich muß mich auf einige Worte der Verteidigung auf die oben berührte Argumentation HERRMANNs gegen die Möglichkeit einer solchen Wissenschaft beschränken.

Nach HERRMANN kann es, wenn ich ihn recht verstehe, ein Erkennen nur von  Prädikaten  geben. Alles Erkennen scheint von ihm als Beantwortung der Frage gefaßt zu werden, warum ein gewisses allgemeines Prädikat sich an einem gewissen Ding oder an einer gewissen Klasse von Dingen findet. Er gebraucht das Wort  Erkennen  synonym mit  Erklären  und erblickt die Aufgabe des Erklärens in jener Zurückführung eines Prädikates auf seine Ursache. Da nun das Ich nicht mehr als Prädikat gebraucht werden kann, indem es eben das letzte Subjekt aller Vorstellungen bedeutet, so kann es nicht mehr Erkenntnis- d. h. Erklärungsobjekt sein.

Es muß zugegeben werden, daß es Erkenntnis in diesem Sinne vom Ich nicht geben kann. Geradezu sinnlos wäre es zu fragen, warum dasjenige, das ich mein Ich nenne, mein Ich ist und nicht vielmehr ein Haus oder ein Baum, oder warum es gerade mein Ich und nicht ein anderes ist. Auch hilft es zur Möglichkeit einer solchen Erkenntnis nichts, daß man von der Eigentümlichkeit des eigenen Ich abstrahieren und auf dasjenige reflektieren kann, was ihm mit jedem Ich gemeinsam ist, auf seine Ichheit als solche. Denn auch in dieser Weise allgemein gedacht kann die Ichheit nicht zum realen Prädikat dienen. Wenn ich z. B. sage, auch das Tier ist sich selbst ein Ich, so denke ich doch nicht eigentlich Etwas, dem die Ichheit als Eigenschaft innewohnt, sondern bezeichnet mit dem grammatikalisch als Prädikat auftretenden Wort  Ich  das Subjekt, welchem alle Prädikate zukommen, die vom Tier, sofern es ein psychisches Wesen ist, ausgesagt werden dürfen. Ich denke nicht eigentlich über das Tier selbst, sondern über meinen  Begriff  des Tieres und sage von diesem das Prädikat aus, daß er der Begriff eines Ich ist; derjenige Begriff, denke ich, dessen Objekt durch das Wort  Tier  bezeichnet wird, hat zum Inhalt auch dies, daß alle dem Objekt innewohnenden Eigenschaften als Eigenschaften eines Ich gesetzt werden.

Jener Gebrauch des Wortes  Erkennen  ist aber nicht der allgemein übliche. Dem allgemeinen Sprachgebrauch entspricht es vielmehr zu sagen, daß man die  Subjekte  erkennt, mit deren Prädikaten man sich beschäftigt. Der Lehrsatz über die Winkelsumme eines Dreiecks z. B. ist eine Erkenntnis nicht der Eigenschaft, eine solche Winkelsumme zu haben, sondern des Dreiecks. In diesem Sinne des Wortes gibt es unzweifelhaft wenn irgendeine Erkenntnis so eine solche von  Individuen,  also von Subjekten, die nicht selbst wieder zu Prädikaten dienen können. Unsere Erde z. B. kann nicht als Eigenschaft eines anderen Dings gedacht werden, und doch ist es eine Erkenntnis derselben, daß sie um ihre Achse rotiert. Vorausgesetzt nun (hiervon soll sogleich näher die Rede sein), daß ich im Selbstbewußtsein Bestimmtheiten meines Ich finde, so würde ich, indem ich dieselben von ihm prädizieren, in einem solchen Urteil eine Erkenntnis ausdrücken, und es wäre am Ende nur ein Wortstreit, wenn auf der einen Seite behauptet würde, diese Erkenntnis hat das Ich, auf der anderen, sie hat eine prädizierte Bestimmtheit zum Gegenstand. Diese Erkenntnis wäre zunächst noch keine erklärende, sie konstatiert erst einen Tatbestand, aber einerseits hat auch das schon seinen Wert, andererseits würde, um der Natur des Ich als letzten Subjekts willen nicht daran verzweifelt zu werden brauchen, daß die prädizierte Bestimmtheit als Wirkung einer anderen gefunden, also erklärt werden kann.

Es ist wohl nur ein anderer Ausdruck für den in Rede stehenden Einwand, wenn HERRMANN mit KANT sagt, daß das Ich nicht erkannt werden kann, weil es kein  Begriff  ist, indem es nicht als Prädikat von anderen Dingen gebraucht werden kann. Zu ergänzen ist hier wohl der Satz: was erkannt werden soll, davon muß ein Begriff vorhanden sein. Ich gebe zu, daß man etwas, wovon man gar keinen Begriff hat, nicht erkennen kann, indem alles Erkennen eben die Bildung, Vertiefung, Klärung, Bereicherung eines Begriffs ist. Aber ich verstehe dann nicht mit KANT unter Begriff das  Prädikat  eines möglichen Urteils, sondern das  Subjekt.  Eine Vorstellung wird zum Begriff - in diesem Sinne nehme ich das Wort - wenn ihr Gegenstand zum Subjekt eines Urteils, nicht wenn er zum Prädikat eines solchen gemacht wird. Daß das Erkannte ein  Begriff  in einem anderen Sinn des Wortes sein muß, halte ich für ein Vorurteil des Kantianers.

Weiter bemerkt HERRMANN gegen die Möglichkeit der Selbsterkenntnis (Seite 107), die Einheit des Selbstbewußtseins darf, weil sie auf einem Gefühl beruth, nicht unter der Kategorie der Substanz vorgestellt werde. In diesem einzigen Fall soll die Einheit des Mannigfaltigen nicht durch die Beziehungsbegriffe (die Kategorien) gedacht, sondern im Gefühl erlebt werden; was aber nicht durch jene Begriffe zustande gebracht ist, das kann auch nicht ihnen gemäß erklärt oder in Beziehungen aufgelöst werden. Ganz einverstanden bin ich damit, daß das Ich nicht unter den Begriff der  materiellen  Substanz subsumiert werden kann. Aber ich bestreite durchaus, daß die Möglichkeit der Subsumtion unter diese der phänomenalen Welt angehörige Kategorie eine Bedingung der Erkennbarkeit des Realen ist. Die phänomenalen Dinge des Raumes können wir freilich nicht erkennen, ohne sie als materiell vorzustellen, aber für das Ich haben wir einen anderen ursprünglicheren Begriff der Substanz oder vielmehr aus dem individuellen Ich-Bewußtsein abstrahieren wir einen solchen. Als ein Substantielles denken wir alles, worüber wir kategorisch urteilen, durch die bloße Form des Urteils; was man auch immer von einem Gedachten aussagt, man denkt es lediglich dadurch, daß man überhaupt etwas von ihm aussagt, als ein substantielles Wesen. Das gilt auch in Bezug auf das Ich. Daß aber die Substantialität des Ich nun näher nach dem Muster der materiellen gedacht werden muß, ist so wenig richtig, daß wir vielmehr die materiellen Dinge, obwohl der Sinnenschein uns nötigt, sie als dem Ich entgegengesetzte Naturen vorzustellen, doch immer noch nach der Analogie unseres Ich zu fassen bemüht sind, indem wir eine Innerlichkeit, eine Selbstheit in sie hineindichten, die mit ihrer Materialität unvereinbar ist. Es handelt sich hier im Grunde genommen wieder um die oben behandelte Streitfrage, ob das Ich die Vorstellungen der Einheit und Beharrlichkeit aus sich selbst nehmen kann oder ob es dieselben den äußeren Dingen entlehnen muß, die es doch zuvor selbst damit begabt hat.

HERRMANN scheint mir, wenn er alles Erkennen als ein Auflösen in Beziehungen beschreibt, mit dem Gedanken, daß das Erkannte ein mögliches Prädikat von einem anderen Ding sein muß, den anderen zu verbinden, daß es in einem realen Zusammenhang mit anderen Dingen steht. Ob nun alles Erkennen auf solche reale Zusammenhänge zwischen den Dingen gerichtet ist oder ob es auch ein Erkennen gibt, welches ein Ding lediglich in seinem Fürsichsein betrifft, kann hier dahingestellt bleiben. Genug, daß jene Bedingung der Erkennbarkeit in Bezug auf das Ich erfüllt ist. Oder will HERRMANN leugnen, daß das Ich mit allen übrigen Dingen in der Einheit der Welt realiter verknüpft ist, mit diesen in einer mehr, mit jenen in einer weniger engen oder direkten Weise, oder will er behaupten, daß es zwar wirklich so ist, aber der Ichheit widerspricht?

Die Frage nach der Erkennbarkeit des Ich hätte sich für mich nunmehr zu derjenigen zugespitzt, ob das Ich Bestimmtheiten hat, die es im Selbstbewußtsein antrifft. Denn hat es deren, so sehe ich nach den bisherigen Erörterungen keinen Grund, warum dieselben nicht von ihm prädiziert werden dürfen oder warum solchen Prädizierungen der Name der Erkenntnis verweigert werden muß; noch auch, warum diese Prädikate keine Erklärung im Sinne HERRMANNs zulassen sollen. Einer Verneinung dieser Frage nun fürchte ich nicht zu begegnen, denn wer möchte in Abrede stellen, daß er in diesem Augenblick die und die Empfindungen hat, die und die Gedanken hegt usw., also daß er Bestimmtheiten hat. Aber sehr ungenügend hätte ich mein Interesse vertreten, wenn ich nur so ganz im Allgemeinen die Erkennbarkeit des Ich vertreten würde. Die  empirischen  Bestimmtheiten des Ich, welche niemand in Abrede stellen wird, sind es ja nicht, denen sich in erster Linie das Interesse des Philosophen zuwendet. Das Ich als solches, das Ich in seiner Ichheit ist das brennende Rätsel. Und so erhebt sich die bestimmte Frage: hat das Ich  als solches,  das  reine  Ich, noch Bestimmtheiten, in deren Prädizierung eine Erkenntnis von demselben liegen könnte? Hat das  reine  Ich-Bewußtsein noch einen Inhalt, der irgendwie dem Denken zu tun gibt?

Ich könnte, um mit einer Bejahung dieser Frage zu schließen, auf allerlei Aussagen hinweisen, die HERRMANN selbst über das Ich als solches sich zu machen getraut, z. B. das Ich sei Objekt eines Selbstgefühls, es finde sich als ein absolut Wertvolles, in ihm fallen Denkendes und Gedachtes zusammen (Seite 105). Allein ich kann die Frage nicht bejahen. Dem Ich als solchem wohnen in der Tat keine Bestimmtheiten mehr inne. Zum Begriff des Ich als solchem gelangen wir ja, indem wir von allem, was dem Ich anhängt, abstrahieren; das Ich als solches bedeutet uns das letzte Subjekt nicht bloß im Sinn eines solchen, das selbst kein Prädikat von anderen mehr ist, sondern auch im Sinne eines Subjekts, dem alle seine Prädikate anhaften, in dessen Begriff man aber eben deshalb darauf verzichtet, noch prädizierbare Bestimmtheiten zu besitzen; es bedeutet uns die Substanz, die allem im empirischen Selbstbewußtsein Erfaßten zugrunde liegt, sozusagen in ihrer Nacktheit.

Dieses Zugeständnis nötigt mich indessen nur zu dem weiteren, daß das Ich als solches kein Gegenstand einer  direkten  Erkenntnis mehr sein kann. Denn noch bleibt die Möglichkeit einer Erkenntnis, die direkt nicht das Ich als solches selbst, sondern unseren  Begriff  vom Ich zum Gegenstand hat. Angenommen, in diesem Begriff ist eine Vielheit ansich notwendig zusammengehöriger Momente zu unterscheiden, z. B. das Moment des Fürsichseins, des zu Anderen in Beziehung Stehens, des Selbstfühlens, des Selbstbegehrens, der Notwendigkeit, nicht reines Ich zu bleiben, sondern eine Vielheit empirischer Bestimmtheiten anzunehmen, der Zeitlichkeit, des Raumsetzens und dgl., so würden zwar vom Ich selbst keine Prädikate ausgesagt werden können (die Momente wären nicht Eigenschaften oder Zustände oder Verhaltensweisen, kurz Bestimmtheiten des Ich), wohl aber vom  Begriff  des Ich die Prädikate, daß alle jene Momente zu seinem Inhalt gehören, und es ließe sich eine Wissenschaft denken, welche alle jene Momente der Ichheit nicht nur aufzählt, sondern in der Notwendigkeit ihres Zusammenhangs entwickelt. Einen Beweis dafür, daß eine solche Wissenschaft möglich im realen Sinn des Wortes ist, kann nur ihre Ausführung oder doch der Anfang ihrer Ausführung geben.

Diese Wissenschaft würde eine echte Realität zu ihrem Gegenstand haben. Sie erneuert deshalb nicht die Anmaßung, die Welt aus ihren letzten Gründen begreifen zu wollen. Nicht auf den Standpunkt des Absoluten sich zu versetzen, um von dort aus die Welt zu konstruieren, unternähme das so philosophierende Ich, sondern in seiner eigenen Bedingtheit und Endlichkeit beschlösse es zu bleiben, die von diesem Standpunkt überblickbare Realität aber auch wirklich zu überblicken und in ihrem Zusammenhang nachzuzeichnen. Das Weltganze oder die Welteinheit würde auch ihm nicht für das Objekt eines Begriffes gelten, sondern einer Idee.

Die Idee des Weltganzen kann bezogen werden auf die phänomenale Welt, die das Erzeugnis des die Data der Sinne deutenden Verstandes ist, und auf die Welt der Dinge ansich, welche sich im Selbstbewußtsein des nicht bloß vorstellenden, sondern auch fühlenden und wollenden Ich dem Blick öffnet. In der ersteren Beziehung hat sie als die Idee eines Ganzen auf Phänomenen natürlich ebensowenig Realität wie jedes der Phänomene, die sie umfaßt. In der anderen Beziehung hat sie eine Realität, die nicht bloß über jener schemenhaften, welche nach HERRMANN das reine Erkennen seinen Gegenständen allein beizumessen berechtigt sein soll, sondern auch über der echten steht, welche uns auch nach HERRMANNs Lehre im lebendigen Ich-Bewußtsein kund wird. Es ist nämlich eine dreifache echte Realität zu unterscheiden, wie ich anderwärts darzutun bemüht gewesen bin: die Realität der Bestimmtheiten, welche den ansich seienden Dingen zukommen, diejenige der ansich seienden Dinge selbst und schließlich diejenige der ansich seienden Welteinheit, welche alle ansich seienden Dinge in sich faßt wie jedes ansich seiende Ding seine Bestimmtheiten. Die Realität, welche den Bestimmtheiten der Dinge ansich zukommt, kennen wir aus dem empirischen Selbstbewußtsein, der inneren Wahrnehmung; es ist die Realität, welche unsere Empfindungen, Gefühle, Strebungen, Gedanken als subjektive Zustände oder Tätigkeiten oder Ereignisse haben. Die Realität der Dinge ansich kennen wir aus dem Selbstbewußtseins, sofern es als dieses individuelle Selbstbewußtsein überhaupt in allen seinen empirischen Modifikationen enthalten ist; sie ist die Realität des sich in seiner Ichheit fühlenden und begehrenden Ich. Die Realität des Weltganzen endlich kennen wir gar nicht, wir  ahnen  sie nur; sie ist ein Gedanke, den zu bilden wir nicht umhin können und dessen Wahrheit wir nicht zu bezweifeln vermögen, dessen Inhalt aber in keiner Anschauung von uns erfaßt werden kann und der sich daher zu keiner wissenschaftlichen Erkenntnis entwickeln läßt. Das Ganze, die Einheit nicht der materiellen, sondern der ansich seienden geistigen Welt ist jenes  epekeina tes ousias  [über dem Sein Stehendes - wp], welches nur dem ihm selbst eigenen Erkennen zugänglich ist und  epekeina  des Erkennens für jedes in ihm befaßte Ding-ansich ist. Wenn hier also HERRMANN eine Schranke der weltlichen Wissenschaft statuiert, so stimme ich ihm bei; aber diese Schranke, meine ich, besteht nicht minder für die theologische wie für die weltliche Wissenschaft. Doch eigentlich eine Schranke ist es überhaupt nicht, denn aus dem Wesen des endlichen Geistes kann kein über sie hinauszielendes Erkenntnisbedürfnis, kein Trieb, sie zu übersteigen, erwachsen. So gewiß der endliche Geist kein Bedürfnis hat, Gott zu werden, hat er auch keines, Gott eigentlich zu erkennen. Wer es zu haben meint, täuscht sich selbst. Nicht einmal um unbeantwortbare Fragen handelt es sich hier, denn in Bezug auf die über aller menschlichen Vernunft stehende Realität können wir gar nicht einmal vernünftige Fragen aufwerfen; eine tiefere Selbsterkenntnis würde uns zeigen, daß die Fragen, die wir tatsächlich aufwerfen, in sich sinnlos oder widersprechend sind.

Die Gründe, um derentwillen ich nach wie vor am Satz des ethischen Idealismus PLATONs von der Korrelativität des Erkennens und Seins in dem Sinne eben dieses ethischen Idealismus (jedoch mit näheren Bestimmungen, die auf FICHTE hinweisen) festhalte, habe ich hiermit dargelegt. Zum Schluß bitte ich nicht verkennen zu wollen, wie wohl sich meine Polemik gegen das HERRMANNsche Buch mit der lebhaftesten Anerkennung seines Wertes verträgt. Ich wäre undankbar, wenn ich vergäße, wie mich dasselbe durch den Scharfsinn, die Gründlichkeit und die Klarheit seiner Untersuchungen gefesselt und durch den Inhalt derselben mannigfach gefördert hat. Und auch dies soll noch ausdrücklich hervorgehoben werden, daß sein Grundgedanke derselbe ist, aus dem auch meiner Erörterungen hervorgegangen sind. Sind wir doch beide davon überzeugt, daß das innerste Wesen des Geistes das ethische Gebiet ist und daß er nur als solches von wahrhafter Realität weiß und in die wahrhafte Realität sich erkennend vertiefen kann.
LITERATUR - Julius Bergmann, Die Erkenntnis aus dem praktischen Selbstbewußtsein, Philosophische Monatshefte, Bd. 16, Leipzig 1880