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WILHELM WINDELBAND
Der Gegenstand der
Erkenntnis

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"jeder Fortschritt von den Wahrnehmungen zu Begriffen und von den Begriffen zu höheren Begriffen wird immer durch die Fortlassung der verschiedenen und die Aufrechterhaltung der gemeinsamen Merkmale gewonnen. Die Logik nennt diesen Denkprozeß die Abstraktion: alles sich dadurch begründenden Ergebnisse haben den Wert einer Auswahl aus der unübersehbaren Mannigfaltigkeit des Wirklichen. Eine solche Vereinfachung der Welt im Begriff ist in der Tat die einzige Möglichkeit, unter der ein beschränktes Bewußtsein, wie das menschliche, über seine eigene Vorstellungswelt Herr sein kann."

"Was wir Gegenstand nennen, schon im ganz einfachen Wahrnehmen, ist niemals als solcher allein wirklich, sondern die Elemente, die in unseren Gegenstand als Bestandteile eintreten, stehen immer noch in zahllosen anderen Beziehungen, die in die Enge unseres Bewußtseins nicht hineingehen. Insofern machen wir selbst die Gegenstände."

"Die erste, die naive und unbefangene Betätigung des Erkenntnistriebes, ist ein unwissentliches Erzeugen ihrer Gegenstandswelt: nicht nur im Wahrnehmen, sondern auch in den daraus sich bildenden Meinungen gestalten sich die Gegenstände so scheinbar von selbst und so ohne Betätigung seelischer Aktivität, daß sie als Fremdes, Aufgenommenes, Geschautes in der Seele wiederholt und abgebildet zu sein scheinen."

"Die Metaphysik ist nur noch als Erkenntnistheorie denkbar, d. h. als die kritische Untersuchung der logischen Formen des Wirklichen, woraus wir dessen inhaltliche Bestimmtheit nicht abzuleiten imstande sind. An diesem Unterschied zwischen der logisch-mathematischen Form und dem davon abhängigen Inhalt der Realität bleiben wir als an einer letzten nicht weiter auflösbaren Dualität stehen."


§ 12. Alle die bisher betrachteten erkenntnistheoretischen Auffassungen hängen schließlich an der naiven Voraussetzung eines transzendenten Wahrheitsbegriffs, wonach das erkennende Bewußtsein einem Wirklichen gegenübersteht, das seinen Gegenstand bildet. Ob dieser Gegenstand in das Bewußtsein aufgenommen, ob er darin abgebildet oder darin durch ein Zeichen vertreten sein soll - das sind schließlich nur Abtönungen derselben Grundvorstellungsweise, und alle die daraus entwickelten Lehren, gleichviel welche Kategorie sie auf das Verhältnis von Bewußtsein und Sein anzuwenden versuchen, leiden an der Unmöglichkeit, den Zusammenhang zwischen dem Denken und seinem Inhalt, nachdem sie einmal metaphysisch auseinandergerissen sind, wieder herzustellen. Unter den vagen Ausdrücken "beziehen" oder "entsprechen" pflegt namentlich der Phänomenalismus dieses ungelöste Problem zu verstecken; aber es macht sich doch immer wieder, sobald das Verhältnis genauer bestimmt werden soll, in seiner ganzen Macht gelten. Von diesen Voraussetzungen die Noetik frei gemacht und sie damit erst ganz auf sich selbst gestellt zu haben, ist das Verdienst der kritischen oder transzendentalen Methode, welche KANT der psychologischen und der metaphysischen gegenüber aufgestellt, aber freilich selbst erst allmählich gefunden, entfaltet und aus den früheren Behandlungsarten mühsam herausgeschält hat. So fand er die Formulierung des erkenntnistheoretischen Problems in der bekannten Frage "auf welchem Grund beruth die Beziehung desjenigen, was man in uns Vorstellung nennt, auf den Gegenstand?" Wir können, ohne uns streng an die Schulformen der kantischen Lehre zu halten, uns ihre Eigenart wohl am einfachsten durch eine Betrachtung verdeutlichen, die zunächst vom Bewußtsein allein ausgeht.

Wir stoßen in allem Bewußtsein auf den fundamentalen Gegensatz zwischen der Funktion, der Tätigkeit oder dem Zustand und dem Inhalt, an dem sich diese Funktion vollzieht. Im Erlebnis des Bewußtseins sind beide untrennbar miteinander verbunden, und es ist weder die bloße Funktion ohne Inhalt, noch der Inhalt, ohne die darauf gerichtete Funktion möglich. Aber schon die psychologische Erfahrung zeigt in den Tatsachen des Gedächtnisses die Möglichkeit, daß dem Bewußtseinsinhalt zeitweilig eine Realität zukommt, ohne daß die Funktion des Bewußtseins an ihm tätig wäre, und die Unterscheidung des Wahren und des Falschen gilt andererseits als eine Gewähr dafür, daß manchem Bewußtseinsinhalt keine andere Realität zukommt als die des Vorgestelltwerdens. Aber jede Analyse dessen, was wir damit meinen, zeigt uns, daß wir von irgendeinem Inhalt als einem Wirklichen nur sprechen können, indem wir ihn auf irgendeine Art des Bewußtseins als dessen Inhalt beziehen. Vom empirischen Bewußtsein des Individuums steigen wir dabei zum kollektiven Bewußtsein irgendwelcher historischer Gruppen der Menschheit und darüber hinaus zu einem idealen und normativen Kulturbewußtsein, schließlich aber metaphysisch zu einem absoluten Weltbewußtsein empor: und zuletzt bilden den Grenzbegriff dieser unendlichen Reihe jene Vorstellung von einem Wirklichen, das gar keiner Art des Bewußtseins zu seiner Wirklichkeit bedarf. Dieses Sein ist das Wirkliche im Sinn des naiven Realismus und zuletzt auch im Sinn des philosophischen Begriffs vom Ding-ansich, und dieses meinen wir, wenn wir vom Gegenstand reden, auf den sich das Erkennen beziehen soll. Von hier aus unterscheiden wir dann wohl zwischen denjenigen Gegenständen, denen es wesentlich ist, Bewußtseinsinhalte zu sein, und denen, für welche die Aufnahme in das Bewußtsein erst als ein Neues hinzutritt. Die seelische Wirklichkeit gilt uns als eine solche, in der das Sein mit dem Bewußtsein eo ipso [schlechthin - wp] zusammenfällt; der extramentalen Realittät dagegen, meinen wir, ist es zufällig in das Bewußtsein aufgenommen zu werden, sie besteht auch ohne alle Tätigkeit des Bewußtseins. Freilich ist eine solche bewußtseinslose Wirklichkeit niemals auszudenken: denn wenn sie gedacht wird, wenn sie erkannt werden soll, ist sie ja bereits wieder zum Bewußtseinsinhalt geworden. Daraus folgt, daß wir uns Gegenstände der Erkenntnis in letzter Instanz gar nicht anders vorstellen können, denn als Inhalte irgendeines Bewußtseins. Es ist sehr interessant, diesen Gedanken an der Frage zu prüfen, worin die Wahrheit unserer Erkenntnisse über Vergangenes oder Zukünftiges besteht. Das Vergangene gilt auf den ersten Blick nicht mehr als ein Wirkliches und wen alle Erkenntnis eine Übereinstimmung der Vorstellung mit dem Wirklichen bedeuten soll, so ist dieses Kriterium der Wahrheit in dem gemeinten Sinn des Wortes für all unser historisches Wissen nicht anzuwenden. Dennoch muß irgendein Bestand angenommen werden, der auch für diese Erkenntnis den "Gegenstand" ausmacht und über ihre Richtigkeit oder Unrichtigkeit entscheidet. Ein Vergangenes somit, das in keiner Weise mehr den Inhalt irgendeines Bewußtseins bildet, würde niemals Gegenstand der Erkenntnis werden können. Und das Gleiche gilt mutatis mutandis [mit den nötigen Änderungen - wp] auch für alle unsere Erkenntnis des Zukünftigen, ja man kann dieselbe Betrachtungsweise auch auf all das ausdehnen, was im Raum als wirklich angenommen wird, ohne irgendwie wahrgenommen zu werden oder wahrnehmbar zu sein. Auch dasjenige, was dabei unter solchen Bedingungen als wirklich gelten sollte, welche die Beziehungen auf jedes wahrnehmenden oder wissende Bewußtsein ausschließen, würde für das Bewußtsein durchaus als nicht wirklich gelten müssen: es könnte weder gedacht, noch könnte von ihm geredet werden.

Wir müssen also den Begriff des Gegenstandes anders definieren, als es unter den Voraussetzungen des naiven Realismus zu geschehen pflegt, und das eben ist zuerst in der "Kritik der reinen Vernunft" geschehen. Im Bewußtsein selbst zeigt sich, sobald wir nur fragen, was mit ihm selbst und in ihm selbst gegeben ist, unter allen Umständen eine Mannigfaltigkeit des Inhalts zu einer Einheit verbunden. In dieser Synthesis besteht das, was wir den Gegenstand des Bewußtseins zu nennen haben; denn die so zur Einheit geformte Mannigfaltigkeit der Elemente wird damit zu etwas Selbständigem, woran sich die Bewegung der Vorstellungen weiter entwickeln kann. Jene Elemente aber, welche dabei zur Einheit verbunden werden, stammen niemals aus dieser Einheit selbst, sondern sie gehören als Teile der großen Gesamtsumme des Wirklichen an. Erst durch ihre Verknüpfung in einheitlicher Form werden sie Gegenstände des Bewußtseins. Der Gegenstand ist somit nicht als solcher außerhalb des Bewußtseins wirklich, sondern nur vermöge der Form, worin das Bewußtsein einzelne Teile des Inhalts miteinander zur Einheit verbindet: und die ganze Frage läuft schließlich darauf hinaus, unter welchen Bedingungen die synthetische Einheit des Mannigfaltigen den Wert einer Erkenntnis besitzt. Hier müssen wir in der Tat daran denken, daß es sich eben in unserer Untersuchung um die menschliche Erkenntnis handelt, um die Frage somit, unter welchen Bedingungen die Gegenstände, die im empirischen Bewußtsein aus der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen erwachsen, eine über die Vorstellungsbewegung im Individuum und in der Gattung hinausreichende Bedeutung besitzen. Sie können das offenbar nur, wenn die Art der Verknüpfung sachlich in den Elementen selbst begründet und eben damit als Norm für jede individuelle Art des Vollzugs der Synthese anzusehen ist. Nur wenn wir die Elemente in einem Zusammenhang denken, der ihnen sachlich zukommt, nur dann ist der Begriff, den der Mensch denkt, eine Erkenntnis des Gegenstandes. Gegenständlichkeit des Denkens ist somit eine sachliche Notwendigkeit. Aber an welchen Elementen sie sich vollziehen soll, das hängt jedesmal von der empirischen Bewegung des Denkens ab. Nur im letzteren Sinn ist somit die kantische Wendung gemeint, daß "wir" selbst es sind, welche die Gegenstände der Erkenntnis in dieser selbst erst erzeugen.

Denn alle die Gruppen, zu denen sich im empirischen Bewußtsein die Elemente des Wirklichen verknüpfen, eingeschlossen das empirische Selbstbewußtsein des Individuums selbst, sind eben Ausschnitte aus dem ganzen unermeßlichen Reich des Wirklichen. Gleichviel ob sie Dingbegriffe darstellen oder Begriffe des Geschehens, sind sie immer nur eine sehr begrenzte Auswahl aus der gesamten Realität, und alle die tausendfachen Beziehungen, worin jedes einzelne steht, was Gegenstand des Bewußtseins und der Erkenntnis sein kann, sind in einem empirischen Bewußtsein niemals miteinander vorstellbar. Auch das gereifte Bewußtsein des Kulturmenschen, worin sich die Arbeit vieler Generationen zur Einheit verdichtet, oder der wissenschaftliche Begriff, worin mit aller Ökonomie des Denkens viele potentielle Erkenntnisse anklingen, - auch diese höchsten Produkte des theoretischen Bewußtseins werden doch niemals die Totalität des Wirklichen zu umspannen vermögen. Die Synthesis des Mannigfaltigen ist im menschlichen Bewußtsein und deshalb für die menschliche Erkenntnis unweigerlich begrenzt. Schon in der Wahrnehmung ist immer nur eine Auswahl aus den möglichen Empfindungen auch des empirischen Bewußtseins gegeben, und jeder Fortschritt von den Wahrnehmungen zu Begriffen und von den Begriffen zu höheren Begriffen wird immer durch die Fortlassung der verschiedenen und die Aufrechterhaltung der gemeinsamen Merkmale gewonnen. Die Logik nennt diesen Denkprozeß die Abstraktion: alles sich dadurch begründenden Ergebnisse haben den Wert einer Auswahl aus der unübersehbaren Mannigfaltigkeit des Wirklichen. Eine solche Vereinfachung der Welt im Begriff ist in der Tat die einzige Möglichkeit, unter der ein beschränktes Bewußtsein, wie das menschliche, über seine eigene Vorstellungswelt Herr sein kann.

In diesem Sinn gilt es allgemein, daß das Bewußtsein seine Gegenstände selbst erzeugt und sich aus den Elementen des Wirklichen, die es als Inhalt in sich vorfindet, seine eigene Welt gestaltet. Für das ethische und das ästhetische Bewußtsein liegt dieses fundamentale Verhältnis, wie wir noch genauer sehen werden, derart auf der Hand, daß es sich fast von selbst versteht: seine Bedeutung für das theoretische Bewußtsein hat nur dadurch verdeckt werden können, daß unter der Voraussetzung des naiven Bewußtseins die Vorstellung entstand, es sei die Aufgabe der Erkenntnis, eine von ihr unabhängige Wirklichkeit abzubilden. Je mehr man sich aber deutlich macht, daß dieses Erkennen ja selbst ein Stück der Wirklichkeit und eines der wertvollsten bedeutet, umso mehr sieht man ein, daß dieses Erkennen selbst nichts anderes ist, als eine Synthesis der Elemente, die sich in deren Auswahl und Ordnung, wie schon im Wahrnehmen, unwillkürlich und dabei ergibt sich die gesamte Gestaltung unseres gegenständlichen Vorstellens in der Produktion unserer Welt als eines Ausschnitts aus der Realität. Was wir Gegenstand nennen, schon im ganz einfachen Wahrnehmen, ist niemals als solcher allein wirklich, sondern die Elemente, die in unseren Gegenstand als Bestandteile eintreten, stehen immer noch in zahllosen anderen Beziehungen, die in die Enge unseres Bewußtseins nicht hineingehen. Insofern machen wir selbst die Gegenstände. Aber sie sind deshalb nicht etwas anderes als die Wirklichkeit, nicht die uns bekannte Erscheinung eines unbekannten Ding-ansich, sondern eben nur ein Stück der Realität, ein Stück, welches als solches wirklich ist, aber niemals für die ganze Wirklichkeit selbst gelten darf. Nicht nur seine Bestandteile, sondern auch die Formen, in denen sich diese zu Gegenständen zusammenschließen, stecken in der Wirklichkeit selbst. Darin und darin allein besteht die Wahrheit unserer Erkenntnis, daß wir darin Gegenstände erzeugen, die nach Inhalt und Form in der Tat zur Realität gehören und doch eben in ihrer Ausgewähltheit und Geordnetheit als neue Gebilde daraus hervorwachsen. So gehört die Erzeugung dieser Gegenstände in der Erkenntnis selbst zu den wertvollen Gebilden der Realität, und wenn man die Bildung und Eigengestaltung dieser Gegenstände im menschlichen Erkenntnisprozeß mit dem Namen der Erscheinung bezeichnen möchte (eine Erscheinung aber, die in diesem Fall nicht qualitativ, sondern quantitativ bestimmt ist, indem sie ja nicht etwas anderes bedeuten soll als das Wesen, sondern nur eine Auswahl daraus), so kann man dafür das Wort LOTZEs in Anspruch nehmen, daß, wenn unser Erkennen nur Erscheinung enthalten soll, das Aufblühen dieser Erscheinung im Bewußtsein als eines der wertvollsten Geschehnisse anzusehen ist, die sich zwischen den Bestandteilen der Wirklichkeit überhaupt vollziehen können.

Verstehen wir so das Wesen der Erkenntnis als eine selektive Synthesis, welche im menschlichen Bewußtsein aus der unermeßlichen Fülle des Universums eine eigene Welt der Gegenstände erzeugt, so werden wir uns von diesem Punkt aus am besten in der Mannigfaltigkeit der Arten orientieren, worin sich dieses Wesen der Erkenntnis verwirklicht. Zunächst unterscheiden sich danach am einfachsten die vorwissenschaftliche und die wissenschaftliche Erkenntnis. Die erste, die naive und unbefangene Betätigung des Erkenntnistriebes, ist ein unwissentliches Erzeugen ihrer Gegenstandswelt: nicht nur im Wahrnehmen, sondern auch in den daraus sich bildenden Meinungen gestalten sich die Gegenstände so scheinbar von selbst und so ohne Betätigung seelischer Aktivität, daß sie als Fremdes, Aufgenommenes, Geschautes in der Seele wiederholt und abgebildet zu sein scheinen. Erst im wissenschaftlichen Erkennen geht die Erzeugung der Gegenstände wissentlich und deshalb absichtlich vonstatten. Aber die Art dieser Erzeugung ist verschieden, je nachdem sie von den Formen oder von den Inhalten des Bewußtseins ausgeht. So unterscheiden wir (nicht mehr in einem psychogenetischen, sondern in einem logischen Sinn) rationale und empirische Wissenschaften. Dabei tritt der synthetische, die Gegenstände erzeugende Charakter des Erkennens deutlicher bei den rationalen als bei den empirischen Disziplinen zutage. Daher ist es vor allem unter den rationalen Wissenschaften die Mathematik, welche seit PLATON als Leitstern für die Erkenntnistheorie gegolten hat. Denn bei ihr ist es ganz klar, daß ihre Gegenstände nicht als solche vom Bewußtsein übernommen und überkommen, sondern vielmehr eigens und von innen her erzeugt sind. Das gilt von den Zahlen in derselben Weise wie von den Raumformen. Möge die Erfahrung noch so sehr den Anlaß bilden, nach welchem wir den einen oder den anderen arithmetischen oder geometrischen Begriff bilden, so sind doch diese Begriff selbst niemals Gegenstände der Erfahrung: und so hat schon nach der naiven Weltansicht die mathematische Einsicht gar nicht die Aufgabe, irgendeine bestehende Realität im gewöhnlichen Sinn des Wortes wiederzugeben, zu erfassen oder abzubilden. Mathematische Erkenntnisse sind völlig unabhängig davon, ob es etwa ihrem Inhalt Entsprechendes in natura rerum gibt oder nicht. Aber sie zeigen gerade deshalb in ihrer Eigenart das Wesen des Erkennens. Denn nachdem einmal der Gegenstand, sei es aus empirischem Anlaß, sei es aus einer von der sinnlichen Phantasie willkürlich bestimmten Reflexion erzeugt worden ist, wie etwa der Kreis oder das Dreieck, der Logarithmus oder das Integral, so ist alle daran fortschreitende Erkenntnis unweigerlich an dieses selbsterzeugte Gebilde gebunden und in seiner Richtigkeit oder Unrichtigkeit sachlich von dessen gegenständlichem Wesen abhängig.

Neben der Mathematik erkennen wir als rationale Wissenschaft heute nur noch die Logik an, die sich zu den Formen des Denkens ebenso verhält wie jene zu den Formen der Anschauung. Auch hier wiederholt sich jenes eigenartige Verhältnis zwischen der Selbsterzeugung der Gegenstände und der Abhängigkeit, in die sich das Denken davon selber versetzt. Aber die Geltung, welche wir für die mathematischen und die logischen Formaleinsichten in Anspruch nehmen, ist nicht nur darauf beschränkt, daß sie, einmal gedacht und im wissenschaftlichen Begriff fixiert, allgemeine und notwendige Anerkennung von jedem normalen Bewußtsein verlangen, sondern sie gelten uns auch als bestimmende Mächte in der Gesamtheit der Dinge. Die Gesetzmäßigkeit der Zahlen und der Raumgrößen, diese Erkenntnis von Arithmetik und Geometrie, bestätigt sich in den Zusammenhängen der Körperwelt und findet sich in den Naturgesetzen wieder, worin die Wissenschaft diese darstellt. Die Geltung der logischen Formen aber hat für uns in dem Maß eine reale Bedeutung, daß wir uns die Welt nicht anders als in der durchgängigen Bestimmtheit durch sie vorzustellen imstande sind. Insofern sind die beiden rationalen Wissenschaften in ihrer Wahrheitsart durchaus parallel zueinander, und diese Analogie zwischen beiden gilt weiter in dem Sinne, daß beide Wissenschaften, auf die Formen der Wirklichkeit beschränkt nicht imstande sind, daraus die inhaltlichen Bestimmungen der Realität für unsere Erkenntnis abzuleiten. Hinsichtlich der logischen Formen hat man sich wohl der Täuschung hingegeben, als gestatteten sie eine Ausdeutung zur inhaltlichen, sachlichen Wesenheit der Wirklichkeit. So entstand der rationalistische Dogmatismus der Metaphysik, dessen Unhaltbarkeit durch die kritische Philosophie ein für allemal festgestellt wurde. Seitdem dürfen wir die Homogenität der beiden rationalen Wissenschaften als eine feste Grundlage der Erkenntnislehre betrachten. Beide beziehen sich auf die Formen der Wirklichkeit und in dieser Hinsicht gelten auch die mathematischen Formen für die Realität ganz in demselben Maß wie die logischen. Aber die Metaphysik ist eben deshalb nur noch als Erkenntnistheorie denkbar, d. h. als die kritische Untersuchung der logischen Formen des Wirklichen, woraus wir dessen inhaltliche Bestimmtheit nicht abzuleiten imstande sind. An diesem Unterschied zwischen der logisch-mathematischen Form und dem davon abhängigen Inhalt der Realität bleiben wir als an einer letzten nicht weiter auflösbaren Dualität stehen. Wir werden zwar verlangen und ahnen, daß beide, die wir stetig aufeinander bezogen finden, irgendwie in einer letzten Einheit gemeinsam wurzeln. Aber diese wäre nur in der absoluten Totalität einer universellen Wirklichkeit zu suchen, aus der wir immer nur ein Stückwerk als das Eigenwert unserer wissenschaftlichen Erkenntnis für uns aufzubauen imstande sind. Alle sachlichen Einsichten der Wissenschaft wie des täglichen Lebens beruhen auf Erfahrung.

Aber gerade die empirischen Wissenschaften zeigen nun auch in ihrer Weise jenen selektiven Charakter der menschlichen Erkenntnis, der sich in ihnen als eine wissentliche, wenn auch nicht immer deutlich ihrer selbst bewußte Auswahl aus der unübersehbaren Mannigfaltigkeit des Wirklichen darstellt. Wenn nämlich die Unterscheidung zwischen rationalen und empirischen Wissenschaften auf der Verschiedenheit ihrer Ausgangspunkte beruth, so teilen sich die empirischen Wissenschaften nach der Mannigfaltigkeit der Erkenntnisziele, die sie verfolgen. Dieses Erkenntnisziel liegt bei dem einen Teil der empirischen Wissenschaften in einem rein logischen Wert, in der Allgemeinheit. Die logischen Werte der Allgemeinheit aber stellen sich als Gattungsbegriffe der Dinge oder des Geschehens, als Typen oder Gesetze dar, und die reale "Geltung" dieser "Ideen" für alles darunter begriffene Besondere ist das Grundverhältnis, welches die "Natur", den Inbegriff der Dinge und dessen was zwischen ihnen geschieht, als den Kosmos zusammenhält. Alle Naturforschung hat als letztes Ziel die Einsicht in die Formen dieser kosmischen Gesetzmäßigkeit, soweit sie unserem in Raum und Zeit begrenzten Erkennen zugänglich sind: und jene über die subjektive Anerkennung hinausgehende absolute Geltung der mathematischen und der logischen Formen, unter denen sich die Inhalte der Erfahrung zu synthetischen Gebilden und in letzter Instanz zum Kosmos zusammenschließen, geben uns die Gewähr, daß wir es hierin mit einer Ordnung zu tun habe, die über die spezifisch menschliche Bestimmtheit der Vorstellungen hinausreicht und ihre gegenständliche Bedeutung zu völliger Realität steigert.

Der Naturforschung als derjenigen Art des empirischen Wissens, welche auch die Herausarbeitung dieses Kosmos aus dem Wust unserer Wahrnehmungen gerichtet ist, stehen diejenigen wissenschaftlichen Tätigkeiten gegenüber, die auf das Festhalten und das durchgängige Verständnis singulärer Wirklichkeiten gerichtet sind. Solche Singularitäten können aber, da es ihnen am logischen Grundwert der Allgemeinheit gebricht, Ziele des Erkennens nur in dem Fall sein, wo ihnen irgendein anderer Wert innewohnt. Alle anderen Werte jedoch kennen wir nur in denjenigen Gebilden, welche in ihrer empirischen Erscheinung dem Menschenleben angehören und darin dasjenige betreffen, was vom Menschen aus der übernommenen Umwelt herausgearbeitet worden ist. Es sind die Gebilde der Kultur, die, im Verlauf der menschlichen Geschichte erzeugt und geboren, sich zu einer Gesamtheit zusammenschließen, die wir als den historischen Kosmos jenem ersten, dem natürlichen, gegenüberstellen. Gewiß waltet auch in diesem historischen Kosmos die universelle Gesetzmäßigkeit, und auch in ihm herrscht als in einem Teil der universellen Wirklichkeit jenes Grundverhältnis, worin sich das Einzelne dem Allgemeinen unterworfen zeigt. Aber nicht das ist es, weswegen die geschichtlichen Begebenheiten und Gebilde das Ziel einer eigenen, von der Naturwissenschaft sich methodisch und prinzipiell unterscheidenden Forschung bilden: sondern die Grundabsicht liegt hier darin, den Zusammenhang des historischen Lebens als die Verwirklichung von Werten zu verstehen, die wiederum in ihrer Geltung über eben dieses Menschenleben, an dem sie sich im Bewußtsein und zur Anerkennung entwickeln, mit objektiver Geltung hinausreichen. Die Kulturforschung oder die Geschichtswissenschaft, wie man bisher geläufiger zu sagen gewöhnt ist, bedeutet ein werthaftes Erkennen, während die Naturforschung nur den logischen Wert der Allgemeinheit im Auge hat und sich sonst als eine wertfreie Weltansicht bezeichnen zu dürfen glaubt. Aber das Werthafte in der Geschichtsforschung besteht nun nicht etwa in der Schwächlichkeit eines Moralisierens und Bewertens der Gegenstände, sondern vielmehr darin, daß hier die Gegenstände selbst wiederum erst in der Wissenschaft durch die Beziehung auf einen Wert zustande kommen. Durchaus nicht alles, was geschieht, ist darum geschichtlich: sondern Gegenstand der Kulturwissenschaften ist immer etwas, was mit Rücksicht auf einen der großen Werte des Lebens aus der Unmenge dessen, was mit ihm und an ihm sonst noch geschehen ist, herausgehoben und damit eben zum historischen Gegenstand gemacht wird; ein solcher ist in dieser seiner Herausgehobenheit niemals real gewesen, sondern erst in der methodischen Forschung als das so in sich geschlossene Gebilde herausgestellt worden. So sind der natürliche Kosmos und der historische Kosmos, wie sie von der empirischen Wissenschaft in letzter Instanz gewonnen werden, Neugebilde des wissenschaftlichen Denkens, und ihre Wahrheit bestht nicht in der Übereinstimmung mit etwas genau so extra mentem Realem, sondern wiederum darin, daß ihre Inhalte der unermeßlichen absoluten Realität angehören, aber diese nicht etwa als Ganzes, sondern eben nur als das vom menschlichen Wissen herausgearbeitete Stück enthalten.

Diese Einteilung der wissenschaftlichen Erfahrungsweisen nach den Zielen einerseits der Naturforschung und andererseits der Kulturforschung deckt sich nicht vollständig mit der geläufigen Einteilung von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften, wie sie sich aus den vielen Versuchen einer Klassifikation der Wissenschaften als die meist anerkannte herausgestellt und eingebürgert hat. Denn diese letztere beruth auf der metaphysischen Dualität von Natur und Geist weit mehr als auf der psychologischen Dualität von äußerer und innerer Erfahrung und sie betrifft deshalb die Gegenstände der wissenschaftlichen Untersuchung nicht im kritischen Sinn der modernen Erkenntnistheorie. Diese weiß, daß aus denselben Gruppen des absolut Wirklichen ebensogut Gegenstände der Naturerkenntnis, die auf die Heraushebung der allgemeinen Gesetzmäßigkeit gerichtet ist, wie andererseits historische Gegenstände herauszuarbeiten sind, deren Formung an der wertbestimmten Auswahl des Besonderen orientiert ist. Besonders bedeutsam aber ist der Unterschie beider Einteilungen hinsichtlich der Psychologie. Ihr Verhältnis zu beiden Einteilungen ist kein einfaches, sondern dadurch verwickelt, daß ihre Aufgaben, wie sie sich in der neueren Zeit gestaltet haben, sich von den psychophysischen Elementarstudien der Individualpsychologie bis zu den verwickelten Gebilden der Sozialpsychologie erstrecken, deren Analyse an die Grenzen der historischen Forschung streift. In der Mitte aber zwischen beiden Extremen steht die Erkenntnis des inneren Sinnes, die Selbstwahrnehmung des Bewußtseins, die für alle Hilfsdisziplinen auch auf der Seite jener Extreme die fundamentale Voraussetzung bildet. Ihrem Hauptstoff und ihrer wesentlicihen Bestimmung nach ist die Psychologie Naturforschung im Sinne einer Gesetzeswissenschaft: in die Kulturwissenschaften reicht sie nur insofern hinein, als sie etwa in der Art der Charakterologie seelische Individualitäten als solche, sei es in ihrer einmaligen Gegebenheit, sei es in ihrer typischen Struktur zu verstehen sucht. In der Einteilung von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften dagegen findet die Psychologie nur kümmerlich ihren Platz auf der Seite der letzteren. Man redet ja vielfach so, als sei sie deren Grundwissenschaft, weil ja doch alle Geisteswissenschaften und insbesondere die geschlichtlichen immer von Vorgängen handeln, die wir als solche des menschlichen Bewußtseins kennen. Aber diese Phrasen haben mit den tatsächlichen Verhältnissen der Forschung nichts zu tun. Die Einsichten der wissenschaftlichen Psychologie, die in der Aufstellung allgemeiner Gesetze gipfeln, sind für den Historiker völlig gleichgültig. Die großen Historiker haben auf die Experimente und die Enquêten unserer Psychophysiker nicht zu warten brauchen. Die Psychologie, mit der sie gearbeitet haben, war die des täglichen Lebens, war die Menschenkenntnis und Lebenserfahrung des gemeinen Mannes, gepaart mimt dem Tiefblick des Genies, des Dichters. Diese Psychologie des intuitiven Verständnisses zu einer Wissenschaft zu machen, ist noch keinem geglückt.

Wie man aber auch versucht, die Wissenschaften inhaltlich nach ihren Gegenständen einzuteilen - immer wird man darauf stoßen, daß diese Gegenstände nicht einfach als solche gegeben sind, sondern erst durch die wissenschaftliche Begriffstätigkeit selbst geformt werden. Daher ist es niemals möglich, von den sogenannten Gegenständen aus die Wissenschaften reinlich zu scheiden; eine solche Sonderung gelingt nur hinsichtlich des wissenschaftlichen Verfahrens selbst. So wie wir in der praktischen Arbeit der Wissenschaft ihre einzelnen Teile voneinander abgegrenzt und dann wieder (wie etwa in den Zusammenhängen des akademischen Lebens) gruppenweise verbunden finden, entsprechen sie niemals der logischen Disjunktion [Unterscheidung - wp], sondern in jeder Disziplin, man wähle welche man wolle, kreuzen sich Gedankengänge naturwissenschaftlichen Charakters, in denen Ideen, Typen, Gesetze gesucht werden, mit Forschungen historischen Wesens, die den Wert des Einmaligen zum Prinzip ihrer Gegenständlichkeit haben. Am feinsten verflechten sich diese Momente miteinander überall bei der Feststellung der Kausalzusammenhänge des einmal Wertvollen. Hier kommen Naturforschung und Kulturforschung darin zusammen, daß der gesetzmäßige Ablauf verstanden werden soll, worin sich die letzten Werte der Welt verwirklichen.

Im Ganzen jedoch zeigt sich, daß die Erkenntnistheorie in der Anerkennung der Autonomie der Einzelwissenschaften nicht zu weit gehen kann. In der Methodologie hat man längst auf den Wahn einer Universalmethode verzichtet, die für alle besonderen Disziplien gleichmäßig gelten sollte; man hat eingesehen, daß die Verschiedenheit der Gegenstände auch eine Verschiedenheit im Verfahren ihrer wissenschaftlichen Bearbeitung verlangt. Wenn nun die Erkenntnistheorie begriffen hat, daß schon diese Gegenstände der selektiven Synthesis des wissenschaftlichen Denkens entspringen, so darf nicht verkannt werden, daß alle Momente des Wahrheitsbegriffs für jede besondere Wissenschaft durch ihre Eigenart bestimmt sind, und daß man auch nach dieser Richtung die vielgestaltige Lebendigkeit des menschlichen Weltdenkens nicht in eine abstrakte Formel zwängen kann.
LITERATUR - Wilhelm Windelband, Einleitung in die Philosophie, Tübingen 1920