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FRIEDRICH PAULSEN
Einleitung in die Philosophie
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"Der Ausgangspunkt der vulgären Vorstellung ist ein naiver Realismus. Sie ist überzeugt, daß unsere wahren Vorstellungen den Dingen gleichen, wie Kopien den Originalen; die falschen sind eben darum falsch, daß sie nicht treue Abbilder des Wirklichen sind."

"Die Unterscheidung primärer und sekundärer Qualitäten läßt sich nicht halten; Ausdehnung, Solidität, Bewegung sind ebensowenig wie absolute Bestimmungen der Dinge wie Farben und Töne. Dieselbe Betrachtung, die uns dahin führt, die sekundären Qualitäten in das Subjekt zu verlegen, nötigt uns auch, die Subjektivität der sogenannten primären Qualitäten anzunehmen. Damit fällt das objektive Dasein der Körper selbst. Wir haben keinen Grund zu behaupten, daß ein unserer Vorstellung von einem Körper ähnliches Etwas auch außerhalb unserer Vorstellungswelt vorhanden ist. Ausdehnung, Solidität, Bewegung sind in derselben Weise, wie Gerüche und Geschmäcke, Farben und Töne als bloße Symbole einer transzendenten Wirklichkeit anzusehen."


Erstes Kapitel
Die erkenntnistheoretischen Probleme

Einleitendes

Die erkenntnistheoretischen Fragen stehen gegenwärtig - oder vielleicht darf man schon sagen, standen bis vor Kurzem; denn ein Umschwung ist in letzter Zeit unverkennbar - im Mittelpunkt des philosophischen Interesses. Sie hatten die Aufmerksamkeit von den metaphysischen Fragen vielfach ganz abgelenkt; manchen schien die Aufgabe der Philosophie überhaupt in der Erkenntnistheorie aufzugehen. Zumindest aber, glaubte man, muß allen weiteren Erörterungen die erkenntnistheoretische Untersuchung der Fähigkeiten und Grenzen des Erkennens voraufgehen.

Die Geschichte ist diesen Weg nicht gegangen. Die Philosophie hat überall mit Metaphysik begonnen; Fragen nach der Gestalt und Entstehung des Universums, nach Natur und Ursprung des Seienden, nach dem Wesen der Seele und ihrem Verhältnis zum Leib bilden die ersten Gegenstände des philosophischen Nachdenkens. Erst nach langer Beschäftigung mit solchen Fragen tritt die Frage nach dem Wesen des Erkennens und seiner Möglichkeit überhaupt hervor. Sie wird hervorgetrieben durch die zwiespältigen Ansichten, auf welche das Nachdenken über die physischen und metaphysischen Fragen führt. Der Zwiespalt drängt die Frage auf: ist es dem menschlichen Verstand überhaupt möglich, jene Frage zu lösen? Die Erkenntnistheorie entwickelt sich als kritische Reflexion über die Metaphysik. So ist der Gang der Geschichte im Altertum, so wieder in der Neuzeit.

Die griechische Philosophie beginnt mit kosmologgisch-naturphilosophischen Spekulationen. Die ionische, die eleatische, die atomistische Philosophie sind in erster Linie metaphysische Systeme. Es fehlt nicht an einer Ansicht über das Wesen und den Ursprung der Erkenntnis- aber sie bleibt abhängig von der Metaphysik. Und ähnlich steht die Sache in den großen begrifflich-spekulativen Systemen PLATOs und ARISTOTELES'; die Erkenntnistheorie fehlt nicht, aber sie wird gleichsam vom Standpunkt der Metaphysik behandelt: das Erkennen findet sich auch in der Wirklichkeit, und so entsteht die Aufgabe, seinen Ort zu bestimmen. Erst in den späteren akademischen und skeptischen Schulen tritt die Frage nach der Möglichkeit des Erkenntnis und der Gewißheit in den Vordergrund, nachdem sie zuerst von den Sophisten allgemein gestellt war.

Ebenso beginnt die moderne Philosophie mit metaphysischen Systembildungen; das 17. Jahrhundert, mit seinen großen Systematikern, DESCARTES, HOBBES, SPINOZA, LEIBNIZ gleicht darin dem 5. Jahrhundert v. Chr. Auch hier fehlt die Erkenntnistheorie nicht, aber sie wird vom Gesichtspunkt der Metaphysik konstruiert. Mit LOCKEs "Versuch über den menschlichen Verstand" wird die Erkenntnistheorie selbständig; sie entsteht wie die Vorrede zu diesem Werk zeigt, als kritische Reflexion über die Metaphysik, zunächst über die herrschende Schulmetaphysik, die mit ihren leeren Begriffen den Verstand verdunkelt und die Erkenntnis hemmt, doch auch über die Metaphysik der modernen Systeme, besonders des DESCARTES. Ihr Ziel ist, die Gegenstände möglicher Erkenntnis zu ermitteln und die Grenzen der Erkenntnis abzustecken; mögliche Wissenschaften findet sie vier: Mathematik und Moral als demonstrative, Physik und Psychologie als erfahrungsmäßige Wissenschaften. Für Metaphysik ist eigentlich kein Raum, wenn man nicht eben die Reflexion über die Erkenntnis darunter verstehen will. An LOCKE schließt sich DAVID HUME. In der französischen Philosopohie ist AUGUSTE COMTE der Hauptvertreter dieser Ansicht, nach ihm wird sie Positivismus genannt. Der deutschen Philosophie ist sie, nicht ohne beträchtliche Umbildungen, durch KANT angeeignet worden, sie heißt bei ihm Kritizismus. Der neuen Metaphysik, welche auf erkenntnistheoretischer Grundlage von der spekulativen Philosophie aufgerichtet wurde, sowie ihrem Nachfolger, dem dogmatischen Materialismus, ist dann im Neukantianismus wieder die kritische Reflexion der Erkenntnistheorie gefolgt.

Eine Einleitung in die Philosophie war darauf hingewiesen, den historischen Weg zu gehen und mit der Metaphysik zu beginnen. Dazu kommt, daß für das allgemeine Interesse die Metaphysik immer die erste Stelle einnehmen wird. Übrigens bin ich der Ansicht, daß die metaphysischen Fragen auf jeden Fall eine selbständige Behandlung erfordern und nicht durch erkenntnistheoretische Erwägungen ersetzt werden können; sie kehren, wo man es versucht, unter anderem Titel und in unbequemerer Fassung wieder. KANT hat der deutschen Philosophie kein gutes Beispiel gegeben, daß er der Metaphysik die Selbständigkeit genommen und sie in die erkenntnistheoretische Untersuchung hineingezwängt hat; die Fragen der Psychologie, Kosmologie und Theologie werden in der Dialektik mehr beseitigt und abgewiesen, als behandelt und gelöst.

Ich will im Folgenden bloß ein paar Umrisse erkenntnistheoretischer Betrachtung geben, so viel als mir erforderlich und ausreichend erscheint, über die Natur dieser Untersuchungen im allgemeinen zu orientieren und der vorausgegangenen metaphysischen Behandlung der philosophischen Probleme die von dieser Seite notwendigen Ergänzungen zu geben. - Wir vergegenwärtigen uns zunächst die Hauptprobleme der Erkenntnistheorie und ihre möglichen Lösungen.

Auf zwei letzte Fragen laufen die erkenntnistheoretischen Untersuchungen hinaus, die Frage nach dem Wesen und die Frage nach dem Ursprung des Erkennens: was ist Erkennen? und Wie wird Erkenntnis gewonnen?" Jede dieser Fragen gibt zur Entstehung eines großen Gegensatzes der Anschauung Veranlassung: Realismus und Idealismus oder Phänomenalismus sind die beiden entgegengesetzten Grundformen der Beantwortung er ersten, Sensualismus oder Empirismus und Rationalismus der zweiten Frage.

Auf die Frage nach dem Wesen der Erkenntnis gibt der Realismus die Antwort: Erkennen ist Abbildung der Wirklichkeit, die Vorstellung ist dem Ding vollkommen ähnlich, sie ist ein alterum idem [ein Zweites vom selben - wp] des Dings, nur ohne die Dingheit oder Wirklichkeit. - Der Idealismus oder Phänomenalismus dagegen behauptet, Vorstellungen und Dinge, Denken und Sein sind durchaus verschieden und völlig unvergleichbar.

Auf die Frage nach dem Ursprung der Erkenntnis gibt der Sensualismus oder Empirismus die Antwort: alles Erkennen entspringt der Wahrnehmung, sei es äußerer oder innerer; durch die Kombination von Wahrnehmungen entsteht Erfahrung; durch die Sammlung und Bearbeitung der Erfahrung entsteht Wissenschaft. - Der Rationalismus dagegen behauptet: alle eigentliche oder wissenschaftliche Erkenntnis entspringt aus der Vernunft, d. h. aus der immanenten Entwicklung von Folgerungen aus ursprünglich gewissen Prinzipien, die nicht aus der Erfahrung stammen.

Da jede Erkenntnistheorie auf beide Fragen antworten und also zu beiden Gegensätzen Stellung nehmen muß, so erhalten wir ein viergliedriges Schema möglicher Grundformen der Erkenntnistheorie. Es sind:
    1) Realistischer Empirismus; seine Behauptung ist: wir erkennen die Dinge durch die Wahrnehmung, wie sie ansich sind. - Es ist die Anschauung, der die gemeine Vorstellung am nächsten kommen dürfte.

    2) Realistischer Rationalismus; seine Behauptung ist: wir erkennen die Dinge, wie sie sind, aber nicht durch die Sinne, sondern nur durch die Vernunft. - Es ist die Anschauung, die den großen metaphysischen Systembildungen eigen ist: Plato, Spinoza, Hegel behaupten alle eine adäquate Erkenntnis der Wirklichkeit durch Vernunft.

    3) Idealistischer Empirismus; seine Behauptung ist: wir wissen um die Dinge nur durch Wahrnehmung, freilich gibt diese keine adäquate Erkenntnis. - Es ist die erkenntnistheoretische Kritik der rationalistisch-metaphysischen Systeme, welcher diese Auffassung angehört; Hume ist ihr konsequentester Vertreter.

    4) Idealistischer Rationalismus; seine Behaptung ist: wir können die Wirklichkeit a priori durch reine Vernunft erkennen, freilich nicht, wie sie ansich ist, sondern nur, wie sie uns erscheint und zwar nur der Form nach. - Das ist die Anschauung Kants.
Von den Geschichtsschreibern der Philosophie pflegt noch eine andere Form der Erkenntnistheorie aufgeführt zu werden: der Skeptizismus; seine Behauptung ist: wir können überhaupt nichts erkennen. Hin und wieder gibt sich auch noch jemand die Mühe, diese Ansicht zu widerlegen. Es scheint mir eine überflüssige Mühe. Wenn es jemals einen wirklichen Skeptizismus gegeben hat, so ist er doch in der Neuzeit ausgestorben. Es gibt hier keinen Philosophen, der daran zweifelt, daß es ein wirkliches Wissen gibt, das sich vom Nichtwissen unterscheidet. Man pflegt auf HUME als Vertreter des Skeptizismus hinzuweisen. HUME spielt allerdings mit dem Ausdruck, er ist durch die Mißverständnisse seiner Auffassung hinlänglich gestraft worden; es ist ihm aber nie eingefallen zu behaupten, es gebe keine Wissenschaft. Er hat nur einerseits behauptet, daß die natürliche Theologie mit ihren Beweisen des Daseins Gottes und der Unsterblichkeit der Seele keine Wissenschaft ist; andererseits, daß es unmöglich ist von Tatsachen anders als durch Erfahrung zu wissen und daß es eben darum keine allgemeine und notwendige Erkenntnis von Tatsachen geben kann. - Es ist KANT, der HUME zum Skeptiker gestempelt hat, gegen den er die Wissenschaften oder die Möglichkeit der Metaphysik und selbst der Mathematik retten muß. Was die reine Mathematik angeht, so beruth KANTs Urteil über HUMEs Skeptizismus auf einem reinen Mißverständnis; was die Metaphysik anlangt, so verwirft er nicht weniger als HUME die rationale Theologie, Kosmologie und Psychologie. Es bleibt die Physik; hier geben beide zu, daß es eine solche Wissenschaft gibt; verschieden ist nur ihre Ansicht über die Form und die Natur der Gewißheit ihrer Sätze; KANT meint, es seien darunter absolut allgemeine und notwendige Sätze (synthetische Urteile a priori), während HUME auch die Grundsätze nur als auf Erfahrung beruhende, präsumtiv [als wahrscheinlich angenommen - wp] allgemeine Sätze gelten lassen will; ein Unterschied der Ansichten, der nicht zweckmäßig durch den Ausdruck bezeichnet wird: HUME leugnet die Möglichkeit der Physik überhaupt.

Soviel ich sehe, steht es mit den übrigen sogenannten Skeptikern ähnlich; sie leugnen nicht die Möglichkeit oder das Dasein der Wissenschaften, sondern betonen nur die Beschränktheit und Ungewißheit menschlicher Wissenschaft, verglichen mit einem möglichen Ideal der Erkenntnis, wie es in einem göttlichen Geist Wirklichkeit haben mag. Der Skeptizismus innerhalb der modernen Philosophie richtet sich überall eigentlich gegen die Anmaßungen der transzendenten Spekulation; er zeigt ein doppeltes Gesicht, sofern er entweder den religiösen Glauben oder die empirische Forschung gegen die Übergriffe der Spekulation verteidigt.


Erstes Kapitel
Das Problem des Wesens oder das Verhältnis
der Erkenntnis zur Wirklichkeit


1.Die idealistische Gedankenreihe

Zum Ausgangspunkt nehmen wir auch hier die vulgäre Vorstellung. Ihr Standpunkt ist ein naiver Realismus. Sie ist überzeugt, daß unsere wahren Vorstellungen den Dingen gleichen, wie Kopien den Originalen; die falschen sind eben darum falsch, daß sie nicht treue Abbilder des Wirklichen sind. Es befinden und bewegen sich also draußen im Raum Körper, sie sind ausgedehnt, undurchdringlich, haben Gestalt, Farbe, Geschmack, Geruch usw.; all das sind absolute Eigenschaften, die durch die Sinne unserer Vorstellung gleichsam eindrücken.

Die erwachende Reflexion führt zu allerlei Zweifeln. Die Sinne täuschen, zumindest zuweilen, der Stab im Wasser erscheint dem Auge gebrochen. Hier korrigiert der Tastsinn die Täuschung. Wer kontrolliert aber den Tastsinn?k Der Fieberkranke sieht und hört Dinge, die nicht sind, aber ihm sind die Halluzinationen Wahrnehmungen. Der Träumende glaubt an die Wirklichkeit dessen, was der Traum ihm vorgaukelt. Wo ist das Kriterium, an dem man Halluzinationen und Träume von wirklichen Wahrnehmungen unterscheiden kann? Der Fieberkranke hält sich ja nicht für krank und der Träumende weiß nichts davon, daß er träumt; ja es geschieht wohl, daß man träumt: diesmal ist es aber doch kein Traum, daß ich fliege oder einen Schatz finde, sondern wirkliche Wirklichkeit. - Oder das begriffliche Denken lehnt sich, um sein besseres Recht darzulegen, gegen die sinnliche Wahrnehmung auf. Die Bewegung ist nicht denkbar, argumentiert ZENO, also kann sie auch nicht wirklich sein; es müßte ein Körper schon zugleich an einem Ort sein und auch nicht sein können. Also täuschen uns die Sinne, die uns die Vorstellung der Bewegung geben. Und PLATO nimmt das Argument auf: als werdend und vergehend stellt die Wahrnehmung die Wirklichkeit dar, d. h. als zugleich seiend und nicht seiend. Da das nicht gedacht werden kann, kann es auch nicht wirklich sein; folglich ist die ganze sinnliche Ansicht der Dinge eine große Täuschung. Wahrheit ist nur im begrifflichen Denken, das es mit unveränderlichen Dingen zu tun hat, wie die Mathematik.

In der Neuzeit sind an die Stelle solcher Vexierfragen und dialektischen Argumente die auf Sinnesphysiologie beruhenden Erwägungen über den Charakter der normalen Wahrnehmung getreten. Sie haben den naiven Realismus vollständig zerstört. Man kann sie etwa so schematisieren. Wir nennen eine Nahrung gesund, eine Frucht wohlschmeckend. Was heißt das? ist die Gesundheit in der Nahrung oder der Wohlgeschmack im Apfel? Offenbar nicht, das sieht auch der gesunde Menschenverstand, sondern in dem, der ihn ißt; im Apfel ist nur etwa eine Kraft, den Geschmackssinn so zu affizieren. Wir nennen den Zucker süß; liegt die Sache hier anders? Vielleicht wird die gemeine Vorstellung hier bedenklich: der Zucker ist doch wirklich selber süß. - Freilich ist er; aber was bedeutet das? Wenn ihr genauer zuseht, doch nichts anderes als: wenn er auf die Zunge kommt, schmeckt er süß. Wenn er nicht süß schmecken würde, könntet ihr nicht sagen, daß er süß ist. Das Schmecken aber ist doch wieder nicht im Zucker, sondern in euch; in ihm mag eine Kraft, eine Beschaffenheit sein, welche macht, daß ihr diesen Geschmack habt. Gäbe es überhaupt keine Zunge, so würde nichts süß oder bitter schmecken, es gäbe überhaupt keine Süßigkeit und Bitterkeit auf der Welt. Und dasselbe wird nun auch von den Qualitäten gelten, welche Auge und Ohr wahrnehmen. Gäbe es kein Ohr, so gäbe es auch keine Töne, wäre kein Auge, so wären auch Licht und Farben nicht. Den Dingen kann man nur eine Beschaffenheit oder eine Kraft zuschreiben, die Sinnesorgane so zu erregen, daß im Bewußtsein diese Empfindungen entstehen. Und diese Kraft hat ja die moderne Naturwissenschaft ermittelt: wir wissen, daß das, was die Tonempfindung hervorruft, eine wellenförmige Bewegung der Luft oder eines anderen elastischen Mediums ist; das, was die Lichtempfindung erregt, ist die oszillatorische Bewegung des Äthers.

Hier pflegt die erkenntnistheoretische Reflexion zunächst Halt zu machen. Wir hätten dann folgende Vorstellung. Draußen im Raum sind Körper, sie sind ausgedehnt, undurchdringlich, beweglich, mit allerlei Kräften ausgestattet. Nicht aber gehören ihnen die Qualitäten der Sinnesempfindung als Eigenschaften an, vielemehr sind diese allein im Subjekt, in den Dingen sind nur die Kräfte, sie zu erregen. Und zwar findet zwischen diesen Kräften und den Wirkungen durchaus keine Ähnlichkeit statt. Der Ton gleicht nicht den Schwingungen der Luft, welche den Gehörnerv erregen; und so ist das Licht der Ätherwellen nicht ähnlich; auch ist das Grün kein Abbild der Konstitution des Körpers, der grünes Licht reflektiert. Die Empfindungsqualitäten sind lediglich Symbole des Wirklichen, nichts anderes als Buchstaben Symbole der Laute, Wörter Symbole der Vorstellungen sind, aber nicht ähnliche Abbildungen.

Es ist dies der Standpunkt, auf dem die erkenntnistheoretische Reflexion des 17. Jahrhunderts stehen geblieben ist. DESCARTES, HOBBES, SPINOZA, LOCKE kommen hierin überein: die sinnlichen Qualitäten sind nur im Bewußtsein des Subjekts, draußen aber sind bewegte Körper, wodurch sie erregt werden. LOCKE hat diese Anschauung in der Unterscheidung der primären und sekundären Qualitäten formuliert. Die primären Qualitäten sind Ausdehnung, Undurchdringlichkeit, Teilbarkeit, Bewegung, sie kommen dem Körper ansich zu, wie schon daraus hervorgeht, daß sie allen Körpern, auch den kleinsten Teilen und unter allen Umständen zukommen. Die sekundären Qualitäten, wie Farbe, Geschmack, Geruch und ähnliches, kommen den Körpern nicht ansich, sondern nur in Beziehung auf unsere Sinnlichkeit zu. - Auf demselben Standpunkt verharren auch heute noch viele Physiologen und Philosophen.

Ich glaube nicht, daß es möglich ist, hier stehen zu bleiben. Die Unterscheidung primärer und sekundärer Qualitäten läßt sich nicht halten; Ausdehnung, Solidität, Bewegung sind ebensowenig wie absolute Bestimmungen der Dinge wie Farben und Töne. Dieselbe Betrachtung, die uns dahin führt, die sekundären Qualitäten in das Subjekt zu verlegen, nötigt uns auch, die Subjektivität der sogenannten primären Qualitäten anzunehmen.

Erst einmal kommen wir zu ihrer Vorstellung auf demselben Weg, durch Wahrnehmung oder zumindest nicht ohne Wahrnehmung. Ohne Gesichtssinn und Tastsinn würde von Ausdehnung und Solidität so wenig die Rede sein, wie ohne Gehör von den Tönen. Fingieren wir einen Menschen, dem außer dem Gesichtssinn auch die Tast- und Bewegungsempfindungen von Anfang an völlig fehlen, der nie die Bewegung der eigenen Glieder und ihre Hemmung durch die Umgebung gefühlt hätte, so würde es ebenso unmöglich sein, ihm deutlich zu machen, was ein Körper, wie einem Blinden, was rot oder blau ist. Also: Körperlichkeit ist Wahrnehmungsinhalt.

Sodann gilt auch hier, ebenso wie bei den sekundären Qualitäten: die Wahrnehmung entnimmt nicht ihren Inhalt passiv aus der Außenwelt, sie bringt ihn vielmehr spontan hervor. Die gewöhnliche Meinung wird geneigt sein die Sache so anzusehen: die Ausdehnung wird unmittelbar rezipiert, das Auge nimmt flächenhafte Bilder der ausgedehnten Körper auf, die allgemeine Raumanschauung aber wird durch Abstraktion von den ausgedehnten Wahrnehmungsbildern gewonnen. - Einige Besinnung anhand der Physiologie zeigt das Irrige dieser Vorstellung. Auf der Netzhaut wird allerdings ein ausgedehntes Bild des Gegenstandes entworfen, aber dieses Bild ist nicht die Wahrnehmung. Eine solche kommt erst zustande, wenn die Erregungen, welche die Lichtstrahlen in den Endorganen des Sehnerven in der Netzhaut bewirken, durch die Fasern dieses Nerven zum Gehirn geleitet werden. Was aber zum Gehirn geleitet wird, das ist natürlich nicht das Netzhautbild; wieder ist dieses Bild ablösbar, noch können die Nervenfasern Bilder transportieren. Und selbst wenn das Bild abgelöst und stückweise durch die einzelnen Fasern des Sehnerven, wie durch eine Rohrpostleitung, ins Gehirn übertragen und hier wieder zusammengesetzt werden könnte, so wäre damit noch nichts gewonnen, denn im Gehirn ist es finster. Und wenn Licht hineingebracht würde, so wäre die Sache immer noch vergeblich: nur wäre wieder ein Auge notwendig, das Bild aufzufassen, und ein Gehirn, es aufzunehmen. Also as ausgedehnte Bild wird auf jeden Fall, es mag mit der Ausdehnung in der Außenwelt stehen wie es will, nicht aus der Außenwelt aufgenommen, sondern bei Gelegenheit irgendeiner Erregung neu hervorgebracht, ganz ebenso wie Ton und Farbe. Und nicht anders steht es mit den Eindrücken des Tastsinns; auch durch die Tastnerven können nicht fertige, ausgedehnte Kopien der Körper ins Bewußtsein befördert werden. LOTZE hat in der "Medizinischen Psychologie" diese Dinge höchst überzeugend dargelegt; nicht ausgedehnte Bilder, sondern qualitativ verschiedene Erregungen, die durch die einzelnen Fasern der Sinnesnerven zum Gehirn geleitet werden, sind es, aufgrund deren die Seele selbst das Wahrnehmungsbild aufbaut. Wir haben demnach ebensowenig Grund, die Ausdehnung als absolute Bestimmtheit oder Eigenschaft der Dinge selbst anzusehen, wie Farbe und Geschmack.

Damit fällt das objektive Dasein des Körpers selbst. Ein Körper, so müssen wir demnach sagen, ist ein subjektives Gebilde, das aufgrund irgendwelcher Erregungen von unserer Intelligenz hervorgebracht wird. Wir haben zumindest keinen Grund zu behaupten, daß ein unserer Vorstellung von einem Körper ähnliches Etwas auch außerhalb unserer Vorstellungswelt vorhanden ist. Ausdehnung, Solidität, Bewegung sind in derselben Weise, wie Gerüche und Geschmäcke, Farben und Töne als bloße Symbole einer transzendenten Wirklichkeit anzusehen.

Der erste, der diese Konsequenz der erkenntnistheoretischen Reflexion über die Natur der Wahrnehmung erkannte und rückhaltlos zog, war GEORGE BERKELEY: Körper sind Vorstellungen, ihr Dasein besteht im Wahrgenommenwerden (esse est percipi). Übrigens war auch die ältere, metaphysische Richtung, von anderen Gesichtspunkten ausgehend, dieser Anschauung wiederholt nahe gekommen; so SPINOZA und bestimmter LEIBNIZ. So in der griechischen Philosophie PLATO; sie sahen sich alle auf das Theorem geführt, daß die räumliche Welt nicht die absolute Wirklichkeit sein kann, Ausdehnung und Teilbarkeit ist mit absoluter Wirklichkeit nicht vereinbar. BERKELEYs geschichtliche Bedeutung ist, daß er den erkenntnistheoretischen Idealismus zur Grundlage des metaphysischen Idealismus gemacht hat.

In die deutsche Philosophie hat KANT diese Betrachtungsweise eingeführt: die Körperwelt oder die ganze Natur ist eine subjektiv bedingte Erscheinungswelt. Und in der Folge wird auch hier der erkenntnistheoretische Idealismus zum Ausgangspunkt eines metaphysischen Idealismus; in gewisser Weise schon bei KANT selber, obwohl hier die Metaphysik, zwischen Erkenntnistheorie und Moral eingeklemmt, nicht zu einem selbständigen Dasein kommt; sehr entschieden dagegen in der spekulativen Philosophie, nicht minder auch bei SCHOPENHAUER und HERBART und ihren Nachfolgern.

Bemerkenswert ist übrigens, daß KANT seine Leser auf den Phänomenalismus von einem anderen Ausgangspunkt führt und, wie es scheint, selbst geführt worden ist, von der kritischen Reflexion nämlich über das Wesen von Raum und Zeit. Was ist der Raum an und für sich? Die gemeine Meinung, die ihn für ansich wirklich hält, stellt ihn etwa als ein leeres Gefäß vor, worin die Dinge sind und sich bewegen; die Dinge könnten fehlen, so bliebe noch der leere Raum als ansich seiende Wirklichkeit. Aber sobald man mit dieser Vorstellung ernst zu machen versucht, erheben sich Berge von Schwierigkeiten. Was ist denn dieser leere Raum? was macht, daß da, wo bloß der leere Raum ist, mehr ist als nichts? Oder woraus bestehen die Wände dieses Gefäßes? Oder hat es überhaupt keine Wände, ist es unbegrenzt? Es muß wohl, denn den Raum als begrenzt vorzustellen, ist ja völlig unmöglich, jede Grenze weißt unwiderstehlich auf ein Jenseits. Nun, ein Gefäß, das keine Wände hat, und von dem man überhaupt nicht sagen kann, was es ist, und wodurch es sich vom Nichts unterscheidet, das ist doch ein sehr wunderliches Wirkliches, und KANT hat nicht unrecht, wenn er es "ein seiendes Unding" nennt. - Nicht besser steht es mit der Zeit, dem leeren Gefäß, worin alle Ereignisse sind. Ja, hier wird die Sache noch wunderlicher. Die Zeit besteht aus Vergangenheit und Zukunft, die durch den beweglichen Punkt des Jetzt getrennt sind. Da die Vergangenheit nicht mehr, die Zukunft aber noch nicht ist, so wäre die Zeit ein Wirkliches, das aus zwei Hälften besteht, die beide nicht wirklich sind.

Aus allen diesen Schwierigkeiten, so findet KANT, taucht auf, wer sich entschließt zu sagen: Raum und Zeit sind nicht seiende Wirklichkeiten, als welche sie in der Tat seiende Undinge wären, sondern sie sind Anschauungsformen des Subjekts. Der Raum ist die Form der äußeren Anschauung, das heißt die vom Subjekt hervorgebrachte Ordnung der Empfindungen des Gesichts- und Tastsinns, auf welche auch alle übrigen Sinnesempfindungen bezogen werden. Ebenso ist die Zeit die Form des inneren Sinnes. Natürlich sind diese Anschauungsformen nicht als fertige Schubladen zu denken, sie bestehen nur in der Funktion der Anordnung aller Elemente mit Beziehung aufeinander, einer Funktion, die auch nicht angeboren ist, sondern im Verlauf des Lebens, wenn auch auf ererbter Grundlage, erworben oder ausgebildet wird. Der leere Raum und die leere Zeit wären hiernach die Vorstellung von der allgemeinen Möglichkeit, Körper und Bewegungen und innere Vorgänge mit Bezug aufeinander in einer solchen Bestimmtheit zu ordnen. Damit verschwindet auch die wunderliche Schwierigkeit der Frage: ob Raum und Zeit endlich oder unendlich sind? Wir werden sagen: weder - noch. Wie man von der Zahlenreihe weder sagen kann, sie ist endlich, noch sie ist unendlich, sondern sie kann von jedem beliebigen Punkt beliebig weiter geführt werden, so steht es auch mit Raum und Zeit: an jedem Punkt ist es möglich, beliebig nach allen Seiten weiter zu gehen; die Möglichkeit der Synthese in Raum und Zeit stößt nirgends auf ein Hindernis, so wenig wie die Möglichkeit einer weiteren Addition; und ebenso stößt die Analysis nicht auf letzte Teile, so wenig wie die Division.

KANT faßt die Summe seiner Erwägungen in die Formel: Raum und Zeit haben empirische Realität, aber transzendentale Idealität. Für unsere Anschauung der Wirklichkeit sind Raum und Zeit allgemeine und notwendige Voraussetzungen, und darum gilt, was von Raum und Zeit überhaupt gilt, auch von der Natur, welche nichts ist als mit Erscheinungen erfüllter Raum und erfüllte Zeit. Aber es gilt nicht von den Dingen, wie sie ansich sind. Wir haben keine Ursache zu denken, daß die Ordnung unserer Empfindungen eine absolute Ordnung der ansich seienden Wirklichkeit ist. Oder, wenn wir die Sache konkreter ausdrücken wollen: wir können denken, daß es Wesen gibt, die, wie anderes Sinnesorgane und Wahrnehmungsinhalte, so auch andere Formen der Ordnung der Elemente haben als wir. Wir können uns eine Intelligenz denken, für die weder das Vor und Nach, noch das Außer und Neben Sinn und Bedeutung hat. Die Teile einer mathematischen Demonstration oder Rechnung sind nicht getrennt im Raum, ihre Symbole, die Zeichen, sind es, aber die Faktoren selbst sind es nicht; so sind sie auch nicht vor oder nacheinander; d. h. im Bewußtsein dessen, der die Rechnung nachrechnet, treten sie nacheinander auf, aber das ist zufällig, ansich sind sie zugleich oder vielmehr ohne Beziehung zur Zeit überhaupt. Für ein vollkommenes Bewußtsein wären bloß die inneren begrifflichen Beziehungen der Elemente vorhanden, ohne alle Beimischung von Räumlichkeit und Zeitlichkeit. Denken wir uns nun, daß die Dinge selbst etwas Zahlenartiges sind und daß zwischen ihnen ähnliche innere Beziehungen, wie zwischen Zahlen bestehen, so wäre die vollkommenste Auffassung der Wirklichkeit die eines Mathematikers, der alle diese Elemente und ihre Beziehungen mit einem einzigen Blick oder Gedanken umfaßt. Und setzen wir nun ferner, daß das Wirklichsein der Wirklichkeit in diesem Gedachtwerden besteht, so hätten wir den Begriff, den KANT zur Orientierung einführt, den Begriff eines intellectus archetypus, eines schöpferischen und unsinnlichen Denkens. Dagegen ist nun unsere Erkenntnis der Wirklichkeit äußerlich und zufällig; unsere Intelligenz schafft nicht die Wirklichkeit, sondern sie wird durch die Berührung mit der vorhandenen angeregt zur Hervorbringung von Empfindungen, die nicht so sehr die Natur der Dinge, als unsere Natur ausdrücken. So faßt sich auch nicht die seienden Beziehungen der Dinge, die innere mathematisch-logische, oder ästhetisch-teleologische Ordnung der Wirklichkeitselemente, sondern stattdessen bringt sie die äußere, räumlich-zeitliche Ordnung der Empfindungen hervor.

An diese Betrachtungen schließt sich bei KANT dann die weitere an, daß, wie unsere Anschauungsformen, so auch die Denkformen nur empirische, nicht aber transzendente Gültigkeit haben. Kausalität und Substantialität, die beiden vornehmsten Kategorien, sind subjektiv notwendige Anordnungsformen unserer Anschauungen, aber nicht Existenzformen einer absoluten Wirklichkeit.

Und damit scheint dann die Konsequenz eines schlechthin allgemeinen Phänomenalismus gegeben zu sein: die Vorstellungswelt deckt sich an keinem Punkt mit der Wirklichkeit; weder von der Außenwelt, noch von der Innenwelt gibt es eine adäquate Erkenntnis.

Ein letzter Schritt ist noch denkbar: die Aufgabe der Vorstellung vom Ding-ansich. Man sagt, FICHTE hat hiermit den kantischen Gedanken zu Ende gedacht. Denn in Wahrheit sind die Dinge-ansich mit den Voraussetzungen KANTs unverträglich; ohne die Dinge ansich könne man nicht in das System hineinkommen, aber mit ihnen nicht darin bleiben. Gegeben sind uns Vorstellungen; wie von diesen zu den Dingen-ansich kommen? KANT sagt: diese affizieren uns. Also, nach dem Gesetz der Kausalität folgert er von Empfindungen als Wirkungen auf Dinge-ansich als Ursachen. Aber er selbst hat die Folgerung unmöglich gemacht, indem er dem Kausalgesetz nur eine empirisch-immanente, aber keine transzendente Bedeutung zugesteht.

Das wäre dann der letzte erreichbare Punkt, ein absoluter Phänomenalismus: meine Vorstellungswelt ist die Wirklichkeit selbst, darüber hinaus ist nichts.
LITERATUR - Friedrich Paulsen, Einleitung in die Philosophie, Berlin 1893