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WILHELM WINDELBAND
Einleitung
in die Philosophie

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"Es ist keine Untersuchung über die Möglichkeit der Erkenntnis mehr, wenn man ihre Tatsächlichkeit einfach voraussetzt. Die Tatsache, von der die Erkenntnistheorie ausgeht, ist also nicht die, daß wir Erkenntnis haben, sondern die, daß wir sie in der Wissenschaft zu haben beanspruchen, und die Aufgabe der Erkenntnistheorie ist, zu untersuchen, ob dieser Anspruch berechtigt ist. Theorie bedeutet in diesem Fall nicht die Erklärung einer gegebenen Tatsache, sondern als philosophische Theorie eine kritische Untersuchung über die Berechtigung eines Anspruchs; sie hat also einen ganz anderen Sinn als die erklärenden Theorien, welche die Möglichkeit eines Wirklichen dartun sollen."

"Jeder Versuch, sich der Übereinstimmung des Vorgestellten mit dem Wirklichen ernsthaft zu versichern, gibt immer nur die Übereinstimmung von Vorstellungen verschiedener Herkunft, aber niemals die Übereinstimmung der Vorstellung mit der Sache selbst zu erkennen. Wir können Vorstellungen des unmittelbaren Erlebnisses mit Erinnerungen oder mit Phantasievorstellungen vergleichen und beide auf denselben Gegenstand beziehen: aber mit diesem Gegenstand selbst können wir eine Vorstellung niemals vergleichen."

"Der logische Imperativ ist nicht kategorisch, sondern hypothetisch: ich kann von Menschen die Anerkennung der Wahrheit nur verlangen unter der Voraussetzung, daß erkannt oder gewußt werden will oder soll. Und wenn das Erkennen wieder das auf die Wahrheit gerichtete absichtliche Denken bedeutet, so befinden wir uns mit diesen Begriffsbestimmungen offenbar in einem Zirkel."

"In ihrer psychologischen Theorie haben die Griechen den Intellekt immer als Passivität, als aufnehmende und empfangende Tätigkeit angesehen, und die Aufnahme oder Abspiegelung des Wirklichen in der Seele mit Vermeidung aller trübenden und verzerrenden Eigentätigkeit galt ihnen in dem Maß als das Wesen der Erkenntnis."

"Der Empirismus mußte schließlich zugeben, daß die Data der Wahrnehmung erst durch eine rationale Verarbeitung, die nicht in ihnen selbst steckt, zur Erfahrung werden: und auch der Rationalismus kann sich nicht der Anerkennung verschließen, daß für die in der Vernunft begründeten Beziehungsformen der Inhalt durch die Wahrnehmung gegeben sein muß."

"Die Erfahrung als der Inbegriff aller Erlebnisse besteht, im Grunde genommen, aus lauter einzelnen Erkenntnissen, während die Vernunfteinsicht, die zu deren Verarbeitung bereit liegt, immer mehr oder weniger allgemeine Sätze enthält. Der Empirismus läuft also auf die Behauptung hinaus, daß alles Wissen in letzter Instanz aus dem Einzelnen, aus den singulären Erlebnissen erwächst, während der Rationalismus den letzten Grund aller Erkenntnis in ursprünglichen evidenten allgemeinen Sätzen sucht."



Zweiter Teil
Noetische Probleme
(Erkenntnisfragen)

Die selbstverständliche Voraussetzung für alle ontischen und genetischen Probleme, von den einfachen Annahmen des naiven Bewußtseins bis zu den gereiften Theorien der Wissenschaft ist die, daß unsere Vorstellungen die Aufgabe erfüllen sollen, Erkenntnis und als solche wahr zu sein. Diese Voraussetzung wirkt so selbstverständlich, daß sie durchaus nicht immer und namentlich nicht von Anfang an eigen in das Bewußtsein tritt: und doch ist sie das treibende Moment im Fortschritt der Gedanken. Denn das Unzulängliche im nächsten Vorstellungsbefund, das überall den Stachel der Problembildung abgibt, besteht doch schließlich immer in der Einsicht oder auch nur der Befürchtung, daß das naiv Gemeinte und als Erkenntnis Ausgegebene nicht wahr ist. Aus diesen Verhältnissen ist es zu verstehen, daß uns über die Bedeutung jenes Verlangens, über den Sinn des Wertes der Wahrheit zunächst sehr unfertige und zum Teil unhaltbare Vorstellungen begegnen. Diese selbst aber gehören deshalb zu denjenigen, welche am spätesten erschüttert und in Frage gestellt werden. Das vernünftige Überlegen richtet sich erst zuletzt auf sich selber. Dieses vernünftige Überlegen haben die Griechen noein genannt, und deshalb bezeichnen wir die Probleme, welche aus der Selbstbesinnung des Erkennens auf seine Aufgabe und die Möglichkeit ihrer Erfüllung erwachsen, als noetische.


§ 9. Die Wahrheit

Das erste unter diesen Problemen ist der Begriff der Wahrheit selbst. Seine Erschütterung tritt erst in den gereifteren Zuständen des Erkenntnislebens auf, und die daraus erwachsenden Fragen sind deshalb im geschichtlichen Verlauf die spätesten. Zuerst wird mit dem naiven Vertrauen, das der Mensch zu seinem Denken mitbringt, mit dem "Mut der Wahrheit" frisch darauf los erkannt, es wird gemeint, gefragt, geforscht, untersucht. Erst durch die Erfahrung der Gegensätze und der Mißerfolge, ohne die es dabei nicht abgeht, wird das Denken stutzig und frägt sich nun, ob es denn auch die Aufgabe leisten könnte, Erkenntnis zu werden. Sobald diese Reflexion eintritt, verlnagt das intellektuelle Gewissen vor weiterem Erkennen erst diese Vorfrage nach der Möglichkeit der Erkenntnis zu erledigen. Es ist gut, daß die Wissenschaften ihre Arbeit meist geleistet haben und leisten, ehe diese Vorfrage erledigt ist: denn sie selber müssen ja die Materialien für ihre Beantwortung abgeben. Aber als "Nachfrage" ist das noetische Problem jedenfalls unerläßlich.

Seine Notwendigkeit ist so selbstverständlich in der Natur der Sache begründet, daß es völlig unabhängig davon ist, welche Stellung man im System der Wissenschaften der Lösung dieser noetischen Fragen anweist. Als eine eigene und in sich zusammenhängende Untersuchung pflegt man sie jetzt wohl Erkenntnistheorie oder Epistemologie (wohl auch Noetik) zu nennen, und diese ist unzweifelhaft die letzte Wissenschaft insofern, als sie die übrigen voraussetzt. Denn es muß ein Wissen geben, damit es Objekt einer Theorie sein kann. So treten auch in der Geschichte der Philosophie die noetischen Fragen erst bei den Sophisten und dann bei SOKRATES und PLATON auf, nachdem schon eine lange fruchtbare und zuletzt in sich selber sich auflösende Entwicklung des wissenschaftlichen Erkennens vorhergegangen war: und der so gewonnene Anfang führte dann zur aristotelischen Logik, die das vollendete Selbstbewußtsein der griechischen Wissenschaft darstellt.

Den springenden Punkt hat dabei die platonische Unterscheidung von Wissen und Meinen, epistem und doxa, gebildet. Sie enthält eine erste Besinnung auf die verschiedenen Arten des Fürwahrhaltens, und je stolzer dabei das Wissen und Erkennen sich dem Meinen gegenüberstellte, umso sicherer mußte die Wissenschaft ihres eigenen Wesens und Verfahrens sein. Von da an hat es zum Inventar einer jeden ausgebildeten philosophischen Lehre gehört, auch über das Wesen der Erkenntnis, über ihre Berechtigung, ihre Tragweite und ihre Grenzen Rechenschaft zu geben, und meistens sind die Ansichten darüber das letzte Ergebnis, ja in gewissem Sinne die Rechenprobe der philosophischen Gesamtansicht gewesen. Erst der erneute Kampf der metaphysischen Systeme hat in der neueren Zeit die Erkenntnistheorie in den Vordergrund gerückt. Schon LOCKE forderte, daß, ehe man sich in die Diskussion der schwierigen Probleme der Metaphysik einläßt, man erst einmal die Tragkraft des Instruments untersuchen soll, mit dem man sie zu lösen hofft, d. h. des menschlichen Erkenntnisvermögens. Schließlich hat dann KANT verlangt, daß diese Untersuchung über die Möglichkeit der Erkenntnis aller Erkenntnis selbst, zumindest der metaphysischen, vorangehen und somit die erste Wissenschaft bilden muß.

Ich will auf die Kontroverse, ob Erkenntnistheorie die Rechenprobe oder die Grundlage metaphysischer Erkenntnis sein soll, nicht näher eingehen, aber doch einen Punkt aus den darüber geführten Diskussionen hervorheben, der für das Verständnis dieser Zusammenhänge von entscheidender Bedeutung ist. Das kantische Verlangen, dem sachlichen Erkennen selbst eine Sicherung über seine Möglichkeit vorauszuschicken, klingt zunächst äußerst plausibel und unterliegt doch sogleich einem Einwurf, wonach es einen Zirkel enthält, einem Entwurf, den kein Geringerer als HEGEL gegen KANT ausgesprochen hat. Erkenntnistheorie, heißt es, will doch selbst Erkenntnis sein, setzt also die Möglichkeit dessen, was sie erst prüfen will, bereits voraus: ihr Unternehmen ist nicht klüger als das des Mannes, der schwimmen lernen will, ehe er ins Wasser geht. Berechtigt wäre dieser Einwurf, wenn die Erkenntnistheorie mit allem Wissen tabula rasa [reinen Tisch - wp] machen und das Denken ab ovo [vom Ei weg - wp] von einem völlig neuen Ausgangspunkt her beginnen wollte. Das ist allerdings unmöglich, da jeder Gedanke mit Beziehungen zu anderen durchsetzt ist. Deshalb darf allerdings die Erkenntnistheorie durchaus nicht von der ohne sie gewonnenen Einsicht der Wissenschaften abstrahieren wollen. Auch die feierliche Suspension, welche KANT vor der Erledigung seiner kritischen Frage verlangte, bezog sich nur auf die Metaphysik. Mit den Ergebnissen der übrigen Wissenschaften dagegen muß die Erkenntnistheorie als mit den einzigen ihr zur Lösung ihrer Probleme zugänglichen Argumenten operieren.

Man macht sich diese Verhältnisse wohl am besten deutlich durch die Beleuchtung einer falschen Verteidigung, welche das kantische Verlangen gegen HEGEL gefunden hat. Es ist gesagt worden, daß Erkenntnis eine Tatsache ist: erklärt die Wissenschaft alles anderes, so muß sie schließlich oder vor allem auch sich selbst als Tatsache erklären. Wie die Physiologie zum Leben, so verhält sich die Erkenntnistheorie zur Wissenschaft. Ob das KANTs Meinung gewesen ist, bleibt hier dahingestellt: jedenfalls aber ist es keine glückliche Verteidigung seines Verlangens. Denn es ist keine Untersuchung über die Möglichkeit der Erkenntnis mehr, wenn man ihre Tatsächlichkeit einfach voraussetzt. Was ist, ist möglich: es frägt sich dann nur noch wie. Wäre die Erkenntnistheorie so etwas wie eine Physiologie der Erkenntnis, so wäre sie entweder Psychologie oder Metaphysik und dann nicht mehr der Anfang, sondern das Ende des Wissens. Aber es frägt sich ja gerade, ob es wirklich Erkenntnis gibt. Die Tatsache, von der die Erkenntnistheorie ausgeht, ist nicht die, daß wir Erkenntnis haben, sondern die, daß wir sie in der Wissenschaft zu haben beanspruchen, und die Aufgabe der Erkenntnistheorie ist, zu untersuchen, ob dieser Anspruch berechtigt ist. Theorie bedeutet also in diesem Fall nicht die Erklärung einer gegebenen Tatsache, sondern als philosophische Theorie eine kritische Untersuchung über die Berechtigung eines Anspruchs; sie hat also einen ganz anderen Sinn als die erklärenden Theorien, welche die Möglichkeit eines Wirklichen dartun sollen. Die Physiologie stellt die Berechtigung des Lebens niemals in Frage.

Die Sachlage der Erkenntnistheorie ist also die: für eine Anzahl von Vorstellungen, die in den Wissenschaften als Tatsachen vorliegen, erheben wir den Anspruch, sie seien Erkenntnis und es frägt sich, ob diese menschliche Wissenschaft wirklich Erkenntnis ist. So formuliert, setzt die Frage voraus, daß wir Erkenntnis durch andere Merkmale definieren als Wissenschaft. Wissenschaft ist uns dabei etwas tatsächlich Gegebenes, Erkenntnis dagegen eine Aufgabe, welche dieses Tatsächliche erfüllen soll. So tritt in den noetischen Problemen der fundamentale Gegensatz zwischen dem Wirklichen und dem Wert, das Verhältnis zwischen dem Seienden und der Norm seiner Beurteilung mit voller Deutlichkeit hervor, und in in diesem Sinne bilden die noetischen Probleme den Übergang von den theoretischen zu den axiologischen. Wissenschaft ist also in dieser Bedeutung der historisch gegebene Inbegriff von Vorstellungen, denen wir, im Gegensatz zu den Meinungen der Individuen, eine Allgemeingültigkeit und normative Notwendigkeit zuerkennen, und die philosophische Frage, mit der wir ihr gegenübertreten, bezieht sich lediglich darauf, ob dieser Anspruch, den wir nicht nur in der Gewohnheit des alltäglichen Lebens, sondern auch in der Unbefangenheit des wissenschaftlichen Forschens stets erheben, als berechtigt gelten darf. Dieser Anspruch aber besteht letztlich darin, daß die wissenschaftlich begründeten Vorstellungen den Wert haben, wahr zu sein. So erweist sich die Wahrheit als der Grundbegriff, um den sich die Gesamtheit der noetischen Probleme bewegen muß.

Die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Falschheit in unseren Vorstellungen ist dem intellektuellen Leben so geläufig und so selbstverständlich, daß die große Mehrzahl der Menschen sich vielleicht niemals darauf besinnt, was wir eigentlich darunter verstehen. Sicher ist zunächst und wohl von keiner Seite bestritten, daß das Prädikat "wahr" ein Wertprädikat ist, das wir gewissen Vorstellungen vor andern einräumen. Aber sowohl der Sinn des Wertensf als auch die Form der Vorstellungen, auf die es angewendet wird, erweisen sich bei genauerer Betrachtung als überaus schwer zu bestimmen. Am ehesten wird man sich vielleicht noch darüber einig finden, welche Form die Vorstellungen im strengen Sinn haben müssen, damit wir sie als wahre billigen oder als unwahre mißbilligen. Zwar redet das naive Bewußtsein wohl auch von der Wahrheit oder Falschheit einzelner Vorstellungen oder Begriffe, wenn wir z. B. fragen, ob der Begriff des Atoms wahr ist oder nicht: aber genauer betrachtet, zeigt sich doch, daß diese Anwendung des Wertens nur abgeleitet ist. Ursprünglich gebührt das Prädikat der Wahrheit - so hat es vorbildlich für die neuere Philosophie DESCARTES ausgeführt - nur jenen Vorstellungsverbindungen, die wir sprachlich in einem Satz ausdrücken und die wir logisch Urteilen nennen. Das Urteil aber als psychologischer Vorgang ist ein höchst charakteristisches Gebilde, in welchem sich die Gesamtheit des geistigen Wesens mit seinen beiden typischen Merkmalen des Theoretischen und des Praktischen vielleicht am deutlichsten und am vollkommensten ausprägt. Urteilen heißt nicht bloß Vorstellungen miteinander verbinden, sondern diese Verbindung behaupten als eine gültige oder wahre - andererseits im negativen Urteil sie verwerfen als eine falsche. Es steckt also in diesem axioma, wie es die Stoiker klug genannt haben, nicht nur das intellektuelle Moment, verschiedene Inhalte in einer bestimmten Beziehung zueinander zu denken, sondern auch das voluntaristische Momentf, diese Beziehung zu bejahen oder zu verneinen, zu behaupten oder zu verwerfen. Der Willensakt, welcher im Urteil zur Vorstellungstätigkeit hinzutritt, ist von den Stoikern als Zustimmung (sygkatathesis) bezeichnet worden, und es frägt sich nun, was diese Zustimmung bedeutet. Es ist begreiflich, daß das naive Denken an diese Frage mit der Voraussetzung herantritt, daß der Sinn der Wahrheit immer derselbe sein muß und ein für allemal eindeutig bestimmbar ist.

Das ist aber nun gerade nicht der Fall, sondern eine kurze Überlegung beweist, daß die Wahrheit in sehr verschiedenem Sinn gemeint sein kann. Die Wahrheit eines mathematischen Satzes, die Wahrheit einer historischen Hypothese, die Wahrheit eines Naturgesetzes - sind sie durch dieselben Merkmale zu bestimmen? Man wird von einem unbefangenen Denken vielleicht diese Frage dahin bejaht finden, daß die Wahrheit unter allen Umständen in der Übereinstimmung zwischen der Vorstellung und der Wirklichkeit besteht. Aber man wird sich leicht überzeugen, daß das schon für jene drei Beispiele nur in sehr unvollkommener Weise zutrifft. Für eine historische Hypothese mag das Kriterium der Übereinstimmung von Vorstellung und Wirklichkeit anwendbar sein, für mathematische Sätze oder für solche gedankliche Gebilde wie die Naturgesetze müßte man zu sehr künstlichen Vermittlungen greifen, wenn man dasselbe behaupten wollte. In der Tat ist jene geläufigste Bedeutung der Wahrheit wohl zuerst aus dem naiven empirischen Denken entnommen und darin auf die Vorstellung von den Dingen und ihren Tätigkeiten bezogen worden. Dieser Wahrheitsbegriff setzt ein Verhältnis der Abbildlichkeit zwischen der menschlichen Vorstellung und der Wirklichkeit voraus, auf die sie sich als auf ihren Gegenstand beziehen soll: wir haben darin vielleicht den vollständigsten Ausdruck der naiven Weltansicht, welche den vorstellenden Geist in einer Umwelt befindlich annimmt, die sich in ihm irgendwie wiederholen soll und alle die sinnlichen Tropen, mit denen die Sprache den Erkenntnisprozeß bezeichnet - abbilden, spiegeln, erfassen, begreifen usw. - zeigen, aus der Tätigkeit der verschiedenen Sinne entnommen, nur die verschiedenen Arten, weie eine solche innere Wiederholung des außen Wirklichen vorgestellt werden kann. Nun hat aber die Theorie der Sinneswahrnehmungen diese Annahme einer Reproduktioni der äußeren Realität im Bewußtsein völlig aufgelöst, und die transzendente Wahrheit - so mag dieser erste und naive Wahrheitsbegriff genannt werden - ist in ihrer ursprünglichen Bedeutung nicht aufrecht zu erhalten. Dazu kommt, daß jeder Versuch, sich der Übereinstimmung des Vorgestellten mit dem Wirklichen ernsthaft zu versichern, immer nur die Übereinstimmung von Vorstellungen verschiedener Provenienz [Herkunft - wp], aber niemals die Übereinstimmung der Vorstellung mit der Sache selbst zu erkennen gibt. Wir können Vorstellungen des unmittelbaren Erlebnisses mit Erinnerungen oder mit Phantasievorstellungen vergleichen und beide auf denselben Gegenstand beziehen: aber mit diesem Gegenstand selbst können wir eine Vorstellung niemals vergleichen. Dennoch zieht sich die Grundvorstellung der transzendenten Wahrheit als eine Beziehung des Gedachten auf ein Wirkliches, das im ersteren wiederholt sein sollte, durch alle anderen Wahrheitsbegriffe in einer verfeinerten Form immer wieder hindurch und ist in letzter Instanz niemals völlig zu überwinden.

Denn wenn man z. B. einen immanenten Wahrheitsbegriff aufgestellt findet, der lediglich die Übereinstimmung der Vorstellungen untereinander besagen will, so ist auch das Verlangen, daß zwei Vorstellungen miteinander übereinstimmen sollen, immer nur darauf begründet, daß sie beide auf denselben Gegenstand bezogen werden, und dabei spielt leise immer noch das Motiv mit, daß die beiden Größen deshalb einander gleich sind, weil sie einer dritten, vielleicht unbekannten gleich sein oder zumindest "entsprechen" sollen. Wenn die Vorstellungen, die wir in der wissenschaftlichen Theorie bilden, mit denen übereinstimmen sollen, welche wir durch Erfahrung gewinnen, so wirkt doch als letzte Voraussetzung dafür im Hintergrund der Gedanke, daß in beiden sich dieselbe Wirklichkeit dem Geist darzustellen hat. So ist die Abbildtheorie die ursprünglichste und am zähesten nachwirkende Form, in der sich die Wahrheit als eine Beziehung zwischen der Vorstellung und dem durch sie bedeutenden Gegenstand darstellt.

Aber damit ist nun das Reich der Wahrheiten noch lange nicht erschöpft: es gibt auch solche, bei denen von einem Gegenstand in diesem ursprünglichen Sinn des Wortes, im Sinn eines Wirklichen, das im Denken zu wiederholen wäre, gar keine Rede sein kann: dahin gehören alle mathematischen, alle logischen, ethischen und ästhetischen Wahrheiten. Bei ihnen bleibt als das Kriterium der Wahrheit nur die Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit übrig, mit der sie sich im Bewußtsein darstellen und welche bei jenen anderen Wahrheiten durch die Beziehung auf den Gegenstand begründet zu sein schien. Doch müssen die beiden die beiden Merkmale dieses formalen Wahrheitsbegriffs sehr genau bestimmt werden, um Mißverständnisse zu vermeiden. Die Allgemeingültigkeit zunächst, welche sich auf die Pluralität erkennender Subjekte bezieht, kann nicht als die tatsächliche gemeint sein: denn es ist völlig ausgeschlossen, daß etwa die übereinstimmende Anerkennung auch nur von allen Exemplaren der Spezies homo sapiens für irgendeine Behauptung empirisch zu erlangen wäre und nachgewiesen werden könnte. Im Gegenteil: die tatsächliche Geltung aller Wahrheiten pflegt eine sehr beschränkte zu sein, oder sie erleiden zumindest das Schicksal, als Paradoxie geboren zu werden und als Trivialität zu enden. Dazu kommt weiter, daß die allgemeine Anerkennung, soweit sie empirisch annähernd zu erreichen ist, schon deshalb nicht die Wahrheit gewährleistet, weil sie notorisch häufig auch bei Irrtümern erscheint - wofür historische Beispiele aufzuzählen nicht erforderlich sein dürfte. Die Allgemeingültigkeit, um die es sich beim formalen Wahrheitsbegriff handelt, ist also nur die verlangte, es ist die, welche um der Notwendigkeit willen bei allen normal denkenden Subjekten stattfinden sollte. Diese Notwendigkeit aber ist wiederum nicht die tatsächliche, nicht die Notwendigkeit des Naturgesetzes: denn die Vorstellungsprozesse, die zum Irrtum führen, unterliegen denselben Notwendigkeiten der seelischen Gesetzmäßigkeit wie diejenigen, aus denen die Erkenntnis der Wahrheit folgt. Auch die Denknotwendigkeit also, von der in der Logik die Rede ist, ist nicht die psychologische, sondern vielmehr die immanente sachliche Notwendigkeit des Vorstellungsinhalts. Und in dieser Bedeutung der Sachlichkeit geht auch der formale Wahrheitsbegriff auf die Beziehungen zum Gegenstand der Erkenntnis zurück, wenn er diesen auch nicht mehr in der rohen Form einer Annahme des außerhalb des Geistes Wirklichen aufnimmt, sondern in der Weise umgestaltet, wie wir es an späterer Stelle zu betrachten haben werden.

So ist das rein theoretische Verhältnis der Erkenntnis zu ihrem Gegenstand durchaus nicht eindeutig, und wenn wir auch nur diese drei hier vorläufig berührten Arten des Wahrheitsbegriffs ins Auge fassen, so verstehen wir, weshalb die spätere antike Philosophie einen so ausgedehnten und in letzter Instanz ergebnislosen Streit über die "Kriterien der Wahrheit" geführt hat. Die Schwierigkeiten, die damals zutage getreten sind, werden sich immer wiederholen, wenn man einen einzigen und ganz allgemeinen, für alle Fälle zutreffenden Begriff der Wahrheit ausfindig machen will. Es bleibt dann schließlich immer nur übrig, daß wahr in allen Fällen das ist, was behauptet werden soll. Hieraus ist es zu verstehen, daß in der modernen Logik die Lehre von der Wahrheit als ein Teil der Theorien vom Wert oder vom Sollen behandelt wird. Doch stellen sich dabei wieder neue Schwierigkeiten ein. Es ist zumindest zweifelhaft und vielleicht mehr eine Sache des Temperaments und Charakters als der begrifflichen Entscheidung, ob dieses theoretische Sollen, das die Wahrheit ausmacht, ein absolutes ist. Die Forderung, das Wahre zu behaupten, wird nicht von jedem als völlig allgemeingültig anerkannt werden. Der logische Imperativ ist nicht kategorisch, sondern hypothetisch: ich kann von Menschen die Anerkennung der Wahrheit nur verlangen unter der Voraussetzung, daß erkannt oder gewußt werden will oder soll. Und wenn das Erkennen wieder das auf die Wahrheit gerichtete absichtliche Denken bedeutet, so befinden wir uns mit diesen Begriffsbestimmungen offenbar in einem Zirkel.

Ihm scheint man zu entgehen, wenn man dem Erkennen einen anderen Zweck gibt, sodaß die Wahrheit nur als Mittel für die Erfüllung dieses Zwecks erscheint. Daher haben die axiologischen Theorien von der Wahrheit in neuester Zeit die Tendenz genommen, die man mit dem Namen des Pragmatismus bezeichnet. Sie beruhen auf dem Grundgedanken, daß das Denken, welches Erkennen sein und Wissen werden will, vom Menschen um der Handlung (pragma) willen geübt wird, für die er der leitenden Vorstellungen bedarf. Es ist nun gewiß richtig, daß der Mensch ursprünglich nur denkt, um zu handeln, und daß der psychologische Vorgang, der zum Urteil, zum Bejahen oder Verneinen führt, durchweg emotionalen Charakters, d. h. mit Gefühlen und Willensvorgängen durchsetzt ist. Das Moment der Zustimmung, das Willensmoment im Urteil, bedarf als solches der Motive für seine bejahende oder verneinende Ausübung, und diese Motive bestehen für das Individuum wie für die Massen in Gefühlen der Lust und der Unlust, der Hoffnung und der Furcht, ebenso aber auch in den Wollungen, die diesen Gefühlen selbst schließlich zugrunde liegen. Aber diesen ganzen Naturprozeß des Fürwahrhaltens aus Gefühlen und Bedürnissen haben wir bisher immer als Meinen bezeichnet, und eben in diesem Wesen der Meinung und ihrer Entstehungsart ist es begründet, daß ihre Geltung nur relativ und auf ihre Träger beschränkt ist. Selbst wo solche emotionalen Motive des Fürwahrhaltens aus den konstanten und bewußt fixierten Richtungen des Fühlens und Wollens herstammen, die man Charakter nennt, und wo deshalb die Meinungen zu Überzeugungen werden - welche Art des Fürwahrhaltens man dann wohl als Glauben bezeichnet -, selbst da bleiben diese Bestimmungen für den Geltungskreis des emotional bestimmten Fürwahrhaltens maßgebend. Für das Erkennen und Wissen dagegen sollen alle diese Motive des Fürwahrhaltens ausgeschlossen sein und die Zustimmung nur aus den rein sachlichen Verhältnissen des Vorstellungsinhaltes hervorgehen. Das ist das große Wunder und zugleich die sittliche Bedeutung der wissenschaftlichen Erkenntnis, daß sie keine anderen Motive des Fürwahrhaltens haben und anerkennen soll als die Gründe, die im Gegenstand des Vorstellens und in der Gesetzmäßigkeit des Denkens selbst enthalten sind. Ein solches Bestreben, die Wahrheit um ihrer selbst willen, nicht wegen der Vorteile, die sie im Kampf ums Dasein gewähren soll, bedürfnislos zu suchen, ist ein Ergebnis psychologischer Übertragungsprozesse, die sich in der Geschichte des menschlichen Geschlechts abgespielt haben, aber nur für das Bewußtsein sehr weniger Indivivuden maßgebend geworden sind. Diese rein sachliche Motivation der Zustimmung heißt Evidenz und für sie ist daher eine Theorie der Wahrheit wie die pragmatistische völlig unzutreffend und unzulänglich. Denn es mag noch so einleuchtend gezeigt werden, daß die Menschen tatsächlich in ihrem Fürwahrhalten durch ihre Bedürfnisse bestimmt sind und daß ihnen als wahr nur gilt, was sie brauchen können - so ist doch eben auch dabei die Brauchbarkeit nicht mit der Wahrheit identisch, sondern nur ein Merkmal, um dessen willen die Wahrheitswertung eintritt. Logisch betrachtet, ist also der Pragmatismus eine groteske Verwechslung von Mittel und Zweck: kulturgeschichtlich betrachtet, bedeutet er freilich etwas ganz anderes, da stellt er sich als ein Sieg des noetischen Individualismus dar, der beim Niedergang unserer intellektuellen Kultur die elementare Macht des Willens enfesseln und auch auf das Reich des reinen Gedankens sich ergießen lassen möchte. Er stellt eine der größten Errungenschaften der Kultur, die Reinheit des Willens zur Wahrheit, in Frage.

Unter den Richtlinien des Wahrheitsbegriffs hat die Erkenntnistheorie nun die Aufgabe, die menschliche Wissenschaft in ihrer Entwicklung zu verstehen und in Bezug auf ihre Leistung für den Wahrheitswert zu begreifen. Sie wird deshalb zunächst vom tatsächlichen Ursprung, sodann von der Geltung und der gegenständlichen Bestimmtheit des Wissens zu handeln haben.


§ 10. Der Ursprung der Erkenntnis

Der Gegensatz von Wissen und Meinen hat sich aus dem Selbstbewußtsein der großen intellektuellen Persönlichkeiten entwickelt, welche das Ergebnis ihrer Denkarbeit dem gewohnheitsmäßigen Vorstellen der großen Masse gegenüberstellten. Sie hatten, auch wenn sie wieder untereinander so verschiedene Wege einschlugen wie etwa HERAKLIT und PARMENIDES, doch immer das Bewußtsein, daß ihr wissenschaftliches Nachdenken aus einer anderen Quelle stammt als das unmittelbare Erleben, das sie ja mit der verachteten Menge teilen mußten. So haben die Griechen schon in den ersten Zeiten der Wissenschaft die Vernunft (nous) und das vernünftige Denken (noein) dem Wahrnehmen (aisthesis) gegenübergestellt, und so sehr dieser Gegensatz durch die psychologischen und die metaphysischen Theorien verwischt und in letzter Instanz aufgehoben wurde, so blieb er doch in methodologischer und erkenntnistheoretischer Bedeutung unangefochten bestehen. Die stärkste Zuspitzung hat er in PLATONs Lehre von der Erkenntnis als Erinnerung (anamnesis) erfahren. Hier wird das Schauen der Ideen als der wahren unkörperlichen Wirklichkeit zwar auch als ein Wahrnehmen, aber eben als ein überirdisches und von der leiblichen Erfahrung grundverschiedenes Wahrnehmen aufgefaßt. In ihrer psychologischen Theorie haben die Griechen den Intellekt immer als Passivität, als aufnehmende und empfangende Tätigkeit angesehen, und die Aufnahme oder Abspiegelung des Wirklichen in der Seele mit Vermeidung aller trübenden und verzerrenden Eigentätigkeit galt ihnen in dem Maß als das Wesen der Erkenntnis, daß dieses widerstandslose Aufnehmen in einem mystischen Schauen seine religiöse Vollendung finden sollte.

Diese psychogenetische Ansicht vom Erkennen entspricht durchaus der Abbildtheorie, welche für den naiven transzendenten Wahrheitsbegriff maßgebend ist. Aber sie fand doch teilweise schon im Wesen der Wahrnehmung selbst ihre Korrektur. Mochte diese gern als ein Eindruck gedacht werden, den die Seele wie eine Wachstafel von der auf ihr schreibenden Umwelt erfährt, so weisen doch solche Ausdrücke wie das Erfassen und Begreifen (sullambanein, concipere) darauf hin, daß selbst in dieser sinnlichen Wahrnehmungserkenntnis eine gewisse Aktivität des Bewußtseins nicht zu verkennen ist. Ja, schon früh begegnet uns in der sophistischen Lehre die Theorie, daß alle Wahrnehmung aus einer Doppelbewegung des Objekts auf das Subjekt und des Subjekts auf das Objekt entsteht. Dabei zeigt es sich leicht, daß im sinnlichen Wahrnehmen mehr ein Wirken des Gegenstands und nur eine nachkommende Reaktion der Seele vorliegt, während sich im Denken die Natur der Seele selbst tätig darstellt und vom Gegenstand nur den Anlaß entnimmt, sich an ihm zu entfalten. Aus diesen Verhältnissen hat sich dann die alte und immer neue Frage entwickelt, die auch GOETHE als den Kern in KANTs Kritik nachfühlen zu müssen glaubte, die Frage, ob unser Wissen mehr von außen, von den Dingen oder mehr aus uns selbst, aus dem gesetzmäßigen Wesen der Seele stammt.

Die Antworten auf diese Frage sind radikal, wenn sie ein Entweder-Oder bedeuten wollen. Auf der einen Seite sehen wir den Empirismus, der zu der Formel neigt, daß alles Wissen aus der Erfahrung stammt, auf der anderen Seite den Rationalismus, der alle Erkenntnis im vernünftigen Denken selbst begründet finden will. Die ersten Jahrhunderte in der modernen Philosophie, die Bewegungen, die von BACON und DESCARTES bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts laufen, sind durch den Gegensatz des Empirismus und des Rationalismus bestimmt und vom Streit über die "eingeborenen Ideen" erfüllt. In der abgeschliffenen Terminologie der späteren Scholastik hatte nämlich das Wort "Idee" die vage Bedeutung angenommen, für alle beliebigen Vorstellungen überhaupt angewendet zu werden, und so spitzte sich das noetische Problem auf die Frage zu, ob es Ideen gibt, die nicht unmittelbar auf dem Erlebnis, sondern auf dem Wesen der Seele selbst beruhen. Der Empirismus leugnet dies und er hat deshalb die Aufgabe, die Entstehung aller Erkenntnis aus den Wahrnehmungen begreiflich zu machen. Die klassische Form, worin diese Aufgabe erfüllt wurde, ist LOCKEs Lehre. Sie gab zwei Quellen des Erfahrungswissens an, die innere und die äußere Erfahrung, das Wissen der Seele von ihren eigenen Tätigkeiten und andererseits von den Eindrücken, die sie durch den Leib von ihrer Umgebung im Raum erfährt. Es war die Erkenntnislehre des naiven Bewußtseins, in die dualistische Metaphysik der Unterscheidung zwischen Bewußtsein und Räumlichkeit, zwischen Geist und Materie geschickt eingefügt. Dabei spielten in der Widerlegung der Annahme eingeborener Erkenntnisse zwei Argumente die Hauptrolle: einerseits müßten, wenn solche mit dem Wesen der Seele selbst gegeben wären, sie allen Menschen gleichmäßig zukommen, was zumindest für die bewußte Betätigung der meisten Menschen zweifellos nicht zutrifft; andererseits dürfte man auch nicht von einem unbewußten Vorhandensein solcher Ideen reden, solange man den Begriff der Seele mit dem des Bewußtseins (cogitatio) gleichsetzt. Aber auch der Empirismus muß von einer Verarbeitung der Data der Wahrnehmung in der Erkenntnis handeln, und LOCKE mußte deshalb auf die Fähigkeiten, Vermögen und Kräfte der Seele zurückgreifen, die sich an den gegebenen Sinnesinhalten entwickeln und in der inneren Wahrnehmung zum Bewußtsein kommen sollten. Er glaubte damit dem rationalen Element in der Erkenntnis genügend Rechnung zu tragen, während ein Teil seiner Nachfolger den Umstand hervorhob, daß auch diese Entfaltung der inneren Wahrnehmung immer die äußere voraussetzt, daß somit die letztere schließlich allein die Inhalte der Erkenntnis abgibt. Wenn man nun meint, daß mit diesen Inhalten von selbst auch alle die Beziehungen gegeben sind, die LOCKE auf die Kräfte der Seele zurückführte, so schlägt der Empirismus in einen Sensualismus um, d. h. in die Lehre, daß alle Erkenntnis nur aus der leiblich-sinnlichen, der äußeren Wahrnehmung herstammt. Dieser Sensualismus will aus dem bloßen Beisammensein der Elemente im Bewußtsein auch alle diejenigen Beziehungen ableiten, die in der Erkenntnis zwischen ihnen stattfinden. Er darf sich darauf berufen, daß es immer von diesen Inhalten selbst abhängt, welche Beziehung zwischen ihnen gelten kann oder soll. Aber so richtig dies ist, so muß doch gegen den Sensualismus eingewendet werden, daß solche Beziehungen, wie z. B. schon die elementarste der Vergleichung oder der Unterscheidung, in keinem der einzelnen Inhalte und deshalb auch nicht in ihrer Summe gegeben sind, daß sie vielmehr als etwas Neues und Andersartiges an die gegebenen Inhalte herantreten.

Hierauf fußt dann zunächst die gegenteilige Behauptung des Rationalismus, der auf einen Akt der Seele jene das Gegebene verknüpfenden und verarbeitenden Beziehungen zurückführen will und der deshalb in diesen Formen der Verknüpfung ursprüngliche Erkenntnisse und eingeborene Ideen sehen zu müssen glaubt. Die Neuplatoniker der Renaissance hatten nach stoischem Vorbild diese ursprünglichen Erkenntnisse als die der Seele ihrem Wesen nach zugehörigen und mit der Geburt von Gott zuerteilten angesehen und DESCARTES mit seiner Schule hatte diese Wendung angenommen, obwohl im wesentlichen Gedankengang der caresianischen Philosphie die eingeborenen Ideen nicht eigentlich psychologisch, sondern logisch als die unmittelbar evidenten Wahrheiten gegolten hatten. Wenn sie nun aber, namentlich bei den Schülern, psychogenetisch charakterisiert werden sollten, so verstand es sich von selbst, daß sie nicht aktuell als bewußte Vorstellungen gegeben sein konnten, sondern vielmehr funktionell oder virtuell als unbewußte Möglichkeiten, wie das später LEIBNIZ in der umfassendsten Weise für seine Monadologie und deren erkenntnistheoretische Rechenprobe in den "Nouveaux essais" ausgeführt hat. Damit aber hatten sich Empirismus und Rationalismus einander soweit genähert, daß der Streit zwischen ihnen beinahe gegenstandslos geworden war. Auch der Empirismus mußte schließlich zugeben, daß die Data der Wahrnehmung erst durch eine rationale Verarbeitung, die nicht in ihnen selbst steckt, zur Erfahrung werden: und auch der Rationalismus kann sich nicht der Anerkennung verschließen, daß für die in der Vernunft begründeten Beziehungsformen der Inhalt durch die Wahrnehmung gegeben sein muß. Dieser Zusammenhang hat seine klassische Form darin gefunden, daß LEIBNIZ zu dem scholastischen vom neueren Empirismus wiederholten Satz: "Nihil est in intellectu quon non fuerit in sensu" [Nichts ist im Verstand, was nicht vorher in den Sinnen war - wp] nur den einen Zusatz verlangte: "nisi intellectus ipse" [außer dem Verstand selbst - wp].

Man darf in gewissem Sinn sagen, daß damit die psychologische Frage nach dem Ursprung der Erkenntnis, sofern ihre Beantwortung für die Erkenntnistheorie bedeutsam ist, als erledigt gelten darf. Nur eine moderne Nuance diser ansich veralteten Kontroverse mag nicht unerwähnt bleiben. Auch der Empirismus kann nicht verkennen, daß es im entwickelten Kulturzustand für das reife Individuum der Kulturvölker eine unmittelbare Evidenz rationaler Wahrheiten gibt, die durch dessen eigene Erfahrung niemals zu begründen ist, so etwa die Sicherheit, mit der wir nach dem Kausalitätsprinzip zu jedem Geschehen irgendwie eine Ursache voraussetzen. Hier hilft sich die empiristische Theorie heutzutage mit einer entwicklungsgeschichtlichen Deutung des virtuellen Eingeborenseins. Derartige Wahrheiten, die nicht vom Individuum erworben sind, müssen als von der Gattung in ihrer geschichtlichen Bewegung erworben und sodann durch Vererbung und Gewohnheit, durch Nachahmung und Sprache dem Individuum eingepflanzt angesehen werden. Das soll umso mehr gelten, je mehr nach pragmatischem Prinzip solche mit der Zeit evident gewordene Denkgewohnheiten sich als zweckmäßig für das Erkennen und Handeln des Menschen herausgestellt haben: sie würden somit ihre tatsächliche Geltung einem Überleben des Zweckmäßigen verdanken. Macht man sich diese Erklärungsweise zueigen, so setzt man die rationale Wahrheit, indem man sie ihres Eigenwerts entkleidet, zu einer fördersamen Denkgewohnheit des empirischen Menschen herab, und nur in diesem Sinne nennt sich der Pragmatismus auch gern Humanismus, wofür zur Vermeidung von Verwechslungen mit diesem längst für Anderes und Besseres eingeführten Terminus lieber Hominismus zu sagen wäre. Alle "Wahrheit" aber wäre danach nur im menschlichen Bedürfnis begründet und nur ein menschlicher Wert. So zeigt sich, daß diese moderne Form des Relativismus prinzipiell nicht über den Satz hinausgeht, den mit sehr viel einfacherer und schlagenderer Darlegung der alte Sophist formuliert hat: der Mensch sei das Maß aller Dinge.

Der psychologische Gegensatz von Empirismus und Rationalismus wird auf eine höhere Stufe gehoben, wenn man den logischen Sinn in das Auge faßt, der den gegensätzlichen Behauptungen eigentlich zugrunde liegt. Die Erfahrung als der Inbegriff aller Erlebnisse besteht, im Grunde genommen, aus lauter einzelnen Erkenntnissen, während die Vernunfteinsicht, die zu deren Verarbeitung bereit liegt, immer mehr oder weniger allgemeine Sätze enthält. Der Empirismus läuft also auf die Behauptung hinaus, daß alles Wissen in letzter Instanz aus dem Einzelnen, aus den singulären Erlebnissen erwächst, während der Rationalismus den letzten Grund aller Erkenntnis in ursprünglichen evidenten allgemeinen Sätzen sucht. Nun ist aber deutlich, daß die beiden extremen Behauptungen im besten Fall auf ganz geringe Umkreise in ihrer Geltung beschränkt sind. Nur sehr wenig gibt es in unserem Wissen, was lediglich ein singuläres Erlebnis bedeutet, und andererseits ebensowenig, was eine ohne alle Erfahrung begründete Allgemeinheit wäre. In der Gesamtheit des menschlichen Erkennens und Wissens ist tatsächlich immer beides miteinander verwachsen, Einzelnes und Allgemeines kommen nicht ohne einander aus. In dieser logischen Wendung bezeichnete man den Gegensatz wohl als denjenigen von Apriorismus und Aposteriorismus. Diese Ausdrücke stammen aus den Wandlungen, welche eine aristotelische Terminologie bei den Scholastikern erfahren hatte. Die griechische Logik unterschied das allgemeine Wesen als das sachlich Frühere und erkenntnismäßig Spätere von den sachlich späteren und erkenntnismäßig früheren einzelnen Erscheinungen. Im scholastischen Sprachgebrauch dagegen stellte man dem induktiven Denkgang a posteriori, welcher vom Einzelnen zum Allgemeinen aufsteigt, den deduktiven Denkgang gegenüber, der a priori vom Allgemeinen zum Besonderen herabsteigt. So unterschied man auch in der neueren Methodologie die empirische Begründung a posteriori von der ratonalen Begründung a priori. Dabei kann der Empirismus sehr gut, während er das absolute Apriori leugnet, das relative zulassen. Denn sobald auf induktivem Weg allgemeine Sätze gewonnen sind, können von ihnen aus a priori andere einzelne Erkenntnisse abgeleitet werden. Der Rationalismus dagegen kommt auch nicht ohne die Annahme empirischer Momente aus, deren er unbedingt bedarf, um vom Allgemeinen zu besonderen Erkenntnissen fortzuschreiten.

In dieser Umformung des alten Gegensatzes zeigt sich nun schon die Einsicht in die Unzulänglichkeit des psychogenetischen Standpunktes für die Lösung des noetischen Problems. Denn es ist deutlich, daß die Art, wie der Mensch zu einem Urteil oder zu der Zustimmung, die das Wesentliche im Urteil ausmacht, tatsächlich kommt, für die Berechtigung des Urteils oder der Zustimmung total irrelevant ist. Die meisten Behauptungen, welche die Menschen in ihrer großen Masse aussprechen, sind nachgeurteilt und werden der Autorität nachgesprochen - manchmal auch eigensinnig gerade ihr entgegen aufgestellt. Dazu kommt, daß das tatsächliche Urteilen, wie schon in einem anderen Zusammenhang ausgeführt wurde, meist emotional ist, auf Gefühlen und Wollungen beruth; und alle diese Naturprozesse, die ein Urteil als Ergebnis haben, gewähren in keiner Weise dessen Berechtigung, So muß man sich deutlich machen, daß die Art der Entstehung kein Kriterium für die Wahrheit der Vorstellung ist. Wir nennen die naive Auffassung, die aus der Entstehung seelischer Gebilde ihren Wert im logischen oder auch im ästhetischen und ethischen Sinn bestimmen zu können glaubt, Psychologismus. Er war die Grundauffassung der Aufklärungsphilosophie und von ihrem Führer LOCKE in typischer Weise zum Ausdruck gebracht. Bei seiner systematischen Ausgestaltung erschien er wesentlich auf dem theoretischen Gebiet als Entwicklung der "Ideen" von ihren sinnlichen Anfängen bis zu ihren feinsten und höchsten Umbildungen, und deshalb nannte sich in Frankreich die nach dieser Methode ausgeführte Verengung der Philosophie später Ideologie, - ein Wort, nach welchem man dann auch die Philosophen gern Ideologen nannte und dem doch keine andere Bedeutung untergeschoben werden sollte als diese ursprüngliche. Heutzutage treibt nun zwar der Psychologismus auch noch immer wieder sein jetzt als dilettantisch zu beurteilendes Wesen: aber in ernst philosophischen Kreisen ist er seit KANT überwunden. In der Erkenntnistheorie handet es sich nicht um die Verursachung des Urteilens, sondern um die Begründung des Urteils. Das erste ist ein tatsächliches Verhältnis, das sich nach psychologischen Gesetzen vollzieht, das zweite ein Wertverhältnis, das logischen Normen unterliegt. Es is der Sinn der kantischen Entwicklung gewesen, von der psychogenetischen (oder, wie er sagte, physiologischen) Behandlung des Erkenntnisproblems mit zunehmender Sicherheit zu dessen logischer (oder, wie er sagte, transzendentaler) Behandlung fortzuschreiten. Das wesentliche Zwischenglied zwischen dem Anfang und dem Ende dieser Entwicklung hat die Einwirkung der "Nouveaux essais" von LEIBNIZ gebildet, worin bereits die Überführung des psychologischen Gegensatzes vom Empirismus und Rationalismus in den logischen Gegensatz von Aposteriorismus und Apriorismus vollzogen worden war. In der reifen Darstellung der kritischen Philosophie hat daher das vielgenannte Wort Apriori niemals mehr psychologische, sondern immer nur logische Bedeutung. Alle schiefen Deutungen der kantischen Lehre stammen schließlich aus der Verwechslung der logischen Apriorität mit psychologischer Priorität. Die noetische Frage ist durch die kritische Philosophie endgültig vom Boden der psychologischen Streitigkeiten auf den der logischen Untersuchung übergeführt worden. Sie bedeutet nicht mehr ein Problem des Ursprungs der Erkenntnis, sondern das ihrer Geltung.
LITERATUR - Wilhelm Windelband, Einleitung in die Philosophie, Tübingen 1920