WindelbandRiehlHerbartH. Maier | ||||
Nach hundert Jahren
So stehen wir heute, nach hundert Jahren, wiederum vor der Frage: was soll aus dem Kritizismus werden? Ein unvergleichlicher Reichtum von bedeutsamen Prinzipien ist in KANTs Denken vereinigt, ohne seine völlige und entschiedene Ausgleichung gefunden zu haben: je energischer sich die neue Entwicklung darin vertieft hat, um so unabweisbarer ist auch für sie die Forderung geworden, zu dem Ganzen neu Stellung zu nehmen. Wiederum stehen wir vor der Frage: wie müssen wir KANT recht verstehen, um über ihn hinauszugehen? Der Durchbruch dieser Einsicht, den wir gegenwärtig feststellen können, hängt mit allgemeinen Wandlungen des wissenschaftlichen Geistes zusammen, die sich auch im Wechsel der Auffassung des Kritizismus gespiegelt haben. Der neue Aufschwung der kantischen Lehre, der um das Jahr 1860 herum begann, fiel in die Zeit des Tiefstands von philosophischem Interesse, der fast leidenschaftlichen Ablehnung metaphysischer Fragen und der Beschränkung auf die Arbeiten der Spezialwissenschaften. Aus dieser Stimmung heraus ergriff man begierig, namentlich von Seiten der Naturforscher, eine philosophische Lehre, welche die Unerkennbarkeit der Dinge-ansich festzulegen und zugleich das Recht einer mathematischen Theorie der Erfahrungswelt zu begründen versprach. So wirkte KANT zunächst, gerade wie bei seinen Lebzeiten, wieder mit den negativen Ergebnissen seiner Erkenntnislehre. Damals war es eine Kontrastwirkung gewesen gegen die Allwisserei des Rationalismus und des Popularphilosophentums, die der alles Zermalmende ein für alle Mal abtat: jetzt war es eine Erscheinung der Sympathie, mit der man sich an der philosophischen Rechtfertigung des eigenen Empirismus freuen zu dürfen glaubte. Dieser Sachlage entsprach es, daß die ersten Auffassungen und Umwandlungen, die der "Neukantianismus" erfuhr, den "Anti-Metaphysismus" besonders betonten und sich selbst zum Teil relativistischen und positivistischen Neigungen zuwandten. Allein diese "agnostische" Stimmung hielt nicht Stand. Von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wuchs auch in den besonderen Wissenschaften wieder das Bewußtsein von der Aufgabe und dem Bedürfnis, die Fülle des tatsächlichen Materials und die Formen seines wissenschaftlichen Zusammenhangs in letzter Instanz unter allgemeinere Prinzipien zu ordnen, und unter der Einwirkung so bedeutsamer Prinzipien wie der Erhaltung der Energie oder der Entwicklung mehrten sich die Versuche, das Ganze der gewonnenen Einsichten wieder in großen Linien zusammenzuschauen. Je kräftiger dabei die erneuerte Erkenntnistheorie des Kritzismus behilflich gewesen war, den Materialismus zu überwinden, der halb bewußt, halb unbewußt die naive Grundmeinung während jener Ebbe des philosophischen Denkens ausgemacht hatte, umso mehr erstarkten im Gegensatz dazu alle Denkmotive, welche auf die Erfassung eines geistigen Lebensgrundes der Dinge, im Gedanken, in der Phantasie, im Willen gerichtet sind. Mit diesen Wandlungen aber vereinigten sich heftigere Strömungen in weiteren Kreisen. Durch gewaltige Geschicke und mächtige Umwälzungen des öffentlichen Lebens im Tiefsten aufgerect, von einem fieberhaften Bedürfnis nach neuer Selbstgestaltung ergriffen, verlangte die Volksseele nach dem bestimmten und bestimmenden Ausdruck dessen, was sie bewegt: in Kunst und Literatur hastet und tastet sie nach dem Ungewöhnlichsten, um sich daran und darin zu formen, und in der Bedrängnis ihrer sozialen und religiösen Erregungen fordert sie gebieterisch von der Philosophie das, ohne das noch keine Zeit zu schöpferischer Gestaltung gelangt ist: eine Weltanschauung. So haben wir es erfahren, wie am Ende des 19. Jahrhunderts Wissenschaft und Leben den "Mut der Wahrheit" wiedergefunden haben, den HEGEL an seinem Anfang verlangt und den es verloren hatte. Diese Entwicklung hat der "Neukantianismus" mitgemacht: ihr gemäß sind in der Auffassung und Darstellung, wie in der selbständigen Weiterbildung der kantischen Lehre Schritt für Schritt mehr die positiven Elemente zur Geltung gekommen, und das allgemeine Interesse am Kritizismus geht heute, wie vor hundert Jahren, wieder auf die Frage, ob er uns in seinem Grundriß und in seiner Ausführung als philosophische Weltanschauung genügen kann, ob er die Tragkraft und die Erweiterungsfähigkeit besitzt, um den Reichtum des neuen Lebens in sich aufzunehmen und sich einzugliedern. Daß diese positiven Momente und ihre Zusammenfassung zu einer Weltanschauung bei KANT vorhanden sind, steht außer Frage. Die geschichtliche Wucht seiner Erscheinung wäre ohne dies unbegreiflich. Und seine ersten großen "metaphysischen" Nachfolger, die ganze Generation von FICHTE bis zu HERBART und SCHOPENHAUER, haben sich diese Momente nicht entgehen lassen: sie haben daraus die Bausteine gemacht, mit denen sie die kühnen Gebäude ihrer metaphysischen Systeme aufrichteten; jedes darunter hat seine Grundlagen in der Weltanschauung des "kritischen" Philosophen. Darum ist der Streit, ob KANT Metaphysiker war, ein Wortstreit gewesen. Es ist offenkundig, daß KANT das, was er Wissenschaft nannte, mit zwingenden Gründen als unfähig zur Überschreitung der Grenzen der Erfahrung, zur Erkenntnis der Dinge-ansich, zum Aufbau einer Metaphysik im Sinne der "Wissenschaft vom Übersinnlichen" erwiesen hat. Aber es ist ebenso offenkundig, daß er von der Realität der "intelligiblen Welt" unerschütterlich überzeugt war, und daß er von ihrem Inhalt und Leben, wie von ihren Beziehungen zur Erscheinungswelt sehr bestimmt und wohldurchdachte Vorstellungen hatte. Der ganze Bestand seiner philosophischen Lebensarbeit enthält eine streng geschlossene und völlig ausgebildete Weltanschauung: und sie liegt nicht etwa nur keimartig zugrunde oder andeutungsweise im Hintergrund, sondern offen ausgesprochen zutage. Wer das gewaltigste seiner Werke, die "Kritik der Urteilskraft", begriffen hat, kann darüber nicht im Zweifel sein, ebensowenig aber auch über die Bedeutung, die der Philosoph dafür in Anspruch nimmt. Diese Weltanschauung gilt ihm nicht als eine bloß persönliche Meinung, sie ist nicht seine Privatmetaphysik, die ebenso wie vielleicht andere neben der Erfahrungswissenschaft nur so herlaufen wollte oder dürfte, - sondern er verlangt für sie die "notwendige und allgemeine Geltung" in nicht geringerem Maße als für die mathematisch-naturwissenschaftliche Erkenntnis der Erscheinungen. Die Postulate der praktischen Vernunft beziehen sich auf ihre intelligiblen "Gegenstände" gerade so notwendig wie die Anschauungen und die Kategorien auf die Sinnenwelt, und die heuristischen Prinzipien der teleologischen Urteilskraft erfassen das Ganze der Natur und des Lebens gerade so allgemeingültig, wie die "Grundsätze" auf die Erfahrung angewendet werden. Die Aufdeckung ihrer transzendentalen Geltung gehört zu den Aufgaben der kritischen Philosophie mindestens in demselben Grad wie die Untersuchung über die Bedingung der Erfahrung. Was man in den Anfängen des Neukantianismus vielfach nach SCHOPENHAUERs Rezept als Beiwerk angesehen hat, erweist sich als integrierender, vielleicht als der inhaltlich bedeutsamere Teil der kritischen Philosophie, die eben deshalb der systematischen Gliederung und des architektonischen Aufbaus, den ihr KANT gegeben hat und geben mußte, auch in ihrer weiteren Entwicklung nicht entraten kann. Nur so bleibt die Einheit und die gegenseitige Ergänzung der negativen und der positiven Ergebnisse gewahrt, welche das eigenartige Wesen des Kritizismus ausmacht. Denn eben darin besteht dessen Größe und Originalität, daß KANT uns gelehrt hat, Gründe und Inhalte der Weltanschauung, welche die Philosophie bieten soll, nicht bloß in der wissenschaftlichen Theorie, sondern im gesamten Umfang des Vernunftlebens zu suchen. Der Einschlag, den früher die "Metaphysiker" aus naiven Antrieben des ethischen, ästhetischen oder religiösen Bewußtseins in das wissenschaftliche Begriffsgewebe eingewirkt haben, um ihre philosophische Gesamtanschauung zu gestalten, wird von KANT mit vollem kritischem Bewußtsein in seiner Unentbehrlichkeit erkannt, in seiner Begründung gerechtfertigt, in seinen Anforderungen geregelt: eben damit aber wird das Maß der Ansprüche beschränkt, welche die wissenschaftliche Theorie für sich allein im Rahmen der philosophischen Weltanschauung zu erheben befugt ist. Das ist im letzten Grund das Wesen der Epoche, welche KANT in der Geschichte des menschlichen Denkens gemacht hat: und darin besteht die aktuelle Bedeutung seiner Lehre für ein Zeitalter, das, wie das gegenwärtige, wieder einmal die Urrechte der Gefühle und der Triebe in der Gestaltung seines gesamten Lebens und damit auch seiner intellektuellen Überzeugungen anerkannt sehen möchte. Diese Bedeutung steht aber umso höher, als für den leidenschaftlichen Überschwang und die naturalistische Ungezügeltheit solcher Bestrebungen, wie sie sich ja sattsam in der popularphilosophischen Literatur unserer Tage breit machen, kein besseres Heilmittel ist als die kritische Philosophie selber. Denn die Bedeutsamkeit ethischer und ästhetischer Bedürfnisse für die philosophische Weltanschauung erkennt KANT nun und nimmermehr in ihrer unmittelbaren, einzelnen, historisch bedingten individuellen Erscheinungsweise, sondern nur in der Gestalt an, welche sie für die Vernunft, d. h. in allgemeingültiger und notwendiger Weise besitzen. Die Elemente der "Metaphysik", wie er sie verlangt, sind sehr verschieden, aber gemeinsam ist ihnen allen die notwendige und allgemeine Geltung für die "Vernunft", für das "Bewußtsein überhaupt". Allein eben deshalb sind in der kritischen Philosophie die Gründe der Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit in den verschiedenen Bereichen des Wirklichen verschieden: für die Metaphysik der Erscheinungen liegen sie im Wissen, für die Metaphysik des Übersinnlichen und seiner Beziehungen zur Erfahrungswelt liegen sie im "vernunftnotwendigen" Glauben und im vernunftnotwendigen "Betrachten". Nicht jedes Glauben oder jedes Betrachten hat dieses metaphysische Recht, sondern nur das notwendige und allgemeingültige, das vernünftige. Dieses aber, das allein berechtigte, aus der Fülle der individuellen und historischen Ansprüche herauszuschälen, bleibt auch bei KANT die Sache der Philosophie, der "wissenschaftlichen" Klärung; - ja, es ist ihre vornehmste Aufgabe. Damit stehen wir an dem Punkt, wo die von KANT gegebene Form des Kritizismus über sich selbst hinausweist. Das "Wissen", das er forträumen mußte, um dem Glauben Platz zu machen, die "Wissenschaft", deren Anrecht an die Metaphysik in der Kr. d. r. V. gewogen und zu leicht befunden wird, - sie umspannen nicht den ganzen Umfang der theoretischen Erkenntnisarbeit. KANTs Begriff der "Wissenschaft" ist - historisch sehr begreiflich - eingeengt auf den methodischen Charakter der theoretischen Naturforschung, bestimmt durch NEWTONs Prinzip. Das kommt am deutlichsten und schroffsten bekanntlich in den "Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft" zutage, wo es heißt, daß "in jeder besonderen Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden kann, als darin Mathematik anzutreffen ist"; und wo deshalb Chemie und Psychologie von der "eigentlichen" Wissenschaft ausgeschlossen werden. Aber auf denselben Begriff der "Wissenschaft" sind die Kritik und die Prolegomenen gestimmt: es ist lediglich der der Gesetzeswissenschaft. Heutzutage ist dieser Begriff der Wissenschaft zu eng. Auf die Chemie fände KANT ihn jetzt vielleicht anwendbar, auf die Psychologie - trotz aller psychophysischen Gesetze - im Ganzen wohl kaum: und doch zählen wir auch sie zu den eigentlichen Wissenschaften. In noch ganz anderem Sinn aber gilt das von den historischen Disziplinen, die von KANT erst recht aus der Sphäre der Wissenschaft ausgeschlossen werden. Wir können ihm daraus keinen Vorwurf machen: denn bis zu seiner Zeit gab es in der Tat wesentlich nur eine Kunst der Geschichtsschreibung und große Künstler darin; aber die Geschichte zählte eben zu den belles lettres [schönen Literatur - wp], sie war noch keine Wissenschaft. Dazu ist sie erst nach KANT geworden. Es gehört zu den eigentümlichsten Erscheinungen im geistigen Leben des 19. Jahrhunderts, daß neben der imposanten, namentlich nach außen eindrucksvollen Entfaltung der Naturwissenschaft als ein stillerer, aber stetiger und zielsicherer Vorgang die Erhebung der Historie "zum Rang einer Wissenschaft" einhergegangen ist. Wir haben jetzt die Geschichte als Wissenschaft, die KANT noch nicht gekannt hat. Und das ist nicht etwa daher gekommen, daß ein paar universalistische Methodologen und ein paar theoretisierende Historiker - niemals die großen - gelegentlich das Verlangen gestellt haben, auch auf geschichtliche Vorgänge das Prinzip induktiver Aufsuchung von "Gesetzen" anzuwenden. Nein, diese Szientifikation der Historie verdanken wir einzig und allein dem kritischen Geist, der sich von der phantasievollen Betrachtung der Vergangenheit her allmählich und mühsam zu streng methodischer Forschung erzogen und die dazu erforderlichen Verfahrensweisen und Hilfsmittel mit vorsichtiger Anpassung an die eigenartige Natur der Gegenstände bis in das Einzelne hinein systematisch ausgebildet hat. Das schließt nicht aus, daß in den abschließenden Gesamtdarstellungen des wissenschaftlich Erworbenen und Gesicherten die künstlerische Genialität des großen Forschers ihr Recht behält: gilt doch dasselbe auch für die überschauenden Leistungen des großen Naturforschers und für den Abschluß allen Wissens in dem Sinne, wie es SCHILLER in den "Künstlern" als höchstes Ziel geschildert hat. Diese große neue Tatsache der Existenz einer historischen Wissenschaft verlangt nun von der kritischen Philosophie in erster Linie eine Erweiterung des kantischen Begriffs vom Wissen: die Historie fordert neben der Naturforschung ihr Recht in der theoretischen Lehre. Auch ihr Wesen und ihr Erkenntniswert will, ihrer wirklichen Arbeit gemäß, verstanden und beurteilt werden. Damit verschieben sich Inhalt und Form der Wissenschaftslehre um ein beträchtliches gegenüber der Behandlung, die sie von KANT erfahren hat und unter den Voraussetzungen seiner Zeit erfahren mußte. In der reinen Logik und in der Methodologie kann man schon seit langem, seit LOTZE und SIGWART, die prinzipielle Berücksichtigung der Formen und Aufgaben des historischen Denkens neben dem naturwissenschaftlichen beobachten: in der Erkenntnistheorie ringt das gleiche Bestreben mit steigendem Erfolg nach Anerkennung. Dabei aber stoßen wir von Neuem, wenn auch in veränderten Begriffsformen, auf denselben Gegensatz, den KANT für die philosophische Weltanschauung in seiner Weise zwischen dem Wissen einerseits und dem vernunftnotwendigen Glauben und Betrachten andererseits gemacht hat. Wir finden die eine Art des wissenschaftlichen Denkens, die der Naturforschung, durchgängig und wesentlich durch das Bedürfnis bestimmt, aus den Tatsachen der Erfahrung dasjenige herauszuheben, was sich im Sein und Geschehen immer gleich bleibt: an der logischen Funktion des Gattungsbegriffs entwickelt sich die Forschung nach dem, was im Wechsel der Tatsachen beharrt einerseits als bleibendes Sein, andererseits als stetige Reihenfolge der Ereignisse - nach den Substanzen und den Gesetzen ihrer Tätigkeit. Das "Herauspräparieren" dieser Ordnung aus dem Gewirr der Eindrücke gilt mit Recht als bewunderungswürdige Leistung des wissenschaftlichen Intellekts: aber eben damit ist schon gesagt, daß das so gewonnene Bild des Wirklichen nur einen Ausschnitt aus der "unübersehbaren Mannigfaltigkeit" des Tatsächlichen bedeuten kann. Wenn dieses Bild auch - um die Terminologie von HEINRICH HERTZ anzuwenden - so adäquat wie möglich ist, so gibt es doch gerade dann nur diejenigen Momente der Wirklichkeit wieder, welche sich zu einer Subsumtion unter die Gattungsbegriffe des Seins und des Geschehens eignen. Die lebendige Wirklichkeit des Einzelnen geht in diese allgemeinen Begriffe nicht ein: sie lassen sich darauf anwenden, aber sie erschöpfen sie nicht. Die so gewonnene "Erkenntnis" ist also nach der Auswahl, die unter den Tatsachen getroffen wird, eine Konstruktion der Vernunft, die ihre eigene logische (und mathematische) Gesetzmäßigkeit in den Tatsachen entdeckt und daraus herauspräpariert hat. Die "Natur" als Objekt der Wissenschaft ist ein Kosmos, dessen Zusammenhang wir nur aus den Formen der Vernunft in Anschauungen und Begriffen vorzustellen vermögen: - genau wie es KANT gelehrt hat. Aber ganz dasselbe gilt auch für die Geschichte - mutatis mutandis [mit den notwendigen Änderungen - wp]. Auch der Historiker geht nicht darauf aus, das einzelne zeitliche Sein und Geschehen in seiner ganzen individuellen Mannigfaltigkeit zu beschreiben; er denkt umso weniger daran, als er das gar nicht auszuführen vermöchte. Auch er trifft vielmehr aus der unendlichen Massen des geschichtlich Gegebenen eine Auswahl, welche keineswegs nur durch das Schicksal der Überlieferung, sondern vielmehr wesentlich durch das Interesse bestimmt ist, das die einzelnen Momente der Vergangenheit zu erwecken geeignet sind. Unsäglich vieles "geschieht", was niemals zur "Geschichte" gehören wird. Das Interesse aber, das die Überlieferung wie die Auswahl des Historikers leitet, hängt in diesem Fall an den Wertbestimmungen des Menschenlebens; nur das ist historische Tatsache, was irgendwie für die Erinnerung der Gattung, für ihre wertbestimmte Selbsterkenntnis bedeutsam werden kann. Ebenso aber sind die Beziehungen, in die der Historiker die Tatsachen zu bringen hat, wesentlich durch dasselbe Interesse bestimmt: er sucht nicht Gattungsbegriffe, sondern Gestalten und Gestaltenkomplexe, die durch solche Wertbeziehungen bedingt sind. Nur als Mittel im Verständnis solcher Zusammenhänge benutzt auch die historische Forschung das Wissen von generellen Verhältnissen, das sie zum Teil den Gesetzeswissenschaften entlehnen kann, zum andern Teil aber selbst erst zu diesen Zwecken gewinnen muß. Auch die "Geschichte" also als Objekt der Wissenschaft ist ein geordneter Zusammenhang, den wir uns auf dem Grundriß allgemeingültiger und notwendiger Vernunftinteressen aus dem Gegebenen herauszupräparieren vermögen: denn nur dadurch unterscheidet sich dabei die Wissenschaft von der individuellen Erzählung, daß sie anstelle der persönlichen Interessen des Einzelnen die allgemein und notwendig geltenden Werte zum Prinzip der Auswahl und der Beziehung zwischen den Tatsachen macht. Diese Erweiterung der erkenntnistheoretischen Untersuchung von den naturwissenschaftlichen auf die historischen Disziplinen, wie sie am besten von RICKERT entwickelt und formuliert worden ist, führt nun unmittelbar darauf, für das "systematische Geschäft" der kritischen Philosophie die Allgemeinheit und Notwendigkeit der Werte, denen die Geschichte den Charakter als Wissenschaft verdankt, als das vollkommen ebenbürtige und parallele Problem zur Apriorität der intellektuellen Formen erscheinen zu lassen, auf denen sich die Naturwissenschaft aufbaut. Die "Kritik der historischen Vernunft" leitet sich mit sachlicher Notwendigkeit und Selbstverständlichkeit zu den Aufgaben der Ethik, Ästhetik und Religionsphilosophie hinüber: sie leistet als Bindeglied dasselbe, was KANT durch die Konstruktion der transzendentalen Dialektik und durch die Beziehungen zwischen Ideen und Postulaten erreichen wollte. Sie zeigt dabei aber, daß nicht nur für eine sogenannte Metaphysik des Übersinnlichen, sondern schon für die unerläßliche Grundlage der historischen Wissenschaften die notwendige und allgemeine Geltung der Werte erforderlich ist. Daher wird die Begründung dessen, was KANT den vernunftnotwendigen Glauben der praktischen Vernunft und die vernunftnotwendige Betrachtung der reflektierenden Urteilskraft genannt hat, d. h. die philosophische Theorie der Werte zum Mittelpunkt der Aufgabe, die der Fortentwicklung und systematischen Ausbildung des Kritizismus aus der gegenwärtigen Lage der Wissenschaften ebenso wie aus den allgemeinen Zuständen des geistigen Lebens erwachsen. Denn gerade in letzterer Hinsicht hat sich aus leidenschaftlichen Impulsen, aus Gefühlen des Kraftüberschusses und der Expansionsbedürftigkeit, wie aus den unausbleiblichen Kontraststimmungen dekadenter Impotenz im allgemeinen Bewußtsein unserer Tage ein Individualismus und Relativismus entwickelt, der, nachdem er sich eine Zeit lang ausgetobt hat, bereits nach seiner Erlösung von sich selbst zu seufzen und zu drängen begonnen hat. Solche Strömungen verdienen umso mehr Beachtung, als sie in gewissem Maße gegenüber den formalen Bestimmungen der kritischen Moralphilosophie im Recht sind. Diese Bestimmungen sind eben in der Tat rein formal. Alle Werte, die KANTs Ethik anerkennt, hängen an der Übereinstimmung des Besonderen mit allgemeinen Normen. In einem genauen Parallelismus zum Apriorismus seiner Erkenntniskritik gesteht KANT auch im Feld der Sittlichkeit die allgemeine und notwendige Geltung nur dem Generellen zu: dem Sittengesetz als einer Maxime, die als Naturgesetz gewollt werden kann. Und aus diesem Prinzip, das keinen anderen Inhalt mehr haben soll als die Gesetzmäßigkeit selbst, ist geflissentlich jede sachliche Bestimmung ausgeschlossen. Auch die Persönlichkeit, auf deren Autonomie so starkes Gewicht gelegt wird, empfängt ihre "Würde" nur von ihrer selbstgewollten Identifikation mit dem Vernunftgesetz, ihren Wert nur von der durch sie vollzogenen Verwirklichung des allgemeinen Pflichtgebots: ihre "Freiheit" besteht, dem positiven Begriff nach, nur in der Fähigkeit, sich durch nichts anderes als durch das Gesetz bestimmen zu lassen. Diese Maximenmoral KANTs ist schon in der ersten Zeit einem ästhetisch bewegten und stürmisch aufgeregten Geschlecht unbequem gewesen und unzulänglich erschienen: JACOBI, die Romantiker, auch FICHTE haben diese Fesseln der Gesetzmäßigkeit zu sprengen versucht und SCHILLER ist, so nahe er dem Prinzip der Pflichtmäßigkeit bleiben wollte, doch dem Zauber der Unmittelbarkeit in der "sittlichen Natur" des Individuums nachgegangen. Allein alle diese Versuche, die generellen Wertformen, auf die KANT die allgemeingültigen Gründe des moralischen Urteils ausschließlich zurückzuführen für nötig befunden hatte, durch den Hinweis auf den gesicherten Bestand individueller Werterscheinungen zu ergänzen, - sie blieben entweder im Halben hängen oder sie stellten die Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit des Wertbewußtseins in Frage. Erst in dem großen Sinn, womit SCHLEIERMACHER die Ethik lehrte, den ganzen Umfang des historischen Lebens zu umspannen und begrifflich zu bemeistern, fand sie auf diesem unermeßlich erweiterten Arbeitsfeld auch das Verständnis der lebendigen Inhalte, welche als einmalige, individuelle Verknüpfungspunkt der generellen Norm-Beziehungen neben diesen selbst in ihrer Eigenart den Gegenstand allgemeiner und notwendiger Wertung ausmachen. In dieser Richtung allein kann die wesenhafte Entwicklung der kritischen Ethik gesucht werden: nur im unmittelbaren und methodischen Zusammenhang mit der Geschichtsphilosophie kann sie daran arbeiten, das formale Gerippe genereller Maximen mit dem Fleisch und Blut lebendiger Wertinhalte zu umkleiden. So vermag sie auch den gesättigten Reichtum der HEGELschen Lehre vom objektiven Geist in sich aufzunehmen und die Verwirklichung der "Ideale" als das Wesen alles historischen Geschehens zu verstehen. Eben dadurch wird sie zu einer Philosophie der Gesellschaft, zu einer kritischen Theorie des Gattungslebens: denn der Eigenwert der individuellen Gebildet der Geschichte besteht in ihrer eigenartigen, nur an ihnen in dieser Weise möglichen Beziehung zum Ganzen, zu der durch die Jahrtausende hin auseinandergelegten Entfaltung der Humanität. Darauf allein beruth die allgemeine und notwendige Geltung ihres Wertes. Sie zum Bewußtsein zu bringen und den Rechtsgrund der historischen Wissenschaft darin bloßzulegen, ist die wesentliche Aufgabe der Ethik als allgemeiner kritischer Werttheorie und zugleich der unentbehrliche Ertrag, den sie für die philosophische Weltanschauung zu liefern berufen ist. Denn nichts anderes kann doch schließlich die Aufgabe der Weltanschauungslehre - sagen wir doch ruhig der Metaphysik - sein, als uns darüber zu verständigen, welches Recht wir haben, dem objektiven Weltbild, das uns die Wissenschaften als das notwendige und allgemeingültige Denken der Menschheit darbieten, die Kraft zur Erfassung der Realität, der absoluten Wirklichkeit zuzutrauen. Das ist die Frage der Erkenntnistheorie und - der "Metaphysik". Denn vom Verhältnis des objektiven Denkens zum Realen kann man nicht reden, ohne vom Realen zu reden - selbst wenn man es das unerkennbare Ding-ansich nennt. Die "Metaphysik des Wissens" - so hat KANT mit HUME die kritische Philosophie genannt - ist auch eine Metaphysik der Dinge. Aber freilich keine solche, welche aus ontologischen Prinzipien ein eigenes Begriffssystem in der "freien Luft der Einbildungskraft" ausführt, sondern eine solche, welche aus den Argumenten der Sonderwissenschaften, die sie in ihrem Bestand als objektives, allgemein und notwendig geltendes Denken unangetastet und unerschüttert bestehen läßt, die kritische Frage entscheidet, in welchem Sinne sie selbst eine "Erkenntnis der Wirklichkeit" zu sein beanspruchen dürfen. Das ist das Fundament, welches KANTs Kritiken ein für alle mal für alle weitere Philosophie, für "eine jede künftige Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können," in unverrückbarer Sicherheit gelegt haben. In diesem Sinne steht die kritische Philosophie, wenn es sich um die letzten Fragen handelt, vor dem großen Gegensatz der Gesetzeswissenschaften und der Wertwissenschaften, - der Naturforschung und der Historie. Jede von ihnen enthält in der Auswahl und in den Beziehungen der Tatsachen ein Produkt des objektiven Denkens, das in seiner gesamten Struktur durch die verschiedenen Zwecke dieses allgemeingültigen und notwendigen Denkens bestimmt ist: auf der einen Seite eine Ordnung von Gattungsbegriffen, auf der andern ein System von Werten. Jeder einzelne Bestandteil unseres Erfahrungsmaterials kann unter jede der beiden wissenschaftlichen Bearbeitungsweisen fallen, und ein großer Teil der besonderen Disziplinen wendet sie in einer Verbindung an, über die man sich durchaus nicht immer und überall prinzipiell klar ist und bei der einzelnen praktischen Forschungsarbeit auch nicht klar zu sein braucht. Diese Verhältnisse festzustellen ist Sache der Methodologie, deren Geschäft ja kein anderes ist und sein kann, als die Wissenschaften über den logischen Sinn und Wert dessen zu verständigen, was sie in unmittelbarer Bewältigung ihrer Aufgaben eigentlich tun. Aber wenn so die beiden Grundformen der Auswahl und Beziehung von Tatsachen, am Einzelnen angewendet, sehr verschiedene und scheinbar weit auseinander liegende Systeme der Erkenntnis des Wirklichen ergeben, so erwächst für die Philosopie eben damit durch die Anwendung derselben Dualität der Behandlungsweisen auf das Ganze die höchste ihrer Fragen: wie verhält sich das Reich der Gesetze zum Reich der Werte? Das ist, wie man sieht, genau das Problem der Kritik der Urteilskraft, das in den kantischen Formeln auf die Vereinbarkeit von Natur und Zweckmäßigkeit, von Notwendigkeit und Freiheit hinauslief. Unter den Denkern des 19. Jahrhunderts hat dieses Problem keiner so klar gesehen und so deutlich formuliert wie LOTZE: seine ganze Lehre des "teleologischen Idealismus" läuft - genau wiederum im Sinne der Kritik der Urteilskraft - darauf hinaus, in der Gesamtheit der Gesetze das System der Fomen zu sehen, durch welche sich eine inhaltliche Welt der Werte verwirklicht. Das beruth - wiederum wie in KANTs "Metaphysik" - auf der tiefen Einsicht, daß aus den allgemeinen Formen des Geschehens, den ewig sich gleich bleibenden Gesetzen, niemals der lebendige Inhalt herstammen oder begriffen werden kann, den unser Wertbewußtsein in der Wirklichkeit sucht - und findet. Aber der übergreifende Begriff, der in dieser Weise das Reich der Gesetze mit dem der Werte verbindet, ist der der Verwirklichung, die höchste Kategorie der Weltbetrachtung ist das Verhältnis des Mittels zum Zweck: es ist das Prinzip der Entwicklung. Seine beherrschende Stellung tritt in der Kritik der Urteilskraft deutlich genug hervor: es ist das heuristische Prinzip für die vernunftnotwendige Betrachtung des "Lebens": es ist der leitende Gedanken in jenen gewaltigen Paragraphen am Ende des Werkes, wo alle Linien der kantischen Philosophie zusammenlaufen, wo der zweckvolle Zusammenhang der Natur als der gesetzmäßigen Ordnung der Erfahrungsinhalte und der wertbestimmte Ablauf der ganzen Menschengeschichte miteinander als die fortschreitende Verwirklichung des Reiches Gottes auf Erden "vernunftnotwendig" betrachtet werden. An dieser Stelle setzt mit SCHELLING in erster Linie HEGELs Gedankenarbeit in der Weiterbildung des Kritizismus ein: hier gelangt der historische Charakter der neuen Weltanschauung zum entscheidenden Durchbruch. Damit freilich kommt der kantischen Erkenntnislehre gegenüber eins der schwierigsten Probleme zum Vorschein, das hier nur angedeutet werden mag. Wenn die Entwicklung als das reale Wesen des Lebens und des Universums vernunftnotwendig betrachtet werden soll, - wie ist damit die Phänomenalität der Zeit vereinbar? Wenn die Werte in der Verwirklichung begriffen, nur in ihr zu verstehen sind, so muß das Geschehen, das ohne Zeit nicht denkbar ist, eine wesentliche Bestimmung des Wirklichen selber sein, so darf es nicht bloß als Form der Anschauung gelten. So stellt die Lehre von der Entwicklung - das ließe sich auch an KANT Ethik und Religionsphilosophie aufweisen - die parallele Behandlung von Raum und Zeit, wie sie die transzendentale Ästhetik eingeführt hat, unausweichlich in Frage. Die Bedeutung des Prinzips der Entwicklung für die moderne Naturwissenschaft ist allgemein bekannt: weniger verbreitet und anerkannt ist die Einsicht, daß es ein Wertprinzip ist. Und doch ist das kaum deutlicher zu machen, als es schon KANT in der "Kritik der Urteilskraft" eben da getan hat, wo er die bedeutsamsten Anwendungen dieses Prinzips auf die Gesamtauffassung des organischen Lebens und seines geschichtlichen Zusammenhangs voraussehend in großen Linien gezeichnet hat. Wer sich darüber keine Gedanken macht, der mag wohl naiv von höheren und niederen Formen, von der Herausbildung der ersteren aus den letzteren, von normalen und abnormen Bildungen usw. reden: wollte er sich darauf besinnen, nach welchen Kriterien und mit welchem Recht er solche ihm geläufigen Unterscheidungen anwendet, so würde er auf die Wertbestimmungen stoßen, deren er beim Verständnis des Lebens nun und nimmermehr entraten kann. Gerade da, wo man gemeint hat, nun endlich das Wunder aus der Welt des Mechanismus verjagt zu haben, dem Geheimnis der Zweckmäßigkeit auf der Spur zu sein, - gerade da hat man dem Gast aus der Welt der Werte das Bürgerrecht im Reich der Gesetzeswissenschaften gegeben. In der fruchtbaren Anwendung dieses Prinzips auf die Erkenntnis der Körperwelt besteht offenbar der wesentliche Beitrag, den die Naturforschung des 19. Jahrhunderts für die philosophische Weltanschauung geliefert hat. Mit der Formulierung des Prinzips von der Erhaltung der Energie hat sie fast gleichzeitig die allgemein und notwendig gültige Grundvoraussetzung aller Gesetzeswissenschaft auf den glücklichsten Ausdruck gebracht. Das Prinzip, daß es in der Welt nichts Neues geben kann, daß alles Sein und Geschehen jedes Moments nicht mehr und nicht weniger enthalten kann als das des vorhergehenden, ist darin auf die universell brauchbarste Weise niedergelegt. Aber dieser Vorstellung von der quantitativ gleichbedeutenden Reihe der Umwandlungen fügt nun auch im Umkreis des körperlichen Geschehens der Entwicklungsgedanke das Verständnis hinzu, daß der qualitative Inhalt dieser Umwandlungen nach den Werten zu beurteilen ist, die sich darin verwirklichen. Diese gegenseitige Ergänzung der beiden großen Prinzipien der Naturforschung scheint das Thema der heutigen Naturphilosophie zu werden, welche in Energetik und Neovitalismus den lang geschmähten Namen wieder zu Ehren bringt. Je mehr sie mit der Erneuerung einer dynamischen Auffassung von unorganischer und organischer Welt zu dem Bestreben zurückkehrt, hinter den quantitativ bestimmten Formen des Geschehens den Inhalt zu suchen, der sich darin verwirklicht, umso mehr nähert sie sich auf ihrem Gebiet der von LOTZE formulierten Aufgabe, den Weltlauf zu verstehen und ihn nicht bloß zu berechnen. So drängt alles darauf hin, daß die kritische Philosophie, wenn sie die Lebenskraft, die sie ein Jahrhundertlang bewahrt hat, auch in der Bewältigung der intellektuellen Bedürfnisse der Gegenwart bewähren soll, sich fähig erweisen muß, mit ihrem Begriffssystem eine Weltanschauung zu tragen, welche den geistigen Wertinhalt der Wirklichkeit in einem sicheren Bewußtsein zu erfassen vermag. Sie hat dazu das Recht und den Beruf, weil sie, den kantischen Grundlagen gemäß, die Gründe allgemein gültiger und notwendiger Überzeugungen im ganzen Umfang menschlicher Kulturtätigkeit, im sittlichen und geschichtlichen Leben, in Kunst und Religion ebenso wie in der Wissenschaft zu suchen angewiesen ist. Und diese Aufgabe zu erfüllen, dazu stehen die Zeichen der Zeit nicht ungünstig. Schon erleben wir - fast von Tag zu Tag - einen rapiden Niedergang der naturalistischen Weltanschauung, die nur noch gelegentlich einmal von einem der Alten die nichts mehr gelernt haben, mit glücklicher Ahnungslosigkeit aufgetischt wird. Unsere Jugend, die die Macht des historischen Lebens in sich fühlt, - sie brennt darauf, ihre gährenden Wertgefühle in klare Begriffe umgesetzt zu finden. Es ist alle Hoffnung, daß der gute Kampf um einen geistigen Lebensinhalt, wie ihn EUCKEN mit edler Leidenschaft kämpft, zum Sieg führen wird. Wenn wir die Werte des geistigen Lebens, das das geschichtliche ist, für den letzten Inhalt aller Wirklichkeit ansehen, dessen Verwirklichung herbeizuführen auch den Sinn alles natürlichen Geschehens mit dem ganzen Apparat seiner gesetzmäßigen Kausalität bildet, so wird wohl erwidert: das ist und bleibt Anthropologismus und Anthropomorphismus. Ob man denn immer noch nicht gelernt habe, daß unser gesamtes Geschlecht mit seinem Leid und Lust, mit seinem Meinen, Wünschen und Wollen in einem entlegenen Winkel des Universums eine beschränkte, auf kurze Frist gespannte Existenz abspielt! Woher das Recht, das, was uns bewegt, als Werte zu betrachten, die in den letzten Tiefen aller Wirklichkeit wurzeln sollen? Das klingt sehr einsichtig und ist doch sehr kurzsichtig. Gewiß, der HEGELsche "Weltgeist" als der Inbegriff der Kategorien der Wirklichkeit, er ist in Wahrheit der Menschengeist in der historischen Entwicklung seiner inneren Wertbestimmungen. Aber gehört nicht zu eben diesen Errungenschaften des historischen Geistes auch jenes Wissen von den gesetzmäßigen Zusammenhängen eines in Raum und Zeit unendlich ausgebreiteten Weltalls, wozu sich Schritt für Schritt die sinnlich beschränkte Vorstellung unserer physischen Existenz erweitert und umgebildet hat? Verdanken wir dieser unserer eigenen geistigen Arbeit den Einblick in die physische Ordnung der Dinge, der wir anzugehören überzeugt sind, fühlen wir uns damit in einen Zusammenhang gerückt, der weit über uns selbst hinausreicht, so erhebt uns das geschichtliche Leben in eine geistige Ordnung, die an allen Ecken und Enden über sich selbst hinaus, über alles menschliche Drängen und Treiben in eine höhere weltumspannende Wirklichkeit weist. Wenn irgendeine, so ist es die Aufgabe der Religionsphilosophie, dies zur deutlichen Besinnung zu bringen. Wir kennen die Werte der geistigen Wirklichkeit nicht anders als durch unsere Geschichte, in der sie sich zur Geltung herausgerungen haben, gerade wie wir die Gesetze des physischen Daseins nicht anders kennen, als durch die Formen unseres Intellekts, die wir darin walten gefunden haben: und eben deshalb haben wir das Recht überzeugt zu sein, daß auch die Werte des geistigen Lebens, zu denen unsere geschichtliche Entwicklung aufringt, ebenso lebendige Wirklichkeit sind wie die Sonnensysteme. Mit dem Reich der Gesetze, die wir denken, und mit dem Reich der Werte, die wir erleben, wissen wir uns gleichermaßen in den großen Ordnungen eines Weltzusammenhangs, die mit gleichem Recht unsere Ehrfurcht verlangen: "der bestirnte Himmel über mir und das Sittengesetz in mir." |