ra-2R. WahleP. RéeA. BolligerG. F. LippsA. SchopenhauerE. Dürr    
 
GÜNTHER NOTH
Die Willensfreiheit

"Geistige Werte können nur durch geistige Werte verursacht sein. Meines Erachtens läßt sich gar nicht denken, wie aus  materiellen Vorgängen  psychische Größen entstehen sollen. Es sind doch nur Worte, die nichts erklären, wenn von einem  Umsetzen der physiologischen Vorgänge in psychologische gesprochen wird. Darum vermag auch keine materialistische Anschauung das Bewußtseinsleben zu erklären."

"Durch ein bewußtes Festhalten der Aufmerksamkeit auf eine Gewissensforderung werden immer neue in gleicher Richtung liegende Bewußtseinselemente, die bisher nur latent waren, hervorgehoben, und diese dienen dazu, dieses Motiv zu verstärken. Damit geht Hand in Hand ein bewußtes Zurückziehen der Aufmerksamkeit vom entgegengesetzten Motiv, ein unbewußtes Unterbinden der Assoziationstätigkeit, die in der anderen Richtung liegt, bis schließlich jenes erstere Motiv so sehr in den Vordergrund des Bewußtseins gehoben wird, daß es den Willen bestimmt."

"Ich behaupte, daß wir die Aufmerksamkeit bei einem Bewußtseinsinhalt festhalten können und dadurch die Bewußtseinsvorgänge beeinflussen, daß wir also auch durch die Art, wie wir die Aufmerksamkeit auf die verschiedenen Motive verteilen, diese bald verstärken, bald schwächen, ja ganz zurückdrängen können; das aber heißt doch wohl nichts anderes, als daß wir die Freiheit des Willens haben."


Die Möglichkeit des sittlichen Lebens scheint zu stehen und zu fallen mit der Möglichkeit der Freiheit des Willens. Wird das menschliche Handeln vorgestellt unter der Form eines Naturmechanismus, wie es die materialistische Weltanschauung tatsächlich in der Theorie tut, so kann man von einem sittlichen Leben im eigentlichen Sinne nicht reden; man kann dann nur, da ja doch die sittlichen Tatsachen als großartige Erscheinungen des menschlichen Lebens in seiner allmählichen Entwicklung, die demselben doch unleugbar einen hohen Vorzug auch vor den entwickeltsten Formen tierischen Lebens geben, nicht übersehen werden können, eine, sei es bewußte, sei es unbewußte Teleologie im Entwicklungsverlauf der Menschheit behaupten. Gegen diese absolute Gesetzmäßigkeit allen menschlichen Handelns, die allerdings den logischen Vorzug einer einheitlichen Erklärung aller Erscheinungen des Weltalls hat, bäumt sich das sittliche Bewußtsein des Menschen auf, und sowohl die sittliche Selbstbeurteilung wie auch die Beurteilung anderer verfährt praktisch immer nach dem entgegengesetzten Grundsatz der sittlichen Freiheit. Das ist nun freilich noch kein Beweis für die Richtigkeit dieses Grundsatzes, so wenig die naive Auffassung der Außenwelt ansich schon die richtige ist. Das Gefühl der sittlichen Verantwortlichkeit und die übliche Form der sittlichen Beurteilung könnten ja zu den Vorurteilen gehören, die durch jahrhundertelange Vererbung sich so zum Bestand unseres Bewußtseinsleben verfestigt haben, daß sie uns in einer begreiflichen Selbsttäuschung als notwendig und ursprünglich und darum als wahr erscheinen, während sie doch nicht aufhören, Vorurteile zu bleiben, mit denen schließlich das aufgeklärte Geschlecht unserer Tage brechen muß. Das ist die Forderung, von der der radikale Subjektivismus eines NIETZSCHE ausgeht.

Immerhin sehen wir, wie in der entgegengesetzten Beurteilung des sittlichen Handelns zwei mächtige Bedürfnisse sich gegenüberstehen, ein intellektuelles und ein praktisches, die beide den Menschen so beherrschen, daß keines dem andern sich unterordnen will, weshalb KANT den eigentümlichen Versuch machte, sie beide zu ihrem Recht kommen zu lassen, indem er in jedem sittlichen Geschehen einen phänomenalen, dem allgemeinen Naturzusammenhang einzuordnenden, und einen intelligiblen, dem Reich der Freiheit angehörigen Faktor unterschied, eine verzweifelte Lösung, die aber zeigt, wie sehr jene beiden Bedürfnisse nach Berücksichtigung verlangen.

Die Schwierigkeit der Frage wird nun noch erhöht, wenn wir uns Rechenschaft geben über die Art der unter der Voraussetzung sittlicher Freiheit erfolgenden sittlichen Beurteilung. Da bemerken wir einerseits, wie wir nicht nach dem Grundsatz absoluter Willensfreiheit verfahren, sondern erklärend und entschuldigend alle Einflüsse hervorsuchen, unter denen das zu beurteilende Individuum gestanden hat oder noch steht, und andererseits, wie wir nicht schon vom ersten Moment menschlichen Daseins an die Handlungen des Menschen den Maßstab sittlicher Beurteilung anlegen.

So muß also der Begriff der Freiheit ein irgendwie beschränkter sein; sie muß ferner eine allmählich erst entstehende Größe sein, für die aber doch, wenn sie überhaupt entstehen soll, eine adäquate Ursache vorhanden sein muß. Wenn wir nun endlich noch die noch offen gelassene Frage, ob es überhaupt eine Willensfreiheit gibt oder nicht, dazu nehmen, so erhalten wir folgende vier Punkte, über die wir uns auszulassen haben:
    - Begriff der Willensfreiheit,
    - Willensfreiheit und Naturkausalität,
    - die Freiheit als Voraussetzung des sittlichen Prozesses,
    - die Freiheit als Ziel des sittlichen Prozesses.

I. Begriff der Willensfreiheit

Der Begriff der Freiheit gehört zu denjenigen, die in vielfach verschiedenem Sinn gefaßt werden und darum zu manchem Mißverständnis und unnötigen Streitereien führen. Oft wird sie als eine inhaltlich bestimmte Größe gefaßt, und zwar teils mehr religiös, teils mehr ethisch eingefärbt. Im ersteren Fall versteht man darunter die Selbstbehauptung des Ich gegenüber den Hemmungen und Widerwärtigkeiten des Lebens, den bewußten Akt des Sichzurückziehens von außen nach innen, das Verlegen des Schwerpunkts des Lebens in die Tiefe des Gemüts,, um hier Schätze aufzuspeichern, die ziemlich unabhängig sind von Welt und Schicksal, im letzteren Fall die bereits zu einer festen Disposition entwickelte Bejahung der als solcher erkannten Idee des Guten gegenüber den natürlichen Regungen und Trieben. Beides versetzt uns in einen bereits weit entwickelten Zustand des menschlichen Selbstbewußtseins und muß daher zunächst, wo es sich um die Entscheidung der Frage handelt, ob sich das menschliche Bewußtseinsleben und damit auch das sittliche Leben in den Formen der Naturnotwendigkeit entwickelt oder nicht, außer Betracht bleiben. Es kann sich also zunächst nur um eine formale Bestimmung der Freiheit handeln. Aber auch da gehen die Fassungen des Begriffs weit auseinander. Einig ist man höchstens darüber, daß es sich nicht nur um ein Fehlen von äußerem Zwang handelt. Wo ein solcher vorhanden ist, kann überhaupt von einem sittlichen Leben nicht die Rede sein, und niemals findet in einem solchen Fall eine Beurteilung nach sittlichen Maßstäben statt. Doch nun fragt es sich, ob es sich nur um das Fehlen auch eines inneren Zwangs oder überhaupt um das Fehlen jeder Kausalität des Willens handelt. Nach ihm ist jeder Willensakt eine freie schöpferische Tat. Indessen läßt es sich leicht zeigen, daß diese Anschauung weder die Tatsachen des sittlichen Lebens richtig beurteilt noch die Erscheinungen der sittlichen Bildung und Erziehung irgendwie erklären kann. Es gehört noch kein großes Maß an Selbstbeobachtung dazu, um zu erkennen, daß eine einzelne Willensentscheidung durchaus nicht so isoliert im Zusammenhang unseres Bewußtseinslebens dasteht, daß alle Verbindungsglieder zwischen ihr und den übrigen Bewußtseinsinhalten fehlten. Oft können wir in einem weitgehenden Regressus das Entstehen eines Willensaktes zurückverfolgen, ja bisweilen stehen wir unter dem Eindruck, daß irgendeine Willensentscheidung nach allem Vorangegangenen notwendig erfolgen mußte. Wenn man trotz dieser Erfahrungen, die jeder mit sich selbst machen kann, eine absolute Freiheit der Willensentscheidung behauptet, so erklärt sich das aus dem Gefühl der Verantwortung, das sich nach einer Entscheidung regt und das man bei einer kausalen Bestimmtheit des Willens gefährdet sieht. Allein dies würde noch nicht fallen, wenn auch der letzte Akt der Willensentscheidung nicht absolut frei wäre; es würde nur weiter zurückzuwenden sein oft bis auf die Anfänge unserer sittlichen Entwicklung, jedenfalls bis dahin, wo wir die ersten versteckten Ausgangspunkte der oft langen Reihe der Ursachen, die als Endeffekt die in Frage stehende Willensentscheidung hervorgerufen haben, entdecken. So beruth das unmittelbare Selbstgericht, das wir nach einer begangenen Tat an uns vollziehen, insofern es bei der letzten Willensentscheidung stehen bleibt, allerdings auf einer gewissen Selbsttäuschung, die sich als als völlige Täuschung erst dann erweisen würde, wenn von jedem Glied der Kette sittlicher Entscheidungen, auf denen die letzte beruth, dasselbe zu sagen wäre. Darüber kann erst weiter unten entschieden werden. Lehrt schon diese Betrachtung, daß, wenn wir im Gebiet der Ethik von der Freiheit des Willens reden, nicht eine völlige Unbestimmtheit des letzteren gemeint ist, so ergibt sich auch leicht, daß mit dieser Art Freiheit für das sittliche Leben gar nichts gewonnen wäre. Von einer Erziehung zu einem sittlichen Leben könnte dann weder beim Einzelnen noch bei der Gesamtheit die Rede sein, und es wäre das größte Wunder, wie sich bei einer solchen Willkür in den Willensentscheidungen das sittliche Leben im Ganzen betrachtet doch mit einer gewissen Gesetzmäßigkeit in aufsteigender Linie entwickelt hat. Das Werke der Erziehung des einzelnen und der sittlichen Bildung der Gesamtheit besteht doch eben darin, gewisse Richtungen und Neigungen in einer solchen Stärke auszubilden, daß sie mit einer gewissen Stetigkeit, mit einer Art von Gesetzmäßigkeit funktionieren. Das würde vollkommen illusorisch gemacht, wenn jedesmal im entscheidenden Augenblick der Wille mit voller Souveränität ohne jede Bestimmtheit in Aktion treten würde.

Wir werden also, wenn der Begriff der Freiheit für die Ethik überhaupt einen Wert haben soll, denselben anders zu fassen haben. Es handelt sich um eine Form der psychologischen Erscheinungen, die wir als Wille bezeichnen. Die psychologische Betrachtung zeigt uns, daß wir es hier mit einer Reihe verschiedenartiger Funktionen zu tun haben, die wohl mannigfach ineinander übergehen, aber doch deutlich eine dreifache Stufenfolge unterscheiden lassen: Reflexhandlungen, Triebhandlungen und willkürliche Handlungen. Für die ersteren kann der Begriff der Freiheit nicht in Betracht kommen, da sie ohne Bewußtsein erfolgen, wenn sie in früherer Zeit auch als einfache Triebhandelungen erfolgt sein mögen. Aber auch bei den Triebhandlungen reden wir nicht von Freiheit. Ihr Wesen besteht ja eben darin, daß sie nur auf ein einziges Motiv hin erfolgen, das, wenn nicht ein äußeres Hindernis hemmend in den Weg tritt, sich mit Notwendigkeit in einen Willensakt auslöst. Dieser Willensakt ist daher ein eindeutig bestimmter und darum notwendiger. Diese Form begegnet uns bei den meisten Erscheinungen des Lebens der Tiere, denen wir darum die Freiheit absprechen; sie begegnet uns aber auch in den Anfängen des menschlichen Einzeldaseins; die Handlungen des Kindes sind Triebhandlungen, darum reden wir bei ihm noch nicht von Freiheit, darum legen wir bei ihm noch nicht den Maßstab sittlicher Beurteilung an. Dasselbe gilt aber auch von gewissen Erscheinungen auf der späteren Stufe des Bewußtseinslebens. Manche Handlungen tragen da ganz den Charakter von Triebhandlungen, indem sich das eine bestimmende Motiv, mit solcher Gewalt vordrängt, daß alle anderen völlig dahinter verschwinden und nur das eine noch bleibt, das nun mit einer gewissen Notwendigkeit zur Auslösung in einem Willensakt drängt. Das begegnet uns bei starken Leidenschaften, die bei ihrem Auftreten so sehr von dem Bewußtsein Besitz ergreifen, daß alle anderen Inhalte desselben entfernt sind. Das sittliche Urteil trifft gewiß das Richtige, wenn es bei solchen Erscheinungen das Vorhandensein der Freiheit des Willens in Abrede stellt. Das Gefühl, das wir oft nach Äußerungen besonders starker Affekte haben, daß wir unserer selbst nicht mächtig waren und einem gleichsam unwiderstehlichen Zwang nachgegeben haben, beruth nicht auf bloßer Täuschung, wenn damit auch nicht die Verantwortlichkeit für derartige Handlungen aufgehoben werden soll; sie muß nur weiter zurückverlegt werden auf die Willensakte, die es zu einem solchen Schwinden der freien Entscheidung haben kommen lassen. Wir sehen also, die Freiheit des Willens kann nur für die dritte Stufe der Willenshandlungen bleiben, für die Wahlhandlungen. Ihr Wesen besteht darin, daß von verschiedenen sich widerstreitenden Motiven eines ausgewählt wird, das nun den Willen zur Äußerung bestimmt. Mit dem Begriff der Freiheit in einem formalen sittlichen Sinn ist somit stets der Begriff der Wahl verbunden; von Freiheit kann nur da die Rede sein, wo wenigstens zwei Motive gleichzeitig den Willen bestimmen. Dazu kommt aber noch ein weiteres charakteristisches Merkmal. Wir reden nicht von Freiheit des Willens bei einem Träumenden, in dessen Bewußtsein doch gleichfalls mannigfache Motive nebeneinanderruhen; wir tun es gleichfalls nicht bei einem Geisteskranken, obwohl es bei seinen Willensentscheidungen nicht an einem abwägenden Vergleichen verschiedener Motive fehlt; ja selbst bei scheinbar vernünftigen Handlungen sprechen wir ihm die Freiheit ab. Wo von Freiheit die Rede sein soll, muß eine klar bewußte Wahl stattfinden; d. h. die verschiedenen nach Herrschaft strebenden Motive müssen mit dem jeweiligen Gesamtzustand unseres Bewußtseins in Verbindung gebracht werden und je nach der größeren oder geringeren Verwandtschaft mit demselben vorgeschoben oder zurückgedrängt werden, bis endlich das eine die absolute Herrschaft erringt, das nun mit Notwendigkeit zum Willensakt führt.  So verstehen wir also unter Willensfreiheit die Fähigkeit der klar bewußten Wahl zwischen mehreren auf den Willen einwirkenden Motiven.  Diese Definition lehnt beide Extreme ab: in ihrem ersten Teil die Übertragung des Naturmechanismus auf die Willenshandlungen, in ihrem zweiten Teil die Ablösung der Willenshandlungen von jeder Motivation. In diesem Sinn soll also von Willensfreiheit zunächst die Rede sein. Es erhebt sich aber nun die Frage: Gibt es überhaupt eine solche Fähigkeit bewußter Wahl? Oder ist nicht vielmehr eben jene Wahl eine so wenig willkürliche, daß sie vielmehr nur das Produkt notwendiger Prozesse ist und daß somit das, was man Freiheit nennt, nur eine in  maiorem gloriam hominis [zur größeren Ehre des Menschen - wp] erfundene Bezeichnung eines Naturvorganges ist? Davon soll nun die Rede sein.


II. Willensfreiheit und
Naturkausalität

Es handelt sich in diesem Abschnitt zunächst um die allgemeine Möglichkeit der Freiheit des Willens, noch nicht um die Wirklichkeit derselben. Diese Möglichkeit ist nur vorhanden, wenn dem geistigen Geschehen, zu dem offenbar die Äußerungen des Willens gehören, eine Selbständigkeit gegenüber dem Naturgeschehen zukommt und es nicht mit unter das letztere subsumiert wird. Daß dieses letztere vielfach geschieht, ist wohl erklärlich aus dem logischen Bedürfnis der menschlichen Vernunft nach letzten einheitlichen Ideen, durch das von vornherein einer monistischen Weltanschauung der Vorzug gegeben wird. Dazu kommt die Beobachtung, daß allem psychischen Geschehen physiologische Erscheinungen in solchem Umfang parallel gehen, daß wir sie auch da voraussetzen, wo nur die psychischen Vorgänge der Beobachtung zugänglich sind, und die weitere, daß im Verlauf der generellen und individuellen Entwicklung tatsächlich Übergänge von geistigen Kausalitäten in rein mechanische vorzuliegen scheinen, sofern Handlungen, die offenbar auf einer früheren Stufe der Entwicklung mit Bewußtsein vollzogen worden sind, durch fortgesetzte Übungen bis zu Reflexhandlungen erstarrt sind, die ganz auf der Linie des Naturgeschehens zu liegen scheinen. Freilich all das würde ebenso wie in der Weltanschauung eines materialistischen Monismus oder Substanzmonismus, wie ihn HÄCKEL vertritt, in der eines spiritualistischen oder voluntaristischen Monismus, wie ihn z. B. WUNDT in seinem System der Philosophie entwickelt, seine Erklärung finden. Als metaphysische Idee selbstverständlich ebensowenig vorstellbar wie die erstere, die nur dem Schein nach leichter faßbar ist und nur dem nicht philosophisch geschulten, naiven Denken begreiflich erscheint, während sie schon bei dem ihr zugrunde liegenden Begriff der Substanz oder Materie mit einer Abstraktion des Verstandes operiert, wird jene voluntaristische Auffassung doch viel mehr den wirklichen Erscheinungen des Lebens gerecht und vermag sie besser zu deuten. Denken wir uns begrifflich die ganze Welt aus Willenseinheiten bestehend, so kommt damit zum Ausdruck einmal die richtige Beobachtung, daß wir die ganze Welt auch außerhalb von uns doch nur als einen Bestandteil unseres Bewußtseins haben und daß nicht umgekehrt auch unser Bewußtsein in eine außerhalb von uns stehende Welt projiziert werden muß, ferner die Erkenntnis der hohen Bedeutung, die gerade dem Willen im Bewußtsein des Einzelnen zukommt wie in der Entwicklung der Gesamtheit, drittens entgeht man damit der logischen Unmöglichkeit der Verknüpfung so disparater Erscheinungen wie Bewußtseinsvorgänge und objektiver Naturvorgänge, um die der materialistische Monismus nicht herumkommt, da er bei der Behauptung der Objektivität des Naturgeschehens doch auch die Wirklichkeit der Bewußtseinsvorgänge, die wir als das Objektivste kennen, anerkennen muß, aber doch als etwas der Art nach vom ersteren Verschiedenes, trotzdem aber durch dasselbe Hervorgebrachtes; hier dagegen findet dann stets nur eine Wirkung von Willen auf Willen, von geistigen Größen auf geistige Größen statt, und auch die Vorstellungen sind dann nur eine Wirkung von Willensatomen auf uns; endlich geht diese Anschauung von der wirklichen Erfahrung aus, indem sie zur Konstruktion des Weltbildes die Tatsache benutzt von der Mechanisierung der psychischen Vorgänge, nach der ursprünglich bewußte Akte durch fortgesetzte Übung zu unbewußten, mechanischen werden und so das, was die Ethik als regulative Idee in einem unendlichen Progressus aufstellt, eine immer vollkommenere Organisierung der Natur durch den Willen, ebenso in einem unendlichen Regressus als ontologische Idee benutzt, während der materialistische Monismus niemals das Rätsel zu lösen vermag, wie aus rein mechanischen Bewegungen oder Energien geistige Größen hervorgebracht werden können.

Diese kurzen Andeutungen, welche zeigen, zu welchem Ende die reine philosophische, vom Verlangen nach einem einheitlichen Prinzip der Welterklärung geleitete Spekulation führt und die zugleich den Beweis geben, wie sehr für die Gewinnung eines solchen letzten Prinzip die persönliche Stellung des Philosophen zu den beiden großen Gebieten des Naturgeschehens und des Geisteslebens von Bedeutung ist, haben nicht die Absicht, durchaus einer monistischen Welterklärung das Wort zu reden. Sie sollen nur deutlich machen, daß der materialistische Monismus, bei dem von vornherein eine Freiheit des Willens auszuschließen ist, durchaus nicht die einzige in sich geschlossene und die einzig vernünftige Weltanschauung ist, die alle Rätsel einfach auflöst, wie er gern behauptet, daß er vielmehr die schwierige Frage, auf die es uns hier ankommt, nach dem Verhältnis von Naturvorgängen und Bewußtseinsvorgängen, von mechanischer und psychischer Kausalität nicht beantwortet. Gerade darauf aber müssen wir unser Augenmerk richten.

Es läßt sich leicht zeigen, daß die psychische Kausalität sich nicht einfach auf die mechanische zurückführen oder unter sie ordnen läßt. Freilich den Begriff der Kausalität wenden wir ebenso bei psychologischen wie bei naturwissenschaftlichen Betrachtungen an. Er ist die regulative Idee für alle wissenschaftlichen Untersuchungen, die das Ziel verfolgen, irgendeine Erscheinung des Naturgeschehens oder des geistigen Lebens in eine nirgends unterbrochene Kette von Ursache und Wirkung einzugliedern, wobei freilich nicht zu vergessen ist, daß eben diese Idee nicht eine über den Einzelvorgängen stehende objektive Macht ist, die wie ein Gott sie bestimmt, sondern ein von uns gebildeter, allerdings für eine begriffliche Erkenntnis unentbehrlicher Verstandesbegriff, der aber seinen Ursprung im geistigen Leben hat, sofern er ein Ausdruck des Verhältnisses verschiedener Bewußtseinsinhalte zueinander ist. Alles wissenschaftliche Denken ist an diesen Begriff gebunden. Aber unter diesem gemeinsamen Begriff stellt sich nun das Naturgeschehen anders dar als das Bewußtseinsleben. Die naturwissenschaftliche Betrachtung kommt von ihm aus zu einem weiteren, freilich hypothetischen, aber überaus fruchtbaren Begriff, dem der Materie oder Substanz, mit dem der Regressus geschlossen ist. Ihm kommen die beiden Merkmale der Unendlichkeit und der Konstanz zu. Von da aus hat dann die neuere Naturwissenschaft die beiden Gesetze der Erhaltung der Materie und der Erhaltung der Kraft aufgestellt, die sich als überaus erfolgreich für die Erkenntnis der Naturvorgänge erwiesen haben. Damit erhalten alle Naturvorgänge zwei charakteristische Eigenschaften, die der Notwendigkeit und die der eindeutigen Bestimmtheit. Sind alle erforderlichen Bedingungen gegeben, so  muß  der betreffende Vorgang eintreten, und treffen alle diese Bedingungen unter sonst völlig gleichen Umständen zusammen, so muß eben  dieser  bestimmte Vorgang eintreten und kein anderer. Damit hängt es zusammen, daß man die Naturvorgänge nicht nur in den sie bestimmenden Ursachen rückwärts verfolgen kann, sondern daß man sie auch vorherbestimmen kann. So verschiedenartig und mannigfaltig aber auch diese Vorgänge sind und so sehr dabei auch einzelne Kräfte in andere umgesetzt oder aktuelle in latente Energien umgewandelt werden, die Summe der Materie und der Kraft bleibt immer dieselbe. Zu diesem Ergebnis hat uns die fruchtbare Arbeit der Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts gebracht.

In die Reihe dieser Naturvorgänge gehören nun auch alle physiologischen Erscheinungen in den peripherischen oder zentralen Organen unseres Körpers, die wir als Parallelvorgänge zu allen psychologischen Größen, sei es wirklich nachweisen können, sei es mit gutem Grund, gestützt vor allem mit auf die Beobachtungen der physiologischen Pathologie, voraussetzen, wo es nicht möglich ist, sie als vorhanden zu erkennen. Als physikalische und chemische Prozesse unterliegen sie derselben Deutung und Beurteilung wie jene Vorgänge und reihen sich mit ein in den allgemeinen Naturmechanismus. Das ist dann auch der Grund, weshalb man auch das geistige Geschehen, dem diese Prozesse parallel gehen, in der Form dieser mechanischen Kausalität zu deuten sucht und ein besondere Art der geistigen Kausalität verneint. Doch man begeht dabei den logischen Fehler, daß man eine Beurteilung, die man dadurch gewonnen hat, daß man bei einer Gruppe von Bewußtseinsvorgängen, als die wir doch auch die Außenwelt haben, davon abstrahiert, daß sie Bewußtseinsinhalte sind, wodurch sie erst als etwas Objektives, außerhalb von uns Liegendes erscheinen, nun doch wieder auf die Bewußtseinsvorgänge selbst anwendet. Daraus ergibt sich schon, wie wenig davon die Rede sein kann, daß die psychischen Größen durch physische kausal bestimmt sein sollen. Man könnte im Gegenteil mit viel größerem Recht sagen, daß alles Geschehen der Natur nur ein psychisches Geschehen ist. Ich gestehe nun freilich, daß ich mich zu einer solchen idealistischen Auffassung, zu der eine rein erkenntnistheoretische Betrachtung führt, einer Auffassung, die die ganze uns umgebende Welt nur in Bewußtseinsvorgänge auflöst, nicht entschließen kann, vielmehr meine ich, daß wir als notwendiges Postulat die objektive Wirklichkeit der Erscheinungswelt aufstellen müsen, weil wir nur unter dieser Voraussetzung handeln können, wobei wir aber dessen eingedenk bleiben müssen, daß wir von ihr nur wissen und etwas aussagen können, soweit sie Inhalt unseres Bewußtseins ist. Aber das scheint mir doch eine unumgängliche Forderung zu sein, daß wir bei der Beurteilung der Bewußtseinsvorgänge als solcher nicht nach demselben Prinzip verfahren, wie bei der Deutung der uns als objektiver Größe gegenübertretenden Außenwelt, weil wir bei dieser von vornherein eine Voraussetzung machen, die von jenen nicht gilt: die des beharrenden Seins. So gilt es also das Bewußtsein für sich zu betrachten. Da finden wir nun freilich, daß wir den Begriff der Kausalität auch hier anwenden müssen, weil dieser überhaupt die Form all unseres wissenschaftlichen Denkens ist. Wir sehen, wie auch alle Bewußtseinsinhalte kausal bestimmt sind, wie auch alle Willensakte nur die Endpunkte einer langen Reihe psychischer Ursachen sind. Da sind es Gefühle, die den Willen in eine bestimmte Richtung drängen, hervorgerufen durch irgendwelche Vorstellungen, die vielleicht wieder durch Gefühle über die Schwelle des Bewußtseins geschoben werden, oder auch durch neue Vorstellungen auf dem Weg der Assoziation im Bewußtsein auftauchen. Ja gerade bei der Erklärung der Willensakte suchen wir die Reihe der kausalen Glieder immer weiter rückwärts zu verfolgen, bis wir etwa bei gewissen angeborenen Dispositionen ankommen. Doch selbst da bleibt das Bestreben kausaler Erklärung nicht stehen, sondern sucht nun wieder nach den verursachenden Gliedern dieser Dispositionen; es überschreitet damit den Bereich des individuellen Lebens und führt die Reihe immer weiter zurück in das unübersehbare Gebiet der generellen Entwicklung, wo sie sich immer mehr ins Dunkle verliert. Aber wenn nun auch die einzelnen Glieder in diesem unendlichen Regressus nicht aufgefunden werden können, werden sie doch vorausgesetzt. Wir sehen jedenfalls, auch die psychologische Betrachtung vor allem der Willensakte, die ja für unseren Zweck vor allem in Betracht kommen, kann des Begriffs der Kausalität nicht entbehren. Schon die oberflächliche Selbstbeobachtung zeigt einem jeden, daß ein Willensakt nicht mit einem Mal unvermittelt auftritt und nicht wie die  Minerva  aus dem Haupt des  Zeus  ganz plötzlich hervorspringt, die Reihe der verursachenden Glieder nicht mit einem Mal abzubrechen, sondern in einem fortlaufenden Regress weiter zu verfolgen und eine solche Reihe auch da vorauszusetzen, wo wir sie nicht zu erkennen vermögen. Wir kommen also zu dem Ergebnis, alle Willensakte sind kausal bestimmt und sind die Endpunkte einer unendlich nach rückwärts gehenden Reihe. Aber trotz dieser formalen Übereinstimmung mit den Naturvorgängen lassen sie sich doch nich in die letzteren einreihen. Da ist zunächst ausdrücklich hervorzuheben, daß alle Bewußtseinsinhalte nur gedacht werden können als wieder durch Bewußtseinsinhalte verursacht, alle Willensakte also gleichfalls nur durch psychische Glieder. Es ist ein ganz unvollziehbarer Gedanke, daß durch Vorgänge der als objektiv gedachten Außenwelt, zu der wir auch unseren Körper rechnen, psychische Werte geschaffen werden können. Zwar scheint die Beobachtung, daß durch ein Einwirken von Naturvorgängen auf unseren Körper in den peripherischen Organen physikalische und chemische Prozesse geweckt werden, die dann weiter durch die Vermittlung der Nerven nach den Zentralorganen geleitet werden und dort gleichfalls Veränderungen hervorrufen, in deren Gefolge die psychischen Erscheinungen der Vorstellungen, Gefühle, Willensakte auftreten, ebenso die Tatsache, daß man auch in der wissenschaftlichen Psychologie für psychologische Erscheinungen physiologische Ursachen aufsucht, und schließlich die weitere Tatsache, daß die Willensakte sich in äußerlich erkennbaren Handlungen auslösen, das Gegenteil zu beweisen. Das alles ist aber nur ein Beweis dafür, daß wir es nur mit einem völligen Parallelismus des psychischen und physiologischen Geschehens zu tun haben und daß wir darum mit mehr oder weniger Recht da, wo uns in der einen Reihe des kausalen Zusammenhangs die verbindenden Glieder fehlen, die parallelen Glieder aus der andern unserer Erkenntnis vielleicht zugänglicheren Reihe substituieren. Das ändert aber nichts an der Tatsache, daß geistige Werte nur durch geistige Werte verursacht sein können. Meines Erachtens läßt sich gar nicht denken, wie aus  materiellen  Vorgängen  psychische  Größen entstehen sollen. Es sind doch nur Worte, die nichts erklären, wenn von einem  Umsetzen  der physiologischen Vorgänge in psychologische gesprochen wird. Darum vermag auch keine materialistische Anschauung das Bewußtseinsleben zu erklären. Ein schwieriges Problem freilich bleibt dieser Parallelismus, dessen Lösung in verschiedenen metaphysischen Versuchen unternommen worden ist. Wir brauchen für unseren Zweck hier keine solche Lösung. Wir wollen nur das eine nochmals betonen, daß das psychische Geschehen trotz kausalem Zusammenhang in seinen verschiedenen Äußerungen wesentlich vom physischen verschieden ist. Das zeigt uns noch deutlicher eine nähere Betrachtung dieser geistigen Kausalität. Da sehen wir vor allem, daß der Begriff der "Konstanz", das Gesetz der Erhaltung der Materie und Kraft, für das geistige Leben gar keine Anwendung findet. Das hängt schon damit zusammen, daß wir es hier nicht wie bei dem hypothetischen Begriff der  Substanz  mit einem ruhenden Sein zu tun haben, sondern mit einem fortgesetzten Fluß. So kommt es, daß wir es im geistigen Leben im Gegenteil mit einem Gesetz des Wachstums der geistigen Energien zu tun haben. Die ganze Kulturarbeit hat ja das Ziel, die geistigen Werte an Umfang und Energie immer mehr zu steigern. Ferner fällt für das geistige Leben der Begriff der Notwendigkeit und eindeutigen Bestimmtheit weg; denn auch diese sind an den Substanzbegriff gebunden. Man muß sich hüten, Notwendigkeit mit Kausalität zu identifizieren. Ist das geistige Leben auch in der Form eines kausalen Zusammenhangs zu verstehen, so doch nicht in einer absoluten Notwendigkeit. Im Naturgeschehen ist die Wirkung die einfache Resultante aus den bestimmenden Ursachen; deshalb läßt sie sich aus diesen auch vorherbestimmen. Im geistigen Geschehen gilt vielmehr das von WUNDT aufgestellte Gesetz der schöpferischen Synthese, d. h. das Bewußtsein bringt durch freie Kombination aus den verschiedenen als Ursachen vorhandenen Elementen etwas Neues hervor, das mehr ist als die Summe der einzelnen Elemente; darauf aber beruth die Möglichkeit des Wachstums der geistigen Energie. Daher kommt es auch, daß man einen Bewußtseinsakt wohl rückwärts in seine einzelnen Elemente zerlegen kann, daß es aber nicht möglich ist, ihn aus den einzelnen Elementen vorherzubestimmen.

Wir kommen also zu dem Ergebnis, daß die Willensfreiheit jedenfalls nicht in den Begriff des Naturmechanismus aufzulösen ist, da der Wille zum geistigen Leben gehört, dem ein eigentümliches Sein neben dem Naturgeschehen zukommt; andererseits aber, daß eine kausale Erklärung der Willensakte notwendig ist, wenn damit auch nicht wie beim Naturgeschehen eine eindeutig bestimmte Notwendigkeit ausgesprochen ist.  Damit haben wir freilich nur soviel gewonnen, daß wie sagen können: eine Freiheit des Willens ist nicht von vonrherein ausgeschlossen. Aber ist nun der Wille wirklich frei in der oben gegebenen Form? Davon sei im Folgenden die Rede.


III. Willensfreiheit als Voraussetzung
des sittlichen Prozesses

Daß wir praktisch stets die Freiheit des Willens irgendwie voraussetzen, ist eine Tatsache, die sich nicht wegleugnen läßt. Und das ist nicht nur der Fall bei denen, die aus moralischen oder religiösen Grunden den Menschen für sein Tun verantwortlich machen wollen, nicht nur bei den Hütern der staatlichen Ordnung, nicht nur bei Erziehern und wohlmeinenden Tugendlehrern oder frommen Theologen. Selbst die konsequenten Freiheitsleugner, die alle Willensakte und somit die ganze sittliche Entwicklung der Menschheit und des Einzelnen zu einem notwendigen Produkt eines alles beherrschenden Naturmechanismus machen, verfahren  in praxi  nach dem entgegengesetzten Prinzip, als wollten sie zeigen, daß auch sie dem Ammenmärchen der Willensfreiheit noch nicht ganz entwachsen sind und daß die praktischen Bedürfnisse gewaltiger sind als alle schönen Theorien.

Was sollen sonst die oft bitteren Vorwürfe und Anklagen gegen die, welche ihre Anschauungen nicht teilen, die Vorwürfe von Unehrlichkeit und Unwahrhaftigkeit auch wirklich ehrlichen Gegnern gegenüber? Warum verurteilen sie und begnügen sich nicht mit einem bloßen Beurteilen derjenigen, deren Bewußtseinsleben in dem notwendig bestimmten Entwicklungsprozeß so weit zurückgeblieben ist? Warum klagen sie an, wo keine Schuld vorliegt, und bedauern nicht nur, daß die große Natur in ihrem Entwicklungsprozeß solche Mißgestalten hat hervorbringen können? Oder ist vielleich der Begriff der "Schuld" nur ein von der Natur weise erfundener Begriff zum Zweck der moralischen Erziehung des Menschengeschlechts als mächtiges Zwangsmittel zur Förderung sittlicher Ideen, ansich freilich eine Unwahrheit, aber notwendig, damit aus Bösem Gutes folgt? Operieren jene Freiheitsleugner vielleicht darum mit diesem Begriff, damit sie umso leichter die Menschheit zu der Höhe emporheben, auf die sie die Natur gestellt hat, damit das drückende Gefühl der Schuld sie mit nicht geringem Zwang hintreibt zu dieser geförderten, aufgeklärten Weltanschauung, wo sie dann erkennt, daß es doch keine Schuld war, was sie bisher zurückgehalten hat? Nun, ich meine, es zeigt dies alles nur, daß jeder praktisch mit der Freiheit des Willens rechnet und daß auch eine Weltanschauung, die diese völlig leugnet, eben schon durch die Forderung - und mit dieser tritt sie fast immer auf -, sich ihr zuwenden, sich an die Selbstbestimmung des Menschen wendet. Ja es ist ein seltsames Geschick, daß sich gerade bei den konsequentesten Freiheitsleugnern an irgendeinem Punkt die Freiheit einschleicht. Nehmen wir den materialistischen Monismus, so sehen wir in seiner Entwicklungslehre das Selektionsprinzip stehen, nach dem unter verschiedenen Arten mit Bewußtsein die brauchbaren ausgewählt werden; denn ohne irgendeine Form von Bewußtsein, mag man dies auch der schaffenden Natur zusprechen, geht eine solche vernünftige Wahl doch wohl nicht ab. Nehmen wir andererseits den konsequentesten Determinismus, wie er in der christlichen Philosophie aufgetreten ist, die Anschauung des Augustinismus, so sehen wir, wie überall da, wo überhaupt von einem sittlichen Leben und von Schuld die Rede ist, eine Freiheit des Willens angenommen wird. Den ersten Menschen als Urhebern der Gesamtschuld wird das  liberum arbitrium [Willens- und Wahlfreiheit - wp] zugesprochen, und im christlich-sittlichen Prozeß wird die freie Willenstat dem Menschen wohl genommen, aber nur, um sie weiter zurück in Gott zu verlegen; dieser ist es, der als freies, bewußtes Wesen durch die Menschen das sittliche Leben wirkt.

Nur in dieser religiösen Färbung ist nach meiner Meinung die Behauptung einer absoluten Notwendigeit auch für das sittliche Leben erträglich; nur unter der Voraussetzung einer das menschliche Leben beherrschenden höchsten Intelligenz läßt sich selbst bei Aufhebung jeder Freiheit die nicht zu leugnende Tatsache der sittlichen Entwicklung der Menschheit begreifen. Freilich erträglich ist diese Anschauung doch auch nur bei einer Betrachtung des Gesamtbildes. Sobald wir an die Erfassung des sittlichen Lebens des einzelnen gehen, zerrinnt sie uns unter den Händen. Darum kommt es wohl auch, daß diese notwendige Bestimmtheit des Willens mehr nur in der Theorie bei der Aufstellung einer allgemeinen Weltansicht festgehalten wird, im einzelnen konkreten Fall dagegen nach der entgegengesetzten Ansicht verfahren wird. Wo kämen wir auch hin, wenn wir anders verfahren wollten? Hieße das nicht, der sittlichen Laxheit und Frivolität das Wort reden? Aber freilich, wo es sich um die wissenschaftliche Erfassung eines Problems handelt, müssen zunächst praktische Bedürfnisse und Gefühlsmomente schweigen und dürfen erst dann zu Wort kommen, wo jene an der Grenze ihrer Möglichkeit angelangt, diese nicht zu befriedigen vermag, obwohl sie so stark sind, daß sie sich nicht niederdrücken lassen; ist das der Fall, dann tritt wohl anstelle des dem Erkennen Erreichbaren in Form einer Hypothese oder eines praktischen Postulates ihre Forderung nach Beachtung wieder auf. So müssen auch wir uns zunächst ruhig fragen, ob die Beobachtung unseres Bewußtseinslebens, zu dem, wie wir im vorigen Abschnitt sahen, die Äußerungen des Willens gehören, uns den Beweis gibt für eine Freiheit oder Notwendigkeit des Willens, Freiheit in dem oben angebenen Sinn gefaßt als Fähigkeit der bewußten Wahl zwischen mehreren Motiven. Und zwar soll hier von der Freiheit als Voraussetzung des sittlichen Prozesses im Leben des Einzelnen und der Gesamtheit die Rede sein.

Offenbar setzt eine solche bewußte Wahl zwischen mehreren Motiven, wie sie im Begriff der  Freiheit  liegt, schon einen einigermaßen entwickelten Zustand des Bewußtseins voraus, ja in der vollendetsten Form, die uns der nächste Abschnitt zeigen wird, die höchste Entwicklung des Bewußtseins zum klarsten Bewußtsein. Wir können darum eine Antwort auf unsere Frage nicht erwarten, wenn wir das menschliche Einzeldasein in seinen ersten Anfängen, wo es offenbar nur von eindeutig bestimmenden Trieben beherrscht ist, betrachten. Für diesen Zustand können wir nur in Form von noch unentwickelten Dispositionen die Fähigkeit zu dem, was auf späterer Stufe Wirklichkeit wird, postulieren. Wir müssen uns also damit begnügen, das uns als entwickeltes gegebenes Bewußtseinsleben zu betrachten. Und da ist es der Vorgang des Denkens, der uns einen gewünschten Aufschluß bietet. Gewiß ist dieser Vorgang ebensowenig wie andere Bewußtseinsvorgänge ein rein schöpferische Tat. Ohne die große Fülle von Vorstellungen, die wir in uns tragen und die sich immer neu bilden, wäre er undenkbar. Aber was das Denken von diesen Einzelvorstellungen und Vorstellungsgruppen unterscheidet, das ist die besondere Beteiligung des Willens und zwar des bewußten Willens wodurch es entsteht. Darum bezeichnen wir die Gruppierung von Vorstellungen zu Gesamtbildern, wie sie ohne aktive, bewußte Tätigkeit des Willens, durch das freie Spiel der Assoziationen etwa im Traum oder in den traumähnlichen Zuständen im Wachen, im einem unbewußten Spiel unserer Gedanken entsteht, nicht als Denken. Vielmehr kommt es zum Denken dadurch, daß wir mit Bewußtsein unsere Aufmerksamkeit auf bestimmte Vorstellungskreise richten und diese willkürlich aus der Masse anderer Vorstellungen ausscheiden, daß wir dann weitere bereitliegende Vorstellungen mit diesen Vorstellungskreisen in Beziehung setzen, sie zurückdrängen, wenn sie sich nicht dazu fügen, oder andere deutlicher in den Bereich des Bewußten emporheben, wenn sie sich als geeignet erweisen, ja manche halb unbewußte über die Schwelle des Bewußtseins bringen. Wer hier die bewußte, freie Tätigkeit nicht anerkennen will, der muß überhaupt die Möglichkeit des Denkens leugnen. Freilich ist diese freie Tätigkeit bei den Denkprozessen weder eine kausale nicht bestimmte, noch eine prinziplose, absolut willkürliche. Das würde den Begriff des Denkens aufheben; darum können wir bei den dem Denken analogen Bewußtseinsvorgängen im gestörten Bewußtsein des Geisteskranken von einem eigentlichen Denken nicht reden; denn hier findet wohl auch eine Wahl zwischen verschiedenen Vorstellungen, wenn es sich nicht nur wie wohl vielfach um eine einfache willkürliche Assoziation handelt, statt, aber diese Wahl ist keine klar bewußte. Ebensowenig soll geleugnet werden, daß auch beim Denken, wie bei allen Bewußtseinsvorgängen, die Übung von der allergrößten Bedeutung ist, so daß sich die bei ihm zutage tretende freie Wahl einerseits zur höchsten Vollendung entfalten kann, andererseits aber auch so gut wie völlig verschwinden kann, bis fast nur noch unwillkürliche Kombinationen von Vorstellungen übrig bleiben. Innerhalb dieser Grenzen vollzieht sich nun der Vorgang des Denkens so, daß vermöge besonderer Bestimmtheiten, namentlich infolge ihrer Verbundenheit mit starken Gefühlsmomenten, gewisse Vorstellungen oder Vorstellungsreihen sich so in den Vordergrund unseres Bewußtseins drängen, daß wir auf sie unsere besondere Aufmerksamkeit richten. Sind jene Gefühlsmomente stark genug, wofür eine vielfache Gewöhnung von besonderer Wichtigkeit ist, so werden wir immer mehr mit Bewußtsein unsere Aufmerksamkeit bei diesen Vorstellungsreihen festhalten. Durch die mannigfachsten Assoziationen steigen nun immer neue Vorstellungen in unserem Bewußtsein auf. Mit diesen verfahren wir nach den uns angeborenen oder anerzogenen Denkgesetzen mit voller Freiheit, drängen die einen völlig zurück, bis sie aus dem Bereich des Bewußten verschwinden,wenn sie bei einem Vergleich mit den ersten Vorstellungen nicht zusammenstimmen wollen, heben andere immer mehr heraus, wenn sie zu jenen sich fügen oder ziehen andere halb unbewußte mit Absicht über die Schwelle des Bewußtseins. Durch diese Tätigkeit entstehen zugleich ganz neue Gebilde, indem neue Kombinationen geschaffen werden, die bisher im Bewußtsein noch nicht vorhanden waren, Kombinationen, die infolge der verschiedenen Möglichkeit der Art der Verknüpfung der bereitliegenden Elemente nicht die eindeutig bestimmten Resultanten dieser Elemente sind, sondern die mannigfachsten Formen annehmen können. Es ist das eine Erscheinung, die man mit dem oben erwähnten Namen der schöpferischen Synthese bezeichnet. Das Resultat bei diesem Vorgang des Denkens kann nun aber auch das sein, daß die ursprünglichen Vorstellungsgruppen, die das Denken anregt und zunächst die Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatten, selbst mit Bewußtsein zurückgedrängt werden, bis sie völlig verschwinden, wenn andere im Verlauf des Denkprozesses emporgehobene Vorstellungs- und Begriffsreihen sich dem denkenden Bewußtsein als zu bevorzugende erweisen, so daß nun eine bewußte Hinlenkung der Aufmerksamkeit auf diese stattfindet. Das Maßgebende für die hierbei stattfindende Entscheidung in der Richtung unserer Aufmerksamkeit ist die Art der Herrschaft der uns als Erbe einer langen Entwicklung des Bewußtseins im Leben der Gesamtheit angeborenen und durch Übung mehr oder weniger entwickelten Denkgesetze, auf die als alleingültige Norm bei allen Denkprozessen eine richtige Bildung und Erziehung des geistigen Lebens mit solchem Nachdruck hinweisen wird, daß sich bei allem Denken auf sie die besondere Aufmerksamkeit richtet, so daß jedes Abweichen von ihnen als wirklicher Mangel und Fehler mit Recht empfunden wird.

Wir finden also beim Vorgang des Denkens alle die Momente, die wir oben als Merkmale der Freiheit des Willens genannt haben: kausale Bestimmtheit, willkürliche Auswahl und bewußtes Handeln. Betrachten wir darum nun die Willensakte unter der Form der Denkprozesse. Das ist schon darum keine Hereinziehung eines völlig fremdartigen Gebietes, weil, wie beim Denken eine besonders starke Beteiligung des Willens stattfindet, so die Willenshandlungen neben den sie begleitenden Gefühlsmomenten gerade auf den höheren Stufen der Bewußtseinsentwicklung, wo überhaupt erst von Willensfreiheit die Rede sein kann, auf das Innigste mit Vorstellungen und Vorstellungskomplexen verbunden sind. Setzen wir anstelle der bei den Denkprozessen wirksamen Denkgesetze das jedenfalls als Tatsache vorhandene, sei es nun eine angeborene oder anerzogene oder beide Momente in sich vereinigende Gewissen und anstelle der verschiedenen Vorstellungsreihen die verschiedenen auf den Willen einwirkenden Motive, so erhalten wir den Vorgang, der bei den Willensentscheidungen stattfindet.

Zu einer Willenshandlung - ausdrücklich sei noch einmal hervorgehoben, daß die Triebhandlungen, bei denen der Wille durch ein einziges Motiv bestimmt ist, das, falls nicht gerade äußere Hindernisse hemmend dazwischentreten, sich notwendig in einer Handlung auslöst, hier nicht in Betracht kommen - kommt es, wenn durch Vorstellungen oder Gefühle oder besser durch eine Verbindung von Vorstellungen und Gefühlen eine Spannung der Willenskraft hervorgerufen wird, die also, wie wir sehen, kausal bestimmt ist, so daß also auch der Wille schon auf der ersten Stufe kausal bestimmt erscheint, ohne daß darum von Notwendigkeit die Rede wäre. Jene Spannung lenkt nun die Aufmerksamkeit auf die als erstes Motiv wirksamen Vorstellungen und Gefühle. Durch die vielfachen Assoziationen, wobei vor allem auch der Kontrast eine große Rolle spielt, tauchen eine Fülle von anderen Vorstellungen und Gefühlen, die der Ertrag einer bisherigen Bewußtseinsentwicklung sind, im Bewußtsein empor und werden nun gleichfalls als Motive wirksam, sei es, daß sie das erste Motiv verstärken oder schwächen. Die durch eine solche Spannung gesteigerte Aufmerksamkeit holt nun auch selbständig nicht klar bewußte Vorstellungen und Gefühle empor, die in der Richtung der jeweils gerichteten Aufmerksamkeit liegen. Durch diese komplizierten Vorgänge im Bewußtsein kann das erste Motiv mannigfach umgestaltet werden, wie auch die daneben entstandenen Motive mannigfaltige Veränderungen erfahren werden. Schließlich aber wird der ganze Prozeß dahin führen, daß zwei den Willen in entgegengesetzter Richtung bestimmende Motive herausgehoben werden, auf die mit Bewußtsein die Fülle der bereitliegenden Elemente verteilt werden. Wir finden also schon hier ein bewußtes Handeln, was freilich nicht gleichbedeutend mit einem irrtumslosen zu sein braucht. Die Spannung ist aber erst gelöst, wenn von diesen zwei Motiven eines soweit in den Vordergrund gehoben wird, daß es nun eindeutig den Willen bestimmt. Diese Wahl ist nun keine freie in dem Sinn, daß sie in vollkommener Willkür geschieht. Dann wäre sie ganz dem Zufall überlassen und niemand könnte für sie verantwortlich gemacht werden. Selbst in dem Fall, daß die beiden widerstrebenden Motive in ihrem Gewicht sich völlig die Waage halten und doch die auf die Dauer unerträgliche Spannung mit unwiderstehlicher Gewalt nach einer Lösung drängt, so daß schließlich scheinbar der Knoten zerhauen, statt gelöst wird und anscheinend ihr Wille in voller Willkür nach irgendeiner Richtung gedrängt wird, müssen wir, auch wenn wir es nicht nachweisen können, einen wenn auch noch so unscheinbaren Grund voraussetzen, der gerade zu dieser Entscheidung führt. Das Bestimmende für die endliche Wahl wird schließlich das Verlangen nach Lebensförderung und Lust und das Widerstreben gegen Lebenshemmung und Unlust sein, beides selbstverständlich nicht auf die sinnliche Seite des Daseins beschränkt, sondern im weitesten Sinne gefaßt. Auch zu dieser Entscheidung bedarf es eines klar bewußten Handelns, des ruhigen Abwägens der auf der einen Seite in Betracht kommenden Momente gegen die auf der anderen Seite. Freilich mit diesem Ergebnis scheint nicht viel zumindest für das sittliche Leben gewonnen zu sein. Denn dann scheint, abgesehen von den Fällen, wo der Wille durch vielfache Übung nach einer bestimmten Richtung hin fast mechanisch nach dieser Richtung funktioniert, so daß es kaum zu einer besonnenen Erwägung bei der Wahl der Motive kommt, alles unsittliche und widersittliche Handeln nur auf Irrtum oder mangelnder Erkenntnis zu beruhen, und Förderung des sittlichen Lebens würde gleichbedeutend sein mit der Förderung des richtigen Verständnisses, eine Auffassung, die bekanntlich bereits von SOKRATES vertreten worden ist, die aber durchaus nicht den unserer Beobachtung zugänglichen Erscheinungen des sittlichen Lebens gerecht wird, die uns zeigen, daß in vielen Fällen nicht die Erkenntnis davon, auf welcher Seite die größere Lebensförderung zu finden ist, den Willen bestimmt, daß er vielmehr oft trotz dieser Erkenntnis nach der entgegengesetzten Seite gelenkt wird. Auch würde bei dieser Auffassung wohl in dem Sinne die Freiheit des Willens gerettet sein,, sofern die Entscheidung eine mit Bewußtsein vollzogene ist, nicht aber würde dem praktischen Bedürfnis genügt sein, den Einzelnen für sein Tun verantwortlich zu machen, sofern das Fehlen der richtigen Erkenntnis diesem nicht als Schuld angerechnet werden könnte, sondern nur als angeborener Mangel oder als Mangel der Erziehung anzusehen wäre, für den höchstens die Erzieher verantwortlich zu machen wären. Wir müssen darum noch ein weiteres Moment ins Auge fassen. Wie wir bei den Denkprozessen eine regulierende Norm fanden in den Denkgesetzen, so haben wir für das Handeln eine solche im Gewissen. Man mag über diese Erscheinung urteilen, wie man will, sie ist jedenfalls eine Tatsache, die sich nicht leugnen läßt. Das Gewissen ist nun freilich keine eindeutig bestimmte Größe seinem Inhalt nach; das zeigt ein Vergleich der sittlichen Beurteilung der gleichen Handlungen bei verschiedenen Völkern und zu verschiedenen Zeiten. Ja auch bei den verschiedenen Individuen derselben Stufe der Kulturentwicklung finden wir weitgehende Unterschiede, die umso größer sind, je größer der gemeinsame Kreis ist, dem sie angehören, die aber selbst in den engsten Kreisen nicht ganz verschwinden; sogar in der Lebensentwicklung des einzelnen ist der Inhalt der Gewissensbeurteilung ein bisweilen sogar stark wechselnder. Auch der Grad der Stärke, in der das Gewissen redet, sit bei den einzelnen Individuen ein äußerst mannigfaltiger. Aber bei all diesen Unterschieden bleibt dem Gewissen ein gemeinsames Formales, das ist die Absolutheit und Rücksichtslosigkeit der Forderung, die es stellt. Dieses Gewissen macht sich nun bei Willensentscheidungen mehr oder weniger geltend; nicht bei allen freilich, vor allem nicht bei denen, die wir infolge langer Gewöhnung fast mechanisch vollziehen, aber bei all denen, die wir einer sittlichen Beurteilung unterstellen, und der Kreis dieser wird mit der Zunahme der sittlichen Entwicklung und der Verfeinerung des sittlichen Gefühls immer größer werden. Werden wir nun vor eine Willensentscheidung gestellt, die nach unserer ganzen Entwicklung einer sittlichen Beurteilung von unserer Seite unterworfen wird - und zwar wollen wir den Fall setzen, daß es sich um eine Entscheidung handelt, wie wir sie noch nicht getroffen haben, wie es namentlich im Anfang der sittlichen Entwicklung vorkommt, weil in anderen Fällen die bisherige Art der Willensentscheidungen von vornherein für die gleiche Art der Entscheidung im erneuten Fall ein wichtiges Moment ist - so tritt alsbald als Motiv auch das Gewissen mit auf, sei es daß es die als erstes Motiv den Willen in Spannung setzenden Vorstellungs- und Gefühlskomplex verstärkt, sei es, daß es in entgegengesetzter Richtung wirkt. Daß dies geschieht, beruth darauf, daß wir durch einen anfangs bewußten, dann immer mehr halb unbewußten Akt die Motive zu unserer bisherigen Entwicklung in Beziehung setzen, denn diese, wie sie sich gebildet hat aufgrund gewisser angeborener Dispositionen unter dem Einfluß der Erziehung und der mannigfaltigsten Beziehung, in die die individuellen Bewußtseinsinhalte zu diesen beiden Faktoren gestellt worden sind, bildet den Inhalt des individuellen Gewissens, natürlich nur, soweit es sich dabei um das als gut Erkannte oder für gut Gehaltene handelt. Der Grund wiederum für diese Inbeziehungsetzung liegt in der wohl vor allem durch die mannigfaltig erziehenden Einflüsse, die schon angeborene Neigung nach dieser Richtung verstärken, dem bildsamen Einzelbewußtsein auf das Tiefste eingeprägten und darum mit einer Art Mechanismus funktionierenden Forderung, daß dies geschieht. Wir finden hier denselben Vorgang des Vergleichens und Beziehens, wie bei den Denkakten. Wird nun unser Wille durch ein oder mehrere Motive bestimmt, so findet eine solche Beziehung regelmäßig statt. Finden sich hierbei keine Berührungspunkte zwischen den verschiedenen Motiven und dem Gewissen, so empfinden wir die zu erwartende Willensentscheidung als außerhalb der sittlichen Beurteilung stehend, was umso öfter der Fall sein wird, je weiter die sittliche Entwicklung noch zurücksteht und je geringer ihr Umfang daher noch ist. Dann wird die Entscheidung stattfinden in der oben angegebenen Weise, je nachdem die bewußte Abwägung der verschiedenen Vorstellungs- und Gefühlsreihen oder die bisherige Gewöhnung der einen Seite vor der andern den Vorzug gibt. Sobald sich nun aber eine Beziehung der Motive zum Gewissen auffinden läßt, tritt dieses zugleich als Motiv mit auf, und zwar mit der Forderung, ausschlaggebend zu sein. Dann ist der Fall denkbar, daß das irgendwie den Willen bestimmende Motiv in derselben Richtung liegt, wie das Gewissen, also ganz in der Richtung der bisherigen sittlichen Entwicklung und daß es dadurch so verstärkt wird, daß andere entgegenwirkende Motive gar nicht recht zu Bewußtsein kommen. Dann wird der Willensakt mit besonderer Leichtigkeit erfolgen. Meist aber wird der Fall so liegen, daß sich neben dem in der Gewissensforderung liegenden Motiv zwei sich widerstrebende andere Motive vorfinden oder daß das Motiv, das zunächst den Willen anregt, im Gegensatz zur Gewissensforderung steht, so daß sich auf diese Weise zwei Motive widerstreben. Ist das letztere der Fall, so fragt es sich, welches Motiv das stärkere ist; denn danach wird die Entscheidung ausfallen; ebenso kommt es im ersteren Fall darauf an, ob das in der Richtung des Gewissens liegende Motiv verstärkt durch das im Gewissen selbst liegende Motiv, also die Summe dieser beiden Motive, stärker ist als das entgegenwirkende Motiv. Da wir aber so auf beiden Seiten eine kausale Bestimmtheit haben, auf der einen in den nicht selbst geschaffenen Ursachen der Willensanregung durch neue oder wieder hervorgerufene Vorstellungen und Gefühle, auf der andern in dem durch die Erziehung und Selbstbildung bestimmten Grad der Stärke der Gewissensforderung, so scheint auch hier von vornherei die Willensentscheidung bestimmt und von einer Freiheit des Willens nicht die Rede zu sein. Indessen haben wir, wie wir bei der Betrachtung der Denkprozesse sahen, die Fähigkeit, unsere Aufmerksamkeit nach einer bestimmten Richtung zu fixieren, solange diese Fähigkeit noch nicht durch fortgesetzte Gewohnheit in bestimmte Bahnen gelenkt ist. Diese Fähigkeit kommt auch hier in Betracht. Die beiden widerstrebenden Motive nehmen unsere Aufmerksamkeit in Anspruch, die Gewissensforderung zugleich mit dem Gebot, daß wir die Aufmerksamkeit darauf richten. Wir können diese Aufmerksamkeit festhalten, wenn wir wissen, daß wir es sollen, solange noch nicht durch eine verkehrte Enwicklung der Wille in ganz andere Bahnen gedrängt ist. Daß wir es sollen, wissen wir aber durch den Einfluß der Erziehung. Durch dieses bewußte Festhalten der Aufmerksamkeit auf die Gewissensforderung werden immer neue in gleicher Richtung liegende Bewußtseinselemente, die bisher nur latent waren, hervorgehoben, und diese dienen dazu, dieses Motiv zu verstärken. Damit geht Hand in Hand ein bewußtes Zurückziehen der Aufmerksamkeit vom entgegengesetzten Motiv, ein unbewußtes Unterbinden der Assoziationstätigkeit, die in der anderen Richtung liegt, bis schließlich jenes erstere Motiv so sehr in den Vordergrund des Bewußtseins gehoben wird, daß es den Willen bestimmt. Freilich kann ebenso die Aufmerksamkeit auf das entgegengesetzte Motiv gerichtet werden, wodurch dann bei diesem derselbe Vorgang stattfindet. Darauf beruth es wohl auch, daß wir bisweilen unter dem Eindruck stehen, daß wir im Anfang den Willen nach der guten Seite hin noch hätten bestimmen können, daß wir dann im weiteren Verlauf der Entwicklung des Willensaktes diese Freiheit nicht mehr gehabt haben. Ich glaube, es ist dies nicht nur eine Selbsttäuschung. Man muß dabei bedenken, daß im allgemeinen beim Kampf der Motive nicht eines von vornherein das Übergewicht hat, zumindest bei noch nicht völig ausgeprägter sittlicher Entwicklung, sondern daß ein Oszillieren stattfindet.  Ich behaupte also, daß wir die Aufmerksamkeit bei einem Bewußtseinsinhalt festhalten können und dadurch die Bewußtseinsvorgänge beeinflussen, daß wir also auch durch die Art, wie wir die Aufmerksamkeit auf die verschiedenen Motive verteilen, diese bald verstärken, bald schwächen, ja ganz zurückdrängen können; das aber heißt doch wohl nichts anderes, als daß wir die Freiheit des Willens haben. 

Wie wichtig das Fixieren der Aufmerksamkeit für die Willensentscheidung ist, zeigen mancherlei Erscheinungen des sittlichen und namentlich auf des religiösen Lebens. Die Wahrheit des Sprichwortes: "Müßiggang ist aller Laster Anfang" findet hier seine Erklärung. Wird durch angestrengte Arbeit die Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Gegenstand mit aller Macht gelenkt, so können andere Regungen gar nicht recht zur Herrschaft gelangen, es bleibt für sie gleichsam kein Raum im Bewußtsein. Es erfordert daher die pädagogische Weisheit, von frühester Kindheit an die Aufmerksamkeit des zu Erziehenden auf wertvolle Objekte zu richten, so daß fast mechanisch immer eines derselben im Vordergrund des Bewußtseins liegt. Auch die große Bedeutung des religiösen Lebens für die Bestimmung der Willensrichtung liegt, psychologisch betrachtet, im Einfluß jenes Fixierens der Aufmerksamkeit. Ist diese, wie es bei einem lebendigen religiösen Empfinden der Fall ist, auf Gott zugleich als die Zusammenfassung aller sittlichen Ideen ohne Unterlass gerichtet, so können dadurch alle gegenstrebenden Motive zurückgedrängt und unwirksam gemacht werden; ja es gibt genug Fälle, daß, wenn diese Idee ganz in den Vordergrund des Bewußtseins gehoben ist, so daß sie die ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt, und durch die verschiedensten Mittel in dieser Bewußtseinslage gehalten wird, sogar eine völlige Umkehr der bisherigen entgegengesetzten Willensrichtung stattfindet. Wenn die christliche Lehre in ihrer evangelischen Ausprägung besagt, der Glaube habe notwendig ein sittliches Leben im Gefolge, so beruth die Wahrheit dieses Satzes eben darauf, daß der Glaube ein so intensives Hinrichten der Aufmerksamkeit auf Gott ist.

Es ist ferner bekannt, welche Bedeutung gewisse, namentlich erschütternde Ereignisse im Leben für die sittliche Entwicklung des einzelnen oft haben. Die Ereignisse lenken die Aufmerksamkeit auf sich, und je gewaltiger sie sind, mit umso größerer Energie wird sie bei ihnen festgehalten und von da aus wird alles bestimmt.

Man kann auch an die großen Männer auf jedem Gebiet denken. Ihre Größe beruth zumeist darauf, daß sie mit Bewußtsein eine Idee, die sie verwirklichen wollen, festhalten und ihre ganze Aufmerksamkeit unausgesetzt darauf richten, so daß diese Idee das alles bestimmende Motiv in ihrem Handeln bildet. Man würde solchen Erscheinungen im geschichtlichen Leben gewiß nicht gerecht werden, wenn man sie nur als Produkte ihrer Zeit und Umgebung ansehen wollte. Oder denken wir an eine Mißgestalt dieser psychologischen Erscheinung, wie sie uns imi Jesuitenorden entgegentritt. Die Ertötung des eigenen Willens wird dort bekanntlich zu erreichen gesucht durch die Einrichtung der  exercitia spiritualia.  Wer diese nur einigermaßen kennt, wird wissen, wie dabei mit allen Mitteln daran gearbeitet wird, die Aufmerksamkeit mit Gewalt vom Einzelnen abzulenken und hizulenken auf den Willen der Kirche und der Vorgesetzten, der nun das herrschende Motiv wird. Auch die Erscheinungen des Hypnotismus liegen wohl auf dieser Linie. Schließlich sei an mancherlei Erfahrungen erinnert, die wir im eigenen sittlichen Leben machen, wie es zu mancher Willensentscheidung kommt dadurch, daß wir mit Bewußtsein die Aufmerksamkeit bei dem einen Motiv festhalten, wodurch dieses Motiv das Übergewicht erhält, so daß es ausschlaggebend wird, während wir ebenso mit Bewußtsein, oft mit nicht geringer geistiger Energie, das andere Motiv immer weiter zurückdrängen. Selbstverständlich ist das, was die Aufmerksamkeit an sich zieht, kausal bestimmt, sei es, daß es neu auftauchende Vorstellungen und Gefühle sind, sei es, daß aus irgendeinem Anlaß reproduzierte, meist durch die ersteren wieder hervorgerufene Bewußtseinsinhalte sind, sei es, daß sich Einflüsse des angeborenen Charakters oder der Erziehung oder des eigenen Austausches der Bewußtseinsinhalte geltend machen. Wir können daher rückwärts schreitend bei einem Willensakt den psychischen Kausalzusammenhang verfolgen, oft sehr weit zurück, bis er sich ins Dunkle verliert. Darin offenbart sich eben die kausale Bestimmtheit unserer Willensakte. Aber die Frage müssen wir noch aufwerfen: Können wir die Aufmerksamkeit willkürlich verteilen und festhalten? Das letztere wage ich ohne weiteres zu behaupten. Ist das Bewußtseinsleben normal und sind die psychischen Funktionen nur einigermaßen geübt, so können wir mit Bewußtsein unsere Aufmerksamkeit, wenn sie einmal ein genügendes Objekt gefunden hat, dabei fixiert lassen, freilich mit mehr oder weniger großer Leichtigkeit, je nachdem diese Bewußtseinstätigkeit überhaupt geübt ist und im Besonderen je nach dem Grad der Übung in der Richtung gerade auf dieses Objekt. Gibt man diese Tätigkeit nicht zu, dann muß man vor allem die Möglichkeit des wirklichen Denkens leugnen. Haben wir nun aber ebenso die Fähigkeit, aus der Reihe der möglichen Objekte, auf die wir die Aufmerksamkeit lenken können und die bei einem Willensvorgang gleichzeitig oder nacheinander im Bewußtsein auftauchen, eines herauszugreifen? Daß wir gerade dieses eine wählen, hat gewiß seinen Grund, sei es, daß gewisse im gegebenen Moment gerade vorherrschende Gefühle uns dahin ziehen, sei es die vernünftige Erwägung, daß das Verlangen nach Lust gerade dort am meisten seine Befriedigung findet, sei es, daß infolge vieler Übung von vornherein ein Hinneigen des Bewußtseins nach dieser Seite stattfindet, sei es schließlich, daß angeborene oder durch die bisherige Entwicklung erworbene Dispositionen von vornherein die Richtung bestimmen, nach der das Bewußtsein neigt. Und wenn wir im andern fall ein diesem Objekt gerade entgegengesetzes wählen, auf das wir die Aufmerksamkeit richten, so hat auch das wieder seinen Grund darin, daß diesem Objekt Eigenschaften zukommen, die noch eindrucksvoller sind, als jene vorher genannten überaus starken Gründe. Damit ist freilich immer wieder nur soviel gewonnen, daß wir sagen müssen, die Hinlenkung der Aufmerksamkeit auf einen Bewußtseinsinhalt und die dadurch erfolgende Erhebung desselben zum ausschlaggebenden Motiv ist eine bewußte, und so erhalten wir allerdings das Resultat, daß im oben angebenen Sinn von einer Freiheit des Willens die Rede ist. Daraus ergibt sich nun gewiß die Möglichkeit des sittlichen Prozesses sowohl in der Entwicklung des Einzelnen wie in der der Gesamtheit. Denn es können nun auch die sittlichen Ideen zu den Bewußtseinsinhalten werden, die die Aufmerksamkeit an sich ziehen und bei denen sie dann festgehalten wird. Ist dies der Fall, dann reden wir von einem sittlichen Leben, das also in der bewußten Behauptung der sittlichen Normen als ausschlaggebender Motive besteht. Aber wie steht es dann nun mit dem Punkt, der bei der Diskussion über die Freiheit oder Unfreiheit des Willens im Hintergrund steht und wegen seiner praktischen Bedeutung von ganz besonderem Interesse ist? Was gilt von den Begriffen  Verantwortung  und  Schuld?  Was ist davon zu halten, wenn im einzelnen das sittliche Leben, das ansich bei ihm möglich ist, weil durch das Gewissen die sittlichen Ideen auch in seinem Bewußtsein vorhanden sind, ja in normalen Verhältnissen bei jeder ernsteren Willensentscheidung mit vorhanden sind, so daß sie ansich den Willen motivieren könnten, nicht wirklich sind, weil anderen Bewußtseinsinhalten der Vorzug bei der Richtung der Aufmerksamkeit gegeben wird? Wir beurteilen an uns selbst diese Erscheinung als Schuld und klagen uns daher an, weil wir wissen, daß die sittlichen Ideen das Höchste sein sollten, auf das wir unsere Aufmerksammkeit unverwandt zu richten hätten. Diese Verurteilung ist nicht etwas durchaus Unrichtiges. In ihr spricht sich zunächst der Widerwille und die Abscheu aus vor dem, was nicht sein sollte und nun doch ist, das Mißfallen am häßlich Gestalteten zugleich mit dem Gefühl oder der Überzeugung, daß ansich beim Vorhandensein des bewußten Lebens auch das Gegenteil, das Gute möglich gewesen wäre, wie es doch bei anderen der Fall gewesen ist und auch im eigenen Leben schon manchmal der Fall war; das Unbehagen wird schließlich noch verstärkt durch die Erkenntnis, daß man nicht erst jetzt erfährt, sondern auch schon vor vollendeter Tat wußte, was recht ist. Diese Beurteilung oder Verurteilung ist für die sittliche Entwicklung von der allergrößten Bedeutung, ja man kann sagen, ohne sie würde diese Entwicklung gar nicht stattfinden. Das mit ihr verbundene Gefühl des Unbehagens wird der Grund, daß man auf die Gewissensforderung immer mehr die Aufmerksamkeit richtet, um durch ihre Befolgung das Gefühl der Befriedigung zu erlangen. Daher kommt es, daß, wo sich ein reich entwickeltes sittliches Leben findet, auch das Gewissen in hohem Maß entwickelt ist, so daß es sich bei jeder Willensentscheidung mit solcher Gewalt vordrängt, daß die Aufmerksamkeit fast unwillkürlich darauf gelenkt wird, während wir im Gegensatz dazu beobachten können, wie eine unsittliche Entwicklung immer auch vorhanden ist mit einer Unterdrückung des Gewissens. So wird es Aufgabe der sittlichen Erziehung sein, das Gewissen möglichst fein und zart zu entwickeln, jenes Gefühl des Unbehagens über die Nichtbeachtung der durch die Erziehung geprägten sittlichen Ideen möglichst zu fördern, auch mit den für die Erziehung so wichtigen äußeren Mitteln des Lobes und Tadels, der Belohnung und Bestrafung, dann auch durch die Unterweisung im Zusammenhang der sittlichen Ideen und die Ausbildung, wenn man so sagen darf, des sittlichen Geschmacks, daß von Anfang an dem sittlichen Charakter der Vorzug gegeben wird vor dem unsittlichen. Nichts ist darum gefährlicher, als das Gewissen ertöten zu wollen, nichts bedenklicher als jener konsequente Individualismus, der den Einzelnen ganz auf sich stellen, ihne von der bisherigen Entwicklung der Sittlichkeit in der Gesamtheit, wie sie eben im Gewissen als Norm individuell wird, loslösen will und so das wichtigste Motiv zum sittlichen Leben nimmt.

Aber ist nach all dem die durch das Gewissen erfolgende Beurteilung nicht nur ein Aussprechen eines mehr ästhetischen Urteils? Und doch ist diese Beurteilung, wie wir aus Erfahrung wissen, immer zugleich verbunden mit dem Gefühl der Schuld, was ja gerade das Niederdrückende dabei ist. Darin kommt der richtige Gedanke zum Ausdruck, daß ansich das Motiv, das den Willen bestimmte, nicht zwingend war, daß, wenn es auch noch so stark war, ansich die sittlichen Ideen noch stärkere Motive hätten sein können, daß diese sittlichen Ideen als, wenn eben auch nur schwächeres, Motiv mit im Bewußtsein vorhanden waren, daß das gewählte Motiv mit Bewußtsein ergriffen worden ist und schließlich, daß, wenn die Aufmerksamkeit auf die Gewissensforderung gerichtet und dort mit Bewußtsein festgehalten worden wäre, diese zum ausschlaggebenden Motiv hätte werden können. Es kommt nun eben alles darauf an, ob das letztere möglich war. Da ist gewiß zunächst zumindest so viel zuzugeben, daß das beim jeweiligen Zustand des betreffenden Individuums nicht unter allen Umständen der Fall ist. Es können gewisse durch die bisherige sittliche Entwicklung gewonnene Dispositionen die Aufmerksamkeit so sehr in Anspruch nehmen, daß alles andere dahinter zurücktritt, wie das bei allen Leidenschaften der Fall ist. Damit würde der Begriff der Schuld nun nicht wegfallen, wenn er überhaupt aufrecht erhalten werden kann, sondern die Schuld würde nur weiter zurückverlegt werden müssen in den Zeitpunkt, wo sich die ersten Anfänge jener Gewohnheit gebildet haben. Ein ähnliches würde gelten von den angeborenen Dispositionen. Man würde hier nur noch einen Schritt weiter zu gehen haben über die Anfänge des menschlichen Einzeldaseins hinaus und dort die Schuld suchen müssen. Aber das alles zugegeben, wage ich doch zu behaupten:  Weil die Wahl bei den Willensentscheidungen eine mit besonnenem Bewußtsein vollzogene ist, so können wir allerdings unsere Aufmerksamkeit auf das sittlich Gute fixieren, und wo das nicht geschieht, da hat das wohl seinen Grund, aber nicht seinen zwingenden, und darum sind wir wirklich verantwortlich für unser Handeln, freilich nur soweit es nicht mit dem Ertrag unserer bisherigen Entwicklung, wie er sich im Gewissen offenbart, übereinstimmt.  So kommt es auch, daß das Gefühl der Schuld nur da vorhanden ist, wo eine Handlung nicht übereinstimmt mit dem Ertrag der individuellen sittlichen Entwicklung, daß, was wir nach unserem Empfinden als Schuld betrachten, von anderen oft gar nicht als solche gefühlt wird, und daß dann die etwa eintretende Strafe nur Mittel ist, das sittliche Empfinden des Gestraften zu heben, daß er auch in Zukunft als böse anerkennt, was er getan hat.

Fassen wir noch einmal zusammen, was wir gefunden haben, so sehen wir: Wir besitzen die Freiheit in einem formalen Sinn, d. h. die Fähigkeit, bei den mannigfachen im Bewußtsein auftretenden Motiven, die den Willen bestimmen wollen, auf eines die Aufmerksamkeit mit Bewußtsein zu richten und es dadurch zu einer solchen Stärke zu entwickeln, daß es ausschlaggebend wird. Wir haben darum auch die Fähigkeit, auf den im Gewissen zu Wort kommenden Ertrag unserer sittlichen Entwicklung die Aufmerksamkeit zu lenken und dabei festzuhalten und darum ein sittliches Leben mit Bewußtsein zu bilden. Geschieht dies nicht, sondern wir den entgegengesetzten Motiven das Übergewicht gelassen, so empfinden wir das als Schuld, weil diese Motive nicht zwingend waren, wenn auch ihre Bevorzugung kausiert war, und weil diese Bevorzugung mit Bewußtsein stattgefunden hat. Nur aufgrund dieser bewußten Auswahl der sittlichen Ideen aus den andern das Bewußtsein erfüllenden Motiven ist ein sittliches Leben der Menschheit überhaupt, wie der einzelnen Individuen möglich, weil nur so das Leben erhoben werden kann über den Zustand eines regellosen Hin- und Hergeworfenwerdens zwischen den einzelnen Trieben und sinnlichen Regungen. Ein wichtiges Förderungsmittel in diesem Prozeß ist das Gewissen, das durch das Emporheben der sittlichen Ideen bei einer Willensentscheidung diese immer mit in die Reihe der bewußt vorhandenen Motive hebt und zugleich mit seiner absoluten Forderung von Beachtung die Aufmerksamkeit anzieht, und andererseits durch die nach getroffener Entscheidung stattfindende Beurteilung mit Lob oder Tadel die Aufmerksamkeit immer wieder auf sich lenkt. Wo man diese Freiheit des Willens leugnet, beruth das auf einer Verwechslung der Begriff kausaler Bestimmtheit und Notwendigkeit, von denen eben doch nur der erstere für das geistige Leben von Belang ist.

Aber freilich es ist eine auch im geistigen Leben zu beobachtende Tatsache, daß eine Fähigkeit durch Übung zu höchster Vollendung gebracht werden und andererseits durch ein Ruhenlassen fast verschwinden kann. So zeigt nun auch das sittliche Leben, wie bei Vielen jene Fähigkeit der bewußten Auswahl der Motive fast ganz verschwinden kann. "Wer Sünde tut, der ist der Sünde Knecht." Sie dagegen zur höchsten Vollendung zu entwickeln, ist das Ziel des sittlichen Prozesses. Davon soll nun noch die Rede sein.


IV. Die Freiheit als Ziel
des sittlichen Prozesses

Woher die sittlichen Ideen in der Menschheit stammen, wie sie sich entfaltet und zu dieser unvergleichlichen Höhe erhoben haben, auf der sie die auf dem Christentum beruhende Ethik uns zeigt, mag hier unerörtert bleiben. Nur das Eine sei gesagt: wer es fertig bringt, sie aus einem Mechanismus bewußtlos wirkender Naturkräfte abzuleiten, der beugt sich, ohne daß er es will, vor einem der größten Wunder, wenn er es auch nicht so nennt, vor dem Wunder, daß unbewußte Kräfte das wunderbarste Gebäude aufgeführt, einen Organismus ausgebildet haben, in dem in der vollendetsten Form bewußte Kräft walten. Uns genügt hier die Tatsache, daß die sittlichen Ideen vorhanden sind und daß der Mensch mit einem besonnenen Selbstbewußtsein auf sie seine Aufmerksamkeit richten und sie so zum herrschenden Prinzip in seinem Leben machen kann, weil er vermöge der Fähigkeit der Freiheit seine Aufmerksamkeit auf die verschiedenen Bewußtseinsinhalte richten kann. Gewiß, das hebt den Menschen auf eine Höhe, die weit über der Stufe aller anderen Organismen liegt. Aber ist das ein Unrecht, oder eine Unwahrheit? Liegt die Wahrheit nur bei denen, die mit einem gewissen Behagen den Menschen mit den Namen von gewissen Tierkategorien bezeichnen? Wenn sich der Realismus unserer Tage nur vor Tatsachen beugen will und nur ihnen einen Erkenntniswert zuspricht, warum will er sich nicht beugen vor den unleugbaren Tatsachen des sittlichen Lebens, warum verweilt er nicht etwas länger bei den schönsten Erscheinungen, die unser Planet uns zeigt, den hohen sittlichen Persönlichkeiten, deren ganzes Leben ein bewußtes Behaupten der sittlichen Ideen ist, was ohne Freiheit nicht möglich wäre? Ist es nur eine Selbstvergötterung, die der Mensch mit sich treibt, wenn er in jenem oben erörterten Sinn sich Freiheit beilegt? Ist es nicht vielmehr nur das Anerkennen einer Tatsache aus dem Gebiet des geistigen Lebens? Ja, ich meine auch, gerade in diesem Anerkennen einer das Leben als höhere Macht regulierenden Idee, gegen die das Streben des Individuums nach einem Sonderdasein zurücktreten muß, liegt ein Akt der Selbstentthronung des Menschen verglichen mit dem konsequenten Subjektivismus einer Jenseits von Gut- und Böse-Moral. Und eben auch in der Anerkennung der formalen Freiheit als der notwendigen Voraussetzung zur Entfaltung eines nach jenen Ideen gestalteten sinnlichen Lebens liegt zumindest auch, wenn nicht in erster Linie, etwas Demütigendes. Denn dadurch wird die Frage aufgeworfen: Habe ich diese Möglichkeit der freien bewußten Wahl im vollsten Umfang und habe ich sie stets benutzt zur Regelung des Lebens nur nach den als gut erkannten sittlichen Ideen? (Ich mache hier die Voraussetzung, daß diese Ideen wirklich als gut erkannt sind, als das, was das Einzelleben überall und allzeit bestimmen sollte. Wer sie nicht anerkennt, mit dem ist ein Erörtern des folgenden völlig fruchtlos, zumal da in vielen Fällen die Sache so liegt, daß ein in höherem oder geringerem Grad eingetretener Verlust der Freiheit daran hindert, die Aufmerksamkeit bei den sittlichen Ideen verweilen zu lassen, zuweilen auch wohl so, daß wir es mit einer der Erkrankung des leiblichen Organismus vergleichbaren Erscheinung zu tun haben, bei der der richtige Geschmack und das normale Empfinden verloren gegangen sind.)

Jeder wird diese Frage mit Nein beantworten. Man kann leicht zeigen, wie die in jener Frage liegende Forderung bei den verschiedenen Individuen in verschiedenem Maß und auch beim einzelnen Individuum in den verschiedenen Perioden seines Lebens verschieden erfüllt ist, sei es, daß sich die Entwicklung in aufsteigender oder absteigender Linie bewegt. Daraus ergibt sich, daß auch die Freiheit keine von Anfang an gegebene fertige Größe, kein ruhendes Sein ist, sondern etwas Werdendes. Das ist ja auch von vornherein anzunehmen, da sie mit zum Bewußtseinsleben gehört, bei dem wir eine fortgesetzte Bewegung beobachten. Wie für dieses nun bei normaler Entwicklung das Gesetz des Wachstums der geistigen Energie gilt, so wenden wir dieses Gesetz nun auch als Norm für die Freiheit an und bezeichnen darum die Freiheit als das Ziel des sittlichen Prozesses. Es leuchtet ein, daß sich dabei der Begriff der Freiheit, wie wir ihn oben aufgestellt haben, etwas verschieden wird, indem er hier durch eine Beschränkung auf das Gebiet des sittlichen Lebens, und zwar des vollendeten sittlichen Lebens, auch inhaltlich bestimmt werden muß. Wir verstehen dann hier darunter die vollendete Form der bewußten Behauptung der sittlichen Ideen als ausschlaggebender Motive. In diesem Sinn die Freiheit gefaßt, sagen wir: Der Mensch ist nicht frei, aber er soll frei werden und wird es bei gesunder sittlicher Entwicklung immer mehr.

Zwei Momente sind es, die zunächst die in den Anfängen der sittlichen Entwicklung wohl niemals ganz fehlende und auch später wohl kaum ganz verschwindende formale Freiheit als der Fähigkeit der klar besonnenen bewußten Auswahl einschränken und nicht in absoluter Vollkommenheit erscheinen lassen. Das sind die durch Vererbung gewonnenen Dispositionen und die durch die mannigfaltigsten Einflüsse der Erziehung und Selbstbildung erworbenen Gewohnheiten. Im Grunde gehören ja beide Momente auf eine Linie, sofern das Angeborene nur der Ertrag der Bildung der vorangehenden Generation oder Generationen ist, und auch insofern, als der bestimmte geistige Habitus, den das Kind etwa von den Eltern ererbt hat, auch in der durch diese ausgeübten Erziehung das geistige Leben des Kindes weiter beeinflußt, so daß es oft schwerer zu entscheiden sein wird, ob irgendwelche Eigentümlichkeiten mehr das Produkt der Vererbung oder mehr das der Erziehung sind. Indessen, da wir uns vor allem mit dem Leben des einzelnen Individuums befassen, werden wir mit Recht beides trennen. Durch diese angeborenen und erworbenen geistigen Eigentümlichkeiten wird von früh auf das geistige Leben in bestimmte Bahnen gedrängt und so auch der Wille in einer Weise veranlaßt immer und immer wieder gewisse Wege zu gehen, daß er faßt unbewußt und mechanisch funktioniert; denn es gibt auch eine Mechanisierung des Willens, wie uns die Erfahrung zeigt. Diese Erscheinung wird umso stärker auftreten, je mehr sich die angeborenen Dispositionen und die Einflüsse der Erziehung begegnen, sie wird umso mehr zurücktreten, je mehr sich beide kreuzen und sich dabei das Gleichgewicht halten. Ich gebe zu, daß das letztere nur einigermaßen möglich sein wird, wenn die Einflüsse der Erziehung so früh wie mögich beginnen, in möglichst genauer Erkenntnis der angeborenen Eigentümlichkeit ausgeübt werden, mit möglichster Energie einwirken und niemals durch entgegengesetzte, der angeborenen Eigentümlichkeit entgegenkommende Einflüsse wieder aufgehoben werden, wie das oft genug unbewußt durch einen Mangel an Selbsterziehung von Seiten der Erziehenden, durch ein Sichgehenlassen von ihrer Seite geschieht. Es zeigt das zugleich, wie ungeheuer wichtig und wie schwer das Werk der Erziehung ist. Es läßt sich aber gerade in der frühesten Jugend, wo das geistige Leben verhältnismäßig wenig entwickelt und noch sehr bildsam ist, immer noch viel erreichen. Aber auch auf der späteren Stufe der Entwicklung, namentlich, wenn mit dem Erwachen des Geschlechtslebens ein Neues in das Bewußtseinsleben eintritt, bilden sich bestimmte Neigungen und Gewohnheiten aus durch die mancherlei Einflüsse, unter denen der Einzelne steht, besonders leicht, wenn diese Einflüsse in der Richtung der bisherigen Entwicklung liegen, mit größerer Schwierigkeit, aber doch oft genug, wenn sie so stark sind, daß sie die bisherige Entwicklung zurückzudrängen vermögen. Daß dieses letztere aber überhaupt der Fall ist, zeigt, daß auch bei einem Hineindrängen des Willens in bestimmte Bahnen die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit, wenn sie genügend angeregt ist, auf entgegengesetzte Bewußtseinsinhalte zu fixieren, nicht verlorgen gegangen ist; die Schwierigkeit aber, mit der es geschieht, ist ein Zeugnis dafür, wie schwer diese Fähigkeit funktioniert, wenn sie immer nur nach einer Richtung hin geübt worden ist und nun einmal in entgegengesetzter Richtung gebraucht werden soll. So kommt es, daß wir mit Recht bei der Beurteilung eines andern die Einflüsse, unter denen er gestanden hat, und auch gewisse hemmende Charakteranlagen als entschuldigende Momente in Betracht ziehen. Wenn wir aber trotzdem nicht jede Schuld in Abrede stellen, so liegt darin die von der Möglichkeit der Umbildung einer bisherigen Entwicklung schon gewonnene Erkenntnis, daß trotzdem ein entgegengesetztes Motiv kraft der darauf gerichteten Aufmerksamkeit hätte zur Herrschaft gebracht werden können. Wir sehen jedenfalls: auch schon die formale Freiheit als die Fähigkeit der bewußten und mit Besonnenheit ausgeführten Fixierung der Aufmerksamkeit auf ein Motiv ist im allgemeinen nirgends in absoluter Vollkommenheit vorhanden; und gerade, je mehr ein Willensakt erfolgt aufgrund gewisser angeborener oder erworbener Dispositionen, umso mehr gleicht er einer Triebhandlung, weil er infolge der vielfachen Übung meist so rasch erfolgt, daß kaum noch ein klar besonnenes Abwägen und Überlegen, das doch das Eigentümliche der Freiheit ausmacht, erfolgen kann. Daraus ergibt sich, daß die formale Freiheit als stets herrschendes Prinzip des sittlichen Lebens nicht etwas von Anfang an Vorhandenes, sondern vielmehr das Ziel des sittlichen Prozesses ist. Es soll der Einzelne dahin gebracht werden, daß er stets nur handelt aufgrund einer besonnenen Erwägung seines sittlichen Seins und der Zusammenstellung der verschiedenen Motive mit diesem zu einem einheitlichen Ganze, freilich ein Ziel, das der Einzelne niemals ganz erreichen wird; je nach dem Grade der Annäherung an dasselbe wird sich der Grad seiner gewonnenen Entwicklung bemessen. Daß es dazu kommt, darauf soll zunächst die Erziehung hinwirken; wo sie aufhört, hat dann die Selbsterziehung einzusetzen, die dieses Ziel als zu erstrebendes bald erkennen wird, dann aber mit aller Gewalt darauf hinarbeiten muß.  Wollen wir es mit einfachen Worten ausdrücken, so heißt dieses Ziel: ein Charakter zu werden, und zwar ein immer geschlossenerer. Ein Charakter sein heißt ja eben mit besonnenem Bewußtsein alles in Zusammenhang mit seiner Persönlichkeit setzen.  Ein Charakter und damit wirklich frei aber ist niemand von Anfang an, aber er kann es werden, er soll es werden.

Mit dieser einen Forderung jedoch, die immerhin nur etwas Formales enthält, ist das ganze Ziel des wirklich sittlichen Prozesses noch nicht genügend bestimmt. Denn damit ist zunächst nur Einheitlichkeit und Geschlossenheit für das ganze große Gebiet der Willensakte gefordert, was nur möglich ist, wenn bei allen Willensentscheidungen eine klar besonnene Erwägung den Ausschlag gibt. Es ist damit zugleich nach der negativen Seite hin gefordert, daß nicht das regellose, bunte Spiel der augenblicklichen Regungen und sinnlichen Triebe, bei deren Vorherrschaft jede Geschlossenheit verloren geht, stärker ist als jene besonnene Erwägung. Aber man muß zugeben, daß dieser Forderung auch genügt ist, wenigstens in gewissen Grenzen, wenn das mit Besonnenheit als Maßstab für alle Willensentscheidungen Ergriffene das Widersittliche, das Böse ist. Wenn man im Widersittlichen nicht nur etwas Negatives sieht, sondern es, gewiß mit Recht, als positive Größe anerkennt, so muß zugegeben werden, daß auch dies mit Freiheit zum Prinzip des Lebens gemacht werden kann und sich so ein widersittlicher Charakter bilden kann. Auch das Widersittliche kann ein geschlossenes System werden. Allerdings gestehe ich, daß diese Erscheinung noch seltener sein wird, als ein sittlicher Charakter, weil in den seltensten Fällen ein Individuum so weit kommen wird, daß die im Gewissen sich geltend machenden sittlichen Ideen ganz verschwinden, vor allem aber, weil gerade zum Widersittlichen das Vorherrschen der augenblicklichen Regungen und Triebe gehört, wodurch das Geschlossene und Einheitliche wieder verloren geht. Aber ansich ist es doch denkbar, daß mit klarer Besonnenheit und mit voller Konsequenz das dem Sittlichen Entgegengesetzte zum herrschenden und eine gewisse Einheitlichkeit gebenden Prinzip erhoben wird.  Wenn wir daher als Ziel des sittlichen Prozesses die Freiheit bestimmen, so heißt das die klar besonnene, dem sittlichen Leben rechte Einheitlichkeit gebende Behauptung der sittlichen Ideen als ausschlaggebender Motive; der Mensch soll ein sittlicher Charakter werden; das heißt im wahrsten Sinn frei sein.  Das ist er nicht von Anfang an; das soll er immer mehr werden.

Diese sittlichen Ideen, wie sie zunächst durch die Einflüsse der direkten und indirekten Erziehung in Form von außen herantretender Forderungen dem Individuum gegeben sind, dann später mit der Entwicklung des Bewußtseins zum klarsten Selbstbewußtsein in höherem oder geringerem Grad ein durch eigene Vernunfttätigkeit erworbenes persönliches Besitztum sind (das soll selbstverständlich nicht heißen, daß der einzelne sie als freie Schöpfung aus seinem Bewußtsein selbständig herausspinnt, sondern nur, daß er sie zum bewußten Besitz macht), sind uns gegenwärtig im Gewissen. Seine Forderung stets mit Bewußtsein zum regulativen Prinzip machen, heißt wahrhaft frei sein. Auch hier sind es zwei Momente, die diese Freiheit nicht von Anfang an vorhanden sein lassen, sondern sie nur als zu erstrebendes Ziel erscheinen lassen. Das erste ist, daß das Primäre im menschlichen Einzeldasein die Herrschaft der eindeutig bestimmten sinnlichen Triebe ist, so daß diese, sobald nun die sittlichen Ideen in der Erziehung als ein Faktor in das Bewußtseinsleben des Kindes mit eintreten, schon einen ziemlichen Vorsprung haben. So ist die Behauptung der sittlichen Ideen von Anfang an mit einem Kampf verbunden, der so oder so entschieden werden kann. Es muß hierbei das dem Kind selbst noch fehlende klare Selbstbewußtsein ersetzt werden durch das der Erziehenden. Wo das nicht geschieht, etwa unter Ausschluß der äußeren Zwangsmittel von Strafe und Tadel, erlangen jene primären sinnlichen Triebe einen immer größeren Vorsprung, der dann später nur mit größter Anstrengung wieder beseitigt werden kann. Denn dann kommt immer mehr das zweite Moment in Betracht, dem wir oben schon begegnet sind, die Bedeutung der Mechanisierung der Willenshandlungen. Hier kommt sie in Betracht nach der Seite, daß sie den Willen inhaltlich bestimmt. Die angeborenen Dispositionen und die durch Erziehung und vielfache Übung gewonnenen Richtungen des Willens treten gegen die Erreichung jenes Zieles der sittlichen Freiheit insofern vielfach hemmend, oft sogar sehr hemmend auf, weil sie zum großen Teil in der der Behauptung der sittlichen Ideen entgegengesetzten Richtung liegen. Das hängt damit zusammen, daß wie in der Entwicklung des einzelnen Individuums so in der generellen Entwicklung die Herrschaft der sinnlichen Seite, der Triebe, das Primäre ist. Diese durch Gewöhnung erlangten Richtungen des Willens drängen diesen oft mit solcher Gewalt in die den sittlichen Ideen entgegengesetzten Bahnen, daß sie oftmals fast mit Naturnotwendigkeit zu funktionieren scheinen. Da nun bei jedem Menschen infolge der ursprünglichen Herrschaft der Triebe der dadurch schon früh begünstigten Ausbildung solcher widersittlicher Richtungen, die noch dadurch gefördert wird, daß auch die angeborenen Dispositionen und die mannigfachen Einflüsse der Umgebung nach der gleichen Seite treiben, ein völliges Vorwiegen der sittlichen Ideen ausgeschlossen ist, so ist niemand von Anfang an wirklich sittlich, so es aber werden. Wäre jene primäre Herrschaft der Triebe nicht vorhanden und lägen all jene Dispositionen und bildenden Einflüsse in der Richtung des Sittlichen, so würde eine objektive sittliche Entwicklung stattfinden, allein mehr in Form eines Naturprozesses, und von der Ausbildung eines wirklich sittlichen  Charakters,  der mit Bewußtseins trotz aller Gegenwirkungen das Gute zum herrschenden Prinzip macht, könnte nicht die Rede sein. Die formale Freiheit ginge verloren und wäre überflüssig; der subjektive sittliche Prozeß ginge unter in einer Art von allgemeinem Naturprozeß. Da die Wirklichkeit nun jene Voraussetzung nicht zeigt, sondern das Gegenteil, so ergibt sich eben als Aufgabe des sittlichen Prozesses, immer mehr frei zu werden, ein sittlicher Charakter zu werden, mit einem klaren, besonnenen Bewußtsein allen widerstrebenden Willensrichtungen zum Trotz die sittlichen Ideen zu behaupten. Da tritt nun dasselbe, was wir eben als mächtige Gegenströmung bei der Durchsetzung dieses Zieles erkannt haben, als ebenso starkes Hilfsmittel auf: die Mechanisierung der Willenshandlungen; ja, man kann wohl sagen, daß dadurch die Erreichung des sittlichen Zieles erst möglich wird. Ebenso wie durch viel Übung und Gewöhnung widersittliche Neigungen zu gerigerer oder größerer Stärke ausgebildet werden, so können nun auch durch Übung sittliche Richtungen befestigt werden. Das ist die Aufgabe der Erziehung und der sittlichen Selbstbildung. Mit Bewußtsein immer mehr solche Richtungen zur Herrschaft zu bringen, daß sie nach allen Seiten hin das Leben bestimmen, immer mehr den Willen an das Gute gewöhnen, daß er fast mit Notwendigkeit das Gute tut, das ist der Weg zur sittlichen Freiheit. So allein ist auch ein Fortschreiten möglich. So kann die bewußte Selbstbildung immer weitergehen, um immer neue Richtungen auszubilden, sobald die alten genügend gefestigt sind; so allein kann auch im sittlichen Prozeß ein Wachstum der geistigen Energie eintreten; so allein kann das Sittliche im Einzelleben und Leben der Gesamtheit eine Macht werden; so allein kann sich ein sittlicher Charakter bilden. Mit je größerem Erfolg diese Arbeit getan wird, umso mehr nähert sich das sittliche Handeln den Erscheinungen des Naturmechanismus, so daß man bei einem vollendeten sittlichen Charakter die Kausalreihe der Willensakte nicht nur rückwärts verfolgen kann, sondern auch die Willensentscheidungen vorausbestimmen kann. So scheint das Ende das Gegenteil von Freiheit zu sein, so scheint es sich nach der formalen Seite ganz mit dem Anfang zu berühren; hier ein ausschließliches Bestimmtsein durch die nun auch notwendig wirkenden Triebe, dort ein Bestimmtsein durch die nun auch notwendig wirkenden sittlichen Ideen; freilich dem Inhalt nach sind dann Anfang und Ende völlige Gegensätze. Kann man aber dann doch die Freiheit als das Ziel des sittlichen Prozesses bezeichnen? Ich meine ja; aus einem doppelten Grund: einmal weil man dann völlig frei geworden ist von den den Willen regellos hin- und herziehenden Trieben und niederen Regungen; andererseits weil das Ziel nur erreicht ist durch ein fortgesetztes Ausüben jener Freiheit als bewußter besonnener Auswahl und festgehalten wird durch ein ungestörtes klar bewußtes Festhalten der sittlichen Ideen. Daß niemand dieses Ziel wirklich erreicht, liegt auf der Hand, aber streben danach soll und kann jeder, und je nachdem er diesem Ziel näher oder ferner steht, je mehr oder je weniger er durch bewußte Arbeit ansich ein sittlicher Charakter geworden ist, danach bestimmt sich das Maß der erlangten Freiheit. Dasselbe gilt von der Entwicklung der Gesamtheit. Wenn die christliche Ethik als letztes Ziel das Gottesreich bezeichnet, so ist damit von der Gesamtpersönlichkeit der Menschheit gefordert, daß sie durch die bewußte sittliche Arbeit in der Betätigung der vorhandenen Freiheit die absolute und ausschließliche Herrschaft der sittichen Ideen erlangt, die durch keine gegenstrebenden Mächte mehr gestört wird und so das Leben notwendig bestimmt. So gilt also: frei zu werden, weil wir frei sind, das ist das Ziel des sittlichen Prozesses.
LITERATUR - Günther Noth, Die Willensfreiheit, Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 127, Leipzig 1906